Archiv der Kategorie: Pop

Johnny Clegg

Erinnerung an einen bedeutenden Künstler und Menschen

Das war vor etwas mehr als einem Monat auf Facebook. Es gab doch Leute, die sich gut erinnerten, und heute habe ich den Handzettel von damals wiederentdeckt. Bei dieser Gelegenheit erneuere ich auch die Links:

Johnny Clegg auf Wikipedia hier

Der Text der Musikpassagen-Sendung vom 13. April 2006 auf WDR 3 hier

Und der Handzettel unseres Festivals am 30. Mai 1981:

Nebenbei: ich fand diesen Handzettel in dem Buch „The Music und Musical Instruments of Southern India and The Deccan“ von C.R. DAY (1891 Reprint Delhi 1974), und auf der Rückseite stand die Ansage für eine Südindische Radiosendung, an deren Inhalt ich mich bis heute gern erinnere: Aufnahmen mit dem wunderbaren Geiger Lalgudi G. Jayaraman.

Das hier angekündigte Festival fand vom 4. bis 6. Oktober 1982 im Sendesaal des Deutschlandfunks statt. Mit Amjad Ali Khan, Rajeswari Padmanabhan und Sulochana Brahaspati. Auch diese drei Konzerte werde ich nie vergessen.

Meinungen, Gespräche

Über Musik? Über Geschmack?

Ich erinnere mich an Gespräche der frühen Schulzeit, wenn man den gleichen Weg hat, aber sich erst kennenlernt. Ein Thema, was immer ging, war Essen: was man mag und was man überhaupt nicht mag. Leicht vorstellbar. Aber: das bleibt ein Leben lang, lediglich die Begründungen werden länger, man will nicht nur Laber-Meinungen austauschen, sondern sich selbst als differenzierenden Menschen geben. Dachte ich jedenfalls.

Ich finde, es hat sich nach Jahrzehnten nur wenig geändert, auch wenn der eine 14 Jahre älter ist als die andere, das macht wenig: die Beliebigkeit der Inhalte ist grenzenlos. Mich interessiert es aber immer, wenn der Gegenstand des Gesprächs Musik ist, welcher Art auch immer. Neulich habe ich erlebt, dass sich erwachsene Männer mittleren Alters gegenseitig auf dem Smartphone Automodelle zeigten, sportliche Typen, Cabrios der S-Klasse und sowas, ich war sprachlos, ohne mich überlegen zu fühlen. Ich schwöre: man ist einfach isoliert. Interessant aber, dass dieses Gespräch 1:1 den Schulweggesprächen der Kindheit glich, nur dass wir damals keine Bilderbücher im Miniformat mit uns herumtrugen. Und jetzt lese ich etwas ganz Ähnliches in der Zeitung, man nennt es dort allerdings Podcast. Im folgenden kommen die beiden Gesprächspartner – A männlich, B weiblich – auf Musik. Ich werde versuchen, sie zuzuschalten (die Musikstücke, soweit auffindbar).

Unser Ziel ist nicht das Finden irgendeiner objektiven Wahrheit, die dann für alle Menschen gelten soll. Wir machen eher so eine Art Gummitwist in der Dialektik. Eine andere Meinung ist sehr schützenswert, ich finde sie oft spannender als meine eigene. Manchmal habe ich auch selbst zwei gegensätzliche Meinungen zu einem Thema. Heute, wo es meist nur um das Niederschreien geht und sich alle in eine Art Mini-Trump to go verwandeln, ist das Interesse an der Meinung des anderen total verloren gegangen.

B (Jasna) Voll.

A Das ist doch gerade das Schöne im Leben, der Austausch, die Unterschiede. Da geht das Denken erst los.

Bei welchen Themen sind Sie sich denn nun uneins?

Zum Beispiel bei Miley Cyrus!  Die hast du mir doch neulich nahegebracht an deinem Geburtstag, Jasna. Die war mir vorher egal. Was noch, Jasna?

(kaut auf ihrer Kette) Ich weiß nichts mehr.

Was machst du da?

Keine Ahnung.

Verstehe. Na ja, auf ihrem Geburtstag lief jedenfalls „Wrecking Ball“ von Miley Cyrus. Da habe ich Miley Cyrus zum ersten Mal verstanden. Und später hat dort noch Sophie Hunger „Atemlos“ gesungen. Das war unerwartet toll. „Ok cool“ von Yung Hurn findet Jasna zum Beispiel wiederum total doof, da sind wir uns uneins. Sie hasst das.

Warum?

(B schweigt)

Keine Ahnung, als sie mir das gesagt hat, wurde ich tatsächlich richtig sauer. Aber offenbar ist ein intelligentes Leben möglich, auch wenn man Yung Hurn ablehnt. Das sitzt hier neben mir.

Was stört Sie an Yung Hurn, Frau B?

B Das ist dumme Scheißmusik. Ich finde das uninteressant und auch gar nicht lustig.

Und trotzdem sind wir Freunde.

Sind Podcast-Macher eigentlich alle Freunde? Es ist ja recht auffällig, dass sich sehr viele Podcast-Menschen gegenseitig in ihre Podcasts einladen.

A & B unisono Wir laden niemanden ein.

Sie reden hier mit der Champions League. Selbst Yung Hurn könnte an der Tür kratzen, unsere Antwort wäre immer: Nein. Das Kabuff ist verriegelt. Bis zur Raucherpause.

*    *    *

So, das war die Grundlage, jetzt sollte ich verstehen, was Sache ist… Mit Konzentration also:

Unmöglich? Natürlich. (Wie auch Joseph Beuys mit „Nä nä nä – ja ja ja“.) Eine Provokation also. Aber das, was hier folgt, ist doch einfach irgendsoein Lied?

Es könnte auch dieses sein: hier. (Im externen Fenster abgerufen. Möglicherweise ist Werbung vorgeschaltet. Wappnen Sie sich.) Man könnte die Musik analysieren. Mein Problem wäre nur die Langeweile, die sich beim intensiveren Zuhören steigert (bei sehr guter Musik ist das umgekehrt). Ich vermute, dass sich das ändert, wenn man das Hörvermögen auf physiologischem Wege „transformiert“: es halluziniert. Und dann muss man nicht mehr von der Musik (da draußen) reden, sondern vielleicht von dem Mädchen. (Allerdings nehme ich schon das externe Fenster, um nicht immer zuschauen zu müssen. Da gab es noch den Punkt: Einschlafen als Kritik.)

Nachzutragen wäre noch die Quelle des (natürlich unvollständig zitierten) Gesprächs oben. Folgt sofort…

Quelle Süddeutsche Zeitung 14./15. August 2019 Seite 26 (Medien) „Ich bin extrem dafür, dass alle ihre Hosen anbehalten!“ Benjamin von Stuckrad-Barre und Jasna Fritzi Bauer haben nun einen gemeinsamen Podcast. Ein Gespräch über spontane Themenfindung, gespielte Authentizität und Einschlafen als Kritik. (Interview: Quentin Lichtblau)

Vom Imperiengeschäft

… nicht nur zu anheimelnden Kulissen

Editorial von Cecilia Aguirre (Folker Juli 2019)

Sommerzeit ist Lektürezeit. Gerade amüsiere ich mich mit dem durchgeknallten A&R-Manager Steven Stelfox aus John Nivens Roman Kill ’em All. Die bissige Satire ist nichts für zarte Gemüter und leuchtet das Musikbusiness mit all seinen Schattenseiten grell aus: Koks, Geldgier, Geil- und Dumpfheit. Parallel blättere ich in Nivens Erstlingswerk Music from Big Pink. Der Autor verlegt die Szenerie nach Woodstock, wo sich diverse Musiker um den in der Nähe lebenden Bob Dylan gruppieren. Es entsteht The Band! Stilistisch ist Nivens Debüt unbeholfener, aber es steckt voller Musikzitate aus den Endsechzigern und eignet sich wunderbar zum akustischen Rekapitulieren: Levon Helms handfestes Folkwerk Dirt Farmer (2007) oder Bob Dylans sprödes Album John Wesley Harding (1967) mit Textzeilen wie „I pity the poor immigrant who wishes he would’ve stayed home“.
„Jeder zieht jeden über den Tisch“, kommentiert John Niven in seiner Nachschau lapidar die Musikindustrie, und Berthold Seliger belegt dies in seinem aktuellen Buch Vom Imperiumgeschäft: Konzerte – Festivals – Streaming – Soziales. Wie Großkonzerne die kulturelle Vielfalt zerstören (Edition Tiamat, 2019). Schon Das Geschäft mit der Musik – ein Insiderbericht (Edition Tiamat, 2013) las sich wie ein Krimi, trotz der nüchternen Akkumulation von endlosen Zahlen und Fakten. Seliger schließt an, und weiter geht’s mit den Machenschaften der drei Großkonzerne, die das weltweite Live-Geschäft krakenförmig einkreisen: AEG, CTS Eventim und Live Nation. Das Imperium schlägt zu und verschlingt seine Kinder. Dabei verweist Seliger – wie Niven in seinen Romanen – auf die Parallelen zwischen der Musikindustrie und dem Drogenhandel: Bei beiden heiligt der Zweck die Mittel. Die sind auch illegal recht. Wie anheimelnd wirken da unsere Folker-Kulissen, zum Beispiel in Bremen, bei einer Irish Session (S. 56-58). Da blinkt die Gemütlichkeit durch die Butzenscheiben eines Gasthauses, während virtuos beschwingte Fiddletunes erklingen. Der Multiinstrumentalist Albin Brun begibt sich mit seinem Schwyzerörgeli ins schnuckelige Altdorf (Kanton Uri, Schweiz) zum diesjährigen Alpentöne-Festival (S. 38-40). Und die vier Jungs von Bukahara haben sowieso nur den Weltfrieden im Sinn (S. 26-29). Was sonst?
Entspannte Lektüre

Cecilia Aguirre

(Foto: Luisa Aguirre) Weiter zur Zeitschrift Folker hier.

 Hier (der erwähnte Titel)

Zum SPIEGEL-Gespräch mit John Niven hier.

Zu Berthold Seligers Buch „Vom Imperiengeschäft“ hier.

Nachtrag 27. Juli 2019 Ein Interview mit Berthold Seliger über sein Buch auf Telepolis – Statt „Sex & Drugs & Rock’n’Roll“ nun „Private Equity & Hedgefonds & Brands’n’Sponsoring“ HIER

Qui saura, Ruanda?

Ein Tag wie jeder andere

Fängt an mit Zeitunglesen, und wenn das Tageblatt durch ist, dann liegt da immer noch die ZEIT seit letzter Woche, vieles ungelesen, vorgemerkt der Artikel „Wenn künstliche Intelligenz Musik macht“, Obertitel irgendwas mit Sinatra. Aber dann bleibe ich hier hängen, wegen Ruanda, höre jedoch nach ein paar Minuten auf, weil ich es nicht so extrem narrativ haben möchte und begebe mich in mein Arbeitszimmer bzw. das obere, wo der Computer steht (nicht in das untere, wo die Bratsche liegt und … die Tür in den Garten hinausführt). Aber was mir nachgeht, ist der Liedtitel, der mir nicht ganz unbekannt war. Soll ich mir das „in echt“ anhören? HIER. Gut, sogar zweimal, ich versuche den Text zu verstehen, der Leo-Sprachdienst liefert das ganze Lied auf einen Schlag, und zwar akzeptabel. Und der Ohrwurm für den Rest des Tages hat sich schon eingehakt. Wer wird es wissen, wer wird es wissen, wer wird es wissen, wer wird es wissen, wer wird es wissen? Wer wird mich dazu bringen, es zu vergessen? Sag es mir. Mein einziger Grund zu leben. Versuch es mir zu sagen. Wer wird es wissen, wer wird es wissen, ja, wer wird es wissen? Es-dur für 2 oder 3 Strophen, Rückung: F-dur, Rückung: Fis-dur, Rückung: A-dur – und dies bleibt bis Ende (mit Blende).

Dann Ruanda, Wikipedia, ein langer Artikel, ich denke an die Trommler von Burundi, soll ich mich damit noch einmal befassen? aber zunächst mal weiter: zum Kern der Sache, wie kam es zu dem Völkermord? Ein gigantischer Artikel – was für ein Inhalt, und nicht zu begreifen! Oder doch, wenigstens in den Einzelschritten? HIER.

Am Ende lese ich auch:

Der Roman Hundert Tage des Dramatikers Lukas Bärfuss befasst sich mit den Ereignissen aus der Sicht eines Schweizer Entwicklungshelfers (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) in Ruanda und der Rolle der Entwicklungshilfe; diese habe über Jahrzehnte das Regime Habyarimanas ungeachtet der Korruption und der menschenrechtlichen Defizite unterstützt und damit den Völkermord mitermöglicht.

Gestern hörte ich, dass Lukas Bärfuss den Büchner-Preis erhält. Ich kannte nicht einmal den Namen.

Die Schriftstellerin Nora Bossong erinnert sich bei dem Schlager Qui saura an einen anderen französischen Satz, der ihr immer wieder in den Sinn kommt: Dans ces pays-là, un génocide n’est pas très important. ZITAT:

Der Satz über den Genozid stammt vom damaligen Präsidenten François Mitterrand, und das Chanson wurde von Mike Brant gesungen. Dass Moshe Brand der eigentliche Name des Sängers ist und er zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges geboren wurde als Sohn einer Auschwitz-Überlebenden, lese ich am nächsten Vormittag, meinen Laptop auf den Knien, über mir läuft der Fernseher. Ruanda sei eine Familie, erklärt Präsident Paul Kagame vor den Kameras im Kongresszentrum, dessen Kuppel ich in der Ferne durch mein Fenster sehen kann. Aus dem Nachbarzimmer dringt lautes Stöhnen, Sex gegen die staatlich verordnete Pflicht des Erinnerns, ein schmaler Riss in der Trauerflagge, die über dem ganzen Land hängt. „Existieren in einem Zustand anhaltenden Gedenkens“, so nennt Kagame es in seiner Rede, und er spricht von der jungen Generation, die den Völkermord nicht mehr selber erlebt hat, von den fast 60 Prozent der Ruander, die erst nach den 100 Tagen auf die Welt kamen, in denen sich das Land in eine menschengemachte Hölle verwandelte. Die Einigkeit über alle Gräben hinweg, über das Schweigen der einen und die Verzweiflung der anderen hinweg, das ist es, was in diesen Tagen wie ein Mantra wiederholt und beschworen wird, als Grundlage dafür der Generationenwechsel nach einem Vierteljahrhundert, aber was sind schon zweieinhalb Jahrzehnte. Etwas mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Befreiung von Auschwitz, im Jahre 1972, wurde Brants Chanson zu einem großen Erfolg. Drei Jahre später sprang der Sänger aus dem sechsten Stock eines Pariser Hauses und nahm sich so das Leben.

Quelle DIE ZEIT 4. Juli 2019 Seite 39 Was sind schon 25 Jahre? Im Juli 1994 endete der Völkermord in Ruanda. Wie schaffen es Opfer und Täter, heute miteinander zu leben? Eine Reise durch ein Land, das geradezu unheimlich gut funktioniert. Von Nora Bossong.

Lieblingslieder, bipolar

Aufgelesen

Natürlich wieder Zufall. Und bipolar ist der falsche Begriff, der eigentlich nur bei bestimmten Störungen gebraucht wird. Nachts kam über Whatsapp der Link zur Russischen Romanze. Von jemand zwischen 50 und 60, dessen Musikalität ich schätze. Merkwürdig diese Gefühlskundgabe. Ich bin ein Sammler, der jede authentische Äußerung schätzt und reflektiert. Drunter steht geschrieben: „Hat leider inzwischen Schlagerkarriere gemacht. Aber dies war sehr schön.“ Und ich schreibe zurück: „Das ist jetzt mein Gutenacht-Lied.“

Heute per Fahrrad in die Stadt (Post der Nachbarin einstecken, die nach dem Tod der Mutter in die Stadt gezogen ist). Dort sprechen mich überraschend zwei kleine Mädchen an. Vielleicht 9 oder 10 Jahre alt. „Der ist toll!“ sagt eine und hält mir ein Smartphone entgegen. Ich frage: „Ist das mein Handy?“ und denke, es sei mir beim Post-Einstecken aus der Jacke gefallen. „Nein, das Bild meine ich! Der ist toll, den musst du hören!“ Ich fühle mein Huawei in der Tasche. – „Wer ist das denn?“ – „Chebnassri, der ist ganz berühmt! Ein Sänger!“ – Ich hatte sie für türkische Schülerinnen gehalten, sie sprechen akzentfrei. „Wie schreibt man das denn? Nazri?“ – „Nein, Nassri mit 2 s, hör dir den mal an“. – „Ja, wenn ich zuhaus bin. Chebmami?“ – Sie lachen, sagen es richtig und buchstabieren auch den Anfang. Die eine hält mir eine Tüte hin: „Willst du ein Gummibärchen?“ – „Danke, gern.“ Ich überlege, während ich es herausfriemele, ob ich was sage, z.B. dass es nicht gut ist für sie, so ein Gespräch mit Fremden zu führen, und mache Anstalten, loszufahren. Sie fragen, wohin ich will, ich sage „hierdurch“ und zeige auf den Fahrrad- und Fußweg neben der Kirche, „Richtung Bahnhof!“. – „Da fährst du besser über die Düsseldorfer Straße!“ (ich denke: sie ziehen das Gespräch niedlich in die Länge), „Fußgängerzone!“, sagt die mit den Bonbons, und weiter: „Macht nichts, da fahren alle!“ – „Ja, aber ich heute lieber nicht!“ Wie grüßen uns noch, als ich losfahre, an der Kirche vorbei, ich bin seltsam gerührt, biege dann hinter der Kirche doch zur Düsseldorfer Straße und kurve ganz langsam zwischen den Fußgängern, Kinderwagen und an den Auslagen des türkischen Gemüseladens und der Blumenhandlung vorbei, stoppe hier und da, mit einem Fuß am Boden, die haben alle Zeit der Welt hier, denke ich, und wie gut sich das macht, die „Fremden“ im Straßenbild! – dann um die Ecke, zum Buchhändler, das Buch bestellen, das gestern in der NZZ besprochen wurde.Von Roman Bucheli. Habe mein Notizbüchlein dabei, in dem der Titel steht: „Zen in der Kunst der Vogelbeobachtung“, und ich notiere, während Herr Keller den Computer konsultiert, das Wort „Chebnassir“. Es ist nicht türkisch, denke ich, sondern arabisch, nordafrikanisch. Arnulf Conradi heißt der gesuchte Autor. Und der Titel von Bucheli selbst: „Wohin geht das Gedicht?“ – Kollateralkauf, sowas kann passieren. Ich bin heute prima gelaunt. Keinesfalls werde ich etwas gegen diesen Popsänger äußern. Und Sie bitte auch nicht! So eine verfremdete Stimme… (War es nun Nassri oder Nassir?)

Wo bleibt die musikalische Basis?

Mehr Bildung durch Ausbildung

Das wäre meine Formel, wenn ich gefragt würde. Eine Lehrformel, aber auch eine Leerformel. Denn sobald es in die Details gehen soll, beginnt die Diskussion. Und zwar auf der untersten Stufe: Die Musik kommt doch von selber. Mein Kind ist so musikalisch! Mag sein, – und wenn es sich fürs Fliegen interessiert, kaufen Sie ihm einen Segelflugschein, und los gehts… Viel Spaß dort oben!

Spaß beiseite. Jeder ahnungsvolle Laie müsste doch darauf kommen, vom Lernen zu sprechen, von einer Ausbildung, von einem komplizierten Prozess des Hineinwachsens und dergleichen. Und von der Methode. Es geht um Theorie und Praxis, auch in der Musik, – vielleicht hätte ich nie von einer Zeitschrift dieses Titels gehört und würde sie nicht bei der AWO (Arbeiterwohlfahrt) suchen. Daher auf diesem Wege. Dank des anregenden Interviews, das jemanden zum Reden brachte, der nun wirklich sein ganzes Leben der Musik widmete und nicht nur davon, sondern (frei nach Eisler) auch von vielen anderen Dingen was versteht.

Freiheit, Gleichheit, musische Bildung
Der versierte Musikkenner Berthold Seliger erklärt im TUP-Interview unter
anderem die Bedeutung von ernster Musik für die innere Freiheit des
Menschen und warum es ein massives Umdenken in der Bildungsarbeit
geben muss, damit Kinder und Jugendliche eine wirkliche musische
Bildung erfahren und nicht nur mit Blick auf wirtschaftliche Effizienz und
Nutzen für den Arbeitsmarkt ausgebildet werden.

Weiter HIER

Weitere Informationen dort als PDF oder auch anschließend an dieser Stelle direkt. Das Interview mit Berthold Seliger erscheint in Heft 4-2018 der TUP Anfang Dezember 2018.

PDF HIER

ZITAT Berthold Seliger:

Wenn Helene Fischer an einem Samstagabend eine große Dreistundenshow im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hat, dann finde ich das okay, das gehört ja auch, ob man das will oder nicht, zur kulturellen Vielfalt unserer Gesellschaft. Aber dann sollte am nächsten Samstag eine tolle Hip-Hop-Show gezeigt werden, am Samstag darauf eine tolle Klassiksendung mit einer wirklichen Bandbreite von verschiedensten Musikstilen, dann eine Rockshow und eine mit Weltmusik. Nur dann bildet sich eine kulturelle Vielfalt ab und kann auch hergestellt werden. Letztlich können die Leute dann ja immer noch sagen: Helene Fischer war mir aber am liebsten. Aber es wird andere geben, die sagen: Den Beethoven, den Mahler, den Bartok, den Henze oder die afrikanische Band da – das fand ich aber auch klasse!
Aber das ist ein weiter Weg. Da darf man sich keine Illusionen machen.

Unkorrektes Nachwort

Aus frischem Erleben muss ich etwas hinzufügen: Heute Nacht habe ich Helene Fischer im Fernsehen gehört und gesehen, ca. eine halbe Stunde, als Pflichtübung, aber was soll ich bloß sagen, wie soll ich Fairness zeigen? Ich kann es nur als eine Helene-Fischer-Parodie wahrnehmen. „O Tannenbaum“ zum Beispiel, da fehlen einem die Worte, soviel Gefühl am falschen Platz. Es kommt wie aus der Spraydose. Loriot sagte: „Früher war mehr Lametta!“ Auch das war Parodie. Nie war mehr Lametta als heute! Vielleicht nicht am Baum, aber in der Weihnachtsbäckerei, ach, und die lieben Kleinen auf der Bühnentreppe, das entzückende Mienenspiel, wer will sie schelten? Allerdings ist zu bedenken: schon der lange Abend vorher war erfüllt vom falschen Glanz André Rieus, „der Klassiker zum Klingen bringt“. Helene Fischer und Gäste „präsentieren Weihnachtsklassiker“. Wer hält das aus? Ich vermute, in der Fernsehstatistik läuft der ganze Abend unter Klassik, das wird ein guter Schnitt, zumal „schließlich noch einmal der tiefere Sinn des Festes spürbar“ wird. Wer will denn sowas kaputtmachen? Natürlich hat Aufklärung auch immer etwas Arrogantes, und zur Bildung gehört zuerst das Taktgefühl. Keinem lieben Menschen, der Helene Fischer wirklich verehrt, könnte ich ein böses Wort sagen. Und auch nicht den Besuch der H-moll-Messe empfehlen. Die Rede ist also von einem Projekt der Zukunft. Geschmacksbildung. Einerseits ein elitäres Wort, andererseits von bleibendem Wert.

Das Musterbeispiel eines festlichen Samstagabendprogramms:

H.F. ist übrigens ein recht deutsches Phänomen, das in der Perspektive von außen eher befremdlich oder auch leicht komisch wirkt, – wenn es nur nicht um so viel Geld ginge. Hier geht es zu einem amüsanten Artikel in „The Guardian“ 22 Nov 2018. Titel:

I Loves You Porgy

Magie der Musik?

Wenn jemand eine (aus meiner Sicht) musikästhetische Bemerkung macht, wer auch immer bei welcher Gelegenheit auch immer, muss ich der Sache nachgehen. Unabhängig von meiner spontanen Einschätzung ihres Wertes. man könnte es mein Hobby nennen, es ist aber eine Art Zwang. Ganz besonders, wenn die Musik eine besondere Emotion ausgelöst hat (haben soll). Diesmal z.B. bei einer weltbekannten Sängerin, die mir zeitlebens unbekannt geblieben ist, obwohl sie schon 1987 – 14-jährig – einen Sommerhit gelandet hat: Vanessa Paradis in der britischen Musiksendung „The Roxy“. Ich weiß das durch das Interview im ZEIT-Magazin (Autor: Christoph Dallach) 29. November 2018 No.49. ZITAT aus dem letzten Abschnitt Seite 54:

Auf Ihren früheren Tourneen haben Sie „Joe le taxi“ immer wieder in sehr verschiedenen Versionen aufgeführt. Haben Sie das Gefühl, mit dem Song erwachsen geworden zu sein?

Joe le taxi ist für mich nicht irgendein Song, er ist das Symbol meiner ganzen Karriere. Ich hatte über die Jahrzehnte hinweg immer eine ganz besondere Freude daran, Joe le taxi bei jedem einzelnen Konzert aufzuführen. [Text hier] [Folgendes Video im externen Fenster hier]

Warum?

Weil dieses Lied eben so unfassbar wichtig für mich ist. Es steht für eine prägende Zeit in meinem Leben und für eine Geschichte, die mittlerweile 31 Jahre andauert. Sie sitzen mir auch nur deswegen gegenüber, weil es diesen Song gibt. Er hat den Kontakt zwischen mir und meinem Publikum hergestellt. Ohne dieses Lied wüsste die Öffentlichkeit überhaupt nicht, wer ich bin. Und ich weiß, dass es auch vielen Menschen da draußen etwas bedeutet. Es gibt diese Lieder, die für wichtige Momente in der Biografie eines Menschen stehen. Oft stellt sich diese Bedeutung erst viel später ein. Songs erinnern an besondere Menschen, an eine besondere Reise oder ein besonderes Ereignis. Das ist doch die Magie von Musik: Sie kriecht in das Leben von Menschen hinein. Mich bewegt Musik immer wieder sehr.

Welche Musik rührt Sie zu Tränen?

Sehr, sehr viele Songs von Sade. Die packen mich immer wieder.

Und der eine große Song, der Sie immer wieder elektrisiert?

Der ist von Nina Simone. Wenn sie I Loves You Porgy singt, ist es um mich geschehen. Da heule ich immer.

Kommentare unter dem Video beachten! Wikipedia über das Lied hier. Das Video im externen Fenster hier.

Quelle des wiedergegebenen Textausschnittes: „Mein Leben ist nicht hart, glauben Sie mir“ Popstar mit 14, die erste Hauptrolle in einem Kinofilm mit 16, turbulente Beziehungen mit Lenny Krawitz und Johnny Depp: Ein Gespräch mit Vanessa Paradis über die Songs ihres Lebens und ihren Fehlstart als Kinderstar / Von Christoph Dallach. ZEIT-Magazin 29. November 2018 No.49. ZITAT aus dem letzten Teil Seite 54.

Klassik zum Kuscheln oder Gegentreten

Nur keine Berührungsängste!

Seltsame Welt: im Kultur-Magazin kann der Massensport Fußball dazu dienen, die Klassik attraktiver erscheinen zu lassen. Irgendwie. Im Hintergrund des massenwirksamen Pop-Geschäftes dagegen wird gedämpfte Klassik am ehesten im Blick auf Wellness genutzt. Der kernige Begriff sorgt für Prestige ohne eigene Anstrengung und suggeriert zugleich unterschwellige Leistungsförderung: Geht Klassik nicht Hand in Hand mit Langeweile, und sieht das nicht einer Art Entspannung zum Verwechseln ähnlich? Man sagt doch auch „Kuschelklassik“.

Helene Fischer hier zur Klassik.

ZITAT

Um wieder auf den Boden der Tatsachen zu kommen und nicht die Nerven zu verlieren, hat Helene Fischer nach ihren Konzerten immer spezielle Rituale: „Abschminken im Bad, manchmal höre ich auch Klassik, um meinen Kopf nicht zu sehr arbeiten zu lassen, weil da hat man ja auch einiges erlebt an diesen Abenden.“ Noch viel wichtiger ist Helene Fischer allerdings der Austausch mit ihrem Liebsten: Moderator Florian Silbereisen (36). „Ich schotte mich ab, damit ich wieder zu mir komme. Trotzdem ist es das Schönste und Wichtigste, auch direkt, nachdem ich in mein Zimmer gekommen bin, mit Florian zu telefonieren.“

Was hat Violinespielen mit Fußball zu tun? Erfahren Sie es bei ttt Titel Thesen Temperamente hier – ab 24:16 der Violinist Emmanuel Tjeknavorian im Porträt.

(Warum ist überhaupt vom Fußball die Rede? Ich wette: nur wegen der laufenden WM. Und der junge Mann wurde von der Regie dringend gebeten, die Fußball-Idee in Bild und Wort umzusetzen. Sehr halbherzig, denn das Thema verschwindet aus gutem Grund.)

ZITAT Max Moor

Und nun zum Fußball. (MM macht ein pfiffiges Gesicht dazu.) Der Vater ein bekannter Dirigent, die Mutter eine Pianistin, und sie wünschte sich für ihren Sohn nur eines, – dass er nicht Musiker werde. Doch der fünfjährige Pimpf bestellte bei Papa per Telefon eine Geige als Mitbringsel von dessen Auslandstournee, keine Spielzeuggeige, eine richtige, Mamas Protest half nichts, der Bengel kriegte die Violine und – Sie ahnen es schon – ist heute der aufsteigende Stern am Klassikhimmel. Und was hat das jetzt alles mit Fußball zu tun? Dies: (man sieht einen Halbwüchsigen mit Fußball agieren) ein gutes Violinkonzert ist wie ein gutes Fußballspiel. Emmanuel Tjeknavorian, Fan von Real Madrid und Ludwig van Beethoven, weiß das. Auf dem Platz wie auf der Bühne geht es um präzise Technik und kluge Taktik, und ohne Leidenschaft geht gar nichts. (Musik Sibelius) Als Teenager spielte Emmanuel Tjeknavorian in einer Schülermannschaft, offensives Mittelfeld (Sibelius + Fußball spielende Jugendliche). Geige spielte er, seit er fünf ist.

O-Ton Tjeknavorian

Wenn ich Sibeliuskonzert spiel, dann muss jeder Lagenwechsel sitzen, genau so wie auf dem Feld muss jeder Pass sitzen, wenn man ein erfolgreiches Spiel absolvieren möchte oder es hat sich in der Sprache etabliert, wenn man sagt: ja, und der dirigierte die Abwehr oder … der gibt den Takt vor… (Popmusik)

Emmanuel Tjeknavorian in Berlin, eingeladen zum Debüt im Deutschlandradio Kultur mit dem Deutschen Sinfonieorchester Berlin. (25:59) In dieser legendären Reihe etc. etc. Filmbilder aus Kindheit, Wunderknabe? nein, Vater iranischer Dirigent etc., das Thema Fußball ist weg.

Besonders stark werden die Gefühle, wenn ich armenische Musik spiele zum Beispiel.

Ausnahmetalent… Stradivari. Sehr alt: Mozart, Beethoven, Philharmonie, dennoch: die Geige klingt unbeirrt heute … Übung! (Wo bleibt der Fußball?)

ZITAT (aus dem Off):

Emmanuel Tjeknavorian ist 22. Die Zeit der Wettbewerbe liegt hinter ihm. Er muss nicht mehr siegen, um sein Können zu beweisen. Jetzt muss er ein Publikum gewinnen. Die Zugabe in der Berliner Philharmonie ist ein Kinderlied von Beethoven, das Murmeltier, ein schlichte traurige Weise. Pures Spiel, ganz fein, ganz groß. (Er spielt die Melodie von „La Marmotte“…)

*   *   *

Auch in diesem (wohlgemeinten!) Beitrag erfährt man nichts über Klassik, abgesehen davon, dass beiläufig der „Klassikhimmel“ erwähnt wird. Die Musik ist so ausgewählt, dass niemand verschreckt wird. Es liegt daran, dass ein Klassikhintergrund bei Kulturmoderatoren keine Rolle spielt, musikalisch versuchen sie regelmäßig mit irgendwelchen 30 Jahre zurückliegenden Pop-Erinnerungen zu imponieren. So inszenieren sie das Kinderlied als Höhepunkt. So schlicht – ohne alles – ist ihnen Klassik am liebsten. Zu „Lebzeiten“ der Klassik schrieb ein zeitgenössischer Rezensent über Beethovens Klavier(!)lieder op. 52, zu denen „La Marmotte“ mit Goethes Versen gehört:

Begreif‘ es, wer es kann, dass von solch einem Manne etwas so durchaus Gemeines, Armes, Mattes, zum Theil sogar Lächerliches – nicht nur kommen kann, sondern sogar ins Publikum gebracht werden mag! [AmZ 1805]

Berührungsängste allenthalben. Aber Kuschelklassik und Kinderlied, ganz fein, ganz groß.

*   *   *

Auch Helene Fischer will mal loslassen, sich abschminken, die Maske abnehmen, den Kopf mit Klassik ausschalten statt mit Schlagern. Und der Klassikstar soll keinen Wettbewerb mehr gewinnen wollen, sondern ein Publikum. Wenn es sein muss, mit einem halben Schritt zurück ins Kinderland. Es ist doch alles nur Spiel…

*   *   *

Verdammt noch mal, was war los mit unserer Fußballmannschaft? Es fehlte die Spielfreude! Sie haben nicht gebrannt!! Sie sind nicht um ihr Leben gerannt, es war nur ein gutwilliges Traben.

Man muss es aber gar nicht psychologisch sehen. Eine schöne Lösung fand die ZEIT in der Kolumne von Josef Joffe: Total global – Warum die Kleinen bei der WM die Großen überflügeln.

Die Erklärung besteht aus einem Wort: „Globalisierung“. Als die Deutschen 1954 den Pokal in Bern holten, kamen Sepp Herbergers Mannen aus deutschen Vereinen: große Bevölkerung, große Auswahl. Da konnte das winzige Island nicht mithalten. Doch heute sind die Scouts der Club-Teams in der gesamten Welt unterwegs und rekrutieren die Besten der Besten.

Die spielen mit den Besten in der Premier League oder der Bundeslinga. Sie erringen Ruhm und Reichtum, egal, ob sie aus dem Senegal oder Ägypten kommen. Sie steigen auf in die Welt-Elite, was sie im einst abgeschotteten Daheim nie hätten schaffen können. Alle vier Jahre kehren sie heim, wo sie mit andern Cracks im Nationalteam spielen und die klassischen Fußballmächte das Fürchten lehren.

(…) Bei der WM spielen zwar nationale Teams, aber in Wahrheit die Besten gegen die Besten der ganzen Welt. „National“ an ihnen ist nur der Pass. Vergleichbar ist dieser globale Markt nur mit den großen Orchestern der Welt, wo nicht Herkunft die Zukunft bestimmt, sondern Talent und Ehrgeiz.

Anders als Football, Baseball und Rugby ist Fußball der einzige Sport, jedenfalls gemessen an den drei Milliarden, die in Russland zugucken. Dass in der gnadenlosen Konkurrenz die Letzten zu den Ersten aufrücken und umgekehrt, befeuert die Faszination. Über diese Art der Globalisierung darf sich niemand beschweren.

Quelle DIE ZEIT 5. Juli 2018 Seite 12 ZEITGEIST / Total global Warum die Kleinen bei der WM die Großen überflügeln / Von Josef Joffe.

Der Vergleich mit den Orchestern hinkt allerdings mehr als der fast tödlich gefoulte Neymar, nachdem er wieder aufgestanden war.

In der Musik gibt es keine zählbaren Tore, die auch eine künstlerisch hervorragende Leistung in die Vergessenheit drängen könnten. Und umgekehrt funktioniert es auch nicht. Letztlich zählt nicht das Kinderlied, sondern das Sibeliuskonzert.

Das Wort „Abschotten“ spielt eine ambivalente Rolle. Bei der „Welt-Elite“ ebenso wie in Helene Fischers Abschminkzimmerchen. Der geigende Eremit im Sinne Max Regers würde sich auf den Klassik-Podien der Welt nicht durchsetzen. Wohl aber als Effekt in einem dramaturgisch gelenkten ttt-Beitrag.

Das Kinderlied geht mir doch nachhaltig durch den Kopf.

Ragamalika am Ennore Creek

Recherche zur südindischen Musik

Blick über die Ennore Bucht bei Chennai (Foto: CC-by-sa PlaneMad/Wikimedia)

„Ragamalika“ wird die Verbindung verschiedener Ragas genannt, eine „Raga-Girlande“, und sie stellt eine Ausnahme in der indischen Konzertpraxis dar, in der prinzipiell die Einheit eines Ragas für die Länge einer einzelnen Interpretation gewahrt wird, ob sie nun 3 Minuten, 30 Minuten oder länger dauert: der Tonvorrat, die Skala und die typische Ausgestaltung der Melodielinien bleibt – bei aller Freiheit der Improvisation – unverändert, 1 falscher Ton würde das Tongebäude zum Einsturz bringen. Im Vortrag der Ragamalika gehört es zur besonderen Aufgabe, mehrere Raga-Charakteristiken nahtlos ineinander übergehen zu lassen. Im Fall der vorliegenden Aufnahme hört der Kenner nacheinander folgende Ragas:

Anandabhairavi, Begada, Hamir Kalyani, Devagandhari, Salaga Bhairavi  und Sindhu Bhairavi.

Mir sind nur wenige dieser Ragas gut bekannt, Sindhu Bhairavi etwa, oder Kalyani, aber – anders als in Nordindien – sind in Südindien, in der sogenannten karnatischen Kunstmusik, buchstäblich unzählige in Gebrauch. Ich schlage daher in dem großartigen Werk von Ludwig Pesch nach: The Oxford illustrated Companion SOUTH INDIAN CLASSICAL MUSIC Oxford University Press 1999. Dort werde ich glücklicherweise in allen Fällen fündig, und mit den Skalen versehen kann ich mich in der konkreten Musik auf die Suche begeben und die Reichweite der einzelnen Ragas bestimmen. Aber man darf sich nicht täuschen: ohne das Hintergrundwissen dieses Buches und viel Praxis kann man mit dieser Tafel allein wenig anfangen.

 Ludwig Pesch a.a.O. Seite 195

Ich sehe in Reihe 2 „Anandabhairavi“, in Reihe 4 „Begada“ – und hoffe, dass mir der Übergang nicht entgehen wird, da allein die Terzen schon einen Unterschied wie zwischen Moll und Dur ausmachen werden. Ich werde es melden…

Es ist interessant, das Mienenspiel und die Gesten des Sängers zu beobachten, egal ob man es aus der Sicht eines „Kulturfremden“ als unangemessen oder affektiert empfindet (was ganz im Auge des Betrachters liegen mag): es hat nicht mit Affekten zu tun, die aus einer (kaum beurteilbaren) Textdeutung abzuleiten sind, sondern mit dem unmittelbaren Verlauf der Melodielinie. Das ist wunderbar. Wir aber dürfen vielleicht anfangen, uns eher „technisch“ anzunähern, indem wir die Töne und Skalen identifizieren. Das Andere kommt im Laufe der wachsenden Erfahrung von selbst.

Und tatsächlich: man erkennt Grundton, Quinte und Nebentöne, im übrigen ein leicht berührtes E, und endlich ein Es, gerade dort  – bei 1:09 – sagt der Sänger „Anandabhairavi“! Ich warte auf die hohe Oktave und eine Rückkehr, um sicher zu sein… er führt die Töne unauffällig ein und hat bei 2:10 bereits das hohe D erreicht. Ab 2:57 jedoch glänzt die Oktave mehrfach, bei 4:51 sagt er „Begada“, nachdem er gerade den Ton E mit Sorgfalt etabliert hat. Als nächstes wird uns „Hamir Kalyani“ begegnen. Ich finde auf einer anderen Tafel bei Pesch zwei Varianten davon (ich kenne Kalyan aus Nordindien, der Raga ist auch als Yaman bekannt, die lydische Kirchentonart), Achtung: Fis wechselt mit F je nach Richtung der Melodielinie. Der Sänger kündigt den Raga an bei 8:17.

Ludwig Pesch a.a.O. Seite 197

Hamir Kalyan geht bis 10:46 – Ansage „Devagandhari“, ist auf der obigen Pesch-Tafel zu finden als 7. Reihe (4. von unten). Merkwürdiges Stocken bei 12:36 (er scheint zu überlegen), neuer Ansatz bei 12:51, 13:18 Ansage „Salaga Bhairavi“ (siehe im folgenden Ausschnitt letzte Reihe) – Abschluss bei 19:10, und hier beginnt laut Schriftzug „Poromboke“. Aber wo begann „Sindhu Bhairavi“? (Siehe im übernächsten Ausschnitt, 2. Reihe, zu beachten die fünf Tonvarianten am Ende der Reihe. Die Variante mit DES bei absteigender Melodielinie ist wesentlich!)

 Ludwig Pesch a.a.O. Seite 188

 Ludwig Pesch a.a.O. Seite 198

Mit dem Titel POROMBOKE sind wir beim zweiten, dem eigentlichen großen Thema. Jetzt wird der Text und die inhaltliche Information entscheidend. Und man könnte es sogar unwichtig finden, ob er musikalisch auf klassische Art behandelt wird oder – mit Pop-Elementen ausgestattet – einer entsprechend orientierten Hörerschicht vermittelt werden soll. Keine Entschuldigungen! Keine Vorbehalte! Hinein!!!

Poromboke is an old Tamil word meaning shared-use community resources like waterbodies, seashore and grazing lands that are not assessed for tax purposes. Today, it has become a bad word used to describe worthless people or places. Chennai Poromboke Paadal is part of a campaign to reclaim the word and restore its worth.

Kurangan is a Tamil pop-rock band
Kaber Vasuki [singer / songwriter]
Tenma [bass / music producer]
Krish [drums]
Sahib Singh [guitars]

Das Video wurde am 29.09.2016 veröffentlicht, samt folgendem Kommentar + Aufruf:
Chennai’s lifeline is in danger. The Kosasthalaiyar River and Ennore Creek are dying a slow death. If the river or creek have blockages, the city will continue to get flooded and the situation will get worse every year. Sign the petition and ask the Tamil Nadu Chief Minister to come up with a plan to save Chennai by saving the Ennore creek.

 

Der Text des Liedes „Poromboke“ von Kaber Vasuki (Zahl mit * = Wiederholung)

Poromboke is not for you, nor for me It is for the community, it is for the earth (* 4) – Poromboke is in your care, it is in mine (*2) It is our common responsibility towards nature, towards the earth – Poromboke is in your care, it is in mine It is our common responsibility towards nature, towards the earth The flood has come and gone, what have we learnt from that? (*2) – To construct buildings inside waterbodies, what wisdom is that? – The flood has come and gone, what have we learnt from that? – To construct buildings inside waterbodies, what wisdom is that? – On the path that rainwater takes to the sea What need have we of concrete buildings? (*2) – It was not the rivers that chose to flow through cities (*2) Rather, it was around rivers that the cities chose to grow – It was not the rivers that chose to flow through cities Rather, it was around rivers that the cities chose to grow And lakes that rainwater awaited Poromboke – they were reverently labeled (*2) After Ennore got its power plant (*2) – Acres of ash, but river scant – After Ennore got its power plant, Acres of ash, but river scant – The sea and the river, he has kept apart (*2) – The white sky, he blackened The sea and the river, he has kept apart – The white sky, he blacked (*2) Once he gets done with Ennore, he will come for your place too (*3) – If you stop, challenge or dare to resist, ‘MAKE IN INDIA’ he will lie and insist (*3) – Growth, jobs, opportunities; these are just flimsy excuses (*2) – For one who sold the waterbodies, the lake is mere poromoboke – Growth, jobs, opportunities; these are just flimsy excuses – For one who sold the waterbodies, the lake is mere poromoboke (*2) – You and I, then; what are we to him? (*2) We are poromboke too (*2) I certainly am poromboke! (*2) How about you? – Are you poromboke too? I certainly am poromboke! – How about you? Are you poromboke too? I certainly am poromboke!

Wikipedia über TM Krishna HIER

ZITAT aus dem Wikipedia-Artikel

The Chennai Poromboke Paadal music video was released on January 14, 2017 on YouTube. An initiative by T.M.Krishna and environmental activist Nityanand Jayaraman – the Tamil song was written by Kaber Vasuki and composed by R.K. Shriramkumar, and the video was directed by Rathindran Prasad. The video featured Krishna performing in and around the Ennore creek and highlighted the environmental damage done to the creek by the power plant [Kraftwerk JR] in that region. The music video trended on YouTube India for a week after its release becoming the first Carnatic song to trend on YouTube. The song’s title contained the word „Poromboke“ which formerly meant land of the commons but has become a popular swear word. The music video also garnered attention for combining Tamil slang dialect with carnatic music.

Sofia Ashraf und ein anderes Beispiel für das engagierte (umwelt-)politische „Lied“ in Südindien (Achtung: es geht um eine Aktion gegen Unilever im Jahre 2015):

Im Nachspann bei 2:42 zu beachten: „Supported by T.M. Krishna“ !

Warum der offenbar einverständliche Protest?

Information über Kodaikanal hier. Über Quecksilbervergiftung in Kodaikanal hier.

Ja, ich bekenne es, ungern bestelle ich mir ein Buch bei dem weltweit bekannten Versand, aber es ging mir darum, schnellstmöglich an die Literatur zu kommen, die mir das oben erwähnte Werk über South Indian Classical Music von Ludwig Pesch auf eine Weise ergänzt, die mir bisher verschlossen war. Seit ich 1967 die karnatische Musik Südindiens durch Josef Kuckertz im Kölner Seminar kennenlernte, – ohne seine peniblen Transkriptionsübungen hätte ich die Schönheit einer Krti von Muttusvami Dikdhitar vielleicht nie bemerkt – , seit damals jedoch gab es in erster Linie nur dieses Interessengebiet in Südindien für mich. Hier jedoch erwartet mich offenbar das entscheidende Bindeglied zur „Realität“:

 Worum gehts? 

ZITAT Pressetext

T.M. Krishna, one of the foremost Karnatik vocalists today, begins his panoramic exploration of that tradition with a fundamental question: what is music? Taking nothing for granted and addressing diverse readers from Karnatik music’s rich spectrum and beyond it, Krishna provides a path-breaking overview of south Indian classical music. He advances provocative ideas about various aspects of its practice. Central to his thinking is the concept of ‚art music‘, the ability to achieve abstraction, as the foundational character of Karnatik music. In his explorations, he sights the visible connections and unappreciated intersections between this music form and others – Hindustani music, Bharatanatyam, fusion music and cine music – treading new, often contentious, ground.

(Fortsetzung folgt)

Allerweltsmusik

DIE ZEIT der Ohrwürmer

Ich spare mir jede Bewertung und erst recht eine vorsorgliche Entrüstung.

Immerhin In einer Zeitung wie DIE ZEIT zwei Artikel zum Thema Musik, welcher Couleur auch immer, in einer einzigen Ausgabe, der aktuellen vom 12. (oder 11.) April 2018. Heute ist Freitag, der dreizehnte. Gehen wir der Sache nach:

1) Der Artikel über den Musiker HIER. Das Allerweltsgenie / Größte Ohrwurmkunst: Die Musik von Felix Jaehn, dem neuen deutschen DJ-Superstar, ist famos bis an die Schmerzgrenze. Von  .

Auch die dort angesprochene NDR-Talkshow ist greifbar: HIER.

NDR Talkshow Screenshot 2018-04-13 08.41.06 Screenshot Jaehn/Schöneberger

2.) Der Artikel über den Fake-Song „Menschen, Leben, Tanzen, Welt“ Hier

DIE ZEIT Seite 49 „Man muss abwaschbar bleiben“ Die Songwriter Niko Faust und Alex Werth haben für das „Neo Magazin Royale“ den banalsten Song der Welt gebaut. Der Beitrag wird nun mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet. Interview: Hannah Schmidt.

Die Musik:

Zitat aus dem ZEIT-Artikel, Niko Faust:

Es gibt viele Popsongs, die tolle Elemente und Tiefe enthalten und trotzdem recht eingängig sind. Zum Beispiel Britney Spears‘ Toxic, der noch immer als einer der cleversten gilt.

„… tolle Elemente und Tiefe…“ :

(Fortsetzung folgt)