Archiv der Kategorie: Politik

Kant und Putin

Ein Bericht über seine bizarren Lektüren

Thomas Assheuer schreibt in der ZEIT vom 2. März 22:

Zunächst, im ersten Jahrzehnt seiner Amtszeit, zeigen seine Reden – durchaus glaubwürdig – eine Hinwendung zu Immanuel Kant, für Putin ein Gewährsmann kollektiv vernünftiger Politik. Dieser großartige Denker, erklärt er 2005, sei der »gemeinsame Landsmann « von Deutschen und Russen, und ein Philosoph des Friedens sei er auch: »Ich erinnere daran, dass Kant kategorisch dagegen war, zwischenstaatliche Meinungsverschiedenheiten durch Krieg zu lösen (…). Wir müssen seine Lehren über die Lösung von Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln in die Tat umsetzen«.

Nicht lange, und Putins Interesse am Aufklärer Kant kühlt ab. Spätestens mit seiner dritten Amtszeit, also ab 2012, stehen nur noch konservative Autoren auf der Leseliste; fortan geht  es Putin nicht mehr um den russischen Beitrag zur »europäischen Familie«, es geht ihm um Abgrenzung und Selbstbehauptung.

Quelle DIE ZEIT 2. März 2022 Seite 59  »Wer sagt denn, dass das Gute immer gewaltfrei sein sollte?« Wladimir Putin, am 22.2.2022 / In Putins Weltbild ist Russland ein Reich des Widerstandes gegen den Westen. Das zeigen auch seine bizarren Lektüren / Von Thomas Assheuer / Zur neuen ZEIT-Ausgabe, persönlich genommen, siehe hier !

Dabei hat Kant in seiner Schrift zum Ewigen Frieden bereits eine ironische (zynische?) Handlungsanleitung entworfen, „sophistische Maximen“ nennt er das, eine unmoralische Klugheitslehre, die nun fast nahtlos wirklich zu Putin passt:

Mit Seite 59 beginnen, dort 1. Fac et excusa (JR Schaffe Fakten und entschuldige dich für Kollateralschäden), 2. Si fecisti, nega (JR Wenn du etwas Schlimmes angerichtet hast, streite ab, dass du es warst), 3. Divide et impera (JR Entzweie die anderen, um so leichter sind sie rauszuhalten und zu beherrschen).

1795 (nach den großen Kritiken)

Tage des Durchblicks

Beispiele aus dem Leseleben

Es ist vielleicht so, dass man es nun mal braucht, in Tagen größter Verunsicherung eine höhere Aktivität zu entfalten, auch in Bereichen, die jeder Außenstehende für abseitig halten wird, und ich könnte nicht einmal zugeben, dass es nur zur eigenen Versicherung geschieht. Niemand bedarf meiner Arbeit an der Bach-Fuge BWV 865 (seit Dezember 2021!), und nur ich möchte diese Erfahrung nicht missen, wie ich meinen eigenen Widerstand, mein Missfallen, meine Blindheit des Gehörs  ganz allmählich überwunden habe.

glorreiches Ende – wer spricht von Siegen?

Es passt: die störende Cookies-Banderole am unteren Bildrand dieses Blogs, die ich nicht heraufbeschworen habe und auch nicht beseitigen kann, und wenn man sie anklickt,  ärgert sie einen doppelt durch sinnloses Bedauern.

Seit einer Woche die fortwährende parallele Beschäftigung mit dem Ukraine-Krieg, die Skrupel, sich überhaupt mit ferner liegenden Themen zu beschäftigen. Was bedeuten mir Tonleitern auf der Geige? Technische Grundlagen? Und was aus anderem Blickwinkel? Nichts. (Wenn jemand das hört? jämmerlich! Strickleitern!) Ich gehe durchs Haus, viele Stufen, ich kann Treppensteigen, abwärts, aufwärts, ich lebe noch. Das Klavier will belebt werden. Chopins E-dur-Etüde im legatissimo. Ich kenne die schweren Stellen der Bach-Fuge, die an sich eine Zumutung ist. Er war ein junger Mann, als er sie schrieb, rücksichtslos in seinen Forderungen, wieso muss er alle kontrapunktischen Künste durchziehen, alle auf einmal, und nachher klingt es nach Berserker, aber man freut sich, es endlich in den Griff zu bekommen. Wozu?

1988

Wann hatten wir das Nagasvaram-Ensemble aus Madras auf dem Domplatz zu Gast? Was für ein Sieg des Fremden über die Fernsehästhetik. Von wegen „näselnd“. Psychologisch steht die Zurna eher in der Nähe unserer Trompete. Auf der Seite der Sieger.

Ich beschäftige mich immer noch mit Oboen, „Reeds“ heißt die CD, die ich auflege, wenn ich die „Ohrwürmer“ hinter mir habe. Und Christians Bücher, die mich herausfordern. Alles wie neu. Und mit der ZEIT geht es noch weiter zurück, WDR 70er Jahre, der große Bericht von/über Désirée Nosbusch, die Redaktion Kinderfunk, da sah doch alles nach Aufbruch aus, Krings sprach mit leuchtenden Augen von Georg Bossert, –  alles sollte anders werden, besser natürlich, aus „Volksmusik“ sollte gerade  „Musik der Völker“ werden -, auch Lieder für Kinder spielten eine Rolle. Ich wusste bis heute nicht, dass der eben erwähnte, damals so provozierend jugendbewegte Mann 1995 von seinem Sohn erstochen worden ist.

Resilienz beginnt damit, dass man seine eigene Gesellschaft kennt. Wie man sagt, sinken große Schiffe auf dem Meer nicht wegen des Wassers um sie herum, sondern wegen des Wassers, das in sie eindringt. Gesellschaften können auf unterschiedliche Weise verwundbar sein, die gefährlichste ist es aber, wenn eine Regierung ihre eigene Gesellschaft falsch versteht und auf ihre eigene Propaganda hereinfällt. Putins Krieg in der Ukraine entwickelt sich zu einem klassischen Beleg dafür.  Der russische Präsident ist felsenfest überzeugt, dass Russen und Ukraine ein Volk sind, hat aber die Ukrainer nie dazu befragt. In Putins Fantasie sieht seine »Spezialoperation« wahrscheinlich wie die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 aus. Aber die Teilung der Ukraine ist das genaue Gegenteil der Einheit. Und die Ukrainer wehren sich, sie kämpfen um ihre Freiheiten und ihre Unabhängigkeit.

Ivan Krastev

Heute ist der Tag, an dem in aller Frühe die ZEIT im Briefkasten steckt, und mir scheint, das voluminöse Blatt kam nie gelegener. Ich werde die wesentlichen Artikel gleich auflisten, in der Rangordnung ihrer Wesentlichkeit.

Alexander Kluge Der wichtigste Artikel heute.

»Sieger ist nicht, wer die Schlachten gewinnt« Der Krieg ist zurück in Europa. Ein Gespräch mit Alexander Kluge über das Böse und die Möglichkeit eines Frieden. Interview: Peter Neumann

Fritz Habekuss: Der Zweifel Schwächelnder Homo Sapiens (Seite 39)

Tobias Hürter: Da und gleichzeitig nicht da Werner Heisenberg revolutionierte die Physik mit seiner Unschärferelation. Sein Einfluss reicht bis in die Zukunft

Stefan Schmitt: Was für immer verloren geht, ist für immer verloren. Naturschutz verträgt keinen Aufschub. (Seite 1)

Giovanni di Lorenzo: Wie können wir uns wehren? Von einem Tag auf den anderen scheint das Land politisch ein anderes geworden zu sein. Die Frage aber ist, ob die Gesellschaft da mitgeht. (Seite 1)

Alexander Kluge:

Wir können auf keinen Fall eine Übersichtsposition für uns beanspruchen: so als könnte jeder ein Richter in dieser Sache sein. Mir kam es natürlich auch bizarr vor, wie Putin da mit Macron oder Scholz an diesem langen Tisch zusammensitzt. Oder wie er seinen eigenen Geheimdienstchef abkanzelt. Aber ist es Theater, ist es Darstellung von Macht wie im 18. Jahrhundert, ist es Verrücktheit oder Kalkül? Das kann ich nicht beurteilen. Als Jurist weiß ich, dass der Rechtsprechung, dem Urteil von zwanzig Zeilen, oft dreißig Seiten Sachverhalt vorausgehen. Und die haben wir nicht.

Man muss den ganzen Apparat resetten. Und zwar auf beiden Seiten.

Sieger ist nicht, wer die Schlachten gewinnt – Sieger ist, wer einen Frieden herstellt.  (Beispiel:)

JR Ich hatte noch etwa eine lange Seite weiter abgeschrieben, während das Räsonnieren in mir immer lauter wurde: „Er versucht das flammende Unrecht zu relativieren“, und ich las alles aufs neue, versuchte ihn besser zu verstehen und wusste am Ende: es ist mir unmöglich, neutral zu verhandeln, wenn sozusagen der Teufel im Gerichtssaal gleiches Stimmrecht oder auch nur Mitspracherecht haben soll. Ich bin ungeeignet. Ich will mich gar nicht einigen. Ich will einen Schuldspruch, sofort. Ich gebe noch einen Teil der Abschrift, bevor ich pausiere:

Das Völkerrecht ist entstanden im Umkreis von Münster und Osnabrück 1648. Dort wird damals ein achtzigjähriger Krieg zwischen den Niederlanden und Spanien und zeitgleichg ein dreißigjähriger Krieg in Mitteleuropa in einem fünf Jahrer dauernden Verhandlungsprozess beendet. Das Entscheidende an diesem Westfälischen Frieden ist die Feststellung des »Normaljahrs«. Man einigt sich darauf, dass der evangelische und katholische Besitzstand so bleiben odfer wiederhergestellt werden soll, wie er am 1. Januar 1624 war. Dies ist der Schnittpunkt der Schmerzlinie für alle Parteien, der einzige Zeitpunkt, an dem nicht die eine Seite mehr gesiegt hatte als die andere. Dieser Punkt ist ein kleiner Möglichkeitsraum. Diesen Möglichkeitsraum zu finden und auszuverhandeln, das war der Schlüssel zum Frieden. (Was heißt das in Bezug auf den Krieg in der Ukraine?)

Zuerst: keine Politik oder Redeweise der Selbstgewissheit. In der derzeitigen Debatte behauptet jede Seite, jedes Gremium, die Übersicht zu haben. Die gibt es aber gar nicht. Wir sprechen mit dem großen Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz von den »Nebeln des Krieges«. Sowie der Krieg ausbricht, ist alles unbestimmt. Dieses Nebelhafte, dieses Unbestimmtheitsfeld, ist die Herausforderung, auf die wir antworten müssen. Und deswegen können wir mit einer Psychologisierung Putins oder mit einer moralischen Haltung, die wir im Westen alle teilen, keine Sicherheitsstruktur gewinnen. Immanuel Kant hat einmal sehr schön gesagt: Selbst eine Welt von Teufeln, sofern sie die Regeln der Vernunft anwenden, könnte eine Republik gründen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin in keiner Frage gleichgültig. Meine Urteilsbasis ist: Wo wäre selbst für einen Verrückten oder einen Bösen der Punkt, an dem er sich aus Realitätsgründen einigen kann? (…)

Die Hoffnung auf einen gerechten Frieden verengt den Möglichkeitsraum. Der Krieg ist ein Monster. Sein erstes Element ist, wie gesagt, die Nebelhaftigkeit.

Soweit Alexander Kluge. (DIE ZEIT SEITE 59)

Liegt der Fall heute nicht ganz anders? Es geht nicht in Richtung Republik, sondern David gegen Goliath, und diesmal zum Nachteil des ersteren. Wie es Giovanni di Lorenzo in seinem Leitartikel sagt:

Es sind nicht »wir«, die Frieden in die Ukraine oder nach Russland oder an irgendeinen anderen Ort der Welt tragen müssten. Den Krieg führen doch Putin und seine Soldaten. Es ist nicht nur für Deutschland, aber besonders für die Menschen hier, eine brutale Konfrontation mit der Realität. Was tun, wenn jemand weder durch gute Worte noch durch gute Taten, noch durch Konzessionen zu besänftigen ist? Wenn er aus Machtstreben und Verblendung das Böse in die Welt trägt? Wenn er Völker überfällt, Menschen tötet und ihre demokratisch gewählten Vertreter von tschetschenischen Killerbanden jagen lässt? (…)

Der Korrespondent der BBC in Moskau, Steve Rosenberg, hat (…) gerade in einem fulminanten Text dargelegt, wie Putin bislang alle Drohungen wahr gemacht hat, obwohl sich das im Westen keiner vorstellen wollte. Und dass er bereits 2018 kundgetan hat, mit schärfsten Waffen auf jeden »Entschluss« zu reagieren, »Russland zu vernichten« – was auch immer er darunter versteht. Putin sagte damals: »Ja, das wäre eine Katastrophe für die Menschheit und die Welt … Aber warum bräuchten wir eine Welt ohne Russland?« Man kann nur hoffen, dass Putins Ankündigung dieses Mal wirklich nur eine Drohung ist, obwohl er mit einiger Sicherheit davon ausgehen kann, dass der Westen selbst auf einen Nuklearschlag militärisch nicht reagieren würde. Er weiß, was von einer Welt übrig bliebe, die sich mit Atomwaffen bekriegte.

Quelle DIE ZEIT 2.3.22 Seite 1 Giovanni di Lorenzo Wie können wir uns wehren? Von einem Tag auf den anderen scheint das Land politisch ein anderes geworden zu sein. Die Frage aber ist, ob die Gesellschaft da mitgeht.

Seltsam, wie man dazu neigt, nach solchen aktuell bezogenen Artikeln alles andere auch damit im Zusammenhang zu sehen. Was uns droht, ist absolut anders als zu Napoleons oder Hannibals Zeiten, und auch die Tabula rasa nach dem Dreißigjährigen Krieg sah immerhin noch nach Zukunft aus.

Und so lese ich den Habekuss-Artikel als eine Wende der Evolutionsgeschichte:

Bisher deuteten fast alle Funde darauf hin, dass Homo sapiens vor 43.000 bis 45.000 Jahren auf dem Kontinent ankam. Der war damals Heimat der Neandertaler, die kurz darauf ausstarben. Die Schlussfolgerung lautete: Der moderne Mensch war dem Neandertaler haushoch überlegen, sodass er ihn binnen kurzer Zeit verdrängte. Es war nicht gerade eine Erzählung der Bescheidenheit.

Nun zeigen Funde in einer Höhle in Südfrankreich ein viel komplexerer Bild. In der Grotte Mandrin, von der aus man das Rhônetal überbvlickt, fanden die Archäologinnen und Anthropologen in verschiedenen Schichten Steinwerkzeuge und Zähne. Die meisten stammen von Neandertalern, einige jedoch von modernen Menschern. Das Besondere: Die Funde wechseln einander ab. Vor 80.000 Jahren lebten hier Neandertaler, bis vor 54.000 Jahren Homo sapiens auftauchte – wenngleich nur für 40 Jahre. Dann übernahmen erneut Neandertaler. Rund 10.000 Jahre später lassen sich wieder Homo-sapiens-Spuren nachweisen.

Diese Forschungsergebnisse datieren die Ankunft des modernen Menschen in Europa gut 10.000 Jahre nach vorn – ein gewaltiger Sprung. Das heißt, seine Ausbreitung ging langsamer vonstatten und war weniger geradliniug als vermutet. Homo sapiens scheint sich zunächst so schwergetan haben im neuen Lebensraum, dass er wieder verschwand. Die Funde sind spannend, weil sie zeigen, dass die Welt nie so simpel gewesen ist, wie es uns die Erzählung von Homo sapiens in Europa glauben machen wollte. Kein Zweifel: die kommenden Jahre werden das Bild noch weiter verfeinern.

Quelle Fritz Habekuss: Der Zweifel Schwächelnder Homo sapiens / DIE ZEIT 2.3.22 Seite 39

Siehe auch Wikipedia die Grotte Mandrin, Artikel zuletzt bearbeitet am 13. Februar 2022.

Was will ich als nächstes notieren? Heisenbergs Physik der Unschärferelation oder die Geschichte von Désirée Nosbusch, die im WDR begann, weltenfern, aber nicht weit von den Eckpunkten meiner Arbeitswelt, die damals durch Budengasse, Heinzelmännchenbrunnen, Musikhaus Tonger, Wallrafplatz, Funkhaus, Sendesaal, Domplatz und Hauptbahnhof bezeichnet werden konnte.

Die Theorie bestimmt, was man beobachten kann. Wenn nun die Quantenmechanik eine prinzipielle Grenze dafür setzt, wie genau sich Ort und Geschwindigkeit eines Teichens messenb lassen, dann sind diese Größen eben unbestimmt: Es ist nicht nur so, dass man sie nicht genau kennt. Die Welt selbst verschwimmt. Nicht nur unser Blick auf sie. Das ist der unerhörte Kern jener Formel, die Heisenberg damals hinschreibt: die Unschärferelation. (…)

Auch der Begriff Unschärfe lässt Spielraum für die Antwort auf die Schlüsselfrage: Was ist unscharf? Unser Bild von der Welt? Oder die Welt selbst? Hat das Elektron in Heisenbergs Gedankenversuch tatsächlich keinen eindeutigen Ort und keine eindeutige Geschwindigkeit – oder kennt die Beobachterin diese Größen nur nicht?

Für einige Kollegen Heisenbergs ist die Vorstellung, die Welt sei irgendwie unscharf und die Kausalität außer Kraft gesetzt, nicht akzeptabel. »Wenn schon, dasnn möchte ich lieber Schuster oder gar Angestellter einer Spielband sein als Physiker«, erklärt Albert Einstein. Er und Erwin Schrödinger, die beide an der Entstehung der Quantenmechanik mitgewirkt hatten, werden zu Dissidenten. Einstein versucht jahrelang, die Unschärferelation zu widerlegen und eine »schärfere« Beschreibung der Welt zu finden. Vergebens.

Die Quantenmechanik ist so erfolgreich, dass sich auch Wissenschaftler anderer Disziplinen darum bemühen, von ihrem Erfolg zu profitieren. So gab es Versuche, die Unschärferelation in die Anthropologie und die Filmtheorie zu übertragen. Die Anwesenheit ethnografischer Beobachter beeinflusst die beobachteten Menschen. Die Präsenz einer Kamera beeinflusst die gefilmten Ereignisse.

Physiker sind selten erfreut, wenn ihre Unschärferelation zweckentfremdet wird, um Trivialitäten wie »Alles ist irgendwie ungewiss« Gewicht zu verleihen. Sie reagieren alleergisch auf jede Form von »Quantenpoesie«. Aber sie sind nun mal das Vorbild dafür, wie man sich in einer unscharfen Welt zurechtfindet.

Quelle DIE ZEIT 2.3.22 Seite 46 Tobias Hürter: Da und gleichzeitig nicht da / Werner Heisenberg revolutionierte die Physik mit seiner Unschärferelation. Sein Einfluss reicht bis in die Zukunft.

Ganz neu ist mir das alles nicht, vorn in dem Heisenberg-Band steht der Eintrag: August 1956. Gekauft wohl in den Ferien auf Langeoog. Unsere Welt galt uns als harmonisch, wie man sieht, – auch das ein unscharfes Bild:

Unter Brüdern

Heute ist sie auseinandergefallen. (Andererseits: sie bildet sich neu, und es blieben Kinder und EnkelInnen.)

Am Klavier

Im Nachhinein: Harari

Keine Voraussage, aber…

Ein Weltbestseller, geschrieben 2018, bzw. davor, aber die Krim war von Putin schon vereinnahmt (2014). Ich habe die 21 Lektionen mit großem Interesse gelesen, habe dort aber jetzt nur nachgeschlagen, um mich der Atemübung des letzten Kapitels zu vergewissern, und treffe auf Anhieb mittendrin auf das Stichwort Ukraine, – ja wirklich, während sich draußen im Augenblick sowieso alles um dieses Thema dreht, spielt plötzlich auch der Zufall mit.

Verzweiflung und Hoffnung/ Krieg

Wahrheit / Postfaktisch

Über den Krieg nachdenken? Sich engagieren (natürlich! und zwar Geld spenden, wie? siehe z.B. hier.) Ich habe beim ZDF gespendet, gebe hier aber die ARD-Adresse an, weil ich gerade die Sendung Brennpunkt gesehen habe:

Außerdem werde ich den aktuellen Beitrag von Gwendolyn Sasse verlinken, die mich kürzlich schon bei LANZ beeindruckt hat (Link ganz am Ende):

hier die Sendung Brennpunkt, darin ab 19:20 („wie Putin seine Entscheidungen trifft“)

Philosophie (Theorien des Krieges) hier. Wikipedia (als Anregung, wenn auch noch nicht endgültig bearbeitet) über den Krieg hier.

Über den Krieg – heißt vor allem über die Bedingungen eines (ewigen) Friedens nachdenken: KANT ! hier.

Ich erinnere mich an die 50er Jahre, als die Erinnerung an den Krieg noch „frisch“ war: es war gutgemeint aber langweilig, die Abhandlung über den „ewigen Frieden“ zu lesen. Damals im November 1956. Es muss einem auf der Seele brennen. Samt der dummen Frage „WARUM“. (wie heute!)

Politisch-historische Recherche

Heute (24.02.2022) ZEIT-Lektüre

Navid Kermani ist für mich ein Mann des Vertrauens, aber es sind Tage, in denen alles, was gesagt wird oder zu lesen ist, auf schwankendem Boden zu stehen scheint. Fast: nicht wahr sein kann. Vergangene Nacht hatte ich schon Markus Lanz mit Gregor Gysi und Alexander Graf Lambsdorff zum selben Thema gehört. Ich versuche, das eine mit dem anderen zu korrigieren.

DIE ZEIT Feuilleton Seite 47 / folgender Text auf Seite 48

abrufbar HIER

Abschrift JR (nach Gehör):

LAMBSDORFF 14:58 Das Märchen von diesem angeblichen Versprechen, das hat es nie gegeben. (Gysi: Oh doch) 1990, das muss man sich mal vor Augen führen, wenn man 1990 der damals ja noch existierenden Sowjetunion versprochen hätte, die NATO würde sich nicht nach Osten ausdehnen, konnte sich das nur, und darum ging es, auf das Gebiet der damaligen DDR beziehen, denn: der Warschauer Pakt existierte ja noch! Warum sollte man in Moskau denn glauben, (da sehn wir die Karte), Länder wie Lettland, die sogar noch Teil der Sowjetunion – Estland, Lettland, Litauen – Polen, die Tschechoslowakei waren noch Teil des Warschauer Pakts, in Moskau war man fest davon überzeugt, man würde einen reformierten Warschauer Pakt organisiert bekommen, es konnte gar keine Diskussion darüber geben, und alle, die an dieser Diskussion damals beteiligt waren, sagen ganz klar, dieses Versprechen hat es nicht gegeben. Was es gegeben hat, und was bis heute eingehalten wird: es wird keine ausländischen Truppen geben, und es wird keine NATO-Einrichtung geben in den neuen Bundesländern, und die gibt es bis heute nicht, das heißt: der Westen hat hier sein Versprechen gehalten, und dieses Märchen, wir hören es immer wieder, ist einfach unwahr. (…….)

GYSI Zwei Beweise: erstens gibt es dieses Video, wo Genscher 1990, er steht neben Baker, sagt: weder die DDR noch ein anderes Land im Osten wird Mitglied der NATO werden, also nicht nur die DDR, das bezog sich auf den ganzen … (das war doch völlig unerheblich!).

Das zweite (ML ganz ganz kurz: das Argument – wir haben das Video letzte Woche gezeigt, (-unerheblich!-) ein Interview, das kann man sich ankucken), GYSI: auch als Teil dieser Sendung das habe keine Bedeutung, weils nicht im Vertrag steht, na, dann müssen sich Außenminister gar nicht mehr äußern, wenn es sowieso keine Bedeutung hat, was sie sagen. Aber das zweite ist noch was anderes: es ist jetzt ein Vermerk gefunden – übrigens veröffentlicht im SPIEGEL, und zwar gab es eine Sitzung der vier Direktoren der Außenministerien der USA, Großbritannien, Frankreichs und Deutschlands, und damals gab es ein Ersuchen, schon von Ungarn und von Polen, in die NATO gehen zu dürfen, 1991, nach Herstellung der deutschen Einheit, und alle vier Direktoren haben gesagt, das geht nicht, weil die Sowjetunion als Preis für ihre Zustimmung zur deutschen Einheit versichert haben, dass der Osten nicht in die NATO aufgenommen wird. Das ist nicht von mir, das ist von den vier Direktoren dieser vier Außenminister, daran haben sie sich nicht gehalten, übrigens: und dann diese 14 Staaten aufgenommen. Nun (Gorbatschow!) dieses Dokument hat Jelzin kritisiert, und das hat Putin kritisiert, nur der Westen ist nicht darauf eingegangen. Ich hoffe, ich habe noch die Chance zu sagen, was meines Erachtens jetzt falsch gemacht wurde, wie man hätte anders reagieren müssen, um genau das zu verhindern, was Sie jetzt beschreiben, wir stehen ja tatsächlich kurz vor einem Krieg, was natürlich eine Katastrophe wäre, wenn das passierte.

LANZ Dieses Dokument [17:50] Graf Lambsdorff, wie ist das einzuordnen? Sie als Historiker, das ist son ganz interessanter Punkt, wird natürlich häufig jetzt herangezogen: die Kollegen der WELT warens glaube ich, die dieser Tage nochmal was dazu veröffentlicht haben, ein längeres Stück, in dem es sinngemäß heißt: das ist ein Papier, das in Historikerkreisen längst bekannt war.

LAMBSDORFF: So ist es! Genau (das ist kein großes Geheimnis!) es war eine interne Notiz, LANZ und der Verweis darauf, dass einzige Dokument, das relevant ist, für all diese Themen ist „Vier plus zwei“ (sic!).

LAMBSDORFF: So ist es! Also: man darf ja eins nicht vergessen: russische Diplomatie über Jahrhunderte, sowjetische Diplomatie über 70 Jahre, – hochprofessionale Leute! Also das sind ja keine Amateure, ja, man kann sagen, ich finde Ihre Entscheidung falsch oder richtig, aber das sind keine Amateure – im Zwei-plus-Vier-Vertrag, den die Sowjetunion ja mitverhandelt hat, steht nichts von einem Versprechen, dass die NATO nicht ausgeweitet wird, und dieser eine Gesprächsvermerk, Jürgen Krobock [??? gemeint ist wohl Dieter Kastrup ], der damalige politische Direktor, hat das ja selber ganz klar gesagt, das hat überhaupt nichts zu bedeuten, sei eine interne Unterhaltung gewesen, es ging um die Frage: gibt’s n NATO-Beitritt, ja oder nein, und wir haben das untereinander besprochen, es ist kein Dokument von irgendeiner rechtlichen Bindewirkung, er hat das sogar gesagt, das sind Fragen, die entscheiden wir nicht als Staatssekretäre oder politische Direktoren, das entscheiden ganze Regierungen. Damit … das Dokument ist wirklich so eine aus dem Zusammenhang gerissene… ein Schnipsel, der aber wirklich nichts zu tun hat mit dem, was damals wirklich politisch beschlossen worden ist. [19:03] GYSI etc.

Zur Ergänzung:

Sendung ARD Weltspiegel 9.3.2014

Artikel abrufbar hier

Der Phoenix-Film „Poker um die deutsche Einheit“ hier (noch 1 Tag verfügbar!!!)

Als ich gestern begann, mir die Vorgeschichte des Ukraine-„Konflikts“ zu erklären und mich zugleich dem unbegreiflichen aktuellen Geschehen zu verweigern, wusste ich noch nicht, dass abends das Wort „fassungslos“ zu den am meisten gebrauchten des Tages gehören würde. Ich werde die entsprechende LANZ-Sendung verlinken. Nicht weil ich Lanz bewundere, sondern: obwohl er als Moderator oft seine Gäste nur stört; sie werden trotzdem all das sagen, was notwendig ist. Was kann man tun, ohne sich auf das Wort „fassungslos“ zurückzuziehen? Ich übe also Bach und Chopin, insbesondere die Mazurka h-moll (siehe Artur Rubinstein hier), wohl wissend, was sie bedeutet: dass sie wie überhaupt alle Mazurken Chopins auch als Mahnmale gegen die russische Herrschaft in Polen zu lesen sind, – auch wenn nicht extra „Mesto“ drübersteht.

Titelbild ZDF LANZ Screenshot

LANZ ZDF 24.02.2022 HIER Zu Gast: Politiker Robert Habeck, Politiker Norbert Röttgen, Diplomat Andrij Melnyk, Politiker Gerhart Baum und Journalistin Alice Bota.

Die Szene („wie sehr dieser Mann das Land im Griff hat“…) 1:16:22 mit dem Spionagechef Naryschkin – Putin „zwingt seine Clique, sich dazu zu bekennen.“ (Bota)

  Man könnte meinen: einer oben, einer unten. In Wahrheit deckungsgleich, unter ihresgleichen!

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Wie es bei LANZ am nächsten Tag weiterging: (Gäste: Politiker Jürgen Trittin, Soziologe Gerald Knaus, Journalistin Claudia Kade und Politologin Gwendolyn Sasse) am 25.02.22 hier

Sind wir eine „Kulturnation“?

Das klingt schön, jeder möchte vielleicht dazugehören und wäre damit engstirniger nationalistischer Vorurteile kaum verdächtig. Allerdings muss man nur an die neue Rolle des Islam denken, die sich seit der Zeit der „Türkenkriege“ ziemlich geändert hat. Nur aus historischen Gründen verübeln wir es unserm „fünften Evangelisten“ Johann Sebastian Bach kaum, wenn in seinem Kantatentext Satan, Türke und Papst gleichermaßen gebrandmarkt wurden. Andererseits ist vielen Menschen nicht klar, aus welchen Gründen man bei uns ein besonderes Problem mit der Einwanderung hat, das sich nicht mit dem Hinweis auf Kultur und Sprache lösen lässt. Wir sind keine „Nation von Volksgenossen“.  Jürgen Habermas hat das mit Blick auf unser Nachbarland erläutert:

Als Franzose gilt, wer in Frankreich geboren und die Rechte eines französischen Staatsbürgers besitzt; bei uns hat man noch bis zum Ende des letzten Krieges feine Unterscheidungen zwischen »Deutschen«, also Staatsbürgern deutscher Abstammung, »Reichsdeutschen«, d.h. Staatsbürgern anderer Abstammung, und   »Volksdeutschen« – den Deutschstämmigen im Ausland.

Es lohnt sich, in dem berühmten Artikel, den Habermas im Anschluss an Charles Taylor schrieb, weiterzulesen:

In Frankreich hat sich das Nationalbewußtsein im Rahmen eines Territorialstaates ausbilden können, während es sich in Deutschland zunächst mit der romantisch inspirierten und bildungsbürgerlichen Idee einer »Kulturnation« verbunden hat. Diese stellt eine imaginäre Einheit dar, die damals in den Gemeinsamkeiten der Sprache, der Tradition und der Abstammung Halt sichern mußte, um über die Realität der bestehenden Kleinstaaten hinausgreifen zu können. Noch folgenreicher war, daß sich das französische Nationalbewußtsein im Gleichschritt mit der Durchsetzung demokratischer Bürgerrechte und im Kampf gegen die Souveränität des eigenen Königs entfalten konnte, während der deutsche Nationalismus, unabhängig von der Erkämpfung demokratischer Bürgerrechte und lange vor der Durchsetzung des kleindeutschen Nationalstaates von oben, aus dem Kampf gegen Napoleon, also gegen einen äußeren Feind, entstanden ist. Aus einem solchen »Befreiungskrieg« hervorgegangen, konnte sich das Nationalbewußtsein in Deutschland mit dem Pathos der Eigenart von Kultur und Abstammung verbinden – ein Partikularismus, der das Selbstverständnis der Deutschen nachhaltig geprägt hat.

Von diesem »Sonderbewußtsein« hatte sich die Bundesrepublik nach 1945, nach dem erst allmählich verarbeiteten Schock über den Zivilisationsbruch der nationalsozialistischen Massenvernichtung, abgewendet. Dem kamen der Souveränitätsverlust und die Randlage in einer bipolaren Welt entgegen. Die Auflösung der Sowjetunion und die Wiedervereinigung haben diese Konstellation gründlich verändert. Deshalb legen die Reaktionen auf den wieder aufgeflammten Rechtsradikalismus – und in diesem Zusammenhang auch die verlogene Asyldebatte – die Frage nahe, ob die erweiterte Bundesrepublik heute den Weg der politischen Zivilisierung fortsetzen wird oder ob sich das alte »Sonderbewußtsein« in anderer Gestalt erneuert.

Quelle Jürgen Habermas: Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat / in: Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung / Mit Kommentaren von Amy Gutmann, Steven C. Rockefeller, Michael Walzer und Susan Wolf. Mit einem Beitrag von Jürgen Habermas (Seite 123 – 163) suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2009

Siehe in diesem Blog auch hier und hier

Precht zitiert Tocqueville

… und wir zitieren Precht:

Die ständige Fokussierung auf Geld prägt die US-amerikanische Gesellschaft wie nichts anderes und ist… (siehe weiter im Text):

…nehmen. Gesichert muss nur sein, dass das Eigentum geschützt wird, wobei sehr vieles zu Eigentum werden kann, von Rohstoffen und Ressourcen über Geld bis hin zu geschützten Ideen. In dieser Logik ist Umsatz und Gewinn zu steigern grundsätzlich gut, und das inwendige Gesetz zwingt zu einem Schneller, Höher, Weiter und Mehr. Die dazugehörige Mentalität ist der Egoismus, der jeden Marktteilnehmer gegenüber anderen abgrenzt, ihn stärkt und das Wachstum antreibt.

Ökonomisch ist das in sich schlüssig. Allerdings … (Seite 132)

Quelle Richard David Precht: Von der Pflicht / Eine Betrachtung / Goldmann München 2021 (siehe auch hier)

Als Ergänzung lese man über Tocqueville weiter bei Wikipedia, über das Tocqueville-Paradox etwa im Journal21.ch hier, z.B. auch über das Phänomen des „Wutbürgers“, dem wir fast täglich irgendwo in den Nachrichten begegnet sind..

Meine Kurzversion: Jeder hat die Freiheit zu sagen, was er will, aber nicht: komplexer zu denken, als ihm gegeben ist. Wenn der Wutbürger im Straßenverkehr darauf bestehen würde, Einbahnstraßen in Gegenrichtung zu benutzen und grundsätzlich auch im absoluten Halteverbot zu parken, und bei Bestrafung behauptet, der Verkehr in Deutschland sei also faschistisch geregelt… Er wird schneller begreifen, wenn Führerschein oder Auto bei Fehlverhalten konfisziert werden. Ihm muss nicht die Komplexität des ganzen Verkehrssystems erläutert werden, er begreift ohnehin nur das ganz Naheliegende (das unmittelbar sein Ego betrifft) und verwechselt Individualismus mit Solipsismus. Das Individuum lebt in und dank einer Gemeinschaft, und die notwendige Konstruktion eines Staates für eine große Gemeinschaft berechtigt noch nicht zu der Behauptung, ihn als Gefängnis zu betrachten.

Reden Wählen

Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken

Dies ist fast der Titel eines berühmten Essays von Heinrich von Kleist, woraus ich allerdings gar nichts zitieren will. (Auch dürfte ihm getrost widersprochen werden.) Eher aus einer Talkshow, die mir bei der Verfertigung von Gedanken wirklich hilft. So wie kürzlich Navid Kermani hier (4 Minuten Empörung).

ZITAT (aus diesem Text hier )

Während am Mittelmeer die Wälder brennen, unsere Außenpolitik in Afghanistan zertrümmert wird und die Corona-Zahlen steigen, scheint der Personen-Wahlkampf wie eine intellektuelle Zumutung.

Es gäbe so viel zu diskutieren. So macht sich zum Beispiel die Linke in ihrem Programm ausführlich Gedanken darüber, wie die Energiewende sozialverträglich gestaltet werden kann. Liest man gleiches Thema bei der SPD, so scheint Energiewende kein Sozialthema zu sein. Über solche Unterschiede sollten wir mehr sprechen.

Die entscheidende Frage ist: Was wählen wir denn eigentlich am 26. September? Klar wählen wir indirekt auch den künftigen Kanzler bzw. die künftige Kanzlerin, die das Land ein Stück weit prägen. Aber zunächst einmal wählen wir die neuen Abgeordneten des Bundestags. Menschen, die unsere Interessen in politische Handlungen münden lassen sollen. Die Hälfte von ihnen wird deshalb direkt gewählt, die andere Hälfte über Listen. Den Parteien kommt bei der Wahl eine dreifache Aufgabe zu: Sie kümmern sich zunächst – neudeutsch gesprochen – ums Personalrecruting. Sie bündeln dann politische Inhalte zu Wahlprogrammen. Und sie helfen nach der Wahl dabei, im Bundestag eine Regierung zu bilden. Erst ganz am Ende wird ein Kanzler bzw. eine Kanzlerin gewählt.

Quelle der beiden Zitate siehe oben (Link in Klammern)

Dann „Markus Lanz“, egal wie Sie – liebe Leser/innen – ihn finden, oft erlebt man Sternstunden einzelner Menschen. Große Inspirationen und Ausblicke. Oder einfache und ehrliche Statements. Ich empfehle etwa bestimmte Einstiege, sie finden das zum Beispiel hier (bis 1.9.2022), beginnend mit dem Journalisten Ulf Poschardt ab 1:02:45 , dann gleich anschließend die Juristin Homaira Hakimi  ab 1:10:17 oder auch jederzeit vorher (z.B. ab 48:40).

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Zum Schluss eine Erinnerung an WDR-Freund Klaus Bednarz, der mir 1985 den Weg nach Georgien erschloss (Aufnahmereisen 1986 und 1988), unvergesslich, wie hier in seiner Sendung MONITOR am 8.11.2001 betr. Afghanistan das Gedicht von Theodor von Fontane, bestürzende Daten: 2001 und – 1859.

Dank für den Hinweis an das Ehepaar Hütten.

Raub, Kolonisation, Menschenverachtung

Sehen, Hören & Lernen!

 

Katalog und Arbeitsbuch Herausgegeben von der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit 1988

FILME ARTE DOKUMENTATIONEN

Obiges Video im externen Fenster hier.

Stichworte: Haiti Geschichte hier / Anténor Firmin s.a. hier / Paul Broca 19:15 Kongo Kautschuk Alice Sealey Harris Fotos 25:10 Deutsch SW-Afrika HERERO 26:27 Mengele 28:00 Sport in Brit. Kolonien / Calcutta Mohun Bagan 30:00 Fußball (1911) /  La Force Noire (1916) 33:00 Senghor / Kenia Nairobi Harry Thuku

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HEUTE: Afrikanische Kunst im europäischen Museum?

ZITAT

So landete die Schau just in jenem Museum, das von seinen Beständen her am tiefsten in der Klemme sitzt. Denn unweigerlich stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage von Kulturgutbesitz und eventueller Rückgabe in die Ursprungsgebiete. Ein im Katalog dokumentiertes Begleitprogramm zur Ausstellung befragte alle beteiligten Künstler nach ihrem Verhältnis zu Afrika und zur Restitutionsproblematik. In der Vielfalt der Antworten spiegelt sich die Komplexität dieses Themas. Er sei gegen die Rückgabe, erklärt unumwunden der plastische Künstler Calixte Dakpogan aus Benin, denn die Werke hätten außer Landes einen größeren Wert. Eher, als museale Kunsträume in ihrem Land zu schaffen, sollte man die dort noch lebendigen Kulturoasen der Dörfer und Regionen vor zerstörerischen Entwicklungsprogrammen schützen, erklärt ihrerseits die Gabunerin Myriam Mihindou.

Quelle Süddeutsche Zeitung 29. Juni 2021 Die Epoche Post-Primitivismus / Eine Pariser Ausstellung will mit den Klischees über das afrikanische Kunsterbe aufräumen / Von Joseph Haniman / abrufbar SZ online hier.

Zugang HIER oder medias in res (wie folgt)

„Racist, Sexist“

Von der Wut

Ich habe sofort Partei ergriffen. Als alter Herr, der ich natürlich nicht sein will. Da wird gerade erzählt von einem unschönen Erlebnis: Mila, eine junge „Asian American“ bekam von einem Mitschüler zu hören, „sein Vater habe gesagt, er solle sich von Chinesen fernhalten. Sie sei Chinesin, entgegnete sie. Darauf wich er von ihr zurück. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass Mila Rassismus erfuhr, und das Erlebnis beschäftigte sie so sehr, dass sie es in einem Song verarbeitete.“ (Sie war Mitglied einer Band.)

Es ist wohl klar, für wen ich Partei ergriffen habe, – aber das Gegenteil ist der Fall. Nämlich nicht für das süße kleine Mädchen, sondern für den bestimmt auch sehr süßen kleinen dummen Jungen. Wie gern hätte ich in der Umgebung der Kinder aufklärend gewirkt, wenn das nicht nach plumper Annäherung ausgesehen hätte, suspekt auf jeden Fall. Bedenken Sie: in der heutigen Zeit, wo kein Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland ungestraft  Birnen verteilen dürfte!

Ein neunjähriger Junge macht die Erfahrung, dass ein gleichaltriges Mädchen nicht einfach ein nettes Mädchen ist, sondern mit einer gewissen Berechtigung (Vater!) als Chinesin bezeichnet werden könnte, – eine allerdings böse gemeinte Bezeichnung, und das Mädchen hatte noch nie davon gehört. Und nun wird die Wut des Mädchens gelobt und groß inszeniert, vermutlich halfen ihr Erwachsene dabei. Millionen haben die Lektion kapiert und geklickt. Große Emotionen kommen weltweit gut an. Darf ich nun, als alter, weißer Mann, von Toleranz und Intelligenz reden? Und dran erinnern, dass Kinder (9-Jährige sind Kinder, auch wenn man sie auf die Bühne stellt!) letztlich durch Beispiel, wachsende Denkfähigkeit und Wahrnehmungsschulung zu jungen Erwachsenen werden, die ihre Wut und Streitlust unter die eigene Kontrolle gebracht haben.

Z.B. wenn der eine das Wort „Rassist“ noch nicht kennt, aber es womöglich verdient, dann darf man auch noch „Sexist“ dazusetzen, damit die verständliche Wut noch deutlicher wird. Und vor allem die Musik in Richtung Lautstärke missbrauchen, damit man weitere Töne nicht zu entdecken braucht. Und dann vor allem eine Pressekonferenz geben, indem das eigene Seelenleben lustig als recht zerbrechlich zelebriert wird.

Man muss den Jungen weiterhin von seinem Vater lernen lassen, ihn bloßstellen, lächerlich machen, statt mit ihm zu reden, ihm etwas zum Lesen zu geben oder die Eltern miteinander reden zu lassen. Wie bürgerlich wäre das denn!!!

Man dürfte als alter weißer Mann daran festhalten, wie süß die Wut wirkt, wenn kleine Göhren sich aufregen und dies möglichst einfältig, um auf der Gegenseite Fremdscham und Beißhemmung auszulösen. Ja, das funktioniert doch!

Ich habe also die SZ relativ aufmerksam gelesen, mit einem Anflug von Wohlwollen. Aber unwiderstehlich stieg das Verlangen, ein millionenfach angeklicktes Musik-Video auch zu erleben. Bitteschön:  HIER. Oder auch eine Art Pressekonferenz: HIER.

Also gut gemacht, der Schaumschlag-Journalismus. Es wirkt. Jetzt klicken auch Sie und ich. (Die Schreiberin könnte exakt meine Tochter sein. Und ich, ich könnte exakt mein Vater sein, kombiniert mit meiner Mutter, die ständig von Vererbung sprach. Man kam nicht drauf, dass das auch etwas mit Rassismus zu tun haben kann. Oder man ergänzt es durch eine Milieu-Theorie.)

Quelle Süddeutsche Zeitung 19./20. Juni 2021 Seite 17 An alle Idioten Man kann ja nicht immer nur betroffen sein, manchmal braucht es einfach Wut, „The Linda-Lindas“ machen Kinnhaken als Musik. Von Johanna Adorján.

Guter Journalismus

Ich finde es gut, wenn ein Zeitungsartikel es fertig bringt, lesende Menschen zu bannen und zu aktivieren, und zwar so, dass sie sich nicht nachträglich schämen müssen („niedere Instinkte“!). Denn auch das gibt es, und ich muss dabei nicht auf andere zeigen. Ich glaube, dass auch die Schreiberin des Linda-Linda-Artikels dazugehört, dass sie sich nur hat überrumpeln lassen durch das bevorzugte Syndrom „mutige kleine Frau“ + „Kinder haben immer recht“ kombiniert mit den Klischees „es gibt keine primitive Musik“ + „Hauptsache Emotion“.

Möglich wäre allerdings: „keine Musik ist zu primitiv, analysiert zu werden“.

Heute 21.6.21 las ich einen Artikel in den mir täglich aufgedrängten t-online-Nachrichten über das Thema „Russland-Krieg“ vor 80 Jahren, über das ich schon genug gelesen zu haben glaubte. Ich dachte an den Bruder meiner Mutter, der an der Ostfront umgekommen ist, an die Mutter meines Vaters, die vor den Russen aus Pommern geflohen ist (wo übrigens die Nazis mehrheitlich gewählt worden waren) und vieles andere. Auch an die Russen, die ich als Kind erlebt habe, als sie in Greifswald einmarschierten („Sie sind lieb“).

Und nun der Artikel, – „Sie sind unter uns“ – , der mich veranlasste, nach weiteren Arbeiten desselben Autors Ausschau zu halten, bemerkenswert auch der zu Carolin Emcke und dem auf sie bezogenen Shitstorm. Alles HIER.

Déjà vue, Dvořák

Was ich schon fast vergessen hatte (oder gerade nicht)

  Neu: KONKRET / Kodály Fotos rechts JR 1979 Rumänien World Network 1997

ZITAT aus Konkret:

  Tempi passati / weiter siehe ⇒⇓

Quelle Berthold Seliger „Valium fürs Volk“ in Konkret Juni 2021 hier

Eine neue CD mit Kelemen + dieses Foto, da gab es keine Sekunde Bedenkzeit, ich weiß, was er kann, siehe hier. Ich erinnere mich auch gut an Altstaedt mit Beethoven (verloren gegangener Blogartikel vor 11.11.2014) und seit Jahrzehnten an Lonquich, zuletzt mit Brahms hier und seit 1985 (?) an sein unvergleichliches Mozart-Spiel. Neuland: der Cellist Altstaedt schreibt! (CD-Text zu Dvořák, aufgehängt am Wort Dumky, das ich beim Abegg-Dvorak-Text noch recht kurz abgetan habe, siehe hier). Jeder Ansatz, einen Booklettext „in der heutigen Zeit“ mit solchem Ernst anzugehen, kann gar nicht genug gewürdigt werden. Das soll kein verkapptes Eigenlob sein, denn in der Frühzeit der sorgfältigen Klassikausgaben war es selbstverständlich, dass der begleitende Text eine Schlüsselrolle spielte. Man muss vermitteln, dass die Musik sich nicht in einem schönen Klangerlebnis erschöpft.

Etwas Besseres aber als diese CD zwischen den Welten der oberen und unteren Musik hätte ich mir heute nicht wünschen können, eine Offenbarung. Es ist doch nur Dvořák? Sozusagen „gehobene Unterhaltung“? Für die einen weiterhin, für andere vielleicht: Musik als Mittelpunkt der Welt.

Seltsamerweise fehlt dem Booklet eine entsprechende Einführung zu dem Kodály-Werk, das ja viel unbekannter ist und der Einbettung viel mehr bedarf. Ich empfehle den Text bei Villa Musica hier , jedenfalls als Anregung (z.B. Korrektur fällig zum Begriff Verbunkos), dazu ein intensiver Blick in die Noten: hier. Oder in aller Vorsicht (rein privat) auch bei IMSLP (Petrucci) hier.

Übrigens: das Titelbild hat mich angerührt und tolle Erinnerungen wachgerufen. Damit wollte ich aber nicht sagen, dass es zur CD wirklich passt, nicht einmal zu Kodály und seiner Begeisterung für die ungarische Bauernmusik.

Zum Reinhören: Hier

Was den Text angeht, muss ich bei näherer Betrachtung doch etwas Wasser in den Wein gießen. Man gewinnt fast den Eindruck, dass Dvořák sich tatsächlich auf den ukrainischen Nationaldichter Tarás Shevchenko und sein Epos „Kobzar“ bezieht. Da wird gefragt, ob der Komponist den berühmten Kobzaspieler Ostap Veresai vielleicht gehört habe, mit der Zither sei er ja in seiner Jugend  (in …) aufgewachsen. „Sein Vater war Zitherspieler (wie der Ururgroßvater J.S.Bachs) …“. Schon hier wäre nachzufragen, ob eine Kobza eigentlich eine Zither sei oder vielleicht doch eine Art Laute. Zumal Bachs Vorfahr „sein meistes Vergnügen an einem Cythringen gehabt hat“ (O-Ton J.S.B.), was wohl als Cister angesehen werden kann, während Dvořáks Vater in seiner Gastwirtschaft eher auf einer (österreichisch-alpenländischen) Zither zum Tanz aufgespielt hat. Der Gebrauch solcher Assoziationen mit flotten Assonanzen stimmt skeptisch. Und die gesungenen Geschichten der ukrainischen Kobsaren, die Stalin ermorden ließ, hatten im übrigen mit Dur- und Mollwechsel nichts zu tun, und das geschah auch nicht 1939, wie im Booklet vermutet, sondern schon 1932 in Kharkiv. Missverständlich auch, diese Dumky- Aufnahme „à la memoire des grands artistes“ zu widmen, als seien sie mit Tschaikowskys Widmungsträger Nikolaj Rubinstein, dem Gründer des Moskauer Konservatoriums, irgendwie wesensverwandt. Im Blick auf ein im guten Sinn naiveres Lesepublikum wäre auch erwähnenswert gewesen, dass Hölderlin nun aber auch gar nichts mit Dvořák gemeinsam hat (es sei denn, er wäre ebenfalls mit Hegel zur Schule gegangen). Und anders als Janáček hat er wohl auch nicht das „Slawische“ von Haus aus so leidenschaftlich verehrt, sondern ist durch den Verleger Simrock drauf gekommen oder mittelbar durch das Vorbild Brahms, dessen „Ungarische Tänze“ so erfolgreich waren… Mit einer „echten“ Volksmusik, die erst durch Bartók und Kodály deutlich von der sogenannten „Zigeunermusik“ der städtischen Showbühnen und Salons in Wien oder Budapest unterschieden wurde, hatte das nichts zu tun. Wer weiß – vielleicht hat Barnabás Kelemen auch deswegen keinen entsprechenden Text beigesteuert? Mit dem „slawischen Charakterzug“, den Dvořák in Schuberts Klaviermusik gespürt haben soll, muss man es wohl nicht so genau nehmen; denn schon im nächsten Satz seines Essays ist es der „slawische oder ungarische Charakterzug“, und er verdeutlicht: „Während seines [Schuberts] Aufenthaltes in Ungarn assimilierte er nationale Melodien und rhythmische Besonderheiten, übernahm sie in seine Kunst, und wurde so Vorreiter von Liszt, Brahms und anderen, welche ungarische Melodien zu einem integralen Bestandteil der europäischen Konzertmusik machten.“ Er sah das „Slawische“ offenbar nicht als Kampfbegriff, sondern als Oberbegriff für alles, was in der Volksmusik „bezaubernd und neu“ ist:

Aus den reichen Beständen slawischer Konzertmusik, in ungarischen, russischen, böhmischen und polnischen Abarten, haben die heutigen Komponisten Nutzen und werden daraus weiterhin vieles aufgreifen, das bezaubernd und neu in ihrer Musik ist. Man kaum etwas dagegen haben, denn, wenn Dichter und Maler vieles von ihrem Besten auf nationalen Legenden, Liedern und Traditionen aufbauen, warum sollte es der Musiker nicht tun?

So sah Dvořák selbst kein Problem, diesen „slawischen“ Stil später mit „amerikanischen“ Elementen anzureichern, Motiven aus Negro Spirituals oder indianischer Musik, die er nicht etwa indigenen Sängern ablauschte, sondern gedruckten Notensammlungen entnahm – wie übrigens auch Pablo de Sarasate und Brahms: letzterer ließ aus solchen Gründen seine Ungarischen Tänze ohne „besitzanzeigende“ Opuszahl veröffentlichen, und Sarasate entzog sich einer möglichen Copyright-Klage, indem er im eigenen Konzert eine Originalmelodie, deren Komponist ihm namentlich bekannt geworden war, übersprang.

Ich sage nichts gegen die sentimentale Popularmusik der Großstädte, alles an seinem Platz! Aber es gibt eine herrliche Geschichte über den Kolporteur des „Zigeunerweisen“-Mythos: als man Sarasate auf einer seiner Tourneen in Bukarest mit einem autochthonen Zigeuner-(Roma-?) Ensemble beglückte, meinte er: „Mais, c’est mauvais, ça!“.

Dabei wäre, was da gespielt wurde, durchaus kompatibel gewesen, es war nicht etwa eine andere Welt, sondern die unterhaltende Welt eines absolut im westlichen Sinne kultivierten (oder „sogar“ vom Adel geprägten) Publikums. Kein Anwesender hätte einem Geiger wie jenem armen Kerl auf dem CD-Cover ein Ohr geliehen oder gar die Hand gegeben.

Grausam wird es erst, wenn man sich nur wenige Schritte hinausbewegt: die Kluft zwischen der Musik, die das Cover dieser CD imaginiert, und der Musik des gebildeten Bürgertums in den Großstädten des 19. Jahrhunderts kann man sich gar nicht groß genug vorstellen. Ich empfehle die einschlägigen Schriften von Béla Bartók oder das schmale Buch von Zoltán Kodály über „Die ungarische Volksmusik“ (Corvina Budapest 1958), aus dem hier noch zitiert sei:

Man muss nur einige Seiten in diesem Buch lesen – ohne sich sofort über den erst in jüngerer Zeit problematisierten Z-Ausdruck aufzuregen – und verstanden haben, dass der Begriff Volksmusik bei Kodaly einen diametral entgegengesetzen Sinn hat gegenüber dem, der in der hochromantisch getönten Musik von Dvořák zu wirken scheint. Zwar gab es in den „slawischen“ Ländern auch schon frühe Sammlungen, die – oberflächlich betrachtet – ethnographisch anmuten. Für sie gilt dennoch genau das, was Kodály beschreibt: „die Sammler von damals (…) beachteten nur die in die Mittelklasse eingedrungenen Lieder, sie konnten sich eben nicht zu jenen entscheidenden ‚zehn Schritten‘ entschliessen, die vom ländlichen Herrensitz zur Bauernhütte führten“. Er verweist auf unzählige Beispiele, die zeigen, dass das Volk und seine Lieder dieser inmitten des Volkes wohnenden adeligen und gebildeten Klasse so wenig bekannt waren, als wären beide durch eine eherne Mauer voneinander getrennt gewesen.“ (Seite 15) Und ein Roman, der bekanntlich nicht tönt, wie z.B. „Der Kobsar“, sagt rein gar nichts über die Akzeptanz der realen Musik, um die es allein geht, die aber niemand kennt. Daher klingt auch „Kammermusik“ von Kodaly, der wirklich in die abgelegenen Dörfer ging, so erschreckend anders als die von Dvořák, der im Sinfonieorchester zuhaus war. Und das macht diese CD auch so spannend! Aber sie sollte zugleich Widerspruch wecken und aushalten.

Original 1935 (deutsch1958)

Ich schaue natürlich ins Lexikon MGG, zunächst einmal online, so gut es geht, hier, dann auch ins Original aus Papier und frage mich, ob die Autorin Anna Dalos auch Musikethnologie studiert hat, was nirgendwo so naheliegt wie in Budapest. Das Fazit ihrer Arbeit über Kodálys autobiographische Sinfonie in C (1961) sehe ich hier. C-dur??? Über die früheste der drei Phasen seines Lebenswerks folgendes aus dem MGG:

Quelle Anna Dalos in MGG Personenteil Bd.10 Sp.399

Es könnte 1961 gewesen sein, als der alte Zoltán Kodály in der Kölner Musikhochschule zu Gast war und mit dem Madrigalchor probte. Er war sehr streng, wie man erzählte, und niemand fand ihn sympathisch, jedoch souverän in der musikalischen Praxis. Hermann Schroeder hatte ihn geholt, selbst Traditionalist, der sich gegen B.A. Zimmermann und Stockhausen zu behaupten suchte, wie in Berlin, wo ich herkam, etwa mein Kontrapunktlehrer Ernst Pepping gegen (?) vielleicht Boris Blacher, den Rektor der Hochschule. Mein Harmonielehreprofessor Max Baumann zerriss mit Worten und Gesten die Diplomarbeit eines Studenten über serielle Musik, die damals diesen Namen noch nicht trug. Ich las  neben Adorno auch ein Buch von Stuckenschmidt, das die Leuchttürme an den Ufern einer weltweit Neuen Musik skizzierte, darin ein wohltuend verständnisvoller Beitrag über Béla Bartók. Zukunft auch dort. In Köln gestand mir ein hochbegabter Kommilitone, Wilhelm Empt, der schon als NRW-Komponist ausgezeichnet worden war: „Ich komme von Bartók nicht los. Genausowenig wie von Kafka.“ Man glaubt heutzutage kaum noch, was für Glaubenskämpfe und Intrigen damals (vor 1968) an den Hochschulen und außerhalb kursierten. „Armes Deutschland!“, sagte ein Schülervater kopfschüttelnd, als der WDR eine seiner Kompositionen für Jugendliche – „Traumspiel“ – als Mitschnitt produzierte. Für ihn wars Avantgarde. Für die jungen Leute auch, mit Deutschland hatte das absolut nichts zu tun. Es war neu und offen, wie er selbst.

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Zurück zum jungen Kodály. Was ist an dem Duo op.7 so außergewöhnlich? wie würde ich Leuten den Zugang zu dieser Musik erschließen, die noch nichts Ähnliches gehört haben?  Ich würde expressionistische Bilder hervorsuchen, zerklüftete Landschaften, alpine Gipfel und Schluchten, grüne Wildnis an Sturzbächen, würde an den alten Stilus phantasticus erinnern, – und das soll pentatonisch geprägt sein? solche Aufschwünge, solche Abstürze? wie kann Pentatonik solche Spannungen entwickeln? der Komponist soll in den österreichischen Alpen gewesen sein, als er das Werk entwarf, in Feldkirch, er soll sich tatsächlich melodisch am Verlauf der Gebirgsketten orientiert haben. Unberechenbar, aber aus Stein. Wenn er pentatonische Reihen verwendet hat, dann nicht nur eine, sondern auch: chromatisch versetzte, irgendwohin transponierte und miteinander verschlungene, wie sonst könnte es so verstörend wirken, wenn die beiden Instrumente sich plötzlich zu einem gewaltigen Gleichklang verbinden, reine Oktaven, markerschütternd.

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Versuch, einen Gedanken festzuhalten.

Früher hätte ich gesagt, das Radio sei das ideale Medium zum Vermitteln von Musik. Wenn man es nicht als bloße Abspielstation betrachtet, sondern als eine Verführung zum Hören. Ein von Persönlichkeiten – nicht von Vorschriften – geprägtes Medium zum Ohren-Aufschließen. Damit setzt man sich nicht aufs hohe Ross, man zeigt nicht, wo’s langgeht, sondern berichtet allenfalls von gelungenen Hörerfahrungen. Das ist Sache einer persönlichen Moderation. Mich interessiert zwar jeder Mensch, auch musikalische Laien, die eigene, authentische Hörerfahrungen beschreiben, was aber nicht bedeuten muss, dass die entsprechenden Statements weitergegeben werden müssen. Was öffentlich gesagt wird, sollte auf Wissen beruhen, nicht auf Vermutungen, Gefühlen oder didaktischem Ehrgeiz. Und nicht der/die eine redet, während der/die andere das Briefing dafür zusammenstellt: das stammt aus falsch verstandenen, arbeitsteiligen Vorgängen. Jeder erfahrene Musiker hört sofort, ob jemand, der differenziert über Musik zu reden versucht, Ahnung vom Gegenstand hat oder nur gebrieft ist. Und das Laienpublikum hört das auch, und es fühlt sich gerade nicht abgeholt, wenn es laienhaft angesprochen wird, es fühlt sich schlicht beleidigend unterschätzt.

Weitere Abschweifungen in diesen Tagen (9.Juni)

Weiterhin FAUST bzw. Faust II . Auch Schuberts letzte Sonate (Clifford Curzons flexible gegen Korsticks langsame Version). Die absurd schnelle Fassung der VII. Beeth. aus Delphi unter Currentzis. Durchgepeitscht, dazu absurder Tanz. Enggefasst, also Produktionen aus einem kurzen Zeitraum der Kulturgeschichte: zwischen 1827 und 1832 (Beethoven VII 1812). Altersparallelen, Schubert als Euphorion.

17. Juni Noch etwas zum Radio und zur Situation des (öffentlich-rechtlich verstandenen) HÖRENS: Kann man es hören, wenn ein Musikprogramm nicht von Menschen, sondern von Algorithmen generiert wird? Ich z.B. reagiere auf sehr gute Musikstücke gereizt, wenn ich ahne, dass sie dank ihrer Verträglichkeit auftauchen, – dass ein Stück nur aus seiner Umgebung herausgelöst ist, um einen geschmierten Prorammverlauf zu gewährleisten.

Man sollte es nicht versäumen, sich mit allen Veränderungen zu befassen, die sich auf eine gewissermaßen kartografierte Erfassung der menschlichen Kulturbedürfnisse gründen. Lesenswert z.B. Martin Hufner über „Die Selbstverüberflüssigung des Kulturradios“ hier.

Nachtrag

Wilhelm Empt: aus den 10 Duos für zwei Violinen 2. Auflage Köln 1987 / Zur Erinnerung

damals im Eigenverlag (unveröffenlicht)