Gleichheit aller Menschen?

Geht doch gar nicht, weil’s nicht stimmt!

So antwortet der Stammtisch. Jeder Mensch ist anders (sieht man doch), und der Philosoph und Naturwissenschaftler Leibniz hat sogar behauptet: kein Blatt am Baum gleiche dem andern.

Oder reden wir nur von Chancengleichheit, als einer Forderung? Jeder Mensch, ungeachtet all der unterschiedlichen Gebrechen oder Begabungen, soll die gleichen Rechte haben wie jeder andere. Man spricht nicht mehr von Rassen, aber das gültige Wort „Kulturen“ ist  wertfrei.

Oder – wenn es um das Individuum geht, reden wir nur von seiner Würde (bitteschön!) oder seinem Recht auf Anerkennung (na klar, du bist ein feiner Kerl, sagt Horst Lichter nach kurzem Augenschein).

Im Ernst, wie kann man darüber reden, ohne sich vorsichtshalber drüber lustig zu machen? Gibt es einen verpflichtenden Diskurs, ein Grundbuch der gegenseitigen Hochschätzung?

Hier ist es:

Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung / suhrkamp taschenbuch wissenschaft / Frankfurt am Main 2009 / ausgehend von der amerikanischen Originalausgabe mit dem Titel Multiculturalism and »The Politics of Recognition« / Princeton University Press 1992

ZITAT

So ist uns der Diskurs der Anerkennung in doppelter Weise geläufig geworden: erstens in der Sphäre der persönlichen Beziehungen, wo wir die Ausbildung von Identität und Selbst als einen Prozess begreifen, der sich in einem fortdauernden Dialog und Kampf mit signifikanten Anderen vollzieht; zweitens in der öffentlichen Sphäre, wo die Politik der gleichheitlichen Anerkennung eine zunehmend wichtigere Rolle spielt. Bestimmte feministische Theorien haben die Verbindungen zwischen diesen beiden Sphären zu erschließen versucht. (Seite 24)

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(Seite 29)

Die zwei politischen Konzeptionen, die beide auf der Idee der Gleichachtung beruhen, geraten nun miteinander in Konflikt.

Einerseits fordert das Prinzip der Gleichachtung ein »differenzblindes« Verhalten. Die Auffassung, dass alle Menschen gleich zu achten seien, konzentriert sich vor allem auf das, was bei allen gleich ist.

Andererseits sollen wir das Besondere anerkennen und sogar fördern. Die erste Konzeption wirft der zweiten vor, sie verstoße gegen den Grundsatz der Nicht-Diskriminierung. Die zweite wirft der ersten vor, sie negiere die Identität, indem sie den Menschen eine homogene, ihnen nicht gemäße Form aufzwinge. Das wäre schon schlimm genug, wenn diese Form neutral wäre – und nicht die Form von jemand Bestimmtem. Aber die Beschwerde geht meist noch weiter. Es wird behauptet, der angeblich neutrale Komplex »differenz-blinder« Prinzipien, der von der Politik der allgemeinen Menschenwürde verfochten wird, spiegele in Wirklichkeit eine ganz bestimmte hegemonialer Kultur. Allein die minoritären oder unterdrückten Kulturen würden gezwungen, eine ihnen fremde Form zu übernehmen. Folglich sei die angeblich faire, »differenz-blinde« Gesellschaft nicht nur unmenschlich (weil sie Identitäre unterdrückt), sondern auch auf eine subtile, ihr selbst nicht bewusste Weise in hohem Grade diskriminierend. [Anmerkung 19: in diesem Band Seite 84, in meiner Abschrift als Kopie angehängt]

Der zuletzt genannte Einwand ist der härteste und bestürzendste von allen. Der Liberalismus der allgemeinen Menschenwürde muss offenbar voraussetzen, dass es einige universelle, »differenz-blinde« Prinzipien gibt. Auch wenn wir sie möglicherweise noch nicht definiert haben, bleibt dieses Projekt aktuell und wichtig. Es mögen unterschiedliche Theorien entwickelt und diskutiert werden – und es sind eine ganze Anzahl solcher Theorien in neuerer Zeit vorgeschlagen worden – aber sie alle sind sich einig in der Annahme, dass eine dieser Theorien die richtige sei.

Der Vorwurf, den die Politik der Differenz in ihrer radikalsten Version erhebt, lautet, dass die »blinden« Liberalismen selbst Spiegelungen ganz bestimmter, besonderer Kulturen sind. Und besorgniserregend ist dabei vor allem der Gedanke, dass diese Befangenheit nicht bloß eine kontingente Schwäche aller bisher vorgeschlagenen Theorien ist, dass vielmehr die Idee des Liberalismus selbst bereits ein Widerspruch in sich ist, ein Partikularismus unter der Maske des Universellen.

[Beleg zur eben erwähnten Anmerkung 19:]

Autor: Steven C. Rockefeller

(dies ist nur ein Anfang, der mich verpflichten soll…)