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Im Nachhinein: Harari

Keine Voraussage, aber…

Ein Weltbestseller, geschrieben 2018, bzw. davor, aber die Krim war von Putin schon vereinnahmt (2014). Ich habe die 21 Lektionen mit großem Interesse gelesen, habe dort aber jetzt nur nachgeschlagen, um mich der Atemübung des letzten Kapitels zu vergewissern, und treffe auf Anhieb mittendrin auf das Stichwort Ukraine, – ja wirklich, während sich draußen im Augenblick sowieso alles um dieses Thema dreht, spielt plötzlich auch der Zufall mit.

Verzweiflung und Hoffnung/ Krieg

Wahrheit / Postfaktisch

Über den Krieg nachdenken? Sich engagieren (natürlich! und zwar Geld spenden, wie? siehe z.B. hier.) Ich habe beim ZDF gespendet, gebe hier aber die ARD-Adresse an, weil ich gerade die Sendung Brennpunkt gesehen habe:

Außerdem werde ich den aktuellen Beitrag von Gwendolyn Sasse verlinken, die mich kürzlich schon bei LANZ beeindruckt hat (Link ganz am Ende):

hier die Sendung Brennpunkt, darin ab 19:20 („wie Putin seine Entscheidungen trifft“)

Philosophie (Theorien des Krieges) hier. Wikipedia (als Anregung, wenn auch noch nicht endgültig bearbeitet) über den Krieg hier.

Über den Krieg – heißt vor allem über die Bedingungen eines (ewigen) Friedens nachdenken: KANT ! hier.

Ich erinnere mich an die 50er Jahre, als die Erinnerung an den Krieg noch „frisch“ war: es war gutgemeint aber langweilig, die Abhandlung über den „ewigen Frieden“ zu lesen. Damals im November 1956. Es muss einem auf der Seele brennen. Samt der dummen Frage „WARUM“. (wie heute!)

… so viele Geschichten, Religionen und Ideologien

 Und was folgt daraus? (Tue nichts!)

ZITAT (Harari)

Bis dahin wusste ich recht wenig über Meditation und war der Ansicht, dazu gehörten alle möglichen komplizierten mystischen Theorien. Ich war deshalb erstaunt, dass sich der Kurs als sehr praxisorientiert erwies. Unser Lehrer, S.N. Goenka, brachte den Teilnehmern bei, im Schneidersitz und mit geschlossenen Augen dazusitzen und die gesamte Aufmerksamkeit auf den Atem zu richten, der durch die Nase in den Körper strömt und wieder herausfließt. „Tue nichts“, sagte er immer wieder, „versuche nicht, den Atem zu kontrollieren oder auf eine besondere Weise zu atmen. Nimm einfach nur die Wirklichkeit des gegenwärtigen Augenblicks wahr, wie auch immer er sein mag. Wenn der Atem einströmt, bist du dir einfach nur bewusst – jetzt fließt der Atem hinaus. Und wenn du die Konzentration verlierst und dein Geist damit beginnt, zu Erinnerungen und Fantasien abzuschweifen, bist du dir einfach bewusst – jetzt schweift mein Geist vom Atem ab.“ Das war das Wichtigste, was jemals irgendjemand zu mir gesagt hat.

Wenn die Menschen die großen Fragen des Lebens stellen, haben sie in der Regel absolut kein Interesse daran, sich des Atemflusses bewusst zu werden. Vielmehr wollen sie Dinge wissen wie etwa, was passiert, wenn wir tot sind. Doch das eigentliche Rätsel des Lebens ist nicht, was geschieht, wenn wir tot sind, sondern was geschieht, bevor wir sterben. Wer den Tod verstehen will, muss das Leben verstehen.

Quelle Yuval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert / C.H.Beck München 2018 (Zitat Seite 408f)

   

Teil I „Die technologische Herausforderung“ beginnt mit der Erklärung:

Die Menschheit verliert den Glauben an die liberale Erzählung, welche die Weltpolitik in den letzten Jahrzehnten bestimmte, genau in dem Augenblick, da die Verschmelzung von Informationstechnologie und Biotechnologie uns vor die größten Herausforderungen stellt, mit denen die Menschheit je konfrontiert war.

Als ich dieses Buch zu lesen begann, fühlte ich mich an den Tag erinnert, an dem ich „Die große Erzählung“ – oder wenigstens die fortwährenden Anspielungen auf ein „Narrativ“ – dingfest machen wollte, in diesem Fall auf Musik bezogen, nämlich hier. Warum soll sich diese Technik der Annäherung erledigt haben? Wenn in diesem Moment auch „nur“ von Weltpolitik die Rede ist, vom „Glauben an die liberale Erzählung“, es hindert ja den Autor nicht, auch die Musik sozusagen spielerisch einzubeziehen. („Mozart in der Maschine“ Seite 50ff)

Weil dieser Historiker, dem soviel auf rationalem Wege gelingt, in der Musik nichts Bemerkenswertes zustandebekommt, obwohl das musikalische Handwerk doch auch ohne Genie ganz gut zu beurteilen und sogar zu erlernen ist. Er meint Komponisten, Sänger und Djs, die „nach wie vor aus Fleisch und Blut“ sind.

Wir vertrauen auf ihre Kreativität, mit der sie nicht nur völlig neue Musik schaffen, sondern auch aus einer schwindelerregenden Fälle verfügbarer Möglichkeiten auswählen.

Gleichwohl wird auf lange Sicht kein Arbeitsplatz absolut sicher vor der Automatisierung sein. Selbst Künstler sollte man auf der Rechnung haben. In der modernen Welt wird Kunst üblicherweise mit menschlichen Emotionen assoziiert. Wir neigen zu der Annahme, Künstler würden innere Seelenkräfte bündeln, und der eigentliche Zweck der Kunst sei es, uns mit unseren Emotionen in Verbindung zu bringen oder irgendein neues Gefühl in uns auszulösen. Wenn es darum geht, Kunst zu bewerten, beurteilen wir sie folglich gerne nach ihrer emotionalen Wirkung auf das Publikum. Wenn man aber Kunst über menschliche Emotionen definiert, was würde dann passieren, sobald äußere Algorithmen in der Lage sind, menschliche Emotionen besser als Shakespeare, Frida Kahlo oder Beyoncé zu verstehen und zu manipulieren?

Schließlich sind Emotionen nicht irgendein geheimnisvolles Phänomen – sie sind das Ergebnis eines biochemischen Prozesses. Deshalb könnte in nicht allzu ferner Zukunft ein maschinell lernender Algorithmus die biometrischen Daten analysieren, die ihm von Sensoren auf und in unserem Körper zufließen, er könnte unseren Persönlichkeitstyp und unsere wechselnden Gemütslagen bestimmen, und er könnte berechnen, welche emotionale Wirkung ein bestimmtes Lied – ja sogar eine bestimmte Tonart – mit hoher Wahrscheinlichkeit auf uns hat.

Quelle Yuval Noah Harari: a.a.O. Seite 51

Wenn es um das Ergebnis biochemischer Prozesse geht, die erforschbar und manipulierbar sind, – was soll uns dann veranlassen, weiterhin Energie in diese furchtbaren Umwege zu investieren, die am Ende nichts als ein bestimmtes Lied ergeben? Dafür der ganze Konzertbetrieb und die gigantisch aufgeblähte Musikindustrie? Und warum übt ein Mensch jahrzehntelang Klavier, wenn er sich – ohne einen Finger zu rühren – alle Klavierwerke der Welt in meisterhaften Versionen und „gefühlsecht“ vom CD-Spieler (oder Nachfolgegeräten) einflößen lassen könnte?

Man bedenke allerdings, was die Geschmacksverstärker in der Kulinarik ausrichten. Oder gewisse Psychopharmaka, die „aufhellende“ Wirkung haben. Für mich würde vielleicht eine Weltschmerztablette täglich reichen, schon wäre ich der Sorge um weitere Bücher und Musikkonserven ledig. Geistige Nahrung – was ist das?

Wahrscheinlich doch das einzige, was uns lebendig hält.

Dementsprechend gehören für mich zu den hervorragenden Teilen des Buches diejenigen, die sich kritisch mit der digitalen Welt befassen, von deren Denken es ansonsten geprägt ist. Und so gefällt mir das Kapitel über Facebook.

Menschen haben Körper. Im Verlauf des letzten Jahrhunderts hat die Technik uns von unseren Körpern entfernt. Wir haben unsere Fähigkeit verloren, darauf zu achten, was wir riechen und schmecken. Stattdessen sind wir von unseren Smartphones und Computern absorbiert. Das, was im Cyberspace passiert, interessiert uns mehr als das, was draußen auf der Straße geschieht. (…)

Wenn die Menschen dazu ermuntert werden, „Erfahrungen zu teilen“, heißt das nichts anderes, als dass sie das, was ihnen zustößt, mit den Augen anderer begreifen sollen. Wenn etwas Aufregendes passiert, besteht das Bauchgefühl von Facebook-Nutzern darin, das Smartphone aus der Tasche zu ziehen, ein Foto zu machen, es online zu stellen und auf die Likes zu warten. Währenddessen bemerken sie kaum, was sie selbst fühlen. Vielmehr wird das, was sie fühlen, zunehmend von den Online-Reaktionen bestimmt.

Menschen, die sich dem Körper, ihren Sinnen und ihrer physischen Umgebung entfremdet haben, fühlen sich leicht isoliert und desorientiert. Meinungsmacher schreiben solche Entfremdungsempfindungen oftmals dem Schwinden religiöser und nationaler Bindungen zu, aber wichtiger ist in diesem Fall wohl die Tatsache, dass die Menschen den Bezug zum eigenen Körper verloren haben. Über Jahrmillionen haben sie ohne Religionen und ohne Nationen gelebt – insofern können sie vermutlich auch im 21. Jahrhundert gut ohne sie existieren. Doch sie können nicht glücklich leben, wenn sie nicht mehr mit ihrem Körper verbunden sind. Wer sich in seinem Körper nicht mehr zu Hause fühlt, wird sich auch in der Welt nirgends zu Hause fühlen.

Quelle Yuval Noah Harari: a.a.O. Seite 131f

Alles was er schreibt, ist richtig gedacht, jedoch rein „positivistisch“, z.B. wie er die Religionen der Welt der Reihe nach destruiert. Alles überzeugend, und wer da denkt, der Abschluss mit Meditation (s.o.) könnte zumindest den Buddhismus als Lösung voraussetzen, hat sich geirrt. Ebenso – natürlich? – das Judentum, als äußerst partikulare Weltanschauung und eigentlich desolat als Grundlage des Christentums, dem es seinerseits nicht besser ergeht usw. usw., im Prinzip kennt man das alles aus den rationalistischen Deduktionen der Wissenschaft, etwa bei Richard Dawkins. Weshalb ich es ganz anders lese, beruht nicht auf einer latenten, mir nicht bewussten (schwächlichen) Rückwendung zur Mystik, sondern weil ich gleichzeitig Jaspers lese („Der philosophische Glaube“) und – durchaus nicht im Sinne einer Rückwendung – mit Enttäuschung zur Kenntnis nehmen musste, dass er doch von „Gott“ spricht, so dass man meinen könnte, jetzt komme der Krypto-Evangelist zum Vorschein. Es ist ganz anders. Es fehlen alle christlichen Insignien, wenn ich mich nicht irre*. Ich werde diese Gedankengänge keinesfalls verkürzt darstellen, als seien daraus neue Dogmen zu gewinnen. Nicht einmal behaupten, Gott sei mit dem identisch, was Jaspers sonst mit größter Vorsicht „das Umgreifende“ nennt, – jenseits der „Subjekt-Objekt-Spaltung“, die alle unsere Gedankengebäude als Irrglauben desavouiert. Auch in dem Moment, wo wir neue Namen dafür ersinnen. Und neue Erzählungen drumherum…

Doch, ich irre mich, und auch wieder nicht. Jaspers macht die Bibel und den Christusglauben ausgiebig zum Thema, und das ist lehrreich; aber er distanziert sich, etwa mit den folgenden Sätzen (a.a.O. Seite 81):

Wenn aber dann die Christusreligion bedeutet: das glaubende Erfassen des rettenden Christus außer mir durch Verwirklichung des Christusgeistes in mir, so bleibt zweierlei für unser Philosophieren unumgänglich: der Christus in mir ist nicht an jenen einmaligen Jesus-Christus ausschließend gebunden und der Jesus ist als Christus, als Gottmensch ein Mythus. Die Entmythisierung darf hier nicht willkürlich halt machen. Auch der tiefsinnigste Mythus bleibt Mythus und ist ein Spiel, und er wird eine objektive Garantie nur, sei es durch eine religiöse Wahrheit (die das Philosophieren nicht zu sehen vermag), sei es durch Täuschung.

Quelle Karl Jaspers: Der philosophische Glaube / Piper München Zürich 20012 (1974)

Am Ende finden wir bei beiden Autoren die Gewissheit, an einem Wendepunkt zu stehen, bei dem einen nach dem Krieg im Jahr 1948, bei dem anderen heute im Jahr 2018.

Bei dem einen –  Yuval Noah Harari –  lerne ich zu Beginn des letzten großen Kapitels das Wort Resilienz, was bedeutet: „psychische Widerstandskraft; Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen“.

 2018

Bei dem anderen – Karl Jaspers – steht am Ende die Frage, wo „der feste religiöse Boden [ist], der bleibt“. Ich fürchte, solche Fragen stellen sich heute nicht mehr, aber bei Jaspers lohnt es sich immer, sorgfältig weiterzulesen…

 1948

Es könnte sein, dass die letzten Kapitel Hararis – 19) Bildung 20) Sinn 21) Meditation – gar nicht so weit entfernt sind von der letzten der sechs Vorlesungen von Karl Jaspers: „Die Philosophie der Zukunft“ (Seite 116):

Das ist die Erfahrung des nicht im Wahrheitsbesitz erstarrten Philosophen, wenn er alt wird. Es ist die Form des geistigen Jungseins im Schmerz des Abschieds.

Man kann das gleiche finden in den unglaublich ausgearbeiteten Werken des letzten Brahms. Ich höre keinen Anklang an das alte „Dies irae“. Versöhnung, vielleicht sogar Liebe.