Archiv der Kategorie: Literatur

Deutscher Wald

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Ich habe diesen Text aus dem Jahre 1935 so ausführlich zitiert, weil er – obwohl er sich forstwirtschaftlich gibt – viele Klischees erfüllt, die von Deutschen gern mit ihrem Wald verbunden werden, angefangen mit dem „lenzlichen“ Vogelstimmenkonzert (die Amsel „im schwarzen Frack“) und dem süßen Bild von „Goldhähnchens Ende“ bis in „heilige Haine in ihren gotischen Domen und Kathedralen“.

„Es geht eine magische Kraft aus vom Walde, ein unbestimmbares Weißnichtwas , das sänftigend auf Gemüt und Seele und anregend auf die Sinne wirkt. Zu allen, die zu ihm kommen, spricht er, immer auf eine besondere Art. (…) Vollinhaltlich gilt das indessen nur für den deutschen Menschen im deutschen Wald.“ (Seite 10)

Man lese zwischendurch als gesundes Antidoton den Essay Waldbewusstsein  und Waldwissen in Deutschland von Prof. Dr. Albrecht Lehmann, dem Direktor des Instituts für Volkskunde der Universität Hamburg: HIER.

Ein Lesebuch, das aus der Zeit vor 1910 stammen muss (vielleicht sogar von 1899, das Geschichtsbild reicht bis zu Kaiser Wilhelms Gedanken über die Bedeutung der deutschen Kolonien), widmet sich nach Naturgedichten auch den biologischen Aspekten, etwa zum Blatt der Pflanzen oder zu bestimmten Baumarten, aber wenn es um den Wald geht, kann ein krönender Blick auf das deutsche Volk nicht fehlen:

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Gabriel und Supprian, Deutsches Lesebuch, Lesebuch für Westfalen, Oberstufe, Velhagen & Klasing Seite 241

Ein Eindruck von der Präsentation der Gedichte in demselben Lesebuch (Seite 224f):

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Auf der nächsten Seite entscheidet sich, ob es sich hier um das Zitat des Liedes oder des Originalgedichtes von Eichendorff handelt:

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„deutsch Panier“ – darum ging es! (Ich habe es nur nicht übers Herz gebracht, die nachfolgenden „friedefrommen“ Falke-Verse wegzulassen.)

Mich würde es interessieren, ob es Mendelssohn war, der das „deutsch Panier“ eliminiert hat.

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Heinz Rölleke übernimmt in „Das Volksliederbuch“ (Kiepenheuer & Witsch Köln 1993) eine hieraus kompilierte Melodie und rekurriert auch nicht auf den alten Eichendorfftext, den er auf das Jahr 1810 datiert. Sein Kommentar ist schön:

Mit diesem Lied von 1810 hatte sich der junge Joseph von Eichendorff (1788-1857) endgültig als der romantischste aller Verherrlicher des deutschen Waldes etabliert; besonders in der schwungvollen Vertonung durch Felix Mendelssohn Bartholdy (1841) wurde das Lied zu einem der beliebtesten Repertoirestücke aller Männerchöre. Bei aller gott- (Str.1), natur- und vaterlandsfreudigen (Str.4) Tendenz thematisiert das Lied unterschwellig doch schon eine beginnende Entfremdung zwischen dem heimatlichen Wald und der verwirrenden Welt, also zwischen dem Hort alter Tüchtigkeit samt deren Überlieferung (Str.3: Sagen) und dem Aufbruch in eine neue Zeit (Refrain).

Quelle Rölleke a.a.O. Seite 189

Allerdings ist das nicht die ganze Wahrheit, – das Gedicht ist zwar 1810 entstanden, aber erst 1836 veröffentlicht worden. Und die Jäger sind ursprünglich vielleicht weniger an der Verherrlichung des Waldes interessiert als wir (und Mendelssohn) meinen, da es sich womöglich um Soldaten handelt, die ein deutsch Panier tragen, ein Banner…

Ich wäre nicht selbst darauf gekommen, – es gibt eine Analyse zu diesem Gedicht, die Erstaunliches zutage fördert; sie ist im Internet unter „norberto42.wordpress.com“ abzurufen, direkt: HIER.

Diese Analyse bezieht sich natürlich auf das Original-Gedicht von 1810. Die Version, die ins „Volk“ gewandert ist, weiß davon nichts … Zur Bekräftigung gebe ich weiter unten noch zwei Versionen aus alten Liederbüchern wieder.

ZITAT „norberto42“

Dass Eichendorffs Jäger Soldaten sind, merkt man in der 4. Strophe: „Was wir still gelobt im Wald …“ Hobbyschützen brauchen nichts zu geloben. Eichendorffs Gedicht gehört in den Umkreis der Lyrik der Befreiungskriege; er nahm selber 1813-1815 an den Befreiungskriegen teil, zunächst als Lützower Jäger, später als regulärer Soldat.

Interessant ist auch der Hinweis auf die (von norberto42 kritisierte) Hamburger Aufgabe zur Abiturprüfung: pdf HIER , ganz am Schluss (Seite 25) die Behandlung dieses Eichendorff-Gedichtes im Vergleich zu Erich Frieds Gedicht „Neue Naturdichtung“.

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339. Der Jäger Abschied aus: Das Deutsche Volkslied / Ein Hausschatz von über 1000 der besten deutschen Volkslieder / von E.L. Schellenberger / Verlag für Kultur und Menschenkunde / Berlin-Lichterfelde 1925

Der Jäger Abschied aus (s.u.): Deutsche Lieder Aus alter und neuer Zeit / Mit einem Anhang Modelieder u. Couplets / Schreitersche Verlagsbuchhandlung Berlin / um 1910

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Aus: „Das Deutsche Volkslied“ 1925 – es handelt sich um die zweite Auflage des Werkes; aber das Vorwort zur ersten („Weimar, im Kriegsjahre 1914/1915“) ist unverändert abgedruckt und hier von uns im Ausschnitt wiedergegeben. Es ist erstaunlich, wie diese Rhetorik der des Waldbuches von 1935 gleicht.

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Der gedankliche Umschlag, der sich unverhofft aus der Betrachtung des Liedes von Eichendorff ergeben hat, zwischen Jägern als Hütern des Waldes und den Jägern als freiwilliger Soldatentruppe, verlockt dazu, Elias Canetti mit seinen Ausführungen über den Wald der Deutschen in „Masse und Macht“ beifällig zu zitieren. Man vergisst dabei, dass Eichendorff nicht an das deutsche Heer schlechthin, sondern an den Widerstand gegen Napoleon gedacht hat. Man vergisst auch, dass der Wald für die Deutschen nicht nur einen unheimlich-bedrohlichen, geradezu menschenfeindlichen, sondern auch einen heimeligen, geheimnisträchtigen Charakter hat, und beides scheint so wenig miteinander kompatibel wie der Einheits-Fichten-Forst mit dem urwaldähnlichen Mischwald, der natürlich auch nicht „heimelig“ ist. Und gestattet doch zahllose unmerkliche Übergänge. Und gerade in den emphatischen Büchern vom Wald wird selten den reglementierten, forstwirtschaftlich zugerichteten Koniferen-Monokulturen das Wort geredet, ja, sie werden für den Niedergang des gesunden Waldes verantwortlich gemacht.

Im Weimarer Vorwort der Kriegsjahre 1914/1915 bildet die verbale Verbindung des Volksliedes mit den dunklen, raunenden Tannen eher die Ausnahme; sie müssen ja auch von den hellen Stimmen gewissermaßen erst wachgeküsst werden:

Jünglinge und Mädchen, die bändergezierte Laute auf dem Rücken, ziehen hinaus in den deutschen Wald und wecken mit ihren hellen Stimmen die dunklen, raunenden Tannen. Die „Wandervögel“ versuchen es, jenen lockenden Schimmer, der uns aus der Zeit der Romantik herüberglänzt, klar und lebendig zu erhalten.

Es ist der Kitsch, der schließlich die Verbindung heterogenster Sphären schafft. Der „marschierende Wald“ hingegen ist ein groteskes Shakespeare-Bild mit Ausnahme-Charakter. Dem deutschen Wald ist kaum möglich, sich vom Grund, in dem er wurzelt, zu lösen. Das gehört zu den Briten, die dazu neigen, ihn dem Schiffsbau zuzuordnen…

Der Klischeecharakter solcher Zuordnung nationaler Eigenheiten aber verlockt zum Widerspruch gegen den berühmten Canetti-Text. Unser Wald ist anders, sagen die Deutschen, und ihr Bestseller-Förster namens Wohlleben gibt ihnen heute endlich das gute Gewissen zurück.

Elias Canetti über den Wald als Symbol der Deutschen

Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. In keinem modernen Lande der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit Bäumen.

Ihre Sauberkeit und Abgegrenztheit gegeneinander, die Betonung der Vertikalen, unterscheidet diesen Wald von dem tropischen, wo Schlinggewächse in jede Richtung durcheinanderwachsen. Im tropischen Wald verliert sich das Auge in der Nähe, es ist eine chaotische, ungegliederte Masse, auf eine bunteste Weise belebt, die jedes Gefühl von Regel und gleichmäßiger Wiederholung ausschließt. Der Wald der gemäßigten Zone hat seinen anschaulichen Rhythmus. Das Auge verliert sich, an sichtbaren Stämmen entlang, in eine immer gleiche Ferne. Der einzelne Baum aber ist größer als der einzelne Mensch und wächst immer weiter ins Reckenhafte. Seine Standhaftigkeit hat viel von derselben Tugend des Kriegers. Die Rinden, die einem erst wie Panzer erscheinen möchten, gleichen im Walde, wo so viele Bäume derselben Art beisammen sind, mehr den Uniformen einer Heeresabteilung. Heer und Wald waren für die Deutschen, ohne daß er sich darüber im klaren war, auf jede Weise zusammengeflossen. Was anderen am Heere kahl und öde erscheinen mochte, hatte für den Deutschen das Leben und Leuchten des Waldes. Er fürchtete sich da nicht; er fühlte sich beschützt, einer von diesen allen. Das Schroffe und gerade der Bäume nahm er sich selber zur Regel.

Der Knabe, den es aus der Enge des Hauses in den Wald hinaustrieb, um, wie er glaubte, zu träumen und allein zu sein, erlebte dort die Aufnahme im Heer voraus. Im Wald standen schon die anderen bereit, die treu und wahr und aufrecht waren, wie er sein wollte, einer wie der andere, weil jeder gerade wächst, und doch ganz verschieden an Höhe und Stärke. Man soll die Wirkung dieser frühen Waldromantik auf den Deutschen nicht unterschätzen. In hundert Lieder und Gedichten nahm er sie auf, und der Wald, der in ihnen vorkam, hieß oft ‚deutsch‘.

Der Engländer sah sich gern auf dem Meer; der Deutsche sah sich gern im Wald, knapper ist, was sie in ihrem nationalen Gefühl trennt, schwerlich auszudrücken.

Quelle Elias Canetti: Masse und Macht / Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1980 (Seite 190)

Canetti wird überall zitiert, wo von den Deutschen und ihrem Wald die Rede ist, so auch im oben verlinkten Wikipedia-Artikel oder anlässlich der Ausstellung „Unter Bäumen – Die Deutschen und der Wald“ im Deutschen Historischen Museum zu Berlin ab 2. Dezember 2011.
Aber von welchem Wald spricht er? Zwar auch von dem, den die Romantiker gelobt haben, damit wir’s glauben, aber schon springt er auf „das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume“, das niemand besungen und niemand gemalt hat. Ein Taschenspielertrick.

Rüdiger Safranski hat es längst ausführlich und in aller Ambivalenz dargestellt; leicht zu ergänzen, wenn auch in diesem Zitat der Bezug auf den Wald fehlt:

Friedrich Schlegel entdeckt in dem Verlust der Mannigfaltigkeit die epochale Wirkung der Französischen Revolution. Er sieht eine revolutionäre Gleichheit bedrohlich heraufkommen, und die Tendenz gehe dahin, schreibt er, alles eigentümlich Lokale in Sitten und Provinzialeinrichtungen zu verschmelzen. Auch Eichendorff beklagt die neue Einförmigkeit: Es wandelt den Reisenden eine niederschlagende Langeweile an, wenn ihm, wie er auch die Deichsel richtet, überall dieselbe Physiognomie der Städte und Sitten wiederbegegnet… Anstatt dieser reichen Mannigfaltigkeit von Formen und Richtungen sehen wir also jetzt nur eine Form und fast nur eine Hauptrichtung: die militärische.

Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. Carl Hanser Verlag München 2007 ( Seite 201).

Und diese deutschen Gemüter sollen sich nach einem Stangenwald gesehnt haben, der einem waffenstarrenden Heere glich? Sie können sich in vielem getäuscht haben, aber nicht in dem, was sie vom Wald erwarteten. Vielleicht ist es mit dem Wald – mit der Natur – wie mit der Musik: man kann ihr alles unterschieben; es schallt heraus, wie man hineinruft. Und in Wahrheit gibt es weder die Natur noch die Musik.

Der entscheidende Punkt: die aufgeklärte Romantik hat sich in ziellose Sehnsüchte und gemütliche Paradoxien aufgespalten, nachdem einmal die ernstesten politischen Hoffnungen und Utopien der Zeit vor 1848 zur Ohmacht verdammt waren. Und sie erhoben sich 1871 in Gestalt gefährlicher Macht-Schimären.

Nachbemerkung 2. November 2016

In dem Bach-Buch von John Eliot Gardiner kann man nachlesen, was für eine Bedeutung der Wald in früheren Zeiten hatte. Geheimnisvoll und bedrohlich gewiss, aber nichts da von Soldaten und geordneten Heeresbewegungen.

Als kleiner Junge musste Bach nur zur Tür seines Elternhauses in der Fleischgasse hinausschlüpfen und sich einen Weg durch all die Menschen, Schweine, Hühner, Gänse und Rinder bahnen, und schon trat er in den dichten Wald rings um die Wartburg ein, die auf einem Hügel vor den Toren der Stadt stand. Waldsagen und heidnische Rituale (…) ließen sich nicht ohne weiteres aus der Welt schaffen. Für die Thüringer behielt der Wald, die Heimat mächtiger Stammesgottheiten, die magische Aura der Wildnis und galt als Ursprung „natürlicher“ meteorologischer Phänomene – etwa der heftigen Gewitter, vor denen Luther solch panische Angst hatte, weil er überzeugt war, sie seien das Werk des Teufels. Und so sprachen die Menschen in der Kirche ihre Gebete, schmetterten Kirchenlieder, läuteten die Kirchenglocken, um Orkane und Stürme abzuwenden, und flüchteten sich in Kriegszeiten in die Wälder.

Quelle John Eliot Gardiner: BACH Musik für die Himmelsburg / Hanser Verlag München 2016 Aus dem Englischen von Richard Barth (Zitat Seite 66f)

Viele erstaunliche Assoziationen des (angeblich) kühlen Briten. Vgl. auch a.a.O. Anm. Seite 68:

Jedenfalls sagt mir mein Instinkt [!], dass Bach – einmal abgesehen von den religiösen Assoziationen, die der Wald noch immer ausgelöst haben mag – durch die Beobachtung von Bäumen und Wäldern, deren Lebensspanne und Zeithorizont sich menschlichen Denkmustern entziehen, manche Lektion über die Begrenztheit und Anmaßung des Menschen gelernt haben könnte. Vielleicht hat er sogar die Bedeutung der Wildnis für den menschlichen Geist erkannt – als Gegenmittel gegen Strenge, Disziplin und Strukturiertheit seiner lutherischen Erziehung.

Es folgt ein Abstecher an den Oberlauf des Amazonas und die Überlegung, „ob Bach sich der ‚langen, zyklischen Rhythmen‘ der Selbsterneuerung des Waldes bewusst oder gar von ihnen inspiriert war; dasselbe gilt für die Spannungen zwischen jenen, die sich für den Erhalt des Waldes einsetzten, und jenen, denen an seiner Freigabe als Weidegebiet lag (sprich, den gemeinen Bauern).“

Ich denke auch an die Bemerkungen Peter Schleunings  über die Blumen-Symbolik und die „Wildnis“ in Bachs Kunst der Fuge. Gerade solche scheinbar abwegigen Hinweise können einen vor allzu mechanischer Zahlenfuchserei bewahren.

Weltwissen der Zoologen

Weißdorn – Rotdorn – Bienen – Buchfinken

Falls Sie die beiden Bücher von Peter Wohlleben gelesen haben und zu der Meinung neigen, dass sich ein neues Bild vom Wesen der Pflanzen und Tiere anbahnt, kann ich Ihnen die Lektüre des aktuellen Spiegels empfehlen. Da wird durchaus nichts ironisiert. Die SPIEGEL-Geschichte heißt:  Tiere sind auch Menschen. Der Förster Peter Wohlleben hat einen Bestseller über das Seelenleben von Hunden, Pferden, Hühnern geschrieben – und an Universitäten ist „Human Animal Studies“ das Trendfach. DER SPIEGEL 30/2016 (23.Juli Seite 110 bis 113). Am besten, Sie sehen sich einmal den kurzen Film, den der Spiegel darüberhinaus liefert. Fazit: „Glück hängt nicht von der Gehirngröße ab!“ (Wohlleben) FILM hier.

ZITAT

Es gab Zeiten, da hat man vom menschlichen Geist recht dürftig gedacht. Die Sonderstellung des Menschen ist nur dadurch gewahrt worden, daß die Vorstellungen vom Tier noch viel simpler waren. Heute ist uns dies durch die Entdeckungen der jüngsten Zeit ganz gründlich vergangen! Wir müssen sehr hoch von der tierischen Weltbeziehung denken, auch wenn wir unsere Aussagen über das Erleben dieser schwer zugänglichen tierischen Innerlichkeit mit größter Zurückhaltung machen.

Die Anregung zu neuem Denken über tierisches Innenleben stammen nicht etwa nur aus der Erforschung des Schimpansen oder anderer Tiere, die ihrer Organisation nach uns besonders entsprechen. Was unsere Auffassungen wandelt, sind gerade die Erfahrungen an Tieren, die unserer eigenen Organisation fernstehen, die gar nicht unmittelbar mit uns verwandt sind; die Psyche der Zugvögel, der Umgang der Bienen mit dem Himmelslicht und ähnliche Erscheinungen zeigen uns die tierische Weltbeziehung in einem neuen, fremden Licht und mahnen uns an das Geheimnis dieser im Keim bereits vor jeder Erfahrung erblich vorbereiteten Eingliederung in die Umgebung. Sie zeigen uns das Rätselhafte unseres eigenen Welterlebens in einem neuen Licht.

Das erste Buch (über die Bäume) von Peter Wohlleben erschien 2015 und das Exemplar, das ich mir vor ein paar Tagen zugelegt habe, stammt aus der 21. Auflage!!!! Ich weiß nicht, wieviel 1000 verkaufte Bücher das bedeutet, ich weiß auch nicht seit wann das Buch bis vor kurzem an der Spitze der Spiegelbestsellerliste stand, es wurde jetzt gerade auf den zweiten Platz verdrängt durch das neue Buch (über das geheimnisvolle Seelenleben der Tiere), ebenfalls von Peter Wohlleben. Nun haben Sie hoffentlich aufmerksam das Zitat gelesen, das ich eben eingerückt hatte. Jetzt will ich auch das Datum einblenden, das ich meist bei Anschaffung eines Buches unter meinen Namen setze:

JR Datum Bielefeld

Zugegeben: es war ein Taschenspielertrick von mir, mit dem ich den erfolgreichen und begnadet erzählenden Förster keineswegs unglaubwürdig machen wollte. Das neue Trendfach jedoch, das der Spiegel konstatiert, reflektiert eine Forschung, die schon seit über 50 Jahren im Trend liegt. Und ich habe mein Bild von den Tieren immer in diesem Trend gehalten: „Die Entdeckung des tierischen Bewusstseins“ von Marian Stamp Dawkins 1995, „Der Geist der Tiere“ – Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion herausgegeben von Dominik Perler und Markus Wild 2005. Und das Buch, aus dem ich oben zitiert habe, stammt von Adolf Portmann: „Neue Wege der Biologie“ Deutsche Buch-Gemeinschaft, München 1962.

Ich bitte um Entschuldigung.

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Ein Gespräch der FAZ mit Marcel Beyer vom 15.05.2008, das ich aus Anlass der Verleihung des Büchner-Preises 2016 nachgelesen habe (Link von JMR), hat in meiner Erinnerung manches in Bewegung gebracht, dem ich nachgehen muss. Allein das Wort „Weltwissen“ in der Überschrift… Aber der Zusammenhang geht weiter: die frühen Jahre ab 1960, die Gespräche mit Freund Hans Mauritz, der damals bereits bei Hugo Friedrich in Freiburg studierte. Wahrscheinlich hat er mich auch auf Marcel Proust gebracht. Ebenso auf Ernst Robert Curtius.

Portmann Weltwissen Portmann Weltwissen Text

FAZ 2008 Marcel Beyer im Gespräch: Mich fasziniert das Weltwissen der Zoologen Die Frage ist: Was interessiert den Dichter an der Forschung?

ZITAT

Sie wollen im Ernst behaupten, dass Proust sich aus Bienenbüchern Ideen für seine Hauptfigur geholt hat?

Bienenbücher hat er auf jeden Fall gelesen, Proust war ja ein großer Fan von Maurice Maeterlinck und hat dessen „Leben der Bienen“ gekannt. Und auch sonst war er, was Bienen angeht, informiert. Aber ich will gar nicht auf das Wissen des Autors hinaus, sondern schauen, was für ein Konzept Proust von seiner Figur hat. Insbesondere in dieser berühmten Szene, in der sich der Erzähler vom Duft des Weißdorns betört, in denselben schmeißt. In jedem Gartenbuch wird darauf hingewiesen, dass der Weißdorn scheußlich riecht. Er duftet einfach nicht. Also habe ich mich gefragt: Ist das denn ein Mensch, der sich so verhält wie eine Biene, die sich vom Weißdorn angezogen fühlt? Mal sehen, was dabei herauskommt.

Quelle:  HIER FAZ 15.05.2008 Mich fasziniert das Weltwissen der Zoologen In Marcel Beyers Roman „Kaltenburg“ sind die Protagonisten Wissenschaftler: Zur Zeit arbeitet der Autor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Was interessiert den Dichter an der Forschung? Die Fragen stellten Jürgen Kaube und Julia Voss.

Es gibt in diesem Interview eine Stelle, die bei mir einige Zweifel an der zoologischen Kompetenz des Schriftstellers auslöst (und nicht nur an dieser), da sagt er:

Ich habe den Eindruck, dass für einen Zoologen ein ästhetischer Reiz etwas ganz anderes ist als für mich. Den Roman „Kaltenburg“ hat in der Schlussfassung ein berühmter schwedischer Ornithologe gelesen und sehr hilfreiche Korrekturen angebracht. Das waren zum einen sachliche Korrekturen, dann kam aber auch dieser Moment, da hieß es im Manuskript „der Buchfink singt wunderbar“. Da schreibt mir der Ornithologe an den Rand: „Der Buchfink singt nicht wunderbar, sondern scheußlich“.

Einerseits muss dies ein Ornithologe gewesen, der – salopp gesagt – nicht alle Tassen im Schrank hatte. Andererseits antwortete auf die Nachfrage des Interviewers, wie denn nun der Buchfink wirklich singe, der für das richtige Wort zuständige Mann: „Er knarrt“. Und das ist nun absolut danebengegriffen. Was auch immer der Buchfink an leicht unterschiedlichen Rufen von sich gibt, – typisch ist der „Schlag“ und der abschließende Kurztriller, der je nach Heimatregion des Vogels durchaus unterschiedlich ausfallen kann. Es gibt bekanntlich Dialekte beim Buchfinken. Aber es gibt weder in der Toscana noch im Engadin noch in Schweden Buchfinken, die knarren. Wenn Marcel Beyer gesagt hätte, der Gesang eines Rotkehlchens gleiche dem Quietschen einer Schranktür, könnte ich es nachvollziehen, obwohl ich es besser weiß (man muss dem Vogel nur näher sein). Aber ein singender Buchfink schlägt und zwar nicht scheußlich, sondern kraftvoll.

***

Was ist nun mit dem Weißdorn? Ich muss weiter ausholen. Da ist also zunächst Marcel Proust, meine Suche nach der verlorenen Stelle begann HIER und wurde fortgesetzt HIER. Und endlich begann ich in meinen Originalen zu suchen, das fing ja wohl damals mit dem Swann-Auszug an:

Proust Swann 1960 Proust Swann 1960 Walser

Erst später begann ich, mir die Einzelbände der Gesamtausgabe peux-à-peux anzuschaffen. Und darin, gleich in Band 1 auf Seite 184 f steht die Passage über Weißdorn und auf Seite 186 geht es um die Entdeckung der rosa Blüten. Nie habe ich den Vergleich vergessen, wenn Erdbeeren in Quark gedrückt werden (oder so ähnlich). Ich las mit vorsätzlicher Intensität: Denn von besonders „lesemoralischer“ Wirkung war übrigens in dem Sonderband „Eine Liebe von Swann“ die Beigabe gewesen, die auch im obigen Randtext hervorgehoben wird: Martin Walsers „Leseerfahrungen mit Marcel Proust“. Unvergesslich ist aber vor allem Proust-Essay von Curtius und darin vor allem das Kapitel mit der Überschrift „Kontemplation“. Die Erfüllung einer großen Hoffnung schien sich anzukündigen, die (Wieder-)Herstellung eines Urvertrauens.

*** An dieser Stelle wird der Proust-Text folgen, den ich andächtig abschreiben werde.

Für mich erhob sich summend darüber [über dem kleinen Pfad in die Felder] der Duft der Weißdornhecken. Diese Hecken bildeten in meinen Augen eine unaufhörliche Folge von Kapellen, die unter dem Schmuck der wie auf Altären dargebotenen Blüten verschwanden; unter ihnen zeichnete die Sonne auf den Boden ein lichtes Gitterwerk, so als fiele ihr Schein durch ein Kirchenfenster; ihr Duft strömte sich so voll und überquellend aus, wie ich ihn vom Altar der Muttergottes stehend verspürt hatte und die ebenso geschmückten Blüten trugen eine jede mit gleicher gedankenloser Miene ihr schimmerndes Strahlenbündel aus Staubgefäßen, feine glitzernde Rippen im spätgotischen Stil wie die, die in der Kirche das Gitter der Empore durchzogen oder die Kreuze der Buntglasfenster, die aber hier die weiße sinnliche Fülle von Erdbeerblüten hatten. Wieviel naiver und bäuerlicher wirkten im Vergleich dazu die Heckenrosen, die in wenigen Wochen im vollen Sonnenschein den gleichen ländlichen Weg erklimmen würden, mit der glatten Seide ihres rötlichen Mieders bekleidet, das der leiseste Hauch zerflattern machte.

Aber ich mochte mich noch so lange vor dem Weißdorn aufhalten, ihn riechen, in meinen Gedanken, die nichts damit anzufangen wußten, seinen unsichtbaren, unveränderlichen Duft mir vorstellen, ihn verlieren und wiederfinden, mich eins fühlen mit dem Rhythmus, in dem sich seine Blüten in jugendlicher Munterkeit und in Abständen, die so unerwartet waren wie gewisse musikalische Intervalle, hierhin und dorthin wendeten; sie entfalteten für mich auf unbestimmte Zeit hin den gleichen Reiz in unerschöpflicher Fülle, aber ohne daß ich tiefer in ihn einzudringen vermochte, so wie es gewisse Melodien gibt, die man hundertmal hintereinander spielt, ohne in der Entdeckung ihres Geheimnisses einen Fortschritt zu machen.

Die Krise des Vertrauens in ein biologisches „Weltwissen“ à la Proust oder Portmann kam in den 80er Jahren (siehe hier), bei mir persönlich, in der Öffentlichkeit jedoch meldet es sich heute wieder in Gestalt dieses überaus beredsamen Försters, der wohltuend den mystischen Aspekten, die seit Maeterlinck en vogue waren, aus dem Wege geht.

Termiten 1960 JR

Es begann damals mit dem Buch über die Termiten, dem bald auch das gelbe Buch über „die Seele der weißen Ameise“ folgt. Was ich damals natürlich noch nicht wusste (und auch nie von selbst merkte) war die Tatsache, dass Maeterlinck in großem Stil bei Marais abgeschrieben hat (siehe hier). Ich vermute, dass er es mit einer erfolgreicheren Philosophie ausgestattet hat. Und gerade diese hat mich fasziniert.

Maeterlinck Termiten Maeterlinck Termiten Fazit

Marais weiße Ameisen Maeterlinck Biene ganz

Über Maeterlinck siehe auch in der folgenden Sendung des Deutschlandfunks HIER.

Anmerkung zum Anthropomorphismus

Der „neue Trend“, den Tieren menschliche Gefühle zu unterstellen, ist vorwissenschaftlich und irreführend, kann vielleicht manchen Tieren nützen (wachsende Bereitschaft ihren Lebensraum zu schützen), hat aber auch für Tiere nachteilige Folgen, wenn der Mensch sie in ihren Bedürfnissen missversteht, diese Möglichkeit jedoch neuerdings wieder guten Gewissens ausschließt.

Der Storch, der im brandenburgischen Ort Glambeck alle Spiegelbilder auf Fensterscheiben und lackierten Flächen für Rivalen hält und entsprechend traktiert, ist ein anderes Beispiel. Er ist nicht eifersüchtig, sondern von der „Natur“ falsch programmiert. (Einerseits gibt es in der natürlichen Welt der Störche keine massiven Spiegel, andererseits könnte gerade dieser Storch an einer individuellen Fehlbildung leiden.)

Ich vermute aber, dass der Förster Wohlleben zur Aufklärung beiträgt. Wenn man sein Bäume-Buch gelesen hat, erscheint vielleicht sogar der Proustsche Weg der Einfühlung in die Pflanzenwelt als feinsinnige Illusion und bleibt ein Weg ins eigene Innere.

In halber Höhe eines nicht zu ermittelnden Baumes war ein unsichtbarer Vogel bemüht, sich den Tag zu verkürzen; mit einem lang angehaltenen Ton versuchte er die Einsamkeit auszuloten, aber er erhielt eine so klare Antwort, eine Art Resonanz aus nichts als Schweigen und tiefer Ruhe, daß es schien, als hielte er nun für immer den Augenblick fest, den er eben noch versucht hatte, schnell zum Enteilen zu bringen. 

Proust (Bd. 1, a.a.O. Seite 184) lauscht in die Natur wie später der intime Vogelkenner und Naturmystiker Olivier Messiaen, – anthropomorphisch. Nachzugehen wäre auch den Momenten, in denen er erwartet, dass die Naturphänomene sich öffnen, gewissermaßen „aufklappen“ wie die magischen Kirchtürme in der Ferne. (S.a. Martin Seel in seiner Ästhetik der Natur zum einsamen Vogelruf. )

Wohlleben beide Cover

Mit Goethe in Kochberg und auf dem Kickelhahn

Kochberg d Ich an Goethes Statt?

ZITAT

Als Ehefrau, Mutter und Hofdame der sittenstrengen Herzogin war Charlotte sehr auf ihren guten Ruf bedacht. Bis dahin wußte der Weimarer Klatsch nichts von irgendwelchen Liebesaffären. Ihre Stadtwohnung lag in der Nähe von Goethes Gartenhaus, aber sie vermied es, ihn dort alleine zu besuchen. Sie empfing ihn in ihrer Wohnung, wo oft die Kinder und andere Besucher in der Nähe waren. Der Ehemann allerdings war meistens abwesend. Auf ihrem Landsitz in Großkochberg stand sie weniger unter Beobachtung. Dorthin zog sie sich bisweilen für Monate zurück. Für die Gräfin Götz liegt der Grund dafür offen zu Tage: „Man sagt, daß Lotte den gesamten Winter auf dem Lande verbringen wird, um die üble Nachrede verstummen zu lassen.“ Vielleicht aber wurde diese gerade dadurch angeregt.

Quelle Rüdiger Safranski: Goethe Kunstwerk des Lebens / Carl Hanser Verlag 2013 (Seite 205)

Kochberg a

Der junge Goethe: „Wenn ich mein Herz gegen Sie zuschließen will, wird mir’s nie wohl dabei.“

Kochberg Goethe Der ältere Goethe in ihren Gemächern? (Nur als Statue.)

Aber: wie sagte doch neuerdings ein Kenner der Geschichte? „Ihre Gefühlskälte macht es schwer zu begreifen, was Goethe an ihr fand.“ (Dieter Borchmeyer hier.)

Übrigens ein gutes Büchlein, das man im Schloss kaufen kann und alles Wesentliche, Belegbare, erzählt: GOETHE bei Frau von Stein / Text: Bernd Erhard Fischer / Berlin 2010 ISBN 978-3-937434-33-9 – dieses hier:

Goethe in Kochberg das Theater drinnen

Kochberg c Theater das Theater draußen

Kochberg 1

Kochberg 2  Kochberg 4

Kochberg 6  Kochberg 3

Bei Safranski (Seite 273f) ist über Goethes Besuch in Ilmenau, – in Bergwerksangelegenheiten -, folgendes nachzulesen: Er besteigt „an einem schönen klaren Spätsommerabend [1779] die höchste Erhebung, den Kickelhahn, wo er in einer Jagdhütte übernachtet. Von dort aus schreibt er an Charlotte von Stein, schwelgt in liebevollen Erinnerungen an sie und schildert ihr, wie er sich in Einsamkeit gebettet habe, um dem Verlangen, der Unverbesserlichen Verworrenheit der Menschen auszuweichen. Daß ihn dort auch ein Brief der Branconi erreichte, verschweigt er; Ihr Brief, wird er ihr später schreiben, hätte nicht schöner und feierlicher bei mir eintreffen können, ihm sei es vorgekommen, als habe sich ein Komet sehen lassen.“ Und Safranski fragt: Die Verworrenheit ? Und meint:

Es war wohl dieses Gefühl, hin und her gerissen zu sein zwischen Charlotte und der Branconi. An diesem unruhigen Abend auf dem Kickelhahn entstand jenes unglaubliche Gedicht der schönsten Beruhigung: [folgt der Text „Über allen Gipfeln“]

Quelle Rüdiger Safranski (wie oben angegeben).

Wir begaben uns auf die Wanderung, um zu sehen, ob das Gedicht noch an der Holzwand der Hütte zu sehen ist, wie man uns erzählt hatte.

Kickel Weg

Kickel 2a  Goethe Kickelhahn

Kickel 5  Kickel 6 Kickel 7 Kickel 8 Kickel 9 Handy-Fotos JR

Kickel xx

Die Ruhe trügt: ich verließ das Häuschen in höchster Eile. (Grund: privat.)

Was ist unsere Gegenwart?

Süddeutsche Zeitung 31.Mai 2016

Gegenwart 1960 Gegenwart 1963 JR Queneau Zeltner-Neukomm

SZ Queneau Neu SZ Feuilleton 31. Mai 2016 Seite 12

Zitat darin von Gerda Zeltner-Neukomm 1961 („im Jahr des Erscheinens der ersten deutschen Übersetzung durch Eugen Helmlé und Ludwig Harig“):

Ebenso unheimlich wie lustig. Diese Stilübungen wollen nicht einmal mehr literarische Konventionen zerstören, sie gehen vielmehr ganz selbstverständlich von der Voraussetzung aus, daß die Vernichtung bereits stattgefunden hat. Da nichts der Rede wert ist, bleibt nur, daß die Rede sich selber wert sei, und sie wird um so munterer, je wesenloser der Anlaß ist.

Dieser Bezug auf das, was ich vor Jahrzehnten kennengelernt habe, ist mir soviel wert, dass ich ich mich komplikationslos für das Neue begeistern kann, wenn nur das Begeistern nicht so maßlos altmodisch wäre.

Eine andere Schlagzeile im Feuilleton der Süddeutschen lautete gestern folgendermaßen:

Millionen für ein zerwühltes Bett / Warum befriedigt der Kunstbetrieb vor allem Luxusbedürfnisse? Und was passiert, wenn Kreativität zur Norm wird? Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich sucht Antworten. Von Till Briegleb. (Siehe auch hier)

Ein sehr guter Bericht, die beiden Bücher habe ich bestellt, sie sind aber nicht – wie sonst – von heute auf morgen zu bekommen, sondern es dauert länger. Wahrscheinlich wegen dieses Berichtes.

Ullrich analysiert die Generation von marktbestimmenden Superreichen, denen „Kunst“ lediglich zum persönlichen „Souveränitätsgewinn“ dient – wobei dieser um so höher ausfällt, je größer die Lücke zwischen offensichtlicher Wertlosigkeit des Objekts und dem dafür bezahlten Preis ist. Er beschreibt die willfährige Deutungspropaganda abhängiger Kuratoren und Katalogtextverfasser, die auch dem offensichtlichsten Markenprodukt aus einer Künstlerwerkstatt mit gestelzter Prosa Relevanz andichten.

Und er belegt umfassend und mit durchaus scharfen Kommentaren, wie sich eine konsum- und statusgelenkte Gesellschaft diesem Mechanismus völlig ergibt. Inhaltlich orientiert man sich an einer Gruppe sehr reicher Menschen, die mit ihren Kaufentscheidungen jede Diskussion überflüssig machen. Wenn für ein zerwühltes Bett Millionen bezahlt werden, dann muss es Ausdruck von Tiefsinn sein. Nach dieser Logik funktioniere inzwischen die inhaltliche Wertschöpfung, und alle Marktbeteiligten, vom Sammler zum Kunstvermittler, vom Künstler bis zum Museumsbesucher, ja selbst die Kritiker und Kunsthistoriker bedienen dieses System.

Quelle wie oben fettgedruckt: Millionen für ein zerwühltes Bett / Von Till Briegleb / Süddeutsche Zeitung 31. Mai 2016 Seite 12

Mehr davon, wenn die beiden Bücher bei mir eingetroffen sind… (siehe zunächst hier).

Die dritte große Geschichte in dieser einen Tageszeitung (und es gibt noch mehr, z.B. die Seite über den Gotthard-Tunnel, die Seite mit dem lustigen Konterfei des Fußballspielers Boateng und über die perfide rhetorische Strategie der AfD, dann über das – wohl doch nicht so aufregende – Geheimnis der Grabkammer des  Tutenchamun: es gibt Tage, an denen Zeitungen inhaltlich nicht zu bezahlen sind), die dritte große Geschichte also für mich ist die über

Die Teenie-Flüsterin / Die Journalistin Nancy Jo Sales versteht amerikanische Jugendliche wie kaum eine Zweite. In ihrem neuen Buch gibt sie Eltern verstörende Einblicke in das geheime Online-Leben ihrer Kinder. / Von Anne Philippi.

Sie (…) landete in einer „Zweiten Welt“, wie ein Mädchen diese Welt in Sales Buch beschreibt: Die Welt der Texting-Apps und Social-Media-Plattformen, ein Paralleluniversum, das weder Papa noch Mama verstehen und auch nicht verstehen sollen. Sale traf 13-19-Jährige in zehn Staaten der USA, sprach mit ihnen über ihre zweite Welt, über ihre frühe Ehe mit einem Smartphone. Eine 16-Jährige in Los Angeles sagte, Social Media zerstöre ihr Leben. „Aber wenn wir damit aufhören, haben wir kein Leben mehr.“ Mädchen ihres Alters lebten mit dem Telefon. Und das gilt auf der ganzen Welt.

(…)

„Hier geht es um eine ganz neue Medien-Kultur“, sagt Sales. „Eine, in der nach Regeln gespielt wird, die immer weniger mit Spaß zu tun haben.“

(…)

Die Geschäftsmodelle der Tech-Welt basieren jedenfalls auf einer Kultur, deren Teilnehmer häufig am Asperger Syndrom leiden, der wohl berühmtesten psychischen Krankheit im Silicon Valley: eine spezielle Form des Autismus, welche die üblichen menschlichen Kontakte verhindert oder äußerst unangenehm erscheinen lässt. Menschen, die darunter leiden, kreieren dann Apps, die Asperger eher verschlimmern statt verbessern, also eine Art Henne-Ei-Problem: Wer war zuerst da? Menschen mit Asperger oder Menschen, die mit ihren Apps andere zu Asperger-Patienten machen?

Quelle Süddeutsche Zeitung 31.Mai 2016 Seite 31 MEDIEN (Titel wie oben fettgedruckt) Die Teenie-Flüsterin / Von Anne Philippi / über die Journalistin Nancy Jo Sales und ihr Buch „American Girls: Social Medias and the Secret Lives of Teenagers“.

Was war und ist „Rausch“?

Von physischen und künstlichen Paradiesen

Benn Cover rückBenn Cover vorn 1959

Benn Text aBenn Text b Textprobe

Dämon Rausch Cover 1958

Hamsun Pan 25.Mai 1959

Hauptmann Soana 1959

Soana Text Textprobe

Watts Natur 1962 Watts Inhalt

Rausch Cover Mai 1998

Lesch Kosmos Screenshot 2016-05-11 22.06.06 ZDF Leschs Kosmos Mai 2016

Die Sendung „Auf Droge: Die Sucht in uns„. 10. Mai 2016 / 23:00 / Nachträglich abrufbar unter dem Link neben dem seltsamen Bild, das ich als Screenshot aus der Sendung ausgewählt habe, um mich von den romantischen Büchern und Phantasien meiner Jugend abzusetzen. Daneben lief ohnehin immer ein anderer Strang, der ebenfalls von Gotfried Benn ausging und auf Klarheit und Methodik setzte, Marcel Proust und Robert Musil waren ausschlaggebend. – Heute stellt sich die Frage, ob ein solcher Lebenslauf nicht schon in der ersten Phase scheitern könnte, weil die Realisation der imaginären Paradiese so einfach scheint. Jugendlichen von heute würde ich keins der abgebildeten Bücher, die mich einmal bewegten, ans Herz legen. Nur den Film, – mit einer kleinen Vorwarnung: vermutlich wirkt der Moderator nicht cool, vielmehr: nur gespielt cool, aber der Film als Ganzes ist unerhört wichtig für alle Jugendlichen: es geht um ihr Leben.

***

13.05.2016

Freund BS macht mich darauf aufmerksam, was ich damals gewissermaßen versäumt habe, eins der besten Bücher über künstlich hervorgerufene Rausch-Erfahrungen, nämlich Ernst Jüngers „Annäherungen. Drogen und Rausch„, veröffentlicht im Jahre 1970. Zweifellos in einer suggestiven Sprache geschrieben, aber vielleicht zu spät für mich? Zum Glück.

Man lese die kluge Rezension der Neuerscheinung (Klett-Cotta Stuttgart 2008) von Christophe Fricker in „literaturkritik“ hier. Und die Leseprobe des Essays von Volker Weidemann über „Ernst Jüngers Drogenfahrten“ hier. Ich hebe in meinem kurzen Zitat daraus einen Satz rot hervor, der mir wohl damals schon wichtiger gewesen wäre als alle schönen Worte:

ZITAT (Volker Weidemann)

Der Jünger der Annäherungen sucht das Glück, das Abenteuer, längst auf anderen Wegen. Die Drogen gaben ihm eine Ahnung jenes großen »Jenseits«. Der Cannabis-Schock in Halle ließ ihn von seinen Drogen-Fahrten allerdings für lange Zeit Abstand nehmen. Dreißig Jahre machte er Pause. Der Schrecken muss wirklich sehr groß gewesen sein. Denn das Leiden, das Leiden unter der Öde des Diesseits wuchs: »Wir fliegen zu den Polen und zum Monde und bringen die Öde mit«, schrieb er. Jünger suchte das Geheimnis. Und er findet in diesem Buch unendlich viele, schöne Bilder für jenes Geheimnis, für die Sehnsucht danach. Nicht so sehr in den Protokollen, die er – quasi im Live-Mitschnitt auf seinen LSD-Trips zum Beispiel – mitschrieb. An ihnen sieht man eher, wie wenig hochfliegend und staunenswert sich die als so erstaunlich erlebten Trips dann später nüchtern lesen. Aber selbst wieder nüchtern geworden erinnert er sich überwältigt: »explodierende Frühlingssträuße«, »Schleifen der Unendlichkeit«, »mächtiges Walten des Lichts«. Jünger ist in Hochstimmung und beschreibt es auch so: »Da staunen selbst die Götter« notiert er einmal.

(Fortsetzung folgt)

Musik im Märchen

Von der Erschaffung der Geige

Musik im Märchen Tüpker

(Aus dem JR Blog-Archiv 2012)

Musik im Märchen, – ein Thema, das durchaus mit der Realität der Musik zu tun hat. Und auch die Realität des Märchens ist nicht so märchenhaft, wie sie uns vielleicht einmal vorkam. Meist erinnern wir uns an ein paar Märchen der Brüder Grimm, für Kinderohren ausgewählt. Aber Passagen wie die folgenden hätte unsere Oma wohl nicht durchgehen lassen:

„… der Kleine, [der sich nichts mehr wünschte, als Kraft zu gewinnen], ging zu der zweiten Schwester. Aber da verwandelte sich die […] Hexe in ein Mädchen und lief ihm nach. In ein sagen wir – sechzehnjähriges, zwanzigjähriges Mädchen, sehr schön, nur im Bikini, in einem ganz kleinen Badeanzügchen, und sie tanzte um ihn herum: „Janku, Janku, dreh dich um, bin ich schön?“

„Lass mich in Ruhe. Ich bin ein neugeborenes Kindchen.“

„Schau mich an, wie schön ich bin, wie nackt ich bin! Mach keine Ausreden. Komm zu mir!“

Aber er ging weiter. Er war doch noch zu jung für solche Sachen. Das nächste Mal sprang sie zu ihm und wiederholte ihre Worte, aber er gab ihr eine solche Ohrfeige, dass sie zu Wagenschmiere wurde.

Der Kleine wusste genau, dass das die Hexe war. Er lief schnell zurück in ihre Hütte. Dort sah er einen Säbel, der von selbst tanzte und herumsprang und wie der Vollmond glitzerte. Er nahm den Säbel: „Jetzt kann ich die ganze Welt umbringen“. Da holte ihn schon sein Vater ein [und] versetzte ihm so einen Fußtritt in den Arsch, dass er bis nach Hause flog, direkt der Mutter in die Arme.“ (S.102)

Jawohl, ein Märchen. Manchmal sind es also durchaus keine Geschichten für die gute Stube, wo die Kinder lernen, ruhig zu sitzen und sich gesittet zu benehmen. Nebenbei vielleicht auch das Fürchten lernen. Ich habe durch das Buch von Rosemarie Tüpker neues Interesse für die Märchenwelt entwickelt, weil diese Welt offenbar noch von zahllosen Motiven und Wesen erfüllt ist, die ich aus meiner Kinderzeit nicht in Erinnerung habe.

Und im Rückblick erscheinen nun auch „die deutschen Hausmärchen“ in neuem Licht. Allerdings geben sie für die Musik vielleicht weniger her als etwa die Märchen der Roma, zu denen auch die wunderbare Geschichte von der „Erschaffung der Geige“ gehört, die eine zentrale Stellung einnimmt.

Doch der Reihe nach:

Das Buch behandelt zunächst in aller Kürze den Stand der Märchenforschung und ihren Zusammenhang mit Psychologie und Pädagogik, z.B. auch die bedeutsame Wende, die 1977 dank Bruno Bettelheims Buch „Kinder brauchen Märchen“ erfolgte.

Der erste Hauptteil bietet drei tiefenpsychologische Märchenanalysen, beginnend mit der „Erschaffung der Geige“, was letztlich bedeutete: „Wie die Musik entstanden ist“. Dann folgt das (von den Brüdern Grimm bekannte) Märchen vom „Eselein“, das die Laute spielt; es geht um Identitätsfindung und Selbstwerdung, aber auch um die Assoziation eines behinderten Kindes. Niemand traut dem Tier zu, mit diesen Hufen eine so feine Kunst zu erlernen.

Und schließlich das Roma-Märchen vom „Sohn, der gegen seinen Vater kämpft“: die Musik schafft hier „die Verbindung zwischen zwei sozial getrennten Welten, der Königswelt und der armen Welt der Zigeuner.“  Es geht um Libido und Todestrieb, aber die Musik „ist das, was über das Lebensnotwendige hinausgeht, steht für einen doppelten Gewinn: Lust und Kultur.“ Die Pointe der Geschichte besteht dann gerade darin, dass es nicht im Glanz der höfischen Sphäre gipfelt, sondern: „Die Prinzessin verlässt den Königshof und beide leben fortan als Roma.“ Interessanterweise wird diese Umkehrung der märchenhaften Wunschvorstellungen den Zuhörern meist gar nicht bewusst: „Das heißt, es gelingt der Erzählung durch die Musik und [durch] die mit ihr verbundene Figuration von Liebe, Freiheit, Verbundenheit, dass diese Umkehrung der üblichen Verhältnisse ohne Widerstand oder auch nur Verwunderung mitvollzogen wird.“ (S.133)

Durch das ganze Buch von Rosemarie Tüpker, die an der Universität Münster u.a. Vergleichende Musiktherapie lehrt, zieht sich diese Vertrautheit mit lebendigen Zuhörern, und so sind Leser und Leserinnen ausdrücklich nicht nur zum Nachvollzug der Märchen, sondern ebenso zur eigenen Ergänzung und Weiterentwicklung aufgefordert. Man erhält Einblick in eine bisher wenig genutzte intersubjektive Forschungsmethode.

Dem zweiten Teil des Buches „liegt eine textanalytisch vergleichende Analyse von 300 europäischen Volksmärchen zugrunde“, wobei die Musik sich als das Bewegende (also das, was in Bewegung setzt) und als das Verbindende zwischen zwei Welten erweist, auch als das Fremde, als das Begehrte, als Zeugin und Identitätsstifterin wird sie aus dem vielfältigen Material herausgearbeitet. Es gibt einerseits die kulturhistorische Perspektive, zum anderen die psychologischen Perspektiven. Besonders interessant der Zusammenhang von Musik und Identität, der in einer kleinen Gruppe von Märchen ausprägt:

„Die Musik steht dabei für das, was durch den Verlust von Stellung, Rolle und äußerer Erscheinung hindurch als Eigenheit und als ‚eigentliches Wesen’ der Person bewahrt wird. Die Schönheit der Musik steht für die Güte der Person, was sich nach Art der Märchen oft zugleich in ihrer königlichen Abstammung symbolisiert. „Die Musik steht dann für die inneren Werte, die innere Schönheit, das wahre Wesen einer Person, die an ihrer Musik erkannt werden kann. Diese Musik berührt, löst Gefühle und Wünsche aus (…). Charakteristisch ist darüber hinaus, dass jemand Musik für sich allein spielt – dabei aber dann gehört und erkannt wird.“

In einem griechischen Märchen, das im Jahre 1864 aufgezeichnet wurde, findet sich dieses Motiv mehrfach, und gerade die musikalischen Fähigkeiten verweisen auf königliche Abstammung. Zuerst ist es eine Flöte, später tatsächlich ein…, – hören Sie nur:

„In einem Zimmer aber stand ein Klavier, und als er eines Tages glaubte, dass ihn niemand hört, da fing er an und spielte darauf leise, leise und summte ein Liedchen dazu. Die Prinzessin aber belauschte ihn, und als sie ihn so schön spielen und singen hörte, da wurde sie noch mehr in ihrem Glauben bestärkt, dass hinter ihrem Diener ein großes Geheimnis steckte.“ (S.264)

Und wie gehts weiter? Ob Sie’s glauben oder nicht: Die Prinzessin nahm bei ihm Klavierunterricht und über weitere Komplikationen hinweg kam es schließlich zu einer glücklichen Ehe der beiden.

„Das Märchen ist aber damit noch nicht zu Ende, sondern in Gestalt der Tochter wiederholt sich das Schicksal des Schiffbruchs und des Verloren-Gehens von Heimat und Identität in der nächsten Generation.“

Wo auch immer man dieses Buch aufschlägt, liest man sich fest:

Neben der Resonanz, der Widerspiegelung der Gefühle durch die Musik, zeigt das Märchen zugleich eine Umformung von Gefühlen in Musik: Lachen und Weinen werden verwandelt in schöne Musik.

Obwohl immer wieder angemahnt wird, dass die Musik beide oder alle Gefühlsseiten aufzunehmen und auszudrücken vermag, drehen sich die meisten Einfälle doch um die Seite der Trauer. (…) Die durch die Musik ausgelösten Tränen bedeuten eine Transformation. Und auch im Märchen überwindet die Trauer einen früheren Zustand. Es geht darum, zu seinem inneren König zu kommen und da muss man durch Zustände der Dunkelheit und der Trauer hindurch.

Dies ist überhaupt die umfassendste Sammlung europäischer Märchen, in denen Musik vorkommt. Das Buch ist eine Fundgrube für Märchenforscher, Musikwissenschaftler und Psychologen. Und ein Lesevergnügen.

Es hat auch seinen Preis, da helfen keine Heinzelmännchen: 39,80 ¬ .

Rosemarie Tüpker: Musik im Märchen / zeitpunkt musik Reichert Verlag Wiesbaden 2011 ISBN 978-3-89500-839-9

Musik im Märchen Inhalt 1  Musik im Märchen Inhalt 2

Dieser Text wurde im März 2012 als Beitrag zur Sendung „Musik aktuell“ in SWR 2 gesendet.

***

Immer wenn ich wieder einmal in Rosemarie Tüpkers Buch gelesen habe, kehre ich auch in die Märchen-Sammlung meiner Kindheit zurück. Die Märchen der Brüder Grimm in der Ausgabe von 1937 mit Bildern von Ruth Koser-Michaels. Zahlreiche Bilder haben uns Kinder so bewegt, dass wir sie nachgezogen und mit Kohlepapier durchgepaust haben. Das vom Juden nicht. Aber vor allem dieses Buches wegen habe ich auch die Schrift lesen gelernt, genauso früh wie die Schreibschrift in der Schule. (Siehe Fraktur oder „deutsche Schrift“ hier). Ich vermute, dass in neueren Ausgaben das Märchen „Der Jude im Dorn“ gar nicht mehr enthalten ist. Es hat mich fasziniert und zugleich abgestoßen, hat mich aber in keiner Weise in meinem dringenden Wunsch beeinflusst, eines Tages Geige zu lernen. Allerdings hielt ich sie für eine Art Zauberkasten, und als ich endlich eine Dreiviertelgeige mit wunderbar rötlichem Lack geschenkt bekam, war ich enttäuscht, dass sie innen hohl war.

Der Jude im Dorn 1 Der Jude im Dorn 2

Der Jude im Dorn 3 Der Jude im Dorn 4

Der Jude im Dorn 5

Zu diesem antisemitischen Märchen siehe Wikipedia HIER.

Hölderlin singt und brüllt

… und widmet „dieses Glas dem guten Geist“!

Ein Freund erzählt:

Wer ihn sah, liebte ihn, und wer ihn kennen lernte, der blieb sein Freund. Ungünstige Liebe, amor cappriccio hat ihm Tübingen manchesmal verbittert, doch war er nicht taub gegen die Warnungen und Bestrafungen seiner Freunde. Ein Gesellschäftchen guter Freunde beim mäßigen Rheinweine war elektrisch heilsam für seine Seele, und diße Zusammenkünftchen liebte er über alles. Neuffer mit Klopstoks Oden in der Hand, und feuerroth im Angesichte machte den Anagnosten, und bald hieß es, wenn wir uns zu einem solchen Mahle einluden, „wir wollen heute viel von grosen Männern sprechen“.

Eines solcher Gesellschäftchen verlegten wir an dem heitersten Tage in den Garten des LammWirthes. Ein niedliches Gartenhäußgen nahm uns da auf, und an Rheinwein gebrach es nicht. Wir sangen alle Lieder der Freude nach der Reihe durch. Auf die Bole Punsch hatten wir Schillers Lied der Freude aufgespart. Ich gieng sie zu holen. Neuffer war eingeschlaffen, da ich zurückkahm, und Hölderlin stand in einer Ecke und rauchte. Dampfend stand die Bole auf dem Tische. Und nun sollte das Lied beginnen, aber Hölderlin begehrte, daß wir erst an der kastalischen Quelle uns von allen unsern Sünden reinigen sollten. Nächst dem Garten flos der sogenannte Philosofen Brunnen, das war Hölderlins kastalischer Quell; wir giengen hin durch den Garten, und wuschen das Gesicht und die Hände; feierlich trat Neuffer einher, diß Lied von Schiller, sagte Hölderlin, darf kein Unreiner singen! Nun sangen wir; bei der Strofe „dieses Glas dem guten Geist“ traten helle klare Thränen in Hölderlins Auge, voll Glut hob er den Becher zum Fenster hinaus gen Himmel, und brüllte „dises Glas dem guten Geist“ ins Freie, daß das ganze Neckar Thal widerschol. Wie waren wir so selig! O akademische Freundschaft, wo ist der Greis, der sich an dem Rükblike auf deine Wonnen nicht noch immer stärkt?

Aus: Skizze meines Lebens, ein Lesebuch für mein künftiges Leben von M. Rudolf Fridrich Magenau, angefangen im Jahr 1793. zu Vaihingen a.d. Enz; Württenbergische Landesbibliothek Stuttgart Co. Hist. 4° 561

Zitiert nach: Friedrich Hölderlin Sämtliche Werke Kritische Textausgabe Band 9 / Dichtungen nach 1806 / Mündliches / Luchterhand Darmstadt und Neuwied 1984 ISBN 3-472-87009-5 / Zitat Seite 98 / Die Rechtschreibung wurde beibehalten, die Abkürzungen „u.“ und „H.“ aufgelöst in „und“ bzw. „Hölderlin“. (JR)

Die Freunde haben natürlich nicht die Beethovensche Melodie gesungen, die erst 30 Jahre später entstand, und wohl auch nicht die gleich folgende, sondern die von Christian Gottlieb Körner (1786). Die hier zitierte gehörte aber zweifellos im 19. Jahrhundert zum „Hausschatz von über 1000 der besten deutschen Volkslieder“, die E. L. Schellenberg 1927 im „Verlag für Kultur und Menschenkunde“ Berlin-Lichterfelde herausgegeben hat.

Man lese oder singe mit Inbrunst die 7. Strophe, in der sich zu den Pokalen als Reim die Kannibalen fügen. „Brüder, fliegt von euren Sitzen, wenn der volle Römer kreist! Lasst den Schaum zum Himmel spritzen: dieses Glas dem guten Geist!“ Der Geist überm Sternenzelt wohlgemerkt. Man vergesse nicht: es war eine Zeit, in der die Begeisterung spielend über Sinnklippen hinwegtrug und übrigens nicht ungefährlich war… Dazu später mehr.

An die Freude a An die Freude b

Roemer_Waldglas

Interessante Lektüre zur Situation im damaligen Tübingen: Uwe Jens Wandel „Verdacht von Democratismus?“ Studien zur Geschichte von Stadt und Universität Tübingen im Zeitalter der Französischen Revolution“ Tübingen 1981 s.a. hier

Anlass für diesen Blogbeitrag war ein seltsamer Artikel des Politik-Redakteurs Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung vom 10. Februar 2016, eine Beilage zur 52. Sicherheitskonferenz in München: „Wo bitte bleibt das Rettende? Eine Welt voller Krisen, die Sorge um Sicherheit: Was heute die Menschen umtreibt, ist beileibe nichts Neues. Vor 200 Jahren schon verzweifelte Friedrich Hölderlin an revolutionären Zeiten – und hinterließ ein paar gute Ratschläge“.

Manche meinen, Hölderlin erlebte unter dem Eindruck der Epochenwende seine dichterische Blüte – aber auch seinen Niedergang. Manche meinen, Hölderlin erlag dem Wahnsinn, weil er den Eindrücken der Zeit nicht mehr standhalten konnte. Aber er versuchte, die Revolution in seinen Zeilen zu bändigen, etwa 1803 im Hymnus Patmos, der Geschichtsphilosophie, Theologie und Politik zu einem großen Erklärepos verdichtet.

Der Artikel ist online nicht ohne weiteres abrufbar, – ich würde auch lieber dem eingefügten Wikipedia-Link nachgehen und anschließend „Patmos“ im Originaltext lesen…

Hegels Gedankengebäude

Es verschafft mir Genugtuung, diesen Beitrag gerade so betitelt zu haben und nicht mit Hegels Denk-System, was hermetischer klänge. Abgesichert, unangreifbar. An dieser Mauer kann man sich nur den Kopf einrennen, im wörtlichsten Sinn. Wie froh bin ich, wenn ich entdecke, dass an irgendeiner Stelle schon Leute damit beschäftigt sind, einzelne Steine zu lockern, herauszulösen und beiseite aufzuschichten. Am Ende ist alles wieder offen.

Wie für mich damals, als Herbert Schnädelbachs „Hegel zur Einführung“ (Junius Berlin 1999) erschien, eine Einführung, die auf Seite 166 mit einem Bekenntnis zu Schopenhauer endet.

Doch nicht daraus sei zitiert, sondern aus dem Blog von Wolfgang Koch, der sich mit Walter Seitter beschäftigt, der wiederum Franz Grillparzer gründlich gelesen hat:

Grillparzer hatte Hegel 1826 persönlich in Berlin aufgesucht und den Turbodenker dabei »so angenehm, verständig und rekonziliant, als in der Folge sein System abstrus und absprechend gefunden«. Der österreichische Klassiker erkannte in dem deutschen Philosophen »einen der größten Denkkünstler aller Zeiten«, freilich einen mit »monströsen Resultaten«, die der »verrückten Methode« der Dialektik und ihrer grundsätzlichen Aufhebbarkeit von Gegensätzen geschuldet war.

Wie für den Kulturkritiker Nietzsche war für Grillparzer Hegels Gebäude grundlegend schief ausgefallen:

»Der Schaden, der dadurch angerichtet wurde, ging nach mehreren Seiten. Erstens kam dadurch der natürliche Verstandesgebrauch in Misskredit. Der Verstand dessen Aufgabe die Entfernung von Widersprüchen ist, wurde einer sogenannten Vernunft untergeordnet, die sich mit der Erzeugung von Widersprüchen beschäftigt, oder vielmehr der Widerspruch selbst ist … Zweitens, indem man alles durch das Klügeln Unaufgelöste mit dem Schimpfnamen des Unmittelbaren belegte, wurde das ganze Reich der Empfindungen mit dem Charakter des Unvollkommenen, Schwächlichen, Aufzuhebenden gestempelt … Das letzte Ergebnis endlich … war ein maßloser Eigendünkel. Wie sollte auch eine Zeit, die ihren Geist als die Inkarnation des Göttlichen betrachtete, der die ganze Natur durchsichtig war, die den Schlüssel zu allen Rätseln der Welt gefunden hatte, anders sein als hochmütig, hochmütig als Menschen und, kraft des Erfinder-Privilegiums, hochmütig als Nation«.

Denk an! Grillparzer hatte sich ernsthaft in die deutschen Meisterdenker hineingelesen und Sachprobleme der Schulphilosophie selbstständig durchdacht. Wortreich beklagte er den Einfluß Hegels auf die Literatur seiner Zeit:

»Die Natur war durchsichtig geworden, die Schlüssel zu allen Rätseln der Welt waren gefunden. Gott war nur noch ein Rattenkönig aus Menschen, oder vielmehr er war ein Deutscher, da die Deutschen ihn nach ihrem Ebenbilde geschaffen, indem sie ihn demonstrierten und allein begriffen. Da die Entwicklung des objektiven Begriffs den immerwährenden Fortschritt notwendig in sich schloß, so konnten die Mitlebenden nicht zweifeln, ihren Vorgängern unendlich überlegen zu sein; wenn nicht an Talent, doch durch die Höhe des Standpunkts, auf den alles ankam«.

Quelle Wolfgang Kochs Wienblog / taz.blogs 09.11.2015 „Walter Seitter liest Hegel, Heidegger, Hitler mit Grillparzer“ von Wolfgang Koch.

Weiterlesen HIER.

Der Schallplattenpreis ist da!

Preis der Deutschen Schallplattenkritik 2015

Jury Foto 2015-pdsk Foto: pdsk

Im Jahresausschuss 2015 arbeiteten mit (v.l.n.r): Jan Reichow (Jury Traditionelle ethnische Musik, WDR, freier Autor), Jörg Wachsmuth (Jury Black Music, freier Musikjournalist, rap2soul), Werner Stiefele (Jury Jazz I, Fachjournalist für Jazz), Matthias Inhoffen (beratend), Sabine Fallenstein (Jury Cembalo & Orgel, SWR), Eleonore Büning (Jury Kammermusik, F.A.Z.), Torsten Fuchs (Jury Black Music, freier Musikjournalist, rap2soul), Norbert Hornig (Jury Konzerte, freier Musikjournalist, Fono Forum, Deutschlandfunk), Michael Kube (Jury Orchestermusik, Neue Schubert-Ausgabe), sitzend Albrecht Thiemann (Jury Lied, Opernwelt) und  Wolfgang Schiffer (Jury Hörbuch, WDR, Hörspieldramaturg, Buchautor). Nicht auf dem Foto: Susanne Benda (Jury Chormusik, Stuttgarter Nachrichten)

Einmal jährlich verleiht der „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ bis zu 14 Jahrespreise aus verschiedenen Musikrichtungen für die besten Produktionen des zurückliegenden Jahres, die von einem juryübergreifenden Gremium ausgewählt werden. Die 12 Jahrespreise 2015 werden im Rahmen öffentlicher Konzertauftritte oder Literaturlesungen (im Bereich Hörbuch) in Deutschland, Österreich und der Schweiz an die Preisträger verliehen.

Die Ergebnisse: http://www.schallplattenkritik.de/jahrespreise

Was ist Dichtung?

Bemerkungen über Fiktion und Non-Fiction

Roberto Saviano und Iris Radisch in der neuen ZEIT, mit Blick auf den eben verliehenen Nobelpreis. Zunächst R.S. auf die Frage, ob er sich als Schriftsteller oder als Journalist beschreiben würde:

Als Schriftsteller, ohne jeden Zweifel. Und als Schriftsteller, der Non-Fiction schreibt, bin ich sehr stolz darauf, dass Swetlana Alexijewitsch soeben den Nobelpreis für Literatur gewonnen hat. Sie wurde mit Non-Fiction in den Olymp der Literatur aufgenommen. Sie hat endlich die literarischen Weihen bekommen, die ihr bisher von der positivistischen angelsächsischen Kritik , die die Welt der Kultur dominiert, verwehrt wurde.

Iris Radisch in einer Kolumne, die dem Gespräch mit Saviano offensichtlich zugeordnet ist:

Das bloße Arrangement von Dokumenten und O-Tönen, die Zusammenstellung von Gesprächsprotokollen (….) oder Briefen (wie das Echolot-Projekt von Walter Kempowski) führt zweifellos zu hochbedeutsamen Zeugnissen der Sozial- und Zeitgeschichte. Genau darin liegt auch das unbestreitbare Verdienst der Gesprächbücher von Swetlana Alexejewitsch, in denen die Stimmen namenloser Zeugen und die Nacherzählung Hunderter Lebensschicksale aufbewahrt sind. Doch literarische Meisterwerke sollte man solche Materialcollagen oder Reportagen nicht nennen. Es sei denn, man legt es darauf an, die Hierarchien zwischen den Textgattungen zu verwerfen und sämtliche Kriterien für große Literatur fahren zu lassen.

Quelle DIE ZEIT 15. Oktober 2015 (Seite 51f)

„Ich habe es oft bereut“ Ein Gespräch mit Roberto Saviano über die Frage, ob sich der Kampf gegen die Mafia gelohnt habe, die Fernsehserie zu seinem Buch „Gomorrha“ und über seine besondere Arbeitsweise. (Interview: Ulrich Ladurner)

Plötzlich ist jeder ein Kunstwerk Was ist falsch an der Vergabe des diesjährigen Literaturnobelpreises. Von Iris Radisch

(Mit Absicht frage ich nach Dichtung, nicht nach Literatur. Was ist mit Thomas Mann, z.B. Doktor Faustus, Zwist mit Schönberg. Siehe Käthe Hamburger. Oder Victor Klemperers Tagebücher.)