Archiv der Kategorie: Ethnologie

Menschenzoos

Menschenzoo vorn Menschenzoo rück s.a. HIER

Warum habe ich dies Buch gekauft? Der angegebene Link war schuld. Kurzer Entschluss, vor zwei Tagen bestellt, schon ist es da. Aber habe ich nicht schon genug ähnliche Sachen? (Jetzt erst werde ich aufs neue hineinschauen.) Das Besondere ist: diese bezeugen nicht nur das schon Bekannte über „Menschenzoos“, sondern auch, was man in unserer Zeit, da die Fremden und auch die Fremdesten in greifbarer Ferne zu erleben sind (Tourismus) oder sogar in unmittelbarer Nähe (Flüchtlinge), von Film und Fern-Sehen zu schweigen. (Ich gestehe: auch ein Film ist unterwegs, nur weil Matthias Brandt die richtigen Worte dafür gefunden hat: „Die Dinge des Lebens“. Die Motivation war nicht gering. Aber spielte nicht auch eine Rolle, dass ich ein Buch von Hans Peter Dürr mit dem Titel „Die Tatsachen des Lebens“ greifbar nahe im Bücherschrank stehen habe, so dass der Mythos vom Zivilisationsprozess unwillkürlich assoziiert bleibt? Und dieses mir wieder in der Sinn kam, als ich Anlass hatte, ein Bild der Limburger Brüder genauer anzusehen. Warum das? Weil ich gestern die FAZ gelesen habe. Ist es nicht auch ein Menschenzoo, den wir sehen, wenn wir die Welt der Limburger Brüder aus dem 14. Jahrhundert revue passieren lassen? Ein „Othering“? Oder sogar „Bachs Welt“ in Volker Hagedorns – nicht nur ein Verlebendigungsversuch sondern zugleich eine Verfremdungsarbeit? Es ist alles „ganz anders“. Oder auch der riesige Kosmos der Bachschen Violinsoli „Sei Solo“, der sich uns im gleichen Maß entzieht, wie wir uns ihm nähern? Oder ist gerade dieser Eindruck der Ausdruck des digitalen Wahnsinns, der damit beginnt, dass man sich am Computer wie der Allmächtige fühlt, den gerade heute die Süddeutsche Zeitung im Altertum beschreibt, Assurbanipal mit der größten Bibliothek der Welt im biblischen Ninive, berühmt als Sündenbabel? Und er habe alles gelesen, ALLES. (SZ 27./28. Aug. 2016 Seite 33 von Hubert Filser. Siehe auch British Museum HIER).

Also: WARUM? Weil ich auch hier wieder zwei Bücher (oder mehr) nebeneinanderlegen wollte, um mich zu vergewissern, dass das Thema noch lange nicht erschöpft ist.

Menschen in Kolonien Geraubter Schatten Darin auf Seite 103 das Thema „Völkerschauen“.

Geraubter Schatten Inhalt

Nebenbei auch ein Kompendium der Fotografie. La condition humaine – im Bilderbuch. Oder noch einmal anders: die größte Anmaßung, – schrankenlose Information, die virtuelle Verfügbarkeit aller Dinge, Menschen und Weltregionen. Oder die älteste? Und in Zukunft friedlichste, freieste?

ZITAT

Das Gedächtnis des Großkönigs war umfassend und sein Einfluß global. Es gab keine Krise an irgendeiner weit entfernten Grenze, über die er nicht ständig informiert wurde. Die Entfernungen in seinem Reich waren zwar immens, doch immens war auch die Virtuosität, mit der seine Knechte an der Überwindung dieser Entfernung arbeiteten. Die Geschwindigkeit, mit der persische Nachrichten übermittelt wurden, erregte allgemeines Erstaunen. Leuchtfeuer, die von einem Aussichts-Wachpunkt zum nächsten übersprangen, konnten den Großkönig von jedem beunruhigenden Zwischenfall, praktisch unmittelbar nachdem er sich zugetragen hatte, in Kenntnis setzen. In den Gebirgsregionen des Reiches und vor allem in Persien selbst mit seinen Tälern und deren exzellenter Akustik konnten detailliertere Informationen durch mündliche Weitergabe übermittelt werden. Die Perser, geübt „in der Kunst der Atemkontrolle und im effektiven Einsatz ihrer Lunge“, hatten bekanntermaßen die lautesten Stimmen in der Welt; so manche Botschaft, die von felsigen Abhängen und über Schluchten hinweg weitergegeben wurde, durchquerte innerhalb eines Tages eine Entfernung, die ein Mann zu Fuß in einem Monat nicht hätte durchqueren können. Die Perser hatten in einem bislang nicht dagewesenen Ausmaß begriffen, daß Information gleichbedeutend ist mit Herrschaft. Wer die Informationsübermittlung im Griff hat, hat die Welt im Griff.

So war also die eigentliche Grundlage der Größe Persiens nicht seine Bürokratie und auch nicht sein Heer, sondern seine Straßen. Diese kostbaren Sträne aus Staub und festgetretener Erde bildeten das Nervensystem des riesig ausgedehnten Reichskörpers, in dem ununterbrochen Neuigkeiten unterwegs waren, von Synapse zu Synapse, zum Gehirn hin und von diesem weg. Die Entfernungen, die Kliomenes in so großen Schrecken versetzt hatten, wurden durch die königlichen Kuriere Tat für Tag zunichte gemacht. Allabendlich erreichte ein solcher Bote nach den Strapazen eines Tages im Sattel eine Poststation, die ihn erwartete, wo ein Bett für ihn bereitstand, Verpflegung und für den nächsten Tag ein anderes, ausgeruhtes Pferd. Eine sehr dringende Nachricht, die in ununterbrochenem Galopp, auch nachts und durch Unwetter hindurch, transportiert wurde, konnte Persepolis von der Ägäis aus durchaus in weniger als zwei Wochen erreichen. Das war unglaublich schnell und grenzte schon fast an Magie. Nie zuvor hatte es dergleichen gegeben. Es war kein Wunder, daß ein solches Instrument – die Urform aller Daten-Autobahnen – in der Hand des Großkönigs seine Untertanen einschüchterte und für sie den repräsentativen Maßstab, die nachdrücklichste Manifestation persischer Macht darstellte.

Der Zugang zu diesem Instrument war strengstens begrenzt. Keiner durfte die Straßen des Königs ohne einen Paß, ein viyataka betreten. Da jedes dieser Reisedokumente entweder direkt in Persepolis oder durch das Büro einer Satrapie ausgegeben wurde, bedeutete schon allein sein Besitz einen Zugewinn an Prestige.

Quelle Tom Holland: Persisches Feuer / Das erste Weltreich und der Kampf um den Westen / Klett-Kotta Stuttgart 2008 / ISBN 978-3-608-94463-1 / Seite 207 f

Ob meine „Tatsachen des Lebens“ allzuweit hergeholt sind und zum verzichtbaren Überbau unserer Kultur gehören, 1 Konzert, 1 Mitwirkender, 1 Uhr mittags,  kombiniert mit Hin- und Rückfahrt im ICE, das ist nicht jedem Mit- oder Weltbürger erklärbar. Immerhin ist eine menschlich verbindende Komponente zu erkennen: es handelt sich um 2 Karten. Und die 2. ist fast ausschlaggebend.

Bach Stuttgart Eintrittskarten

Und selbst mit Bach, dem fünften Evangelisten, wie manche meinen, stehen wir mitten in einer Weltproblematik, wenn wir nur den ZEIT-Artikel berücksichtigen, der seit dem 14. Juli 2016 zu lesen war:

Bach ZEIT Blut 160714 Als Ganzes nachlesbar HIER.

Nachtrag 18. September

Ich kann mir den mit inzwischen fremd gewordenen assoziativen Ansatz von damals nur dann nachvollziehbar machen, wenn ich mich langwierig distanziere, was wiederum albern oder eitel wäre. Nach einer Zeit intensiveren Lesens, des Eintauchens in den Stoff der Menschenzoos ändert sich die Einschätzung der eigenen Aktivität vollständig. Ich fühle mich veranlasst auch die versteckte Sensationslust in der eigenen Neugier mit mehr Wohlwollen zu betrachten. Die „Realitätsfresserei“ – man betrachte die Haltung der Wissenschaft in früheren Zeiten, das sinnlose Vermessen der Menschen, und nun die Selbsteinschätzung während des Vorgangs der „Einverleibung“, das gute Gewissen beim Nachvollziehen der unmenschlichen Aktivität der Besitzergreifung. Wie es sich verbindet mit dem Misstrauen gegenüber der eigenen Realitätsfresserei: die „Neu-Gier“ als immer wieder gerühmte, dem Selbstverständnis nach „harmlose“ Journalisteneigenschaft tatsächlich probeweise hinzunehmen – als Einstieg in die Tatsachen des Lebens. Statt Realitätsfresserei wählt man das Wort Anverwandlung. Empathie. Mitleid mit dieser Welt, wie sie war (und ist). Wilhelm von Humboldt schrieb kurz vor seinem Tode:

Wer, wenn er stirbt, sich sagen kann: ‚Ich habe soviel Welt, als ich konnte, erfaßt und in meine Menschheit verwandelt‘ – der hat sein Ziel erreicht.

St. Cugat (wo die Steine singen)

Notizen zu einer Recherche

Marius Schneider 1979 gr 1979

Zu den bekanntesten Arbeiten meines musikethnologischen Lehrers, Prof. Dr. Marius Schneider, gehört das Buch Singende Steine. Ich habe es damals gelesen, fand die Idee faszinierend, entwickelte ohnehin eine Schwäche für Kreuzgänge als Ort der Ruhe und des Nachdenkens, z.B. in Brixen (Südtirol) oder ganz in der Nähe, im Bonner Münster. Allerdings kamen mir schon bei der ersten Lektüre der „Singenden Steine“ Zweifel: wo genau liegt der Beweis, dass mit den Steinen dieser spezielle gregorianische Gesang gemeint ist? Ich habe den Verdacht, dass schon der Titel Assoziationen an unterirdische Höhlen oder Gewölbe am Rande des Ozeans freisetzt, die sich mit einer Vorstellung von Urmusik verbünden, vielleicht auch mit den Sirenen des Odysseus, und nicht mehr zum Schweigen zu bringen sind. Oder die alte Sehnsucht: Das Flüchtigste, die Musik, eingesenkt in die dauerhafteste Materie. Ein Sieg über die Vergänglichkeit. Ich wollte der Sache schon vor Jahrzehnten nachgehen, aber das Schneider-Buch ist damals verloren gegangen. Vielleicht habe ich es verliehen und es gehört zu denen, die niemals wiederkehren… Und nun – den Titel im Sinn und die Unendlichkeit vor Augen.

Bitte anklicken:

Panorma_collserola_san_cugat_cerdanyola_desde_el_tibidabo Quelle Wikimedia

Und dann ins Greifbare HIER. Das gesamte geographische Umfeld. Dann noch konkreter HIER, das Kloster.

Der Autor Hans-Georg Nicklaus hat den Hintergrund der „Singenden Steine“ folgendermaßen beschrieben:

Das Hauptanliegen der Forschungen Schneiders war der Nachweis, daß und wie die Welt nach der Maßgabe menschlicher Vorstellungen (in Mythen, Religionen, Lehren, Abbildungen, Diagrammen etc.) als akustische Schöpfung dargestellt wurde und vielleicht werden mußte. Das Buch “Singende Steine” wurde in den 50er Jahren im Bärenreiter-Verlag veröffentlicht und ist leider nicht mehr zu erhalten. Es enthält Studien über drei katalanische Kreuzgänge romanischen Stils. Schneider hat die Kapitäle der Säulengänge im Inneren dieser Klöster untersucht, genauer gesagt: er hat die Tiersymbole an den Kapitälen dieser Kreuzgänge auf ihre musikalische Bedeutung hin analysiert. Er nahm abgekürzte Sanskritwörter aus dem Indischen, aus der indischen Musiktradition, zu Hilfe, von denen er wußte, daß sie ganz bestimmte Töne repräsentieren und eine Tonleiter darstellen. Die Silben sa, ri, ga, ma, pa, dha, ni stehen für die Töne c, d, e, f, g, a, h und sind gleichzeitig Abkürzungen für Tiernamen bzw. Anfangssilben von Tiernamen. Schneider brauchte also nur die Tiersymbole, die er an den Kapitälen sah (den Löwen, den Pfau etc.), in die Silben rückzuübersetzen, um Töne zu erhalten. Das Ergebnis war verblüffend: Schneider erhielt so nicht nur signifikante Ton-Skalen, er erhielt im Falle von St. Cugat sogar einen Choral: die Tiersymbole, wie sie an den Säulen dieses Klosters zu sehen sind, das heißt in ihrer durch den Kreuzgang festgelegten Reihenfolge und Anzahl, ergaben genau die Töne eines gregorianischen Chorals auf den heiligen Cucuphatus, also den Namensgeber von St. Cugat. – Dies vorab zur Charakteristik von Schneiders Forschungen.

Quelle: hier http://www.harmonik.de/harmonik/vtr_pdf/Beitraege9407Nicklaus.pdf

Die Mitteilung, dass das Buch nicht mehr zu erhalten ist, stimmt nicht ganz: ich habe es eben bei amazon antiquarisch bestellt. Und es gibt sogar noch einige Exemplare mehr. (Heimeran Verlag München 1978).

Nun zu meinen alten Zweifeln, kurzgefasst: Was hat denn St. Cugat mit Indien zu tun? Gibt es beweisbare Verbindungen? Danach werde ich in dem Buch suchen. Und wenn die Vermutung einer direkten Verbindung und schließlich die Benennung der „steinernen“ Töne einer Choralmelodie auf irgendwelchen gedanklichen Kompromissen beruht – sagen wir, ein Ton passt nicht, ein anderer fehlt und man muss etwas hinzudenken, was sich nicht zwingend anbietet -,  dann bleibe ich nicht nur bei meinen Zweifeln: ich lehne die Theorie als bloße Glaubenssache ab. Ganz gleich, wie sehr mich der Kreuzgang oder der Blick in die Unendlichkeit der Landschaft zur Frömmigkeit mahnt.

Ein zweites Buch liegt bereit, das von diesem angeregt wurde, Stichwort Moissac, auch einen Roman mit dem Titel „Singende Steine“ soll es geben. Aber wenn dieser erste Schritt nicht funktioniert, erlischt auch mein weiterer Recherche-Impetus.

Sela, Psalmenende

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Ich greife vor und zitiere aus dem „Moissac“-Buch, – da steht: „Schneider ging bei der Entschlüsselung von der Annahme aus…“ Von der Annahme! Und später: „In der Spätantike kamen diese Erkenntnisse über die Griechen in das Abendland.“ Sie kamen… Wo steht das geschrieben? „Lässt sich das auch beweisen?“

Moissac Schneider Bloße Spekulation oder nicht?

Quelle Rainer Straub: Die singenden Steine von Moissac. Entschlüsselung der geheimnisvollen Programme in einem der schönsten Kreuzgänge Europas. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2009. (Entliehen von Christian Schneider, Düsseldorf.)

Nachtrag 27. Juli 2016

Das Buch ist eingetroffen:

Singende Steine

Zugleich möchte ich nachtragen, dass der oben zitierte Autor Hans-Georg Nicklaus durchaus ernstzunehmen ist. Aus seinem Buch „Die Maschine des Himmels. Zur Kosmologie und Ästhetik des Klangs“ (Wilhelm Fink Verlag München 1994). Ich zitiere die erste Seite des Werkes um seinen Ansatz anzudeuten und zugleich seine Distanz zu esoterischen Phantasien zu dokumentieren (siehe hier in der Anmerkung zu J.-E.Berendt).

Nicklaus Erste Seite

Erwähnenswert auch das neue Buch (das mir nicht zur Verfügung steht) „Weltsprache Musik“ 2015, betreffend Rousseau. Information und Rezension HIER.

Zu J.-E. Berendt erinnere ich an meine Polemik 1989 HIER.

Zur Verbindung Indien/Griechenland (Aristoteles) nicht vergessen: hier.

Singende Steine

Ich bin also auf der Suche nach Hinweisen, die uns ermächtigen, Skulpturen in der Weise zu deuten, wie es bei Marius Schneider nachlesbar ist. Ein entscheidender Punkt scheint die Verbindung nach Indien zu sein, die offenbar in der von ihm verwendeten Literatur zu finden ist. Wobei mich die offensichtliche Schwäche eines längeren Zitates verblüfft, das relativ frühe (1258) Beziehungen zwischen Westeuropa und Indien belegen soll, letztlich jedoch nur die dürftige Aussage über geplante Lieferungen chinesischer Keramik nach Griechenland und griechischen Brokats nach Indien enthält.

Schneider Steine Quellen

Die anderen Quellenangaben ermutigen nicht eben zu größeren Erwartungen. Leo Schrades Titel „Die Darstellung der Töne an den Kapitellen der Abteikirche zu Cluny“ steht mir (noch) nicht zur Verfügung. Jedoch findet man im Internet eine tüchtige Arbeit in seiner Nachfolge, wobei ich nicht sicher bin, ob  der Autor Frater Gregor tatsächlich von Leo Schrade (oder Marius Schneider) Kenntnis hatte: „Vom Ethos der Tonarten. Betrachtungen ausgewählter Beispiele der Toni-Darstellungen an den Kapitellen von Cluny.“ (Angeregt durch einen Besuch in Cluny 1986). Auffindbar HIER.

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Präzisere Angaben zu frühen indisch-griechischen (oder gar indisch-europäischen) Wechselwirkungen findet man bei Lutz Geldsetzer:

Die antike mittelmeerische Welt hat indische Philosophie durch ihre Vertreter, die sie „Gymnosophisten“ („nackte Philosophen“) nannte, vermutlich recht genau gekannt. Unübersehbar verwandt ist das Denken eines Parmenides, Platons oder eines Sophisten wie Gorgias („es gibt überhaupt Nichts!“) mit gewissen Philosophemen indischen Denkens. Und vermutlich verdankt sich solche Verwandtschaft regem Verkehr hin und her, der besonders seit den Alexanderzügen bis nach Indien gut entwickelt gewesen sein muß. So finden sich bei vielen spätantiken Schriftstellern Erwähnungen der Gymnosophisten, teils fabelhafter Natur, und manche Patristiker schätzen sie als „vorchristliche Heilige“.

Die islamischen Eroberungen scheinen dann eine undurchdringliche Barriere zwischen dem Abendland und Indien errichtet zu haben. Mittelalterliche Philosophie weist, soweit bisher bekannt ist, keinen Kontakt mit indischer Philosophie auf. Umso mehr steht sie in lebendigem Austausch mit der Philosophie im islamischen Kulturraum.

Die Renaissance nimmt wieder, wie von allem Alten als den Wurzeln der christlichen Kultur, auch vom indischen Denken „antiquarisch“ Notiz, wie man bei Gemisthios Plethon und Giovanni Pico della Mirandola ersieht (vgl. dazu J. D. M. Derrett, Art. „Gymnosophisten“ in: Der Kleine Pauly, Lexikon der Antike, Band 2, München 1979, Sp. 892/3). Indische Philosophie interessiert und erscheint als eine „uralte Weisheit“ im Spiegel antiker Berichte, die gesammelt und philologisch aufbereitet werden.

Quelle Internet DIE KLASSISCHE INDISCHE PHILOSOPHIE Vorlesungen an der HHU Düsseldorf SS 1982, WS 1993/94, WS 1998/99 von Lutz Geldsetzer § 3. Geschichte der abendländischen Befassung mit der indischen Philosophie. Auffindbar HIER.

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Die ältesten indischen Beschreibungen des Tonsystems:

Natya Shastra: Wikipedia HIER / dem Bharata zugeschr. (zw. 500 vor und 500 n.Chr.)

Sangita Ratnakara: Wikipedia Hier / geht auf Sharngadeva zurück (1210-1247)

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Vom Schamanen

Material zum Film

Im SPIEGEL wurde darüber berichtet und in der ZEIT. Lesenswert, den Film habe ich mir vorgemerkt. Und ihn zum Anlass genommen, mir eine Veröffentlichung des Berliner Phonogramm-Archivs aus dem Jahr 2006 wieder vorzunehmen. Zu Theodor Koch-Grünberg siehe auch Wikipedia hier. Siehe auch Wikisource hier.

ZITAT aus dem ZEIT-Artikel von Andreas Busche:

Der Film handelt aber auch in einem unmittelbaren Sinn von einer Bewusstseinserweiterung: Es werden mehr psychedelische Substanzen konsumiert als in den Acid-Filmen des chilenischen Psychomagikers Alejandro Jodorowsky. Gleichzeitig besitzt die Psychedelik Guerras eine politische Dimension. Der Regisseur bezieht sich auf einen Grundlagentext der Kolonialliteratur, Joseph Conrads Herz der Finsternis, sowie dessen berühmteste Adaption Apocalypse Now von Francis Ford Coppola. Auch die Bilder, die Guerra dem kolonialisierten Unbewussten entreißt, bieten guten Stoff für Albträume.

ZITAT aus der Süddeutschen Zeitung vom 21. April 2016 Seite 12 (Martina Knoben):

So einen Film hat es noch nicht gegeben. „Der Schamane und die Schlange“ ist Abenteuerkino, spirituelle Reise, ein fiebriger Traum und Dokument einer vergessenen Kultur. Der alte Schamane hat das Wissen seiner Vorfahren vergessen, erst die Begegnung mit Evan hilft ihm, sich zu erinnern. Dies ist auch das Credo des Films, der die Kultur der Amazonas-Indianer bewahren und davon erzählen will – weil die Indianer es nicht mehr können, weil sie ihr Wissen nur mündlich überliefert haben und viele Stämme ausgerottet wurden.

Angeblich sind die beiden Hauptdarsteller zufrieden mit dem Film. Das grundsätzliche Dilemma einer solchen Reise bleibt bestehen: Auch Ciro Guerras Blick ist ein Blick „von außen“, sein Film will eine Kultur auf eine Weise festhalten, die ihr selbst völlig fremd ist. Der Regisseur ist sich dessen sehr bewusst, das beweisen nicht zuletzt seine Anspielungen und Parodien auf andere Dschungelfilme. Einen Ausweg aber gibt es nicht, Guerra simuliert ein Eingeständnis der Indios: Als Théo vom jungen Karamakate ein Foto* macht, empfindet dieser das Bild als „Chullachaqui“, als eine leere Hülle seiner selbst. Aber er erlaubt Théo, es mitzunehmen.

Theodor Koch-Grünberg Theodor Koch-Grünberg Evan Schultes_amazon_1940s s. hier

Zitat Wikipedia zu Koch-Grünberg:

Aus seinen Tagebüchern und Reiseaufzeichnungen Vom Roroima zum Orinoco schöpfte 1927 der brasilianische Autor Mário de Andrade für seinen Roman Macunaíma – Der Held ohne jeden Charakter (Macunaíma: o héroi sem nenhum caráter), eines der Hauptwerke der modernen brasilianischen Literatur. Ebenfalls auf die Aufzeichnungen Koch-Gürnbergs (sic!) über seine Reisen im Amazonasgebiet stützt sich der kolumbianische Film Der Schamane und die Schlange (Originaltitel El abrazo de la serpiente) von RegisseurCiro Guerra, der 2016 für den Oscar in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film nominiert wurde.

Zum Studium eines Werkes: hier  „Zwei Jahre bei den Indianern Nordwest-Brasiliens“ (1921)

Zum Studium der dort aufgenommenen Musik:

Film Schamane Phono

Koch-Grünberg CD Editorial

*Stichwort: Phonographie als Zerstörung des Schamanen-„Zaubers“

Anders war die Situation allerdings bei den Aufzeichnungen der Schamanengesänge (bei Koch-Grünberg: ,Zauberärzte‘). Vor allem der Schamane Katúra blieb misstrauisch und erkundigte sich besorgt, warum der Forscher ,seine Stimme mit sich nehmen wolle‘. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass die Krankenheilung aus indianischer Sicht u.a. Kontaktaufnahme mit der Welt sowohl hilfreicher als auch gefährlicher Geister darstellt, während der der Schamane bzw. seine Seele unter Singen, dem Geräusch des Begleitinstrumentes sowie vor allem über das Trinken von Tabaksaft seinen eigenen Körper verlässt, um in anderen Sphären einen Kampf mit dem Verursacher der Krankheit zu führen, ein Kampf, bei dem es nicht selten um Leben und Tod geht. Nur mit Unterstützung von Häuptling Pitá wie auch dem Versprechen eines großen Messers als Gegenleistung willigte Katúra schließlich in die Tonaufnahmen ein, bestand allerdings darauf, dass diese heimlich vonstatten gingen und anschließend nicht den anderen Dorfbewohnern vorgeführt würden. Mit stark näselnder Stimme sang er sodann in einem verschlossenen, halbdunklen Raum in das Aufnahmegerät, wobei er in der rechten Hand ein Bündel Zweige hielt, mit dem er auf dem Boden den Takt klatschte und in der linken die bei Heilungszeremonien so wichtige Zigarre inhalierte. Als auch diese Aufnahme anschließend in kleinem Kreise – neben Katúra und Koch-Grünberg waren lediglich Häuptling Pitú und der Indianer Pirokaí noch anwesend – vorgespielt wurde, war die Reaktion wie folgt: „Katúra macht ein bestürztes Gesicht, als ihm seine eigene Stimme klar und deutlich entgegen schallt; Pitá schüttelt sich vor Lachen“ (Koch-Grünberg 1917:53, Vgl. auch 1923:119f.).

Quelle CD (s.o.) Bookletbeitrag von Michael Kraus: Theodor Koch-Grünberg: Phonographische Aufnahmen im nördlichen Amazonien. (Seite 21)

(Ergänzungen folgen)

Die Trompeten des Tutanchamun

Hintergrund einer SPIEGEL-Geschichte

Es gibt immer mal wieder Gelegenheit für jedermann, als Seiteneinsteiger Zugang zur Musikethnologie zu finden. Aber es scheint nicht zu genügen, einer wirklich fremden Musik zu begegnen, sie soll möglichst auch noch aus der tiefsten Tiefe der Geschichte aufsteigen, darüberhinaus aber doch mit Klavier und Sinfonieorchester aufführbar sein, so dass man sie leichter fassen kann.

Ein Urteil ist nicht schwer: Jemand, der eine Leier zusammengebaut hatte, deren Pläne er einem 3400 Jahre alten Dokument verdankte, entlockte ihr elegische Tonfolgen und meinte: „Es klingt sehr fremdartig, aber es ergibt Sinn.“

Ja, wenn wir nur wüssten, was das ist: musikalischer Sinn. Dann hieße es hier wohl korrekterweise: es ergibt keinen Sinn.

Der SPIEGEL brachte jüngst einen Bericht, der solche Fragen wieder aufwarf, und es ging los, mit Pauken und Trompeten:

Mehr als 3000 Jahre lang waren sie verstummt. Dann erweckte ein britischer Militärtrompeter die Instrumente wieder zum Leben: In einer Liveübertragung der BBC ließ er die Trompeten des Tutanchamun erklingen.

Die beiden Instrumente, das eine silbern, das andere aus Bronze, waren im Grab des Pharao gefunden worden.

Die Vorführung des BBC bewies, dass ihnen die Jahrtausende in der Gruft nichts anhaben können. Voll, durchdringend, lebendig klangen ihre Fanfaren. „Die silberne Stimme hallt aus einer glorreichen Vergangenheit zu uns herüber“, verkündete der Radiosprecher. 150 Millionen Menschen weltweit hörten zu.

Es war ein Gänsehautmoment der Archäologie. Und er wird einzigartig bleiben. Ein Praxistest wie an jenem Sonntagnachmittag des Jahres 1939 wird sich wohl nie wiederholen lassen. Denn kein Kurator wäre mehr bereit, eines der wenigen erhaltenen Musikinstrumente des Altertums dafür herauszugeben.

Quelle DER SPIEGEL 13/2016 Seite 112 Hymne auf die Göttin In Mesopotamien erklangen einst Trommeln, Harfen, ganze Orchester. Jetzt ist es Forschern gelungen, den Klang der jahrtausendealten Musik zu rekonstruieren. Von Johann Große.

Heute ist ein ähnlicher Tag: angeblich steht es kurz bevor, dass man Einblick in bisher unbekannte Hohlräume des Tutanchamun-Monuments bekommt. Die Totenkammer der Nofretete? Einerseits wieder ein neuer „Gänsehautmoment“, zweifellos. Andererseits schreiben wir den 1. April.

Es kann nicht schaden, ein paar Hinweisen nachzugehen. Gibt es die Trompeten des Tutanchamun? Haben sie Mundstücke, die einen Hinweis zur Anblastechnik und zum Klang geben? Siehe zunächst unter „Scheneb“ in Wikipedia.

Und nun etwas näher an die BBC-Quelle: Recreating the sound of Tutankhamun’s trumpets  Hier

Tatsächlich ist im Text zweimal vom Mundstück die Rede. Der Sohn des Trompeters Lucas, der das Originalinstrument 1939 gespielt hat, erzählt: „I was astonished with the quality of it, he said. How the original trumpeters played them is totally beyond me… [my father] used modern mouthpieces but the actual expertise he used is quite astonishing.“ Es ist aber auch die Rede davon, dass man von einem früheren Fehlversuch wusste, als nämlich die silberne Trompete einmal vor König Farouk gespielt werden sollte: „[The] story goes that the precious instrument shattered, possibly because of a modern mouthpiece being inserted to play it. According to Mr Keating’s colourful account, Mr Lucas was left as shattered as the trumpet and needed hospital treatment. The instrument, at least, was repaired.“

Die Geschichte gibt Anlass zu Zweifeln: man muss sich nur erinnern, welche Bedeutung der Pionier der „neuen“ Alten Musik, Nikolaus Harnoncourt, der Form des Mundstücks bei Blechinstrumenten beimaß, so kann man sich leicht vorstellen, wie authentisch der Klang eines altägyptischen Instrumentes mit modernem Mundstück sein kann. Man muss auch nur eine afrikanische Trompete wie die Kakaki gehört haben, um damit zu wissen, dass eine alt-ägyptische Trompete keinesfalls so klingen wird wie die in Verdis „Aida“. Aber das weiß gewiss auch die Autorin der BBC-Sendung, Christine Finn. Hören Sie ihre Sendung HIER , am besten gleich auf 0:55 vorfahrend.

***

Merkwürdig, wie im Spiegel-Artikel die Geschichte von der pharaonischen Trompete mit der des uralten Saiteninstrumentes aus Mesopotamien verbunden wird. Nicht genug, dass man über diese Instrumentenkörper verfügt, man suggeriert, dass man auch ihres Geistes habhaft werden kann. Denn jeder weiß, dass es damals wie heute letztlich um Töne geht, also wohl auch um Musik. Wie wenn es nur zweitönige Fanfaren wären? Oder ein vieltöniges Gewaber? Nein, man weiß doch, – glaubt genau zu wissen, was es damit auf sich hat:

… wie keine andere Form der Kunst spricht die Musik direkt die Gefühlswelt an: versöhnliche Melodien wecken Sehnsüchte, aufputschende Rhythmen versetzen in Elstase, verschlungene Harmonien entführen in mystische Sphären. Was könnte besser geeignet sein, einen Zugang zum Lebensgefühl untergegangener Kulturen zu öffnen?

Mein Vorschlag: versuchen Sie es doch der Einfachheit halber zunächst mit lebenden Kulturen, – begeben Sie sich beispielsweise nach Nouakchott und hören Sie sich die diffizile Kunst der mauretanischen Griots an, „mit Originalinstrumenten“ und nicht nur im Vorübergehen, sondern täglich 3 Stunden lang, – was ist dann mit dem Lebensgefühl, den Gefühlswelten, den Sehnsüchten, Ekstasen und verschlungenen Harmonien? Da ist alles vor allem eines: fremd, fremd, fremd und will kein Ende nehmen. Und all die großartigen romantischen Projektionen funktionieren gerade in der Musik nicht eine Viertelstunde!

Und dann hören Sie sich die älteste Musik der Welt an, ein Fake sondergleichen, der auch im App DER SPIEGEL angeboten wird (ab 1:16):

Wie sagte doch Wotan vor Zeiten? Eines nur will ich noch: das Ende – das Ende!

Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Linearität und „Musik im Delta“

Einige Anregungen zu musikhistorischen Fragen, die sich – direkt und indirekt – bei der Lektüre des Buches von Gunnar Hindrichs („Die Autonomie des Klangs“) ergeben, – wenn man gewöhnt ist, die Systeme zu wechseln. Etwa: von der Affektenlehre im Barock zur Bedeutung der „Rasas“ in indischer Musik – vielleicht letztlich in beiden Fällen auf Aristoteles zurückgehend. (Verbindung über Hellenismus in Baktrien, vgl. Lutz Geldsetzer „Nagarjuna“ Hamburg 2010, Vorwort ab Seite XII).

Das Hintertürchen, das Adorno für Komponisten offenhält, die nicht in sein Schema passen: etwa Janáček oder Bartók, – im Gegensatz zu Elgar oder Sibelius, die keine Gnade finden.

Aus meinem Exemplar der „Philosophie der Neuen Musik“ von Theodor W. Adorno (Europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main 1958), studiert ab 13.V.1960 in Berlin):

Adorno Philosophie Janacek

Bei Hindrichs nun scheint problemlos Platz für alle. Einige Umwege sind unvermeidlich, auch dank des Verdachtes einer kryptisch-theologischen Hermeneutik (seit Hegel eine gute philosophische Tradition,  vielleicht die Grundlage aller Philosophie).

Eine Assoziation* sei an dieser Stelle eingefügt; ich werde ihr nachgehen, sobald ich mich wieder an meinem Schreibtisch befinde.

Carlo Ginzburg über Italiens kulturhistorische Situation etc s.a. hier. Siehe zunächst die Quelle zum Thema Ungleichzeitigkeit bei Bloch !!! Hier

Was in der Szene der „neuen Neuen Musik“ gegen Gunnar Hindrichs vorzubringen ist, lässt sich gut bei Stefan Hetzel verfolgen. Siehe HIER. Wobei der Respekt durchaus zum Vorschein kommt:

Hindrichs ist ein äußerst ernst- und gewissenhafter, zudem ehrgeiziger intellektueller Arbeiter, das ist wohl kaum in Frage zu stellen. Schreiben kann er auch, das Buch hat zweifellos Stil und der Autor ist in der Lage, auch über längere Strecken Gedankenfäden auf abstrakter Ebene zu spinnen, die sogar – so man denn Spaß am Umgang mit Abstrakta hat und die Prämissen des Autors akzeptiert – eine deutliche Sogwirkung entfalten: eine echte Seltenheit! So gesehen, ist “Die Autonomie des Klangs” ein gut, ja sogar hervorragend gemachtes Buch. Aber mir sind nun mal Inhalte wichtiger als Form – und was die betrifft, hockt der Text im allerverstaubtesten Dachkämmerchen des Elfenbeinturms und wünscht sich zurück in eine heile Welt absoluter, metaphysisch legitimierter Autorität.

(Stefan Hetzel a.a.O.= s. den Link oben)

Im Blick auf die bedeutende Musik anderer Kulturen interessiert mich weniger die im § 26 des Hindrichs-Buches im Anschluss an Doflein hervorgehobene Spielmusik, die von der Linearität eines Materialfortschritts nicht erfasst würde – womit etwa die Linie von Bach über Beethoven zu Brahms/Wagner und Schönberg gemeint wäre – , dennoch ist der Gedanke grundsätzlich festzuhalten:

ZITAT

Der Hauptangriffspunkt gegen die Theorie von der Tendenz des musikalischen Materials bildet ihre vermeintliche Verpflichtung auf die Annahme von Linearität. Wenn es eine Tendenz des Materials gibt, dann scheint sich die Musikgeschichte einer Linie gemäß zu vollziehen. Das schneidet die Mannigfaltigkeit musikalischer Entwicklungen ab.

Im Hintergrund dieses Einwandes steht oft das Ressentiment gegen „die Moderne“ oder „das Neue“. Daneben aber gibt es auch reflektierte Stimmen. Einer der ersten wichtigen Einsprüche erfolgte von Erich Doflein. In ihm ist der Hauptgedanke aller späteren Gegenargumente vorweggenommen. Es lautet: Statt der Linearität eines Materialfortschritts sei die Vielfalt der neuen Musik anzuerkennen. Dofleins Titel für diese Vielfalt hieß „Musik im Delta“. Das Delta der neuen Musik umfaßte in seinen Augen neben dem obligaten Stil einer vollständigen Durchdringung des Tonsatzes, der zur Zwölftontechnik geführt habe, auch spielerische Formen, das Laienmusizieren, die Stücke der Musikpädagogik oder die Linie Reger-Hindemith-Orff. Die Regionen dieser auseinanderstrebenden Leitbilder bilden die Provinzen der Musik, die sich nicht mehr miteinander verständigen können. Sie alle aber besitzen in ihren regionalen Grenzen Legitimität.

Dofleins Gedanke einer Vielfalt von Formen statt eines einfachen Fortschritts des Materials – „Delta“ statt „Linie“ – läßt sich unabhängig von seiner Entfaltung in die Musikwelt des Adenauer-Deuschlands betrachten. Er beruht auch nicht auf dem Ressentiment gegen die Moderne. Statt dessen führt er die Konzeption regionaler Legitimitäten ins Feld. Zwar stellt der von ihm behauptete Gegensatz von obligatem Stil und Spielmusik keinen Gegensatz gleichrangiger Entwicklungen dar; diese inhaltliche Bestimmung des Deltas ist zeitgebunden und muß aufgegeben werden.

Quelle Gunnar Hindrichs: Die Autonomie des Klangs / Suhrkamp Berlin 2014 (Seite 56 f)

Die Anhänger neuester Strömungen, denen das „Delta“ gleichgültig ist, interessieren sich auch in geringem Maß für das Faktum, dass klassische Musik, – also Musik einer vergangenen Epoche, einer abgelebten Gesellschaft -, den heutigen Menschen weiterhin etwas zu sagen hat. Eine vergleichbare Situation: Wer sich für Musik fremder Kulturen begeistert, scheint sich in eine vor-industrielle, mythisch befangene Gesellschaft zurückzusehnen. Er ist nicht „auf der Höhe der Zeit“. Auch das ist Quatsch, – was aber nicht ganz leicht nachweisbar ist.

*Assoziation: das oben verlinkte Buch über Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen / Fünf Studien zur Geschichte Italiens / edition suhrkamp 991 / Frankfurt am Main 1980 / Siehe dazu den späteren Artikel, – wobei ich beim Thema Italien immer das große Thema Indien mitdenke:

Italien Storia

Italien Storia Aufsätze

Zugabe in gleichzeitigen Naturalien

Texel Paal 19 a  Texel Paal 19 c

Texel Paal 19 d Texel Paal 19 d'

Texel Paal 19 HandyFotos: JR

Nachtrag 6. April 2016

Im April-Exemplar des Magazins „Musik & Ästhetik“ (Heft 78) äußert sich Christian Utz zu einem Kongress-Beitrag von Gunnar Hindrichs und bringt zum Vorschein, was in der zeitgenössischen Diskussion gegen diesen Autor vorgebracht wird.

Hindrichs (…) möchte zeigen, dass musikalische Form als „Antwort auf Notwendigkeiten des Materials“ eine normativ verstandene „ästhetische Wahrheit“ begründet, die unabhängig von einzelnen Interpretationen und deren Geschichte bestehe. Vor diesem Hintergrund wird die Musikgeschichte für Hindrichs lesbar als Werden auf ein Noch-nicht-Vollkommenes hin. Hindrichs‘ zum Apodiktischen neigender ontologischer Zugang, der auch aus Anlass seines Buchs Die Autonomie des Klangs (2014) vielfach kritisiert worden ist, mag aus einer gewissen Tradition philosophischer Denkfiguren in der deutschsprachigen Philosophie begründbar sein, kann aber gerade auf einem derartig kontrovers und intensiv debattierten Feld wie der Musikgeschichtsschreibung kaum darüber hinwegtäuschen, dass sein Modell den Stand der Diskussion verfehlt. Wenn – der postmodernen Skepsis an „Meta-Narrativen“ zum Trotz oder gerade durch diese beflügelt – Fragen der Globalgeschichte, die Historizität nicht-westlicher Musikformen oder eine integrierte Diskussion von Kunst- und Popularmusik zur Sprache kommen, wird ein Diskursfeld geöffnet, vor dessen Hintergrund Hindrichs‘ Argumentation als zirkulär und eindimensional erscheint. Aber auch zu einem im engeren Sinn musitheoretischen Diskurs vermag die fragwürdige Denkfigur einer „Einbahnstraße“ vom Material zur Form kaum etwas beizutragen.

Quelle „Gegliederte Zeit“ / Der 15. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH) an der Hochschule für Musik Hanns Eisler und der Universität der Künste Berlin, 1.-54. Oktober 2015 / Von Christian Utz / in „Musik & Ästhetik“ (s.o.)

Dem soeben aufgeführten Zitat folgt ein Satz, der unbeabsichtigt, aber in willkommener Weise den Titel dieses Blogbeitrags stützt (en passant erinnere ich an die Tatsache, dass Brahms auf einem virtuellen Kongress, den etwa Wagner dominierte hätte, durchaus vorteilhaft die Ungleichzeitigkeit mancher Zeitgenossenschaften exemplifiziert hätte) :

Waren somit durch die Hauptvorträge eher gewisse „Ungleichzeitigkeiten“ des Diskurses sichtbar geworden, so brachte das sonstige Kongressprogramm ein sehr facettenreiches Spektrum von „zeit“-bezogenen Fragestellungen zur Sprache, gerade auch unter spezifischer theoretischen Gesichtspunkten (…).

Auch sonst ist diese Ausgabe von „Musik & Ästhetik“ besonders zu empfehlen, weil sie gerade den hier angesprochenen Beitrag von Hindrichs enthält („Musikalische Eschatologie“), aber auch dank der Texte „Zum Tod von Pierre Boulez“ (Larson Powell) zur Qualitätsfrage (Claus-Steffen Mahnkopf) oder über „1001 Mikrotöne“ (Hans Peter Reutter) und andere mehr. Siehe hier:  https://www.musikundaesthetik.de/.

Musik im Märchen

Von der Erschaffung der Geige

Musik im Märchen Tüpker

(Aus dem JR Blog-Archiv 2012)

Musik im Märchen, – ein Thema, das durchaus mit der Realität der Musik zu tun hat. Und auch die Realität des Märchens ist nicht so märchenhaft, wie sie uns vielleicht einmal vorkam. Meist erinnern wir uns an ein paar Märchen der Brüder Grimm, für Kinderohren ausgewählt. Aber Passagen wie die folgenden hätte unsere Oma wohl nicht durchgehen lassen:

„… der Kleine, [der sich nichts mehr wünschte, als Kraft zu gewinnen], ging zu der zweiten Schwester. Aber da verwandelte sich die […] Hexe in ein Mädchen und lief ihm nach. In ein sagen wir – sechzehnjähriges, zwanzigjähriges Mädchen, sehr schön, nur im Bikini, in einem ganz kleinen Badeanzügchen, und sie tanzte um ihn herum: „Janku, Janku, dreh dich um, bin ich schön?“

„Lass mich in Ruhe. Ich bin ein neugeborenes Kindchen.“

„Schau mich an, wie schön ich bin, wie nackt ich bin! Mach keine Ausreden. Komm zu mir!“

Aber er ging weiter. Er war doch noch zu jung für solche Sachen. Das nächste Mal sprang sie zu ihm und wiederholte ihre Worte, aber er gab ihr eine solche Ohrfeige, dass sie zu Wagenschmiere wurde.

Der Kleine wusste genau, dass das die Hexe war. Er lief schnell zurück in ihre Hütte. Dort sah er einen Säbel, der von selbst tanzte und herumsprang und wie der Vollmond glitzerte. Er nahm den Säbel: „Jetzt kann ich die ganze Welt umbringen“. Da holte ihn schon sein Vater ein [und] versetzte ihm so einen Fußtritt in den Arsch, dass er bis nach Hause flog, direkt der Mutter in die Arme.“ (S.102)

Jawohl, ein Märchen. Manchmal sind es also durchaus keine Geschichten für die gute Stube, wo die Kinder lernen, ruhig zu sitzen und sich gesittet zu benehmen. Nebenbei vielleicht auch das Fürchten lernen. Ich habe durch das Buch von Rosemarie Tüpker neues Interesse für die Märchenwelt entwickelt, weil diese Welt offenbar noch von zahllosen Motiven und Wesen erfüllt ist, die ich aus meiner Kinderzeit nicht in Erinnerung habe.

Und im Rückblick erscheinen nun auch „die deutschen Hausmärchen“ in neuem Licht. Allerdings geben sie für die Musik vielleicht weniger her als etwa die Märchen der Roma, zu denen auch die wunderbare Geschichte von der „Erschaffung der Geige“ gehört, die eine zentrale Stellung einnimmt.

Doch der Reihe nach:

Das Buch behandelt zunächst in aller Kürze den Stand der Märchenforschung und ihren Zusammenhang mit Psychologie und Pädagogik, z.B. auch die bedeutsame Wende, die 1977 dank Bruno Bettelheims Buch „Kinder brauchen Märchen“ erfolgte.

Der erste Hauptteil bietet drei tiefenpsychologische Märchenanalysen, beginnend mit der „Erschaffung der Geige“, was letztlich bedeutete: „Wie die Musik entstanden ist“. Dann folgt das (von den Brüdern Grimm bekannte) Märchen vom „Eselein“, das die Laute spielt; es geht um Identitätsfindung und Selbstwerdung, aber auch um die Assoziation eines behinderten Kindes. Niemand traut dem Tier zu, mit diesen Hufen eine so feine Kunst zu erlernen.

Und schließlich das Roma-Märchen vom „Sohn, der gegen seinen Vater kämpft“: die Musik schafft hier „die Verbindung zwischen zwei sozial getrennten Welten, der Königswelt und der armen Welt der Zigeuner.“  Es geht um Libido und Todestrieb, aber die Musik „ist das, was über das Lebensnotwendige hinausgeht, steht für einen doppelten Gewinn: Lust und Kultur.“ Die Pointe der Geschichte besteht dann gerade darin, dass es nicht im Glanz der höfischen Sphäre gipfelt, sondern: „Die Prinzessin verlässt den Königshof und beide leben fortan als Roma.“ Interessanterweise wird diese Umkehrung der märchenhaften Wunschvorstellungen den Zuhörern meist gar nicht bewusst: „Das heißt, es gelingt der Erzählung durch die Musik und [durch] die mit ihr verbundene Figuration von Liebe, Freiheit, Verbundenheit, dass diese Umkehrung der üblichen Verhältnisse ohne Widerstand oder auch nur Verwunderung mitvollzogen wird.“ (S.133)

Durch das ganze Buch von Rosemarie Tüpker, die an der Universität Münster u.a. Vergleichende Musiktherapie lehrt, zieht sich diese Vertrautheit mit lebendigen Zuhörern, und so sind Leser und Leserinnen ausdrücklich nicht nur zum Nachvollzug der Märchen, sondern ebenso zur eigenen Ergänzung und Weiterentwicklung aufgefordert. Man erhält Einblick in eine bisher wenig genutzte intersubjektive Forschungsmethode.

Dem zweiten Teil des Buches „liegt eine textanalytisch vergleichende Analyse von 300 europäischen Volksmärchen zugrunde“, wobei die Musik sich als das Bewegende (also das, was in Bewegung setzt) und als das Verbindende zwischen zwei Welten erweist, auch als das Fremde, als das Begehrte, als Zeugin und Identitätsstifterin wird sie aus dem vielfältigen Material herausgearbeitet. Es gibt einerseits die kulturhistorische Perspektive, zum anderen die psychologischen Perspektiven. Besonders interessant der Zusammenhang von Musik und Identität, der in einer kleinen Gruppe von Märchen ausprägt:

„Die Musik steht dabei für das, was durch den Verlust von Stellung, Rolle und äußerer Erscheinung hindurch als Eigenheit und als ‚eigentliches Wesen’ der Person bewahrt wird. Die Schönheit der Musik steht für die Güte der Person, was sich nach Art der Märchen oft zugleich in ihrer königlichen Abstammung symbolisiert. „Die Musik steht dann für die inneren Werte, die innere Schönheit, das wahre Wesen einer Person, die an ihrer Musik erkannt werden kann. Diese Musik berührt, löst Gefühle und Wünsche aus (…). Charakteristisch ist darüber hinaus, dass jemand Musik für sich allein spielt – dabei aber dann gehört und erkannt wird.“

In einem griechischen Märchen, das im Jahre 1864 aufgezeichnet wurde, findet sich dieses Motiv mehrfach, und gerade die musikalischen Fähigkeiten verweisen auf königliche Abstammung. Zuerst ist es eine Flöte, später tatsächlich ein…, – hören Sie nur:

„In einem Zimmer aber stand ein Klavier, und als er eines Tages glaubte, dass ihn niemand hört, da fing er an und spielte darauf leise, leise und summte ein Liedchen dazu. Die Prinzessin aber belauschte ihn, und als sie ihn so schön spielen und singen hörte, da wurde sie noch mehr in ihrem Glauben bestärkt, dass hinter ihrem Diener ein großes Geheimnis steckte.“ (S.264)

Und wie gehts weiter? Ob Sie’s glauben oder nicht: Die Prinzessin nahm bei ihm Klavierunterricht und über weitere Komplikationen hinweg kam es schließlich zu einer glücklichen Ehe der beiden.

„Das Märchen ist aber damit noch nicht zu Ende, sondern in Gestalt der Tochter wiederholt sich das Schicksal des Schiffbruchs und des Verloren-Gehens von Heimat und Identität in der nächsten Generation.“

Wo auch immer man dieses Buch aufschlägt, liest man sich fest:

Neben der Resonanz, der Widerspiegelung der Gefühle durch die Musik, zeigt das Märchen zugleich eine Umformung von Gefühlen in Musik: Lachen und Weinen werden verwandelt in schöne Musik.

Obwohl immer wieder angemahnt wird, dass die Musik beide oder alle Gefühlsseiten aufzunehmen und auszudrücken vermag, drehen sich die meisten Einfälle doch um die Seite der Trauer. (…) Die durch die Musik ausgelösten Tränen bedeuten eine Transformation. Und auch im Märchen überwindet die Trauer einen früheren Zustand. Es geht darum, zu seinem inneren König zu kommen und da muss man durch Zustände der Dunkelheit und der Trauer hindurch.

Dies ist überhaupt die umfassendste Sammlung europäischer Märchen, in denen Musik vorkommt. Das Buch ist eine Fundgrube für Märchenforscher, Musikwissenschaftler und Psychologen. Und ein Lesevergnügen.

Es hat auch seinen Preis, da helfen keine Heinzelmännchen: 39,80 ¬ .

Rosemarie Tüpker: Musik im Märchen / zeitpunkt musik Reichert Verlag Wiesbaden 2011 ISBN 978-3-89500-839-9

Musik im Märchen Inhalt 1  Musik im Märchen Inhalt 2

Dieser Text wurde im März 2012 als Beitrag zur Sendung „Musik aktuell“ in SWR 2 gesendet.

***

Immer wenn ich wieder einmal in Rosemarie Tüpkers Buch gelesen habe, kehre ich auch in die Märchen-Sammlung meiner Kindheit zurück. Die Märchen der Brüder Grimm in der Ausgabe von 1937 mit Bildern von Ruth Koser-Michaels. Zahlreiche Bilder haben uns Kinder so bewegt, dass wir sie nachgezogen und mit Kohlepapier durchgepaust haben. Das vom Juden nicht. Aber vor allem dieses Buches wegen habe ich auch die Schrift lesen gelernt, genauso früh wie die Schreibschrift in der Schule. (Siehe Fraktur oder „deutsche Schrift“ hier). Ich vermute, dass in neueren Ausgaben das Märchen „Der Jude im Dorn“ gar nicht mehr enthalten ist. Es hat mich fasziniert und zugleich abgestoßen, hat mich aber in keiner Weise in meinem dringenden Wunsch beeinflusst, eines Tages Geige zu lernen. Allerdings hielt ich sie für eine Art Zauberkasten, und als ich endlich eine Dreiviertelgeige mit wunderbar rötlichem Lack geschenkt bekam, war ich enttäuscht, dass sie innen hohl war.

Der Jude im Dorn 1 Der Jude im Dorn 2

Der Jude im Dorn 3 Der Jude im Dorn 4

Der Jude im Dorn 5

Zu diesem antisemitischen Märchen siehe Wikipedia HIER.

Marokko und Java

Nicht ohne Ansehen von Rang und Stand (und Geschlecht)

Ich gehe aus von einem Artikel, den ich vor ein paar Tagen zusammengestellt habe. Otto Jastrow hatte in seiner dort zitierten Rede ein Beispiel gebracht, das mich an bestimmte ethnologische Untersuchungen erinnerte. Es geht um „High and low varieties“ der Sprache, ein Phänomen, das als Diglossia (Ferguson) bezeichnet wird.

Wenn wir uns die verschiedenen Anlässe anschauen, in denen die beiden Varietäten verwendet werden, stellen wird fest, daß sie sich gegenseitig ausschließen. Jede gesellschaftliche Situation erfordert eine der beiden Sprachformen und nur diese. Die Verwendung der jeweils anderen Sprachform in der gleichen Situation würde als unpassend, unangebracht, im schlimmsten Falle sogar als lächerlich oder beleidigend empfunden.

Auch dazu eine kleine Anekdote: Im August 2007 wurde in Marokko ein Journalist verhaftet, der einen offenen Brief an den König veröffentlicht hatte, in dem er bestimmte politische Forderungen erhob. Der Stein des Anstoßes waren jedoch nicht so sehr diese politischen Forderungen, sondern die Sprache, in der sich vorgebracht wurden. Der Text war nämlich in marokkanischem Dialekt, der sog. dāriǧa, abgefaßt. Die Verwendung dieser Sprachform gegenüber dem Monarchen, und dazu noch in geschriebener Form, wurde als Affront wahrgenommen.

Quelle Otto Jastrow: Das Spannungsfeld von Hochsprache und Dialekt im arabischen Raum / (Seite 3) In:  Munske, Horst Haider (Hrsg.): Sterben die Dialekte aus? Vorträge am Interdisziplinären Zentrum für Dialektforschung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 22.10.-10.12.2007.

Ich zitiere den Ethnologen Clifford Geertz, der von seinen unterschiedlichen Erfahrungen in Marokko und Java erzählt:

Man nimmt natürlich an, daß bei jedem Volk Statusunterscheidung und Genusbestimmung Dinge sein werden, die von einiger Bedeutung sind. Was interessant ist und was variiert, ist das Wesen dieser Bedeutung, die Form, die sie annimmt, und das Ausmaß ihrer Intensität. Daß wir in den vorliegenden Fällen nicht nur einen krassen Unterschied in dieser Hinsicht vor uns haben, sondern etwas, das einer direkten Umkehrung nahekommt, wurde mir erstmals bewußt, als meine Ausbilder bei meinen Javanischstudien hartnäckig und akribisch alle Fehler korrigierten, die ich bei der Statusmarkierung machte (und das waren viele – es gibt viele, die man machen kann), während sie Genusfehler mehr oder weniger übergingen, während meine marokkanischen Ausbilder, die wie die Javaner als Universitätsstudenten nicht gerade Traditionalisten waren, nie einen Genusfehler unkorrigiert durchgehen ließen (davon gab es ebenfalls jede Menge und reichlich Gelegenheit, sie zu machen) und an Statusmarkierung, soweit es etwas davon gab, kaum interessiert zu sein schienen. Es schien nicht wichtig zu sein oder nicht sehr wichtig zu sein, ob man das Geschlecht im Javanischen richtig bezeichnete ( in den meisten Fällen war es lexikalisch neutralisiert), solange man keine Fehler bei den Rangabstufungen machte. Im Marokkanischen schien es fast gefährlich zu sein, Genusformen zu verwechseln; es machte jedenfalls meine Lehrer, die ebenso wie die Javaner sämtlich Männer waren, sehr nervös. Rangfragen dagegen wurde kaum Aufmerksamkeit geschenkt.

Die Sprachen als solche unterstützen diese ungleichartigen Tendenzen, von einigen Erscheinungen der Welt eher mehr Notiz zu nehmen als von anderen und um sie einen größeren Wirbel zu machen. (Das Javanische hat keine Flexionsendungen zur Genusmarkierung, aber es ist grammatisch in minutiös abgestimmte, hierarchisch angeordnete Sprachebenen geschichtet. Das marokkanische Arabisch hat Flexionsendungen zur Genusmarkierung für so ziemlich alle Wortarten, aber überhaupt keine Statusformen.) Doch das ist zu komplex und zu technisch, als daß ich hier darauf eingehen könnte. Was hier bedeutsam ist, in dieser schulmäßigen Demonstration dessen, was kulturelle Analyse ist und was nicht und wie man sieht, daß man sie fast reflexartig vornimmt, ist die Frage, zu welchen Schlußfolgerungen über die marokkanische und die javanische Art, auf der Welt zu sein, diese kontrastierenden Erfahrungen eben in ihrem Kontrastieren führen; welche substantielleren Dinge ins Blickfeld geraten.

Quelle Clifford Geertz: Spurenlesen / Der Ethnologe und das Entgleiten der Fakten / C.H.Beck München 1997 (Seite 57)

Zur javanischen Sprache siehe bei Wikipedia hier. Daraus folgendes:

Das Javanische kennt drei Sprachstile: einen informellen namens ngoko (unter anderem von Höherstehenden gegenüber Niedriggestellten verwendet), eine mittlere Ebene (madya) und einen höflichen und formellen Stil (krama,unter anderem von Niedriggestellten gegenüber Höherstehenden verwendet).

Sprech- und Sprachverwirrung

Koinzidenz beim Lernen ohne Ende

Arabisch lernen SZ 160221 Süddeutsche Zeitung 20./21.Febr.2016 Seite 16

Mit der Notiz in der SZ begann es: dann die Koinzidenz, dass der junge Mann, der uns Arabisch beibringen will, auch die Dialekte einbezieht (sind es Dialekte?).

Vor allem aber, dass zuweilen auch der Anfang in beiden Sprachen frappierend übereinstimmt: „Isch vermisse disch“. „Isch-taa-ti-laak“ – Isch also alles Arabisch, wie der Stuttgarter sagt. Oder wie jetz gleisch: Syrisch.

Screenshot Ichtaatilak

Es wäre aber billig zu fragen – wie sollen wir das in einer Minute lernen? – wenn gerade Ihr nun dafür sorgt, dass sich das deutsche „Isch“ allüberall durchsetzt. Hatten wir nicht schon mit dem Sächsischen genug? Im Kölner Raum bleibt es wenigstens in die Mundart eingehegt („Schakal Fööß“ = „Ich habe kalte Füße“). Solingen ist durch die Benrather Sprachlinie geschützt. Oder vielmehr durch die Uerdinger Linie! Aber bittebitte: Helft uns doch, das weiche deutsche CH zu retten, – wie in „Lächeln“ oder – jetzt ist es heraus – wie in „Reichow“ (auch das O lang und das W nicht mitsprechen). Wenn ich das in Köln jemandem buchstabiere, versteht der mich sofort: „Ach, also Reeischoff“?

Ich bleibe mal in meiner engeren Umgebung (Heimat? Ja, aber frühestens seit 1966) . Was sagt mein alter Ratgeber?

Solinger Sprachschatz  Solinger Sprache Chemie Solinger Sprache reich

Der Solinger sagt also Schemie (wenn er Chemie meint): das muss aus Richtung Köln kommen, aus Leverkusen gar… Aber was sagt er, wenn er Weihnacht meint? Chreßdag , gewiss, aber das Ch – nicht wie K? Ich weiß es nicht. (Doch! Wird von Mundartsprecher bestätigt: Chr wie Kr!) Statt streichen sagt er strieken, statt reichen rieken. Aber wie ist es bei „richtig“?

Solinger Sprache reich

Solinger Sprache richtig  Solinger Sprache richtig a

Wir sind Problemen auf der Spur. Irgendwo beginnt das Werturteil, – wagen wir von „Reinheit der Sprache“ zu reden oder lieber nicht? Die folgende Liste ist hier nicht vollständig wiedergegeben. Unten folgt die genaue Quellenangabe.

Solinger Sprache Mundartwörter Probleme

Dieses Buch ist für traditionsbewusste Solinger eine Kostbarkeit:

Rudolf Picard: Solinger Sprachschatz Wörterbuch und sprachwissenschaftliche Beiträge zur Solinger Mundart / Walter Braun Verlag Duisburg 1974 ISBN 3-87096-121-X

Zurück zum Arabischen! Ich bin auf Grund meiner Recherchen zum vorhergehenden Artikel, auf einen hervorragenden Aufsatz von Otto Jastrow gestoßen. Er behandelt die „Situation der Diglossie, d.h. des funktional geregelten Nebeneinanders von zwei historischen Entwicklungsstufen der gleichen Sprache.“

ZITAT

Das Moderne Hocharabisch ist eine konservierte Form des Klassischen Arabisch. Es genießt hohes Ansehen und dient als Schriftsprache, wird aber nicht muttersprachlich erworben, sondern durch Unterricht erlernt. Im mündlichen und informellen Bereich werden die jeweiligen Dialekte verwendet; sie sind die natürliche Muttersprache der Bevölkerung, genießen jedoch keinerlei Ansehen. Da die Hochsprache in ihrer äußeren Form nicht verändert werden darf, aber auch die Dialekte sich nicht zu modernen geschriebenen Volkssprachen entwickeln dürfen, scheint die Diglossiesituation für alle Zeit festgeschrieben. Dadurch ist das Überleben der Dialekte gesichert, obgleich sie sich untereinander stärker annähern.

Was sich nicht verändert ist aber die Geringschätzung der Dialekte, derer man sich gleichwohl bedient. In seiner Untersuchung zur arabischen Diglossie bezieht sich Jastrow auf die Arbeit des amerikanischen Linguisten und Arabisten Charles A. Ferguson, der auch den Fachbegriff geprägt hat. Besonders hervorzuheben sind die Varietäten des „High“- und „Low“-Sprachgebrauchs. Man kann das insgesamt im Netz nachlesen (s.u.), und es bieten sich interessante Verbindungen in viele Richtungen an (Clifford Geertz). Man stelle sich vor, bei uns wäre das Luther-Deutsch, so wichtig es für die deutsche Hochsprache wurde, verabsolutiert worden. – Ich beschränke mich hier auf eine Dichotomie, die Jastrow entwickelt, um die Geschichte des romanischen Abendlandes von der des arabischen Sprachraums abzugrenzen. (Hervorhebungen durch Fettdruck oder Farbe von mir. JR)

ZITAT

Am ehesten versteht man die soziolinguistische Dynamik, wenn man einen vergleichenden Blick auf die Entstehung der romanischen Sprachen wirft. Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches blieb das Lateinische zwar weiterhin die Sprache von Literatur und Wissenschaft, ja durch das Christentum erwuchs ihm noch ein zusätzlicher Prestigegewinn, doch in der Alltagssprache der Bevölkerung in den lateinisch-sprachigen Gebieten setzten sich regionale Varianten durch, die schon bald ein eigenständiges sprachliches Profil entwickelten. Schon nach wenigen Jahrhunderten hatten sich die Frühformen der heutigen romanischen Sprachen herausgebildet. Die frühesten Zeugnisse etwa des Altfranzösischen, Altitalienischen und Altspanischen weisen bereits die Mehrzahl der sprachlichen Züge auf, die diese Sprachen noch heute charakterisieren. Einige Jahrhunderte lang blieben diese frühen Volkssprachen auf den mündlichen Gebrauch beschränkt, während das Lateinische nach wie vor die Sprache von Bildung, Wissenschaft und Kultur war. So kann man wohl für eine längere Zeitspanne eine Situation der Diglossie annehmen, mit Latein als H(igh variety) und den entstehenden Volkssprachen als L(ow variety). Doch spätestens mit der Renaissance vollzog sich der Ausbau der romanischen Volkssprachen zu großen Literatursprachen, die neben der Dichtung nach und nach auch alle Bereiche der Wissenschaft für sich eroberten, sich in der Verwaltung, Rechtsprechung und schließlich sogar in der Kirche durchsetzen. So entstanden die romanischen Nationalsprachen, voll ausgebaute Schriftsprachen von großem Prestige und kultureller Ausstrahlung. Man kann die langsame Zurückdrängung des Lateinischen in Europa bedauern, doch wie reich wurde dieser Kontinent und die gesamte Menschheit durch die romanischen Sprachen beschenkt!

Auch die Geschichte des Arabischen verläuft in vergleichbaren Bahnen, doch nur bis zu einem gewissen Punkt. Das heutige Sprachgebiet des Arabischen, in das sich mehr als zwanzig unabhängige arabische Staaten teilen, ist das Ergebnis der frühen muslimischen Eroberungen des 7. und 8. Jahrhunderts. Nach dem Zusammenbruch der politischen Einheit und der Herausbildung zahlreicher lokaler Regimes entwickelte das gesprochene Arabisch eine Vielzahl von regionalen Varianten, die sich hinsichtlich ihrer Verschiedenheit wie auch des Abstands von der klassisch-arabischen Schriftsprache durchaus mit den frühen romanischen Volkssprachen vergleichen lassen. Zu der gleichen Zeit, als die romanischen Sprachen am Horizont auftauchten, hätten sich auch die regionalen Formen des Arabischen zu Schriftsprachen und Nationalsprachen entwickeln können. Dies geschah jedoch nicht, weil die Regionalsprachen niemals eine geschriebene Literatur entwickelten, sondern bis heute im Zustand rein mündlicher Dialekte verharrten. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte weitgehender Analphabetismus, und die zahlenmäßig kleine Gruppe von traditionell Gebildeten, die lesen und schreiben konnten, bediente sich wie selbstverständlich des Klassisch-Arabischen. Diese Sprachform genoss und genießt das höchste Prestige, weil sie die Sprache der altarabischen Dichtung ist, vor allem aber weil in ihr der Koran niedergeschrieben wurde. Das gibt dem Klassisch-Arabischen ein größeres Prestige als jeder anderen Sprache. Für viele Muslime gilt das Klassisch-Arabische als eine vollendete Sprachform, die sich nicht ändert, sondern sich im Laufe der Zeit immer gleich bleibt. Deshalb darf sich auch niemand erlauben, an der klassischen Sprachform irgend etwas ändern zu wollen. Natürlich mussten sich große Probleme ergeben, wenn man das Klassische Arabisch – eine im 8. und 9. Jahrhundert kodifizierte Sprachform – als moderne Hochsprache für die Gegenwart nutzen wollte, ohne seine äußere Form anzutasten. So verdeckt die äußere Kontinuität von Orthographie und Morphologie die Tatsache, daß sich das moderne Hocharabisch stilistisch und phraseologisch, aber auch syntaktisch sehr stark vom Klassisch-Arabischen entfernt hat. Der notwendige Ausbau des Lexikons wurde weitgehend durch Ausschöpfung der spracheigenen Wortbildungsmöglichkeiten erreicht – Klassisch-Arabisch sträubt sich aus morphologischen, aber auch aus ideologischen Gründen gegen die Entlehnung fremden Wortguts –, doch schimmert häufig das europäische Vorbild durch. Die Sprache der Medien ist auch syntaktisch an die europäischen Vorbilder angepasst, so dass sich die Nachrichten oft wie eine Übersetzung aus dem Englischen lesen. Nach wie vor schleppt das Moderne Hocharabisch jedoch eine Menge von morphologischem Ballast mit sich herum, so z.B. ein obsoletes System der Nominalflexion, die seinem unbefangenen Gebrauch als moderne Hochsprache entgegenstehen. Auf der anderen Seite ist es aber nach wie vor undenkbar, die gesprochenen Regionalsprachen zu Schriftsprachen zu entwickeln, denn das würde als direkter Angriff auf die Vorherrschaft des Hocharabischen verstanden. Deshalb müssen die lebendigen Volkssprachen für immer im Zustand schriftloser Dialekte verharren, denen eine sterile und innerlich ausgehöhlte Schriftsprache gegenübersteht.

Quelle Otto Jastrow: Das Spannungsfeld von Hochsprache und Dialekt im arabischen Raum / In:  Munske, Horst Haider (Hrsg.): Sterben die Dialekte aus? Vorträge am Interdisziplinären Zentrum für Dialektforschung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 22.10.-10.12.2007.

Aus dem Vorwort von Horst Haider Munske:

Was waren die Ziele der Vorlesungsreihe ‚Sterben die Dialekte aus?‘ ? Die Frage des Titels nimmt die Sorge vieler Menschen auf. Würde im deutschen Sprachgebiet nur noch Hochdeutsch gesprochen, dann wäre das eine spürbare Einbuße im menschlichen Miteinander, der Verlust eines wesentlichen Merkmals regionaler Identität. Zwei Beobachtungen begründen diese Sorge: der Rückgang des Dialektgebrauchs im Alltag und der Dialektverfall bei vielen jüngeren Sprechern. Das eine ist Ausdruck eines Sprachwechsel vieler Dialektsprecher zur prestigeträchtigeren Hochsprache. Das andere ist eine Folge des selteneren Dialektgebrauchs und des Konflikts zwischen Dialekt und Standardsprache. Daraus resultiert vielerorts die Entstehung regionaler Umgangssprachen, die vielleicht die Dialekte von morgen sind.

Aufzufinden im Netz über den Link HIER.  http://www.dialektforschung.phil.uni-erlangen.de/publikationen/dialektliteratur-heute.shtml

Siehe auch den als Fortsetzung gedachten Blogbeitrag Marokko und Java HIER 

Nachtrag zur Solinger Mundart (24.08.20169

Mundart-Geschichte

Solinger Tageblatt 20. August 2016

Wiedergabe hier mit freundlicher Erlaubnis des Autors Kurt Picard

(K.P. ist nicht unmittelbar verwandt mit dem Lexikon-Verfasser Rudolf Picard)

DER SPIEGEL 20.8.2016 

Video „Eine Lektion Arabisch“ HIER. Artikel Seite 105: Gewürgtes A Linguistik Durch die Flüchtlingskrise ist Arabisch zur Modesprache geworden. Doch viele Anfänger wissen nicht, worauf sie sich einlassen. (Autorin: Katrin Elger).

Zitiert ist auch Otto Jastrow. Hocharabisch sei eine „sterile und innerlich ausgehöhlte Schriftsprache:“ (Siehe auch oben, am Ende meines Jastrow-Zitates, in roter Farbe. JR)  Wie siamesische Zwillinge seien Fusha und die Umgangssprachen aneinandergekettet. „Allein sind sie hilflos“.

Aktuelles aus der Kultur (?)

Das Fragezeichen…

…habe ich hinter das Wörtchen Kultur in die Überschrift gesetzt, wenn auch in Klammern, weil ich die Fragen vorausahne, die mich treffen sollen und die ich zurückweise. Mit der Kultur habe ich nie zu schaffen gehabt. – Mit welcher? wird zurückgefragt. – Mit der, die ihr meint. – Welche denn? – Eben!

Der große Bericht steht auf Seite 7 unseres Tageblatts, neben der Zahl 7 lese ich: „KULTUR“.

ST Kendrick Lamar Und in Spiegel online Kultur war gestern zu lesen:

Zumindest zeigte Lamar selbst mit seiner Performance eindrucksvoll, dass jeder Preis dann egal wird, wenn die Show über die Unterhaltung hinausweist: Seinen Song „The Blacker the Berry“ performte der Rapper in Häftlingskleidung, vor Gefängniskulisse und mit Handschellen; am Ende blieb seine Silhouette im Dunkeln vor dem Grundriss Afrikas, über den „Compton“ geschrieben war; der Name des sozial gebeutelten Stadtteils in Los Angeles also, aus dem Lamar und andere Rapgrößen stammen. Es folgten Standing Ovations.

Und am Ende bekam der Künstler sogar, als er sich mit seinem Auftritt so schon längst selbst zum Sieger des Abends gekürt hatte, gar doch noch die Anerkennung, die ihn über den Poprahmen hinaus würdigte: Auf Twitter gratulierte ihm das Weiße Haus. Verpackt waren die Worte in eine Eigenwerbung für Obamas Mentorenprogramm, ja. Aber sie wirkten trotzdem: „Shoutout to @KendrickLamar and all the artists at the #Grammys working to build a brighter future“ schrieb die US-Regierung. Word.

Ich erinnere mich und gebe in das Suchkästchen rechts oben ein, was ich im eigenen Blog nachlesen will, – war das nicht im Zusammenhang mit dem Kultur-Shooting-Star-Pianisten? Moment, HIER,  das sollte in der Tat eine weiterhin interessante Aufgabe bleiben.

Den oben genannten Song aber müssen Sie selber eingeben und – auf eigene Gefahr – hören und sehen wollen.

In den Rahmen der Kultur-Debatte könnte die über die sogenannte „Klassik“ gehören. Aber gerade dort lauern die dümmsten Vorurteile, wie man dem Bericht der Süddeutschen Zeitung über die Grammy-Verleihung entnehmen kann:

Für hiesige Klassikfreunde, die ihre Musik ja immer für die wichtigste auf dieser Welt halten, ist ein Blick in die Grammy-Gewinnerliste durchaus heilsam. Da wurden zwar Grammys in 83 verschiedenen Kategorien vergeben, doch nur zehn davon entfielen auf die Klassik. Das ernüchtert.

Quelle Süddeutsche Zeitung 17. Februar 2016 Seite 9 / Gesprengte Ketten Grammys 2016: In einem wütenden, überwältigenden Auftritt präsentiert Kendrick Lamar den USA schwarze Selbstermächtigung zur besten Sendezeit. von Julian Dörr, Jan Kedves, Reinhard Brembeck.

Das ernüchtert nicht, sondern bestätigt: Die Grammys sagen über „Klassik“ rein gar nichts aus. Über Klassik wird auch nicht abgestimmt. Nie und nirgendwo. So wenig wie über Kant und Nietzsche.

Aktualisierte Agenda mit Neuem aus der Kultur

Es gibt einen mentalen Motor, der durch komplementäre Lektüre angetrieben wird. 

Daoud & Klang

Kamel Daoud: Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung / Kiepenheuer & Witsch Köln 2016 ZITAT (Seite 11):

Wie alle anderen wirst auch du diese Geschichte genauso gelesen haben, wie sie von dem Mann aufgeschrieben wurde, der sie erzählt hat. Er schreibt so gut, dass seine Worte so genau passen wie von Hand behauene Steine. Er war so detailbesessen, dein Held, dass er die Worte förmlich dazu zwang, zu Mathematik zu werden. Endlose Berschnungen auf der Basis von Steinen und Mineralien. Hast du bemerkt, wie er schreibt? Er benutzt die Kunst des Dichtens, um den Schuss aus seiner Waffe zu beschreiben! Seine Welt ist sauber, wie erfüllt von der Klarheit des Morgens, präzise, eindeutig, durchdrungen von Aromen und durchzogen von neuen Horizonten.

Nur die „Araber“ werfen Schatten, er macht sie zu undeutlichen und nicht in die Landschaft passenden Wesen, die aus einem „Damals“ stammen. Damit werden sie in allen Sprachen der Welt zu Gespenstern, selbst wenn sie nur einen Flötenton von sich abgeben.

Rückblende 1963

Albert Camus: L’étranger / zum französischen Text hier. Tonaufnahme des Anfangs, gelesen von Camus selbst hier.

Camus Der Fremde

Zeltner-Neukomm x

Zeltner-Neukomm Text zu Camus

Nachtrag 20.02.16

ZITAT:

Was meinen Sie, warum der Faschismus, – und der „Islamische Staat“ ist ein Faschismus -, sich immer erst an der Kultur vergreift, warum man Kulturstätten zerstört, Wissenschaftler und Intellektuelle tötet? Genau deshalb: Weil dann nichts als die Wüste zurückbleibt. Und was hört man in der Wüste? Man hört Gott. Wissen Sie, ich war selbst einmal sehr religiös, und ich denke, dass mich unter anderem die Bücher gerettet haben. Ich sage oft: Der Mann vieler Bücher ist tolerant, der Mann eines Buches ist intolerant. Es bedarf vieler Bücher, um frei zu sein.

FAZ 17.02.16 Im Gespräch: Kamel Daoud Keiner wird als Islamist geboren / Der algerische Autor Kamel Daoud hat Camus’ Roman „Der Fremde“ noch einmal geschrieben hat – aus der Sicht der Araber. Ein Gespräch über die Entfremdung zwischen arabischer und westlicher Kultur / von ANNABELLE HIRSCH / online HIER

ZITAT:

Man denkt beim Flüchtling an dessen Status und nicht an seine Kultur. Er ist ein Opfer, das die Projektionen der Europäer auf sich zieht, die Pflicht zur Menschlichkeit oder Schuldgefühle. Man sieht den Überlebenden und vergisst, dass der Flüchtling in einer Kultur gefangen ist, in der das Verhältnis zu Gott und zur Frau eine wichtige Rolle spielt. Im Westen angelangt, hat der Flüchtling oder Migrant sein Leben gerettet, aber man übersieht nur zu gern, dass er seine Kultur nicht so leicht aufgeben wird. Seine Kultur ist das, was ihm angesichts seiner Entwurzelung und des Schocks der neuen Umgebung bleibt.

FAZ 18.02.16 Islam und Körper Das sexuelle Elend der arabischen Welt / In den Ländern Allahs herrscht ein krankes Verhältnis zur Frau und zum Begehren. Das muss wissen, wer bei der Bewertung der Kölner Silvesternacht der Naivität entkommen will. / Von KAMEL DAOUD online HIER 

Nachtrag 25.02.2016

DIE ZEIT Seite 39 Das Tribunal der Pariser Mandarine / Der algerische Autor Kamel Daoud soll den Islam nicht kritisieren / Von Iris Radisch

(…) Die Wissenschaftler befanden den Autor in Le Monde für schuldig, von der „Überlegenheit westlicher Werte“ überzeugt zu sein und einer fremden Kultur den „Respekt vor der Frau“ in unerträglich paternalistischer Weise „aufzwingen“ zu wollen.

Kamel Daoud, der seit Jahrzehnten beim Quotidien d’Oran arbeitet und wegen seiner couragierten Kommentare sogar mit einer Fatwa belegt wurde, verlässt nach diesem Pariser Unsinn der Mut. Er hat angekündigt, sich aus dem Journalismus zurückzuziehen. Noch immer, schreibt er, sei es im Land Voltaires nicht möglich, den Islam zu kritisieren, ohne stigmatisiert zu werden. (…)

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