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Bloch über Bach

Schwer zu ertragen

Achtung, es geht um „eine in Bachs Musik verborgene Latenz„:

In Ernst Blochs „Geist der Utopie“ spielt die Musik eine besondere Rolle, – für mich allerdings immer unersprießlich. Wobei mir nicht klar wurde, warum: zu wenig konkret, zu hymnisch, zu „expressionistisch“. Gerade zu der Zeit, als ich systematisch Adorno las, auch Herbert Marcuse, und Blochs Kontakte zu Rudi Dutschke und den linken Studenten eindrucksvoll im Fernsehen erlebt hatte. Ich hatte die Erstausgabe geschenkt bekommen und wusste sie nicht recht zu schätzen. Schon in der Schule hatten wir rühmend vom „Prinzip Hoffnung“ gehört (im Fach Religion!!!), ich hatte auch etwas positiv Getöntes in Erinnerung behalten. Dazu ein schlechtes Gewissen, sooft ich dem interessanten Inhaltsverzeichnis ins Innere des Werkes gefolgt war:

Und nun finde ich prägnant beschrieben, warum es so kommen musste. Schließlich hatte ich auch Adornos „Jargon der Eigentlichkeit“ gelesen…

Das Buch von Nicola Gess über das Staunen muss ich nun aus eben diesen aufklärerischen Gründen hervorheben, hier ein winziger Ausschnitt:

Quelle Nicola Gess: Staunen Eine Poetik / Wallstein Verlag Göttingen 2019

Ein staunenerregendes Buch, – wollen Sie es entziffern? Es ist klar geschrieben, aber auch keine ganz leichte Lektüre. Ich möchte es nicht mehr missen:

Was stört am Tiefsinn? Präziser kann man es nicht sagen!

Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Linearität und „Musik im Delta“

Einige Anregungen zu musikhistorischen Fragen, die sich – direkt und indirekt – bei der Lektüre des Buches von Gunnar Hindrichs („Die Autonomie des Klangs“) ergeben, – wenn man gewöhnt ist, die Systeme zu wechseln. Etwa: von der Affektenlehre im Barock zur Bedeutung der „Rasas“ in indischer Musik – vielleicht letztlich in beiden Fällen auf Aristoteles zurückgehend. (Verbindung über Hellenismus in Baktrien, vgl. Lutz Geldsetzer „Nagarjuna“ Hamburg 2010, Vorwort ab Seite XII).

Das Hintertürchen, das Adorno für Komponisten offenhält, die nicht in sein Schema passen: etwa Janáček oder Bartók, – im Gegensatz zu Elgar oder Sibelius, die keine Gnade finden.

Aus meinem Exemplar der „Philosophie der Neuen Musik“ von Theodor W. Adorno (Europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main 1958), studiert ab 13.V.1960 in Berlin):

Adorno Philosophie Janacek

Bei Hindrichs nun scheint problemlos Platz für alle. Einige Umwege sind unvermeidlich, auch dank des Verdachtes einer kryptisch-theologischen Hermeneutik (seit Hegel eine gute philosophische Tradition,  vielleicht die Grundlage aller Philosophie).

Eine Assoziation* sei an dieser Stelle eingefügt; ich werde ihr nachgehen, sobald ich mich wieder an meinem Schreibtisch befinde.

Carlo Ginzburg über Italiens kulturhistorische Situation etc s.a. hier. Siehe zunächst die Quelle zum Thema Ungleichzeitigkeit bei Bloch !!! Hier

Was in der Szene der „neuen Neuen Musik“ gegen Gunnar Hindrichs vorzubringen ist, lässt sich gut bei Stefan Hetzel verfolgen. Siehe HIER. Wobei der Respekt durchaus zum Vorschein kommt:

Hindrichs ist ein äußerst ernst- und gewissenhafter, zudem ehrgeiziger intellektueller Arbeiter, das ist wohl kaum in Frage zu stellen. Schreiben kann er auch, das Buch hat zweifellos Stil und der Autor ist in der Lage, auch über längere Strecken Gedankenfäden auf abstrakter Ebene zu spinnen, die sogar – so man denn Spaß am Umgang mit Abstrakta hat und die Prämissen des Autors akzeptiert – eine deutliche Sogwirkung entfalten: eine echte Seltenheit! So gesehen, ist “Die Autonomie des Klangs” ein gut, ja sogar hervorragend gemachtes Buch. Aber mir sind nun mal Inhalte wichtiger als Form – und was die betrifft, hockt der Text im allerverstaubtesten Dachkämmerchen des Elfenbeinturms und wünscht sich zurück in eine heile Welt absoluter, metaphysisch legitimierter Autorität.

(Stefan Hetzel a.a.O.= s. den Link oben)

Im Blick auf die bedeutende Musik anderer Kulturen interessiert mich weniger die im § 26 des Hindrichs-Buches im Anschluss an Doflein hervorgehobene Spielmusik, die von der Linearität eines Materialfortschritts nicht erfasst würde – womit etwa die Linie von Bach über Beethoven zu Brahms/Wagner und Schönberg gemeint wäre – , dennoch ist der Gedanke grundsätzlich festzuhalten:

ZITAT

Der Hauptangriffspunkt gegen die Theorie von der Tendenz des musikalischen Materials bildet ihre vermeintliche Verpflichtung auf die Annahme von Linearität. Wenn es eine Tendenz des Materials gibt, dann scheint sich die Musikgeschichte einer Linie gemäß zu vollziehen. Das schneidet die Mannigfaltigkeit musikalischer Entwicklungen ab.

Im Hintergrund dieses Einwandes steht oft das Ressentiment gegen „die Moderne“ oder „das Neue“. Daneben aber gibt es auch reflektierte Stimmen. Einer der ersten wichtigen Einsprüche erfolgte von Erich Doflein. In ihm ist der Hauptgedanke aller späteren Gegenargumente vorweggenommen. Es lautet: Statt der Linearität eines Materialfortschritts sei die Vielfalt der neuen Musik anzuerkennen. Dofleins Titel für diese Vielfalt hieß „Musik im Delta“. Das Delta der neuen Musik umfaßte in seinen Augen neben dem obligaten Stil einer vollständigen Durchdringung des Tonsatzes, der zur Zwölftontechnik geführt habe, auch spielerische Formen, das Laienmusizieren, die Stücke der Musikpädagogik oder die Linie Reger-Hindemith-Orff. Die Regionen dieser auseinanderstrebenden Leitbilder bilden die Provinzen der Musik, die sich nicht mehr miteinander verständigen können. Sie alle aber besitzen in ihren regionalen Grenzen Legitimität.

Dofleins Gedanke einer Vielfalt von Formen statt eines einfachen Fortschritts des Materials – „Delta“ statt „Linie“ – läßt sich unabhängig von seiner Entfaltung in die Musikwelt des Adenauer-Deuschlands betrachten. Er beruht auch nicht auf dem Ressentiment gegen die Moderne. Statt dessen führt er die Konzeption regionaler Legitimitäten ins Feld. Zwar stellt der von ihm behauptete Gegensatz von obligatem Stil und Spielmusik keinen Gegensatz gleichrangiger Entwicklungen dar; diese inhaltliche Bestimmung des Deltas ist zeitgebunden und muß aufgegeben werden.

Quelle Gunnar Hindrichs: Die Autonomie des Klangs / Suhrkamp Berlin 2014 (Seite 56 f)

Die Anhänger neuester Strömungen, denen das „Delta“ gleichgültig ist, interessieren sich auch in geringem Maß für das Faktum, dass klassische Musik, – also Musik einer vergangenen Epoche, einer abgelebten Gesellschaft -, den heutigen Menschen weiterhin etwas zu sagen hat. Eine vergleichbare Situation: Wer sich für Musik fremder Kulturen begeistert, scheint sich in eine vor-industrielle, mythisch befangene Gesellschaft zurückzusehnen. Er ist nicht „auf der Höhe der Zeit“. Auch das ist Quatsch, – was aber nicht ganz leicht nachweisbar ist.

*Assoziation: das oben verlinkte Buch über Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen / Fünf Studien zur Geschichte Italiens / edition suhrkamp 991 / Frankfurt am Main 1980 / Siehe dazu den späteren Artikel, – wobei ich beim Thema Italien immer das große Thema Indien mitdenke:

Italien Storia

Italien Storia Aufsätze

Zugabe in gleichzeitigen Naturalien

Texel Paal 19 a  Texel Paal 19 c

Texel Paal 19 d Texel Paal 19 d'

Texel Paal 19 HandyFotos: JR

Nachtrag 6. April 2016

Im April-Exemplar des Magazins „Musik & Ästhetik“ (Heft 78) äußert sich Christian Utz zu einem Kongress-Beitrag von Gunnar Hindrichs und bringt zum Vorschein, was in der zeitgenössischen Diskussion gegen diesen Autor vorgebracht wird.

Hindrichs (…) möchte zeigen, dass musikalische Form als „Antwort auf Notwendigkeiten des Materials“ eine normativ verstandene „ästhetische Wahrheit“ begründet, die unabhängig von einzelnen Interpretationen und deren Geschichte bestehe. Vor diesem Hintergrund wird die Musikgeschichte für Hindrichs lesbar als Werden auf ein Noch-nicht-Vollkommenes hin. Hindrichs‘ zum Apodiktischen neigender ontologischer Zugang, der auch aus Anlass seines Buchs Die Autonomie des Klangs (2014) vielfach kritisiert worden ist, mag aus einer gewissen Tradition philosophischer Denkfiguren in der deutschsprachigen Philosophie begründbar sein, kann aber gerade auf einem derartig kontrovers und intensiv debattierten Feld wie der Musikgeschichtsschreibung kaum darüber hinwegtäuschen, dass sein Modell den Stand der Diskussion verfehlt. Wenn – der postmodernen Skepsis an „Meta-Narrativen“ zum Trotz oder gerade durch diese beflügelt – Fragen der Globalgeschichte, die Historizität nicht-westlicher Musikformen oder eine integrierte Diskussion von Kunst- und Popularmusik zur Sprache kommen, wird ein Diskursfeld geöffnet, vor dessen Hintergrund Hindrichs‘ Argumentation als zirkulär und eindimensional erscheint. Aber auch zu einem im engeren Sinn musitheoretischen Diskurs vermag die fragwürdige Denkfigur einer „Einbahnstraße“ vom Material zur Form kaum etwas beizutragen.

Quelle „Gegliederte Zeit“ / Der 15. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH) an der Hochschule für Musik Hanns Eisler und der Universität der Künste Berlin, 1.-54. Oktober 2015 / Von Christian Utz / in „Musik & Ästhetik“ (s.o.)

Dem soeben aufgeführten Zitat folgt ein Satz, der unbeabsichtigt, aber in willkommener Weise den Titel dieses Blogbeitrags stützt (en passant erinnere ich an die Tatsache, dass Brahms auf einem virtuellen Kongress, den etwa Wagner dominierte hätte, durchaus vorteilhaft die Ungleichzeitigkeit mancher Zeitgenossenschaften exemplifiziert hätte) :

Waren somit durch die Hauptvorträge eher gewisse „Ungleichzeitigkeiten“ des Diskurses sichtbar geworden, so brachte das sonstige Kongressprogramm ein sehr facettenreiches Spektrum von „zeit“-bezogenen Fragestellungen zur Sprache, gerade auch unter spezifischer theoretischen Gesichtspunkten (…).

Auch sonst ist diese Ausgabe von „Musik & Ästhetik“ besonders zu empfehlen, weil sie gerade den hier angesprochenen Beitrag von Hindrichs enthält („Musikalische Eschatologie“), aber auch dank der Texte „Zum Tod von Pierre Boulez“ (Larson Powell) zur Qualitätsfrage (Claus-Steffen Mahnkopf) oder über „1001 Mikrotöne“ (Hans Peter Reutter) und andere mehr. Siehe hier:  https://www.musikundaesthetik.de/.