Von der Terz und der Zersetzung der musikalischen Sprache
Adorno 1960 in Berlin
Quelle Theodor W. Adorno: Philosophie der Neuen Musik / Europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main 1958 (Seite 76 f)
1993 Beethoven-Buch + umgeblättert:
… „der gleiche Tatbestand nach seinen verschiedenen Aspekten. Wie aber, wenn schließlich der Ausdrucksdrang gegen die Möglichkeit des Ausdrucks selber sich kehrte? [141]“
Quelle Theodor W. Adorno: Beethoven / Philosophie der Musik / Fragmente und Texte herausgegeben von Rolf Tiedemann / Suhrkamp Frankfurt am Main 1993
P.S. Natürlich war mir damals klar, dass man diese (hier isolierten) Äußerungen Adornos nicht grundsätzlich als gegen die Idee der „Zwölftonmusik“ gerichtet verstehen darf.
Vom Salon mit Chopin
JR 6.12.1966 Solingen
Quelle Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie / Zwölf theoretische Vorlesungen / Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1962
Chromatische Tonsprache und kujawische Motivik (s.a. hier)
Ich hätte damals noch etwas ergänzen können oder müssen: aus Adornos Kritik am Persönlichkeitsideal (jetzt 24.07.23 wiedergelesen, damals in „Stichworte“ von 1969, zuvor auch im Radio gehört):
So gehört es zur eisernen Ration pädagogischer Theorien, die auf der Höhe der Zeit sein möchten, das Humboldtsche Bildungsziel des allseitig entwickelten und ausgebildeten Menschen, eben der Persönlichkeit, abzufertigen. Unvermerkt wird aus der Unmöglichkeit, es zu verwirklichen – wenn anders es je verwirklicht gewesen sein sollte -, eine Norm. Was nicht sein kann, soll auch nicht sein. Die Aversion gegen das hohle Pathos der Persönlichkeit tritt, im Zeichen eines angeblich ideologiefreien Realitätsbewußtseins, in den Dienst der Rechtfertigung universaler Anpassung, als ob diese nicht ohne Rechtfertigung bereits allerorten triumphierte. Dabei war Humboldts Persönlichkeitsbegriff keineswegs einfach der Kultus des Individuums, das wie eine Pflanze begossen werden soll, um zu blühen. So wie er noch die Kantische Idee »der Menschheit in unserer Person« festhält, hat er zumindest nicht verleugnet, was bei seinen Zeitgenossen Goethe und Hegel im Zentrum der Lehre vom Individuum steht. Ihnen allen kommt das Subjekt zu sich selbst nicht durch die narzißtisch auf es zurückgezogene Pflege seines Fürsichseins, sondern durch Entäußerung, durch Hingabe an das, was es nicht selbst ist. In Humboldts Bruchstück ›Theorie der Bildung des Menschen‹ heißt es: »Bloß weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nichtmensch, d.h. Welt zu seyn, sucht er, soviel Welt als möglich zu ergreifen und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.« Den großen und humanen Schriftsteller konnte man einzig dadurch in die Rolle des pädagogischen Prügelknaben hineinzwängen, daß man seine differenzierte Lehre vergaß.
Quelle Theodor W. Adorno: Stichworte / Kritische Modelle 2 / darin: Glosse über Persönlichkeit / Suhrkamp Frankfurt am Main 1969 / Zitat Seite 54
Damals schon früher aus der Radiosendung mit Adorno notiert:
Zumindest Negatives läßt über den Begriff eines richtigen Menschen sich sagen. Er wäre weder bloße Funktion eines Ganzen, das ihm so gründlich angetan wird, daß er dovon nicht mehr sich zu unterscheiden vermag, noch befestigte er sich in seinern puren Selbstheit; eben das ist die Gestalt schlechter Naturwüchsigkeit, die stets noch überdauert. Wäre er ein richtiger Mensch, so wäre er nicht länger Persönlicheit, aber auch nicht unter ihr, kein bloßes Reflexbündel sondern ein Drittes. Es blitzt auf in der Hölderlinschen Vision des Dichters: »Drum, so wandle nur wehrlos / Fort durchs Leben, und fürchte nichts!«
* * *
P.S. Und heute nach 54 Jahren ein Wermuthstropfen in Adornos Hölderlin-Zitat? der – doch so ermutigende – letzte Halbsatz lautet im Original womöglich anders: nämlich so. (nein! Aufklärung folgt)
Fazit: auch angesichts höherer Autoritäten lohnt sich die Überprüfung von Zitaten ebenfalls hoher oder höherer Autorität. Oder? Am Ende behält gar die Philologie das allerletzte Wort…
Kritischer Bericht Seite 305 – 322, hier wiedergegeben Seite 316 – 319 / und die letzte Fortsetzung von „Dichtermuth“:
Neue Links zu Hölderlins Ode „Dichtermut“ 1. Fassung 2. Fassung und Wikipedia hier (darin Link zu Versmaßen). Neue Ermutigung, Hölderlin selbst im Original zu suchen und verstehen zu lernen, gefunden bei Roland Reuß in dem sehr lesenswerten Buch „Ende der Hypnose“, Zitat:
Quelle Roland Reuß: Ende der Hypnose Vom Netz zum Buch / Verlag Strœmfeld Frankfurt am Main 2012 ( hier )
Jens Balzer * 1969 Wikipedia hier mit den neueren Büchern
Günstig für mich, dass dieses Buch genau den Teil der Popmusik-Geschichte beschreibt, den ich in meinem Leben bewusst miterlebt habe, nach dem Krieg, auch bewusst abgelehnt habe, – ohne mich allerdings der Wirkung entziehen zu können. Es gehörte untrennbar auch zu meinem musikalischen Umfeld, vor allem seit wir ein neues Radio hatten, Grundig Stereo 1953, mit unverzichtbaren Unterhaltungssendungen wie „Das ideale Brautpaar“ mit Jacques Königstein. (Siehe hier, für uns jedoch gab es in den 50ern ausschließlich Hörfunk.)
Die frühesten Schlagerproduktionen lernte ich dank der uneingeschränkten Begeisterung meines älteren Bruders kennen, der gerne sang, noch auf der Lohe bei unseren Großeltern: Michael Jary, vor allem suchte er den Sänger René Carol zu imitieren, an erster Stelle das Lied „Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein„. Was wir verachteten: Heimatkitsch à la „O Heideröslein, nimm dich in acht“ (Gerhard Winkler). Andererseits nicht „Friedel Hensch und die Cyprys“ … Früh entdeckt: die herausragend lebendige Caterina Valente.
War es der imaginäre Süden? Wie Jens Balzer schreibt: „Der deutsche Pop nach 1945 war vom Fernweh geprägt. Er handelte davon, dass man nach Italien reisen wollte oder nach Frankreich.“ (Seite 12) Tante Ruth (Schwester meines Vaters) und Onkel Fritz (Oberregierungsrat) in Hannover zeigten es uns: als erste in der Verwandtschaft leisteten sie sich einen Wohnwagen und fuhren nach Italien und Frankreich.
Früher Wohlstand bei Tante Ruth und Onkel Fritz. Stolz auf Campingreisen. Er starb 1973 bei einem Autounfall.
Zitat Wikipedia
Ende 1946 gelang ihm [René Carol] die Rückkehr nach Deutschland und er ließ sich zunächst in Hamburg nieder. Als Karol mit den 30 Variationen trat er bald in ganz Deutschland auf. Bei einem seiner Auftritte im April 1949[2] wurde Kurt Feltz, Entdecker vieler deutscher Schlagerstars in den 1950er Jahren, auf ihn aufmerksam. Mit der Kurt-Feltz-Produktion Maria aus Bahia 1950 begann er eine lang anhaltende Sängerkarriere, deren Erfolg erst in den 1960er Jahren endete. 1953 verkaufte René Carol die Platte Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein über 500.000 Mal. Seinen letzten großen Hit verbuchte er im Frühjahr 1960 mit dem Titel Kein Land kann schöner sein, der es bis auf den dritten Platz der Hitlisten schaffte.
Von Jens Balzer kann man verschiedene lesenswerte ZEIT-Artikel abrufen, neuerdings im Magazin folker – song, folk & world – im Juni 2023 einen guten Beitrag über Kulturelle Aneignung: „Zwischen Verbot und Dialog“, aus dem ich ein paar Zeilen zitieren möchte:
70 Jahre später, – das Problem heute:
warum sich Angehörige einer politisch und ökonomisch dominanten Kultur immer wieder bei der Musik, bei Tänzen, Kostümen und Accessoires aus Kulturen bedienen, die sie als weniger entwickelt betrachten: weil sie dort nämlich eine Authentizität und Ursprünglichkeit suchen, die sie an ihrer eigenen Kultur vermissen. Im Jazz hörten weiße Musikerinnen und Musiker der 1920er-Jahre eine „Wildheit“, die ihnen in ihrer eigenen Kultur fehlte – sodass sich noch in der anerkennenden Aneignung ein rassistisches oder koloniales Stereotyp versteckte: und zwar das einer vitalen, authentischen Kultur, deren Schöpfungen freilich erst durch die Aneignung überlegener – weißer – Künstlerinnen und Künstler in den Rang großer, zeitüberdauernder Kunstwerke gehoben werden können.
(…)
Reggae ist ein komplexer Stil, der sich aus der Verschränkung afrikanischer, europäischer, nordamerikanischer und karibischer Einflüsse ergeben hat – und der in den verschiedensten Arten der kulturellen Aneignung bis heute weiterwirkt. So ist der Hip-Hop, die zweifellos mächtigste Popkultur der Gegenwart, in den Siebzigerjahren in New York entstanden, als jamaikanische Eingewanderte Elemente des Reggae – etwa die Technik der Soundsystems und den damals noch „Toasting“ genannten Sprechgesang – mit afroamerikanischen Stilen wie Rhythm and Blues und Soul verbanden. Die Vorstellung, dass nur Jamaikanerinnen und Jamaikaner Reggae spielen dürfen, enthält also ihrerseits ein rassistisches Stereotyp: Sie will eine hoch entwickelte, von Aneignungen getragene und zu Aneignungen einladende Musik wieder auf den künstlerisch schlichten Ausdruck einer „indigenen“ Identität reduzieren.
So etwas habe ich natürlich aus Büchern und von freien Mitarbeiter/innen, z.B. von Dr. Barbara Wrenger oder von John Miller Chernoff. Oder von beiden Seiten gleichzeitig. Ziel: Alle wesentlichen Welt-Ansichten zur Kenntnis nehmen, ja, ich wollte das Welt-Bild der Ethnologen seit 1995 ständig präsenter sehen, auch im WDR, dem Kulturprogramm. Und so etwa sah das damals aus, – dank unterschiedlichster Musik auch ungeheuer „bunt“, eine Herausforderung an jede Philosophie, die auf eine einheitliche Ästhetik aus ist. Und sei es auch eine, welche nur für die indische, die indianische oder die afrikanische Welt Geltung zusätzlich beanspruchen kann. Siehe die Liste weiter unten.
die deutsche Übersetzung des Buches von J.M.Chernoff 1994 durch Barbara Wrenger im Trickster-Verlag (Peter Hammer):
Heraushebung des Musikethnologen Richard A. Watermann (hier als Beispiel).
Die Sendereihe ETHNOTONIC (seit 1995) im WDR und gleich danach ein Fund aus meiner Bibliothek (Waterman 1948)
Um kurz auf mein Ausgangsthema, das auf facebook angeschnitten war, zurückzukommen, den Artikel „Alte Musik als Problem“ von Gunnar Hindrichs: Hat er vergessen, dass er vor Jahren bereits einen Weg der Toleranz beschritten hatte? Ich jedenfalls war damals auf seiner Seite, ohne die gesamte Lektüre zu bewältigen…
Gegenwärtige Musik im Jahre 1959:
Inhaltsverzeichnis mit einem Vorwort von Joachim E. Berendt und einem Nachwort von Jürgen Uhde, Adornos Essay zur Missa solemnis und Erich Dofleins „Musik – Heute. Entwurf einer Diagnose“…
Bin ich (bei) ein Bewusstsein? Oder habe ich es nur?
Kaum hatte ich die Überschrift erfasst, wandte ich mich zur Vergewisserung um: ist das Buch noch griffbereit? meine Instanz seit 1995. Als man noch „Bewußtsein“ schrieb.
Geht also nur alles von vorne los? Auf einer neuen Ebene? Der oben plakatierte ZEIT-Artikel wird folgendermaßen eingeleitet: „Ein Google-Entwickler glaubt, ein Computerprogramm des Konzerns sei zum Leben erwacht. Die Maschine rede und fühle wie ein Mensch. Als er seine Beobachtung öffentlich macht, wird er gefeuert. Doch was, wenn er recht hat?“ Ein Artikel von Ann-Kathrin Nezik.
Ich will diese Geschichte nicht unbedingt im Detail memorieren, von Black Lemoine, dem Senior Software Engineer bei Google, der dort rausflog, aber immer noch mit dem Computerprogramm LaMDA redet, das er folgendermaßen kennzeichnet: es ist „empathisch und wissbegierig, wenn auch manchmal etwas unbeholfen. Wie ein Kind, das sich tastend durch die Welt bewegt. Er befürchtet allerdings, dass „sie der Maschine inzwischen alles Menschenähnliche, das sie entwickelt hatte, wieder genommen haben.“ Für ihn war es klar, dass der Computer Bewusstsein entwickelt hat.
Man kommt sicher bald auf das Leib-Seele-Problem, vermute ich, ja, und natürlich auf die Rolle der Perspektive: schaue ich von außen auf diese lebendige Sache oder erlebe ich sie von innen. Und da ist auch schon die berühmte Fledermaus:
Damals (1995) war ein anderes System im Gespräch, am Ende des Buches „Bewußtsein“ (herausgegeben von Metzinger) gab es den großen Aufsatz von Daniel Dennett und das Stichwort COG:
Im Internet konnte ich damals noch nichts vertiefen, heute rate ich mir (und anderen), z.B. den Artikel aus Planet Wissen zu lesen, hier, dann hätten wir schon eine Art Zweitmeinung:
Aber im Prinzip ist heute noch nicht klar, was den menschlichen Geist oder menschliches Bewusstsein eigentlich ausmacht. Vermutlich ist es eine Meta-Ebene, die in der Lage ist, die Informationsverarbeitungsvorgänge in den einzelnen Gehirnzentren übergeordnet zu betrachten und zu bewerten.
Vielleicht kommt der Großhirnrinde diese Funktion zu. Sie erhält Informationen aus den sensorischen und motorischen Arealen, die hauptsächlich in den Tiefen des Gehirns liegen.
Andererseits verweisen viele Forscher auch darauf, dass es eben rein strukturell ein übergeordnetes Zentrum im menschlichen Gehirn nicht gibt, sondern dass alle Areale parallel miteinander verschaltet sind.
Oder:
Ohne Körper, meint der Vater des humanoiden Roboters „COG“, Rodney Brooks, kann sich keine Intelligenz entwickeln. Intelligenz ist nur dann nötig, wenn sich ein Wesen in seiner sich ständig verändernden Umwelt behaupten muss. Dies sei die Triebkraft für die Intelligenz-Entwicklung.
Ich hätte auch oben (im METZINGER bzw. Dennett) einfach umblättern und weiterlesen können:
Über die Jahrhunderte hinweg ist jedes andere Phänomen, das anfänglich als „übernatürlich“ und geheimnisvoll erschien, einer nicht mehr umstrittenen Erklärung unter dem weiten Rock der Naturwissenschaften gewichen. Thales, der vorsokratische Proto-Wissenschaftler, glaubte, daß der Magneteisenstein eine Seele besäße, aber wir wissen es besser; der Magnetismus ist eins der am besten verstandenen physikalischen Phänomene, wie merkwürdig seine Erscheinungsweisen auch sein mögen. Sogar die „Wunder“ des Lebens und der Vermehrung werden heutzutage in der molekularbiologischen Analyse mit bekanntermaßen verwickelten Analysen erklärt. Warum sollte das Bewußtsein eine Ausnahme darstellen?
Wäre ich glücklicher? (Darum geht es nicht!!!)
Weniger positivistisch klingt es im letzten Aufsatz des Buches, wenn Dieter Birnbach über „Künstliches Bewußtsein“ schreibt (Achtung: Fledermaus!):
[Es sind …..) Zweifel daran erlaubt, ob sich die Bedingungen des Bewußtseins jemals so eindeutig aufklären lassen, daß die entsprechenden psychophysischen Verallgemeinerungen Gesetzesähnlichkeit beanspruchen können.
Die epistemischen Schwierigkeiten, die wir heute bereits mit exotischen Bewußtseinswesen (wie Thomas Nagels Fledermäusen) haben, würden sich für Maschinen noch verschärfen. Auch wenn wir uns vorstellen, daß wir uns Hirntransplantate einbauen lassen könnten, die an unser Zentralnervensystem „angekoppelt“, uns das Innenleben anderer, heute noch hermetisch verschlossener Wesen aufschließen, wäre das Problem nicht aus der Welt, wie sicher wir sein können, daß das, was wir mittels dieser Transplantate erleben, tatsächlich das ist, was Fledermäuse oder Maschinen erleben.
Quelle Dieter Birnbacher: Künstliches Bewußtsein (Seite 728) in: Bewußtsein / Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie / herausgegeben von Thomas Metzinger (Verlag Ferdinand Schöningh Paderborn, München, Wien, Zürich 1995)
Übrigens kann man den Fledermaus-Text (1974) von Thomas Nagel vollständig im Internet nachlesen: und zwar hier. Des weiteren wäre empfehlenswert, auch wenn es vielleicht den aktuellen KI-Utopien zuwiderläuft:
Klappentext lesen: … ein Generalangriff auf die etablierte naturwissenschaftliche Weltsicht. Ihr Problem, so Nagels These, ist grundsätzlicher Natur: Das, was den menschlichen Geist auszeichnet, – Bewusstsein, Denken und Werte – , lässt sich nicht reduzieren, schon gar nicht auf überzeitliche physikalische Gesetze. Daher bleibt eine Theorie, die all dies nicht erklären kann, zwangsläufig unvollständig, ja, sie ist mit Sicherheit falsch.
Suhrkamp 2013
(Fortsetzung folgt: zurück zur neuen ZEIT)
Weiter im Artikel, aber mein Bewusstsein driftet ab: ich liebe es nicht, Wissensinhalte über Geschichten vermittelt zu bekommen (das hat Enzensberger schon früh als Charakteristikum des „Spiegel-Stils“ herausgestellt: im Erzählertonfall zu beginnen, um die Lesenden einzufangen, – captatio benevolentiae). Auf der zweiten ZEIT-Seite notiere ich mir das Wort „Simulation“, auch „Mimesis“ hätte als Merkwort dienen können: an den Körper und seine Imagination gebundene Vorstellungen. Die Assoziation, dass der Mensch durch seine Fähigkeit zu lügen vor den Tieren ausgezeichnet sei, wobei die Vorgeschichte der „Mimikry“ zu bedenken ist, Stichwort Signalfälscher. Dann die immer interessante Erfahrung der getäuschten Erwartung im Witz, quasi befreiend, und in der Tat – da kommt sie schon als Kriterium:
Als Witz erinnert das an die Kinderseite der Tageszeitung, wo bis zum Gehtnichtmehr, die Doppelbedeutung von Worten ausgenutzt wird, die keinem gewieften Wortspieler ein müdes Lächeln abringt. Leicht vorstellbar wie man diese minimalen Lacheffekte einprogrammiert. Und auf der nächsten Seite folgt auch erwartungsgemäß, aber spät, das Stichwort „Simulation“, die Anthropologie stand Pate:
Der Zweifel nistet sich ein, kaum abzuweisen: bin ich es, der schreibt? Verhalte ich mich wie ein künstlicher Mensch, der Bewusstsein simuliert? Ich nehme mir die Freiheit, zurückzuspringen, zu unterstreichen, zu assoziieren, ganze Blöcke zu überspringen:
An dieser Stelle könnte die Geschichte zu Ende sein. Es wäre die Geschichte eines Computerprogramms, das zweifellos ein erstaunliches Maß an Intelligenz erreicht, ohne dass man zweifelsfrei sagen kann, ob damit so etwas wie ein Bewusstsein einhergeht. Allerdings wäre es eine unvollständige Geschichte, weil die Frage nach dem Bewusstsein nicht die einzige Frage ist, die sich hier stellt. Es geht auch um etwas anderes: darum, ob LaMDA womöglich gefährlich ist. (…)
In seiner Wohnung in Montreal malt er sich Szenarios aus, die er durchaus für realistisch hält: Autokraten und Demokratiefeinde könnten mit Charbots wie LaMDA Propaganda wie am Fließband produzieren. »Es reicht, dem Programm zu sagen: Schreib mir eine Studie, warum Impfen schlecht ist. Oder warum Weiße allen anderen Menschen überlegen sind.« Jeder könnte mit LaMDA und vergleichbaren Programmen Wähler täuschen, Märkte manipulieren, Leute betrügen. Für Menschen mit bösen Absichten sei die Entwicklung von Chatbots wie die Erfindung des Maschinengewehrs für den Krieg. (…)
Quelle DIE ZEIT Dossier Seite 13 ff 12. Januar 2023 HAST DU EIN BEWUSSTSEIN? Ich denke schon, antwortet der Rechner / Ein Google-Entwickler glaubt, ein Computerprogramm des Konzerns sei zum Leben erwacht. Die Maschine rede und fühle wie ein Mensch. Als er seine Beobachtung öffentlich macht, wird er gefeuert. Doch was, wenn er recht hat? Von Ann-Kathrin Nezik
Das Virus wirkt weiter, verbreitet sich, auch in harmlosen Musikkritiken oder- Abschiedsartikeln, wandert in die Musiken selbst hinein. Wer hat da gesprochen, wenn man Schumann hört? Es spricht so zehrend und so menschlich, man kann alles hineinlegen. In der Musik verschwinden steht drüber, an den chinesischen Maler erinnernd, der in sein selbstgemaltes Landschaftsbild hineinsteigt und in der Ferne verschwindet. Hier zu Barenboims Abschied oder Weiterwirken- „am Ende allen Dauerkonzertierens, für das er berüchtigt war. Premiere in Berlin, rein in den Flieger, Konzert in Chicago, rein in den Flieger, Proben in Paris, Mailand oder Wien, so ging das ein Leben lang.“ Und weiter:
Herrlich, ja aufregend, wie Barenboim in Schumanns Klavierkonzert das Geschehen nun weitgehend Argerich und den ersten Philharmoniker-Pulten überantwortete, die prompt alles virtuose Rauschen und Gedonner fahren ließen. Ein seiner Außenhaut entkleideter Romantiker trat so zutage, mal störrisch, mal fahrig, mal feinster Gesang. Frei von eigenen Sentimentalitäten ließ sich das kaum miterleben, die Generation Argerich / Barenboim steht für eine Hochzeit der klassischen Musik, die es so wohl nie wieder geben wird.
Armer Schumann! Ohne Außenhaut! Mit ihm lässt sich alles behaupten, er spricht immer unüberhörbar, aus weiter Ferne ebenso tönend wie aus unserm eigenen Innern. Da muss man den ersten Philharmoniker-Pulten rein gar nichts unterstellen, nicht einmal die eigene Trauer über den Untergang einer Ära. Das würde kaum mit Reger oder Pfitzner funktionieren, bei denselben Interpreten, vielleicht geht das wirklich nur mit Schumann und Brahms.
Das zu feiern stärkt und erfreut. Nach der Pause, in Brahms‘ 2. Symphonie, macht Barenboim faktisch nichts mehr, kleine, kleinste Gesten genügen, oft ruht sein Taktstock ganz, wie bei vielen großen Alten vor ihm. Denn das ist die höchste Kunst: in der Musik zu verschwinden. Selbst die Blumensträuße, die man ihm am Ende reicht, rupft er und verteilt sie so akribisch an die Damen des Orchesters, bis von der floralen Pracht nur mehr Gemüse übrig ist.
Quelle DIE ZEIT 12. Januar 2023 Seite 43 In der Musik verschwinden Daniel Barenboim ist wieder da – mit Martha Argerich (von Christine Lemke Matwey).
Der letzte Satz allerdings könnte auch von einem LaMBDA-Programm stammen, das den eingestreuten Witz als Reiz anzuwenden gelernt hat. Für das Leser-Bewusstsein bleibt vorrangig die Erinnerung an das Wort „Gemüse“ und will und will nicht mehr verschwinden.
Und noch etwas: Was ist ChatGPT? Ich hatte Zweifel, ob der junge Mann, der hier mit uns spricht, real oder virtuell vorhanden ist (in der Welt da draußen), aber mir wurde klar, dass dies in der Schönen Neuen AI-Welt wirklich von nachrangiger Bedeutung ist.
Noch etwas: Hier (ein Grundkurs mit 5 Beispielen für die Verwendung des Chatbots)
Des weiteren hier (ein Testgespräch mit einem Open AI Chatbot)
Zu KI (oder AI =Artificial Intelligence) wie immer nützlich (auch betr. Für und Wider) nachzulesen bei Wikipedia HIER
Anknüpfend an den Artikel „Zwei neue Bücher“ . – Biographisches über Michel Leiris hier (Wikipedia)
Zitat:
Techniken seiner surrealistischen Lehrjahre, psychoanalytische Selbstbefragung und ein auf die Deutung des eigenen Lebens gerichtetes ethnologisches Instrumentarium definierten das Genre der Autobiographie neu.
Biographisches über André Schaeffner hierMusikethnologie (!)
Die Reisegesellschaft / Foto: Wikipedia (Charles Mallison 1931)
Erinnerung an Nigel Barley (von dem ich dieses Ziel kenne: die Leidenschaft, ein übergreifendes Muster aufzudecken, wie bei einem Kriminalfall, die Technik des „Verhörens“.)
Nicht länger nur Einzelheiten aneinanderzureihen. Vorzustoßen zu einem inneren Gesetz, eine Struktur zu erfassen, die nicht offen zutage liegt, ein Geheimnis aufzulösen. In der Landschaft eine sakrale Topographie zu erkunden und aufzuzeichnen.
Angefangen mit einigen Eintragungen bei Michel Leiris 5. Okt.1931 :
(S.141) Ich verzweifle daran, daß ich in nichts wirklich auf den Grund einzudringen vermag. Es bringt mich in Rage, von so vielen Dingen immer nur Bruchstücke in den Händen zu halten.
(S.147) Die Befragung mit dem Greis weitet sich aus. Gesenkten Kopfes dringe ich in die Tiefen und Abgründe vor.
(S.147) Bei jedem Schritt einer jeden Befragung wird wieder irgendeine neue Tür aufgestoßen. Aber meist gleicht die so geschaffene Bresche eher einem Abgrund oder einem Sumpfloch als einem gangbaren Weg. Und doch fügt sich alle immer mehr zusammen. Vielleicht kommen wir doch noch zu einem Ende?
Natürlich ziehe ich unwillkürlich bei allem, was ich lese, Verbindungen zu meinem eigenen Leben, ohne im einzelnen untersuchen zu wollen, ob es berechtigt ist oder nicht. In diesem Fall geht es ins Jahr 1962, als mich ein Kunstbuch beeindruckte, das sich auf die Situation in Frankreich – Van Gogh / Gauguin – bezieht; aber der „Noa Noa Traum“ (Benn) erfüllte mich, seit ich Gauguins Tagebuch gelesen hatte (September 1958). Die Situation hatte sich bei Michel Leiris (wie auch bei anderen kreativen Köpfen in der Zeit) zwischen den Weltkriegen verschärft (Walter Spies – Traumziel Bali).
Horst W. Janson und Dore Jane Janson: Malerei unserer Welt / Von der Höhlenmalerei bis zur Gegenwart. / Verlag M. DuMont Schauberg Köln 1960
Nur noch etwas zum Vormerken:MICHEL LEIRIS: Phantom Afrika / Rezension F.A.Z lesen !HIERdazu vorweg:
Produktbeschreibung(Durchgesehene und erweiterte Neuausgabe)
Michel Leiris wird gerade wieder neu entdeckt: als Kronzeuge kolonialer Raubkunst. Tatsächlich wird man kaum einen Autor finden, der die fragwürdigen Praktiken bei der Aneignung von Objekten durch Ethnografen in Afrika – Rettung durch Raub – so freimütig aus der Täterperspektive schildert. Die Ethnologen haben ihn nach diesen Enthüllungen zuerst als unseriösen »Literaten« verunglimpft, um Phantom Afrika (1934) später zum Vorbild für eine experimentelle Ethnografie in der ersten Person zu erklären. Aus heutiger Sicht bietet das von Surrealismus und Psychoanalyse inspirierte Tagebuch des Sekretärs der legendären, staatlich finanzierten Forschungs- und Sammlungsreise von Dakar nach Djibouti (1931-1933), der ersten und größten dieser Art, vielleicht noch grundlegendere Einsichten in die Paradoxien der Feldforschung im kolonialen Zeitalter. Denn der Surrealist mit Tropenhelm ist vor allem eins: schonungslos. Genauso wie die Methoden der Wissenschaftler seziert er seine Widersprüche und Obsessionen, dokumentiert seine exotistischen und kolonialistischen Vorstellungen. Zum Antikolonialisten wurde Leiris erst durch diese Erfahrung. So wird der Leser Zeuge, wie ein weißer europäischer Mann, der sich in Afrika auf die Suche nach Grenzerfahrungen macht, am Ende vor allem seine inneren Dämonen kennenlernt – nicht die schlechteste Voraussetzung, um die Geister und die Poesie der »Anderen« zu erforschen.
In den 1980er Jahren Kultbuch der bundesrepublikanischen Ethnoboom-Generation, war die deutsche Übersetzung von L’Afrique fantôme seit Langem vergriffen. In dieser u. a. um Leiris‘ Briefe an seine Frau erweiterten Neuausgabe wird das so singuläre wie epochale Zeugnis der Widersprüche des Kolonialismus zwischen Gier nach Besitz und Sehnsucht nach Besessenheit nun endlich wieder verfügbar.
Die Ankündigung der neuen Ausgabe also, die ich mir nicht bestellt habe, weil ich jemanden kenne, der mir nahesteht und sie in Kürze besitzen wird. Warum soll ich nicht (zum Vergleich) die alte Ausgabe vorziehen, die zum Kultbuch der 80er Jahre wurde, als ich versäumt habe, am Kult teilzunehmen? Zumal sie (antiquarisch) weniger als die Hälfte der neuen kostet… und das Vorwort von Hans-Jürgen Heinrichs stammt.
Morgens Probe, Violin-Duos von Viotti, wunderschön, aber vorher am Frühstückstisch: gefesselt von einem Buch, das aus dem Nachlass des verstorbenen Freundes stammt. Das wirkt nach.
Und nachmittags wieder, wie gebannt, das ganze Buch (fast) Seite für Seite, fasziniert von bunten Bild-Collagen und Berichten aus Belutschistan, Jemen, Marokko und anderen Regionen der Welt. Natürlich erinnerte ich mich an die Begegnung mit Professor Heinz Stefan Herzka in Düsseldorf, aber wann war das? Die Widmung in seinem 2003 vollendeten Werk sagt es:
Was ist heute für ein Datum? 14. Februar 2022, ich schaue noch einmal in den Wikipedia-Artikel, –genau vor einem Jahr ist er gestorben, im selben Jahr also wie der gemeinsame Freund Christian Schneider. Heute! Was soll ich dazu sagen? Gerade letzte Nacht hatte ich eine Mail geschrieben, letzteren betreffend. Ich glaube nicht an Wunder dieser Art.
„Liebe in Zeiten des Hasses – Chronik eines Gefühls 1929-1939“ (Florian Illies). Viele Episoden spielen in Berlin. Als Ergänzung zum Buch sollte man vielleicht die Filme, das Herzenslied mit Marta Eggerth oder auch nur die eine Zeitungsseite jener Jahre ganz ernst nehmen, so zufällig das alles aussieht…
Eine Zeitungsseite, die sich in einem alten Buchexemplar von Curt Sachs befand, dem Handbuch der Musikinstrumentenkunde (1920), aus dem ich – es an beliebiger Stelle aufschlagend – etwas ganz Neues lernte, „wie vom Blitz getroffen“: woher kommt das Wort „Inventionshorn“? Bitte eine schnelle Antwort. Nachfrage: was hat es – sagen wir – mit einer Bach-Invention gemeinsam? Antwort: (natürlich nichts, nein, noch weniger!) siehe ganz am Ende dieses Artikels.
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Alle Namen und Filme sind im Internet greifbar, u.a. der Zeitungsmacher Scherl, der Schachmeister Friedrich Sämisch, natürlich auch Hans Hickmann (!) oder der Sänger Leo Slezak, den mein Vater in seiner Berliner Zeit als Korrepetitor am Klavier begleitet hat. (Vielleicht nur beim Üben? Jedenfalls hat der ihm die Bücher „Meine sämtlichen Werke“ und „Der Wortbruch“ mit Widmung überreicht.)
Hier noch eine Geldüberweisung von Artur an seine Schwester Ruth in Berlin, die einst meine liebe Patentante werden sollte, die ihm damals wohl das Göschen-Buch über die „Technik der deutschen Gesangskunst“ von Hans Joachim Moser (!) nach Belgard (an der Persante) übersandt hatte; und den Beleg konnte er als Erinnerungs- und Lesezeichen verwenden.
Moser war in den 5oer Jahren durchaus Gesprächsthema bei uns zuhaus, ich studierte seine Bücher, mein Vater „flachste“ über seinen „blumig-barocken“ Sprachduktus (1954), sie lasen Mosers Liebesroman über Robert Schumann und Clara, von Tante Ruth bekam ich die Musikgeschichte (1), die ich sorgfältig zu studieren versuchte, von meinen Eltern die „Musikgeschichte in hundert Lebensbildern“ (2), – aber niemals gab es bei uns das Thema NS-Zeit, die noch nicht weit zurücklag, in fernster Ferne.
(1) (2)
Das Fragezeichen am Rand des zweiten Buches stammt von mir, ich wurde gerade 14, die Seitenzahl 167 bezieht sich auf einen lächerlich ähnlichen Satz im Monteverdi-Artikel:
Im Sommer 1643 besuchte er zum Abschiednehmen die Stätten vergangener Tage in Cremona und Mantua, kehrte dann nach Venedig zurück und schlummerte nach neuntägigem Krankenlager im Spätherbst in das Reich jenseitiger Harmonien hinüber.
Ja, der Musikwissenschaftler Moser war durchaus ein Romantiker. Aber seine Tätigkeit im untergegangenen diesseitigen Reich holte ihn doch immer wieder ein…
Und ich blieb ziemlich ahnungslos, obwohl ich Dostojewskij (und Tolstoi) las. Aber das war ja ein ganz anderes Jahrhundert…
* * *
Was war nun mit dem Horn bei Curt Sachs? Folgt gleich, aber es gab noch viel mehr. In dem Buch fand sich nicht nur die Zeitungsseite, die jemand aufbewahrt hat, sondern auch noch eine Postkarte, die ich ablichte, um nun Sie zu veranlassen nachzuschauen, wer Hermann Diener ist, – geht er uns was an??? Ist es wichtig zu wissen, dass er kurzzeitig bei Bram Eldering (s.a. hier) Violinunterricht hatte, jedoch in Berlin 1955 infolge eines Unfalls beim Schlittschuhlaufen gestorben ist? Oh Gott, ich fürchte, dass es auf dem Schlachtensee geschah, den ich kennenlernte, als ich 1960 bei Doris Winkler Gesangsunterricht hatte, der Lehrerin von Elfride Trötschel, die ich vom „Dulcissime“ der Carmina Burana-Platte kannte, die mir mein Onkel Hans geschenkt hatte. Alt, und ohne Hülle. Jeder Punkt eine Geschichte für sich…
Ich fürchte auch, dass diese Geschichte kein Ende nehmen will, – die Karte gehört, wie der Poststempel erzählt, schon ins Zeitalter der Werktätigen, warum schreibt denn Hermann Diener an Dr. Peter Wackernagel?
Soll ich aufhören? Das Buch stammt dem Besitz meines Freundes Christian Schneider, der es von seinem Vater geerbt hat, Prof. Michael Schneider, und diese Spur führt nach Berlin, wo er von 1958 bis 1965 lehrte, bevor er nach Köln kam…
Und nun ist der Inhalt der aufklappbaren Postkarte fällig, eine Einladung folgenden Inhalts:
Das Collegium Musicum Hermann Diener dient … ja, mein Gott! er dient und dient u.a. der Verbindung von Musik und Malerei, und das Thema erwischt mich auch nicht zum ersten Mal. Gestern allerdings ganz ohne Musik, nur eben dieselbe Zeit beschwörend. Oder vielmehr – die der Generation vorher, Aufbruchszeit des großen Musikwissenschaftlers Curt Sachs, der seine Dissertation über Andrea del Verrocchio geschrieben hat. Formenwelt der Musik und der Malerei. Gemeinsamkeit! HIER.
Ich bin nicht so glücklich, wenn die ZEIT Musikthemen behandelt, weil allzu selten, und dann mit Vorliebe zu Pop-Größen. Oder die Musikjournalistin Christine Lemke-Matwey hat wieder einmal das Wort, durchaus interessant, aber zweimal in einer einzigen Ausgabe wie heute – das sieht nicht nach Vielfalt aus. Ihr Tagebuch zum „Boosterglück“ spare ich mir, die ausführlich behandelte „Ausbrecherin“ Elisabeth Kulman (Seite 57) erträgt nur mit Vergügen, wer vorher live mindestens dies hier geliebt hat. Weitergeblättert also. Doch wenn es um die Musik im Großen und Ganzen geht, erscheint unter der Rubrik Musikwissenschaft ein anerkannter Nicht-Fachmann, der zweifellos vielseitige „Stimmt-das?“-Autor Christoph Drösser, – warum nur? Weihnachten ist nahe, und „Schräge Töne“ passen offensichtlich ganz gut zum Artikel auf der gegenüberliegenden Seite, wo die Kantorin Barbara Fischer über die Kraft des gemeinsamen Singens und »O du fröhliche« in der Pandemie spricht. Vor mehr als einem Jahrzehnt gab es schon mal heftigen Widerspruch aus dem Lager der Neuen Musik, die nach Drösser nicht massentauglich ist, und dann kam auch noch das passende Buch heraus:
2009 Rowohlt ISBN 978 3 498 01328 8
Und heute wieder dieselben Themen, dazu als ethnischer Blickfang – um nicht wieder einmal mit den Knochenflöten der Schwäbischen Alb anzufangen – die wilden Querflöten vom Mount Hagen Sing Sing Festival in Papua Neuguinea – und der provokative Hinweis auf den angeblichen Streit der Forscher, wozu Musik eigentlich gut sei. Schließlich wird zum Glück Melanie Wald-Fuhrmann genannt, s.a. hier, und ganz am Ende gibt es das geradezu kathartische Fazit: ein Defizit. Worin mag es bestehen?
Der Forscherstreit ist also noch lange nicht entschieden. Helfen könnten dabei musikethnologische Studien, denn immer noch wird die Debatte geprägt von einem sehr westlichen Musikverständnis, das Musik als »von Menschen organisierter Klang« auffasst. In anderen Kulturen werde nicht zwischen Klang und Bewegung unterschieden, dort sei Musik ein ganzheitliches, auch körperliches Erlebnis, sagt Melanie Wald-Fuhrmann vom MPI [hier]. Auf dieses Defizit immerhin können sich inzwischen alle beteiligten Wissenschaftler einigen.
Siehe auch ZEIT online (hinter Bezahlschranke) hier. Über Forscherstreit – eine angebliche „Kakofonie der Wissenschaft“ siehe – im Pandemie-Zusammenhang – Christian Drosten, zitiert in diesem Blog am Ende des folgenden Artikels: Corona Bedenken!
Wie wäre es, zuerst dies zu verstehen:
Was ist „Humanly Organized Sound“ ? – mit dem Ausblick auf „Soundly Organized Humanity“ …
1973
Ich kann gar nicht ausdrücken, wie genial ich das Konzept finde, das hinter einer Abbildung steckt wie der folgenden. Genial die Menschen, die es in Musik leben, und genial der Mensch, der es uns plausibel macht. Am Ende ist es aber gar nicht genial, sondern einfach – menschlich:
Beispiel auf Seite 29
Eins, zwei, viele?
Mein vorläufiger Kommentar
Ein Orchester kann bedeuten: eine Menge, die von Einem geführt und instrumentalisiert wird, oder: die angeleitet wird zusammenzuwirken, sich auf allen Ebenen zu ergänzen, damit sind symbolisch Millionen gemeint und von Liebe, Mut, Widerstand, gemeinsamer Freude ist die Rede. Es ist mehrdeutig, einer kann – auf unterschiedliche Art – alles auf sich beziehen (Ludwig XIV, Napoleon, Mozart, Beethoven, Wagner) oder: alle Mitwirkenden oder Zuhörenden können sich gleich wichtig finden, (Individuen in einer Gemeinschaft). Oder – angefangen mit einer Dreiergruppe – jeder kann einen Rhythmus vorgeben, sie können gemeinsam den gleichen Rhythmus produzieren, oder: sie können ihn kooperierend auf drei verteilen, so dass sich ein komplexeres Gefüge ergibt: nicht als hörbare Klanggestalt, sondern als spürbarer Sinngehalt.