Archiv der Kategorie: Ethnologie

Zeitung Berlin 1935

Ein Zufallsfund

„Liebe in Zeiten des Hasses – Chronik eines Gefühls 1929-1939“ (Florian Illies). Viele Episoden spielen in Berlin. Als Ergänzung zum Buch sollte man vielleicht die Filme, das Herzenslied mit Marta Eggerth oder auch nur die eine Zeitungsseite jener Jahre ganz ernst nehmen, so zufällig das alles aussieht…

Eine Zeitungsseite, die sich in einem alten Buchexemplar von Curt Sachs befand, dem Handbuch der Musikinstrumentenkunde (1920), aus dem ich – es an beliebiger Stelle aufschlagend – etwas ganz Neues lernte, „wie vom Blitz getroffen“: woher kommt das Wort „Inventionshorn“? Bitte eine schnelle Antwort. Nachfrage: was hat es – sagen wir – mit einer Bach-Invention gemeinsam? Antwort: (natürlich nichts, nein, noch weniger!) siehe ganz am Ende dieses Artikels.

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Alle Namen und Filme sind im Internet greifbar, u.a. der Zeitungsmacher Scherl, der Schachmeister Friedrich Sämisch, natürlich auch Hans Hickmann (!) oder der Sänger Leo Slezak, den mein Vater in seiner Berliner Zeit als Korrepetitor am Klavier begleitet hat. (Vielleicht nur beim Üben? Jedenfalls hat der ihm die Bücher „Meine sämtlichen Werke“ und „Der Wortbruch“ mit Widmung überreicht.)

Hier noch eine Geldüberweisung von Artur an seine Schwester Ruth in Berlin, die einst meine liebe Patentante werden sollte, die ihm damals wohl das Göschen-Buch über die „Technik der deutschen Gesangskunst“ von Hans Joachim Moser (!) nach Belgard (an der Persante) übersandt hatte; und den Beleg konnte er als Erinnerungs- und Lesezeichen verwenden.

Moser war in den 5oer Jahren durchaus Gesprächsthema bei uns zuhaus, ich studierte seine Bücher, mein Vater „flachste“ über seinen „blumig-barocken“ Sprachduktus (1954), sie lasen Mosers Liebesroman über Robert Schumann und Clara, von Tante Ruth bekam ich die Musikgeschichte (1), die ich sorgfältig zu studieren versuchte, von meinen Eltern die „Musikgeschichte in hundert Lebensbildern“ (2), – aber niemals gab es bei uns das Thema NS-Zeit, die noch nicht weit zurücklag, in fernster Ferne.

(1) (2)

Das Fragezeichen am Rand des zweiten Buches stammt von mir, ich wurde gerade 14, die Seitenzahl 167 bezieht sich auf einen lächerlich ähnlichen Satz im Monteverdi-Artikel:

Im Sommer 1643 besuchte er zum Abschiednehmen die Stätten vergangener Tage in Cremona und Mantua, kehrte dann nach Venedig zurück und schlummerte nach neuntägigem Krankenlager im Spätherbst in das Reich jenseitiger Harmonien hinüber.

Ja, der Musikwissenschaftler Moser war durchaus ein Romantiker. Aber seine Tätigkeit im untergegangenen diesseitigen Reich holte ihn doch immer wieder ein…

Und ich blieb ziemlich ahnungslos, obwohl ich Dostojewskij (und Tolstoi) las. Aber das war ja ein ganz anderes Jahrhundert…

*     *     *

Was war nun mit dem Horn bei Curt Sachs? Folgt gleich, aber es gab noch viel mehr. In dem Buch fand sich nicht nur die Zeitungsseite, die jemand aufbewahrt hat, sondern auch noch eine Postkarte, die ich ablichte, um nun Sie zu veranlassen nachzuschauen, wer Hermann Diener ist, – geht er uns was an??? Ist es wichtig zu wissen, dass er kurzzeitig bei Bram Eldering (s.a. hier) Violinunterricht hatte, jedoch in Berlin 1955 infolge eines Unfalls beim Schlittschuhlaufen gestorben ist? Oh Gott, ich fürchte, dass es auf dem Schlachtensee geschah, den ich kennenlernte, als ich 1960 bei Doris Winkler Gesangsunterricht hatte, der Lehrerin von Elfride Trötschel, die ich vom „Dulcissime“ der Carmina Burana-Platte kannte, die mir mein Onkel Hans geschenkt hatte. Alt, und ohne Hülle. Jeder Punkt eine Geschichte für sich…

 

Ich fürchte auch, dass diese Geschichte kein Ende nehmen will, – die Karte gehört, wie der Poststempel erzählt, schon ins Zeitalter der Werktätigen, warum schreibt denn Hermann Diener an Dr. Peter Wackernagel?

Soll ich aufhören? Das Buch stammt dem Besitz meines Freundes Christian Schneider, der es von seinem Vater geerbt hat, Prof. Michael Schneider, und diese Spur führt nach Berlin, wo er von 1958 bis 1965 lehrte, bevor er nach Köln kam…

Und nun ist der Inhalt der aufklappbaren Postkarte fällig, eine Einladung folgenden Inhalts:

Ewald Vetter und Paul Bildt

Das Collegium Musicum Hermann Diener dient … ja, mein Gott! er dient und dient u.a. der Verbindung von  Musik und Malerei, und das Thema erwischt mich auch nicht zum ersten Mal. Gestern allerdings ganz ohne Musik, nur eben dieselbe Zeit beschwörend. Oder vielmehr – die der Generation vorher, Aufbruchszeit des großen Musikwissenschaftlers Curt Sachs, der seine Dissertation über Andrea del Verrocchio geschrieben hat. Formenwelt der Musik und der Malerei. Gemeinsamkeit! HIER.

Schräges Feuilleton

DIE ZEIT Seite 40 WISSEN  22.12.21

Ich bin nicht so glücklich, wenn die ZEIT Musikthemen behandelt, weil allzu selten, und dann mit Vorliebe zu Pop-Größen. Oder die Musikjournalistin Christine Lemke-Matwey hat wieder einmal das Wort, durchaus interessant, aber zweimal in einer einzigen Ausgabe wie heute – das sieht nicht nach Vielfalt aus.  Ihr Tagebuch zum „Boosterglück“ spare ich mir, die ausführlich behandelte „Ausbrecherin“ Elisabeth Kulman (Seite 57) erträgt nur mit Vergügen, wer vorher live mindestens dies hier geliebt hat. Weitergeblättert also. Doch wenn es um die Musik im Großen und Ganzen geht, erscheint unter der Rubrik Musikwissenschaft ein anerkannter Nicht-Fachmann, der zweifellos vielseitige „Stimmt-das?“-Autor Christoph Drösser, – warum nur? Weihnachten ist nahe, und „Schräge Töne“ passen offensichtlich ganz gut zum Artikel auf der gegenüberliegenden Seite, wo die Kantorin Barbara Fischer über die Kraft des gemeinsamen Singens und »O du fröhliche« in der Pandemie spricht. Vor mehr als einem Jahrzehnt gab es schon mal heftigen Widerspruch aus dem Lager der Neuen Musik, die nach Drösser nicht massentauglich ist, und dann kam auch noch das passende Buch heraus:

2009 Rowohlt ISBN 978 3 498 01328 8

Und heute wieder dieselben Themen, dazu als ethnischer Blickfang – um nicht wieder einmal mit den Knochenflöten der Schwäbischen Alb anzufangen – die wilden Querflöten vom Mount Hagen Sing Sing Festival in Papua Neuguinea – und der provokative Hinweis auf den angeblichen Streit der Forscher, wozu Musik eigentlich gut sei. Schließlich wird zum Glück Melanie Wald-Fuhrmann genannt, s.a. hier, und ganz am Ende gibt es das geradezu kathartische Fazit: ein Defizit. Worin mag es bestehen?

Der Forscherstreit ist also noch lange nicht entschieden. Helfen könnten dabei musikethnologische Studien, denn immer noch wird die Debatte geprägt von einem sehr westlichen Musikverständnis, das Musik als »von Menschen organisierter Klang« auffasst. In anderen Kulturen werde nicht zwischen Klang und Bewegung unterschieden, dort sei Musik ein ganzheitliches, auch körperliches Erlebnis, sagt Melanie Wald-Fuhrmann vom MPI [hier]. Auf dieses Defizit immerhin können sich inzwischen alle beteiligten Wissenschaftler einigen.

Siehe auch ZEIT online (hinter Bezahlschranke) hier. Über Forscherstreit – eine angebliche „Kakofonie der Wissenschaft“ siehe – im Pandemie-Zusammenhang – Christian Drosten, zitiert in diesem Blog am Ende des folgenden Artikels: Corona Bedenken!

Wie wäre es, zuerst dies zu verstehen:

Was ist „Humanly Organized Sound“ ? – mit dem Ausblick auf „Soundly Organized Humanity“ …

1973

Ich kann gar nicht ausdrücken, wie genial ich das Konzept finde, das hinter einer Abbildung steckt wie der folgenden. Genial die Menschen, die es in Musik leben, und genial der Mensch, der es uns plausibel macht. Am Ende ist es aber gar nicht genial, sondern einfach – menschlich:

Beispiel auf Seite 29

Eins, zwei, viele?

Mein vorläufiger Kommentar

Ein Orchester kann bedeuten: eine Menge, die von Einem geführt und instrumentalisiert wird, oder: die angeleitet wird zusammenzuwirken, sich auf allen Ebenen zu ergänzen, damit sind symbolisch Millionen gemeint und von Liebe, Mut, Widerstand, gemeinsamer Freude ist die Rede. Es ist mehrdeutig, einer kann – auf unterschiedliche Art – alles auf sich beziehen (Ludwig XIV, Napoleon, Mozart, Beethoven, Wagner) oder: alle Mitwirkenden oder Zuhörenden können sich gleich wichtig finden, (Individuen in einer Gemeinschaft). Oder – angefangen mit einer Dreiergruppe – jeder kann einen Rhythmus vorgeben, sie können gemeinsam den gleichen Rhythmus produzieren, oder: sie können ihn kooperierend auf drei verteilen, so dass sich ein komplexeres Gefüge ergibt: nicht als hörbare Klanggestalt, sondern als spürbarer Sinngehalt.

Weltumseglung!

Warum musste James Cook sterben?

ZEIT Literatur Heft Oktober 2021 – Anregungen aller Arten, so auch diese, die uralte Erinnerungen wachruft und mit neuesten ethnologischen Recherchen verbindet:

Cooks Ende am 14. Februar 1779 nach Wikipedia (A Collection of Voyages round te World … Captain Cook’s First, Second, Third and Last Voyages ….“ Volume VI, London, 1790, page 1969) / unten: nach Walter Heichen 1949 = meine erste Begegnung mit Cook:

Es sind 2 Bücher (nicht 1 Foto in 2 Phasen), das linke aus dem Verlag Jugend und Volk Hildesheim (1949), das rechte aus dem A.Weichert Verlag Hannover-Berlin; letzteres habe ich vor ca. 10 Jahren antiquarisch erworben, als ich glaubte, das erste verloren zu haben. In der Kindheit hätte ich es nach Verlust des Originals als Ersatz kaum gelten lassen, denn nur Ttelbild, Text und Druck sind gleich, aber die Illustrationen des alten waren von M.Wulff, die des neuen von Rico Puhlmann. Das hätte kein Kind akzeptiert.

Ich las in erster Linie Tierbücher, „Robinson Crusoe“ war eine frühe Ausnahme und zog andere Seefahrergeschichten nach sich, nach James Cook auch Magellan, dann folgten „Gullivers Reisen“ oder (ganz entscheidend) „Mut, Mafatu!“, ein Südsee-Roman, der ohne Europäer auskam, aber einen ethnologisch klärenden Anhang besaß.

Dies war das früheste, ich konnte noch kaum lesen. Das weiß ich so genau, weil meine Mutter zumindest die letzten Seiten vorgelesen hat; sie saß bei meinen Großeltern auf dem Sofa, nach dem finalen Umblättern war ich nähergerückt, hockte auf der Lehne und sah gespannt dem Ende der Geschichte entgegen und – bemerkte eine sträfliche Wortvertauschung:  „… von einigen sehr merkwürdigen Begebenheiten, die ich selbst auf meinen weiteren Fahrten, zehn Jahre später, erlebt habe, berichte ich vielleicht einmal später“ – so las meine Mutter – „später einmal!!!“ schrie ich, was meine Mutter mit Gelächter quittierte; sie war stolz, dass ich sie ertappt hatte. Ich wollte noch viel mehr hören, aber leider stand da nur noch diese nichtssagende Zeile vom „Rotationsdruck“, die Fragen aufwarf und unbefriedigende Erklärungen. Auch James Cook endete unbefriedigend.

Aber jetzt endlich kommt die Auflösung der alten Geschichte, für mich rund 70 Jahre später. Es ist nie zu spät. (Siehe auch hier.) Nur für James Cook, und zwar rund 242 Jahre zu spät.

Siehe auch Marshall Sahlins, † 5. April 2021,  hier. James Cook hier. Zitat aus diesem Wikipedia-Artikel:

Ob er für den Gott selbst gehalten wurde, ist ein langjähriges Streitthema. Fest steht, dass seine Mannschaft durch ihr Verhalten die Einheimischen bald eines anderen belehrte. Spätestens als ein verstorbener Matrose an einem Platz beerdigt wurde, der nur Häuptlingen zustand, muss sich die Einstellung der Hawaiier gegen ihre Gäste gewendet haben. Da Cook zwei Tage später, am 4. Februar 1779, aufbrach, kam es nicht mehr zu Tätlichkeiten. Als er jedoch am 11. Februar wieder zurückkehrte, um einen im Sturm beschädigten Mast der Resolution zu ersetzen, waren die Beziehungen bereits ruiniert. Es kam zu einem Kutter-Diebstahl durch die Einheimischen. Bei dem Versuch, den König […] als Geisel an Bord des Schiffes zu bringen, um den gestohlenen Kutter zurückzuerhalten, kam es dann zum Eklat.

Cook wurde am Strand aufgehalten und von einer großen Menge bedrängt. Ein erster Schrotschuss, den er aus seiner doppelläufigen Flinte abgegeben hatte, zeigte keine Wirkung, weil die Kugel im Schild eines Angreifers steckenblieb. Mit einem zweiten Schuss tötete er einen Angreifer. Als er sich daraufhin zum Erteilen von Befehlen umdrehte, wurde er von hinten niedergestochen. Er fiel mit dem Gesicht ins Wasser, wurde herausgezerrt und niedergemetzelt. Vier Marineinfanteristen und einige Hawaiier ließen bei diesem Ereignis ebenfalls ihr Leben.

Quelle Wikipedia „James Cook“ a.a.O.

Das neue Buch: Marshall Sahlins: Der Tod des Kapitän Cook / ISBN 978 3 2844 7

vorweg: 

Marshall Sahlins (abschließend)

Oben: Kleiner Druckfehler – die Jahreszahl bei Nathaniel Dance sollte 1776 sein.

Wann war die tolle Bonner Ausstellung, an die ich mich jetzt erinnerte (2009), – zugleich aber auch an einen prächtigen Bildband von damals, den ich in irgendeiner Ecke des Hauses, die von Bildbänden überquillt, eingeordnet und vergessen haben muss. Er ist wieder da. Jetzt scheint mir, als habe mich Captain Cook mein Leben lang begleitet. Fast wie Bach oder Beethoven, deren Zeitgenosse er war (für den einen zu spät, für den andern zu früh). Wegen „Übergröße“ des Buches ist meine Wiedergabe leicht beschnitten.

ISBN 978-3-7774-2121-6

Auch dieser Band enthält eine plausible Darstellung der Missverständnisse auf Hawaii: „Geschichte aus unserer Sicht – die hawaiianische Perspektive“ / von Rocky K. Jensen und Lucia Tarallo Jensen (Seite 34-36) in der Lit.-Liste wird auch Sahlins (1981) aufgeführt.

Absprung

Inzwischen habe ich mich soweit in dieses Buch vertieft oder soll ich sagen: ich habe es unzureichend studiert, nämlich nur kursorisch von Anfang bis Ende durchgeblättert, was aber genügt, um mich feststellen zu lassen: ich verstehe es nicht, es wird mich in eine Krise stürzen. Und diese Erfahrung mache ich nicht zum ersten Mal: es geschieht immer, wenn ich mit Wissenschaftlern in Berührung komme, die von der französischen Anthropologie geprägt sind. Genauer: solche, die Saussure und Baudrillard studiert haben, oder vielmehr: Claude Lévi-Strauss, den ich selbst, nachdem ich einige seiner Werke mit Staunen und Bewunderung gelesen hatte, für einen verwirrenden und genialen Dilettanten hielt. Es gibt bei ihm eklatante Fehler zumindest im musikalischen Verständnis. Ich habe ergebnislos mit Leuten diskutiert, die darauf aufbauten. Habe den Kontakt verloren oder aufgegeben, auch zu – in meinen Augen – hervorragenden Wissenschaftlern, die hervoragende Sendungen gemacht hatten (z.B. über südafrikanische Themen) und dann sich in „die Franzosen“ vertieften und von heute auf morgen „absurde“ Theorien in einer „eigenen“ Sprache und Nomenklatur entwickelten. Es war die Zeit, als auch ein Buch erschien mit dem Titel „Eleganter Unsinn“ (man lese z.B. darüber hier, und wieder ist man ratlos). So verlor ich den Kontakt – um einen Namen zu nennen – zu Veit Erlmann (aus Durban oder Johannesburg), der später in Texas lehrte. Es könnte mein Fehler sein, aber mir wird schwindlig, und es macht mich unproduktiv, wenn ich versuche, dieses Denken bzw. diese Sprache zu durchdringen. Wie angedeutet: ich kann mich irren, aber ich möchte niemandem zugeraten haben, sich auf diesen Weg zu begeben. Notiere mir allenfalls noch ein Unternehmen, das ich jetzt, während ich diese Worte schreibe, entdeckt habe und das mich vielleicht eines anderen belehren könnte: hier. KlangDenken – Auditive Kultur.

Reden Wählen

Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken

Dies ist fast der Titel eines berühmten Essays von Heinrich von Kleist, woraus ich allerdings gar nichts zitieren will. (Auch dürfte ihm getrost widersprochen werden.) Eher aus einer Talkshow, die mir bei der Verfertigung von Gedanken wirklich hilft. So wie kürzlich Navid Kermani hier (4 Minuten Empörung).

ZITAT (aus diesem Text hier )

Während am Mittelmeer die Wälder brennen, unsere Außenpolitik in Afghanistan zertrümmert wird und die Corona-Zahlen steigen, scheint der Personen-Wahlkampf wie eine intellektuelle Zumutung.

Es gäbe so viel zu diskutieren. So macht sich zum Beispiel die Linke in ihrem Programm ausführlich Gedanken darüber, wie die Energiewende sozialverträglich gestaltet werden kann. Liest man gleiches Thema bei der SPD, so scheint Energiewende kein Sozialthema zu sein. Über solche Unterschiede sollten wir mehr sprechen.

Die entscheidende Frage ist: Was wählen wir denn eigentlich am 26. September? Klar wählen wir indirekt auch den künftigen Kanzler bzw. die künftige Kanzlerin, die das Land ein Stück weit prägen. Aber zunächst einmal wählen wir die neuen Abgeordneten des Bundestags. Menschen, die unsere Interessen in politische Handlungen münden lassen sollen. Die Hälfte von ihnen wird deshalb direkt gewählt, die andere Hälfte über Listen. Den Parteien kommt bei der Wahl eine dreifache Aufgabe zu: Sie kümmern sich zunächst – neudeutsch gesprochen – ums Personalrecruting. Sie bündeln dann politische Inhalte zu Wahlprogrammen. Und sie helfen nach der Wahl dabei, im Bundestag eine Regierung zu bilden. Erst ganz am Ende wird ein Kanzler bzw. eine Kanzlerin gewählt.

Quelle der beiden Zitate siehe oben (Link in Klammern)

Dann „Markus Lanz“, egal wie Sie – liebe Leser/innen – ihn finden, oft erlebt man Sternstunden einzelner Menschen. Große Inspirationen und Ausblicke. Oder einfache und ehrliche Statements. Ich empfehle etwa bestimmte Einstiege, sie finden das zum Beispiel hier (bis 1.9.2022), beginnend mit dem Journalisten Ulf Poschardt ab 1:02:45 , dann gleich anschließend die Juristin Homaira Hakimi  ab 1:10:17 oder auch jederzeit vorher (z.B. ab 48:40).

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Zum Schluss eine Erinnerung an WDR-Freund Klaus Bednarz, der mir 1985 den Weg nach Georgien erschloss (Aufnahmereisen 1986 und 1988), unvergesslich, wie hier in seiner Sendung MONITOR am 8.11.2001 betr. Afghanistan das Gedicht von Theodor von Fontane, bestürzende Daten: 2001 und – 1859.

Dank für den Hinweis an das Ehepaar Hütten.

KONGO AFRIKA WELT

Der Film MAKALA

Eine Dokumentation oder vielmehr: ein Kunstwerk?

Im Gespräch über diesen Film fällt unweigerlich sehr bald der Name Sisyphos. Ein Mythos von der Vergeblichkeit aller menschlichen Anstrengungen. „Eine Odyssee im Alltäglichen“ – alltäglich in einer für uns unvorstellbaren Welt. Die Zerstörung der kargen Umwelt des Dorfes, dargestellt an einem einzigen Beispiel: Ein mittelloser Mensch mit Familie draußen in der „Pampa“ baut eine Hütte, ist angewiesen auf die Umwandlung von naturgegebener Ware und eigener Arbeitskraft in Geld, er braucht z.B. Medikamente für ein krankes Kind. Man sieht, wie seine Frau auf der Feuerstelle eine Ratte zubereitet. Elend und Zerstörung der Umwelt. Das Fällen eines Baumes, die Umwandlung des Holzes in Holzkohle, der lange Weg zum Ort der Verwertung, wo man die Kohle zum Kochen braucht; wo es keine anderen Energiequellen gibt. Befremdend und erschütternd: die Größe dieses Lebens. 30 km, 50 km von der nächsten Stadt, Kolwesi, Walemba in der Provinz Katanga im Süden der Demokratischen Republik Kongo (früher einmal Belgisch-Kongo). Und dann fällt der Satz: „hier gibt es keinen funktionierenden Staat“ .

Ich würde zuerst 40 Minuten Film sehen, dann ein Pause machen und das Gespräch mit dem Filmemacher Emmanuel Gras anhören, um dann zurückzukehren und den Rest des Filmes wahrzunehmen. Bis er gegen Schluss in eine Art Gottesdienst mündet, einen Gemeindegesang, zum Weinen hoffnungslos. Aber auch die Musik, die den ganzen Film begleitet, sparsam, rätselhaft – ist es ein Cello, elektronisch aufgesplittert, auf der Suche nach dem Innenraum der Töne?

hier (bis 25.02.2022)

Aus dem Pressetext:

Emmanuel Gras begleitet im Kongo einen jungen Mann, der in einem Dorf im Süden des Landes ein größeres Haus für seine Frau und seine beiden Kinder bauen möchte. Die Kamera begleitet ihn auf seinem Weg und fängt die Landschaft und die wunderschöne Naturkulisse ein. Die Zuschauerinnen und Zuschauer erleben jeden Schritt, jede Begegnung hautnah mit. Die Botschaft der Dokumentation ist eindeutig: Sie prangert die soziale Ungerechtigkeit an. Der klare Aufbau der Dokumentation lässt viel Raum für ausdrucksstarke Aufnahmen. Sei es in ästhetischer, emotionaler und politischer Hinsicht – „Makala“ ist der Beweis, dass man auch mit einfachsten Mitteln einen ausgezeichneten Film drehen kann.

(Der Pressetext gefällt mir nicht. Es geht nicht um diesen Beweis. Hier wird auch nichts angeprangert, es wird gezeigt. JR)

Interview mit dem Filmemacher Emmanuel Gras hier (bis 31.05.2027)

Musik: Gaspar Claus (hier) Frappierend für mich: plötzlich wird mir klar, dass ich zwar ihm, dem Cellisten, nie begegnet bin, wohl aber mehrfach seinem Vater, dem Flamenco-Gitarristen Pedro Soler, seit Anfang der 80er Jahre (WDR-Matinee u -Festival?). Frage: Hieß dessen Manager nicht mit Nachnamen Claus? War dessen Schwester etwa … (schon wieder eine Recherche-Aufgabe)?

Raub, Kolonisation, Menschenverachtung

Sehen, Hören & Lernen!

 

Katalog und Arbeitsbuch Herausgegeben von der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit 1988

FILME ARTE DOKUMENTATIONEN

Obiges Video im externen Fenster hier.

Stichworte: Haiti Geschichte hier / Anténor Firmin s.a. hier / Paul Broca 19:15 Kongo Kautschuk Alice Sealey Harris Fotos 25:10 Deutsch SW-Afrika HERERO 26:27 Mengele 28:00 Sport in Brit. Kolonien / Calcutta Mohun Bagan 30:00 Fußball (1911) /  La Force Noire (1916) 33:00 Senghor / Kenia Nairobi Harry Thuku

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HEUTE: Afrikanische Kunst im europäischen Museum?

ZITAT

So landete die Schau just in jenem Museum, das von seinen Beständen her am tiefsten in der Klemme sitzt. Denn unweigerlich stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage von Kulturgutbesitz und eventueller Rückgabe in die Ursprungsgebiete. Ein im Katalog dokumentiertes Begleitprogramm zur Ausstellung befragte alle beteiligten Künstler nach ihrem Verhältnis zu Afrika und zur Restitutionsproblematik. In der Vielfalt der Antworten spiegelt sich die Komplexität dieses Themas. Er sei gegen die Rückgabe, erklärt unumwunden der plastische Künstler Calixte Dakpogan aus Benin, denn die Werke hätten außer Landes einen größeren Wert. Eher, als museale Kunsträume in ihrem Land zu schaffen, sollte man die dort noch lebendigen Kulturoasen der Dörfer und Regionen vor zerstörerischen Entwicklungsprogrammen schützen, erklärt ihrerseits die Gabunerin Myriam Mihindou.

Quelle Süddeutsche Zeitung 29. Juni 2021 Die Epoche Post-Primitivismus / Eine Pariser Ausstellung will mit den Klischees über das afrikanische Kunsterbe aufräumen / Von Joseph Haniman / abrufbar SZ online hier.

Zugang HIER oder medias in res (wie folgt)

Zur Kultur- und Selbstkritik

Was ist die neue Hyperkultur?

Es ist ein langes Zitat, das ich seit ein paar Tagen glaube bewältigen zu müssen. Eine klare Analyse unserer Zeit, der Gesellschaft, oder des Teils der Gesellschaft, dem ich angehöre, und das deprimiert mich, – vorübergehend, wie ich vermute. Aber ich muss es analysieren, um es zu relativieren. Den Versuch zumindest möchte ich machen und auch irgendwie dokumentieren. Also: das psychologische Problem und die Heilungsmaßnahmen.

Andreas Reckwitz:

Wir haben schon gesehen, dass der singularistische Lebensstil der neuen Mittelklasse die gesamte Welt-Kultur aller Orte, Zeiten und sozialen Herkünfte als verfügbare Ressource für die eigenen Selbstverwirklichungswünsche behandelt. Kultur wird aus dieser Perspektive nicht – wie im traditionalistischen Kulturverständnis – innerhalb der eigenen sozialen Gruppe reproduziert, sondern hat sich in eine Ressource in Gestalt eines heterogenen Feldes von Aneignungsmöglichkeiten verwandelt. In dieser Hyperkultur kann potenziell alles zur Kultur werden, das heißt zu einem Objekt oder einer Praxis, das oder die einer ästhetischen, ethischen, narrativ-semiotischen, ludischen oder kreativ-gestaltenden Aneignung zugänglich ist. Die Elemente dieser Hyperkultur zirkulieren global und transhistorisch, daher kennt sie praktisch keine Grenzen. Die in ihr zirkulierenden Objekte und Praktiken sind einerseits unterschiedlich und singulär, andererseits befinden sie sich gerade in ihrer anerkannten Differenz im Prinzip alle auf derselben Ebene. Anders gesagt: Die Hyperkultur hat keine vorgefertigten Präferenzen, sondern macht Offerten. Diese De-jure-Gleichberechtigung kultureller Elemente bedeutet, dass klassische Grenzen des kulturell Wertvollen aufgelöst werden, insbesondere die zwischen dem Gegenwärtigen (Modernen) und dem Historischen, zwischen Hochkultur und Populärkultur sowie zwischen der eigenen und der fremden.

Die Renaissance des Historischen darf im übrigen nicht mit einem simplen Historismus verwechselt werden, denn keineswegs wird nun umgekehrt das Gegenwärtige und Moderne gegenüber einer imaginären Klassik abgewertet.* Vielmehr gilt, dass die Hyperkultur die Wertgrenze zwischen dem Gegenwärtigen und dem Historischen auflöst und durch einen unterschiedslosen Zugang zu beiden Sphären ersetzt.

Eine zweite Grenze , die hyperkulturell aufgelöst wird, ist die zwischen Hochkultur und Populärkultur. Alle empirischen Untersuchungen zeigen, dass die traditionelle Hochkultur – der klassischen Musik, der Literatur, der bildenden Kunst etc.-, wie sie für die bürgerliche Lebensführung prägend war, für die neue Akademikerklasse ihren privilegierten Status als Ausdruck des legitimen Geschmacks verloren hat. Vielmehr greift man nun vorurteilslos auch auf vormals eindeutig als populärkulturell qualifizierte Quellen zurück: Man besucht Pop-Konzerte , schaut Hollywood-Blockbuster oder begeistert sich im Fußballstadion. Richard Peterson und andere Kultursoziologen haben daraus den Schluss gezogen, dass der postmoderne Kulturkonsument zu einem „Allesfresser“ (omnivore) geworden sei.* Diese Diagnose muss jedoch präzisiert werden, denn es geht hier nicht um eine wie auch immer entstandene Geschmacksdifferenz. Erneut ist der entscheidende Punkt, dass nun potentiell alles geeignet ist, zur Entfaltung eines nach Authentizität und Selbstverwirklichung strebenden Lebensstils beizutragen. Damit können auch populärkulturelle Objekte und Ereignisse interessant und anziehend werden – unter der Bedingung, dass sie als authentisch erfahrbar sind. Auch hier gilt Analoges wie bei der ersten Grenzauflösung: Klassisch hochkulturelle und bildungsbürgerliche Objekte verlieren keineswegs ihre Relevanz, sondern erleben sogar eine Renaissance, ablesbar am Boom der Museen und Konzerthäuser seit den 1990er Jahren, die sich freilich der gleichen Authentizitätsbedingung zu unterwerfen haben. Auch die Hochkultur wird ausgesondert, wenn sie als unecht, langweilig, steif und erlebnisarm erfahren wird; und auf die Populärkultur wird verzichtet, wenn sie primär billig, kommerziell, primitiv und „aus der Retorte“ wirkt.

Die Hyperkultur löst schließlich auch die strikte Grenze zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“, zwischen Kulturkreisen, Nationen oder Regionen auf. Für den singularistischen Lebensstil gibt es keinen Grund mehr, Objekte und Praktiken der eigenen Kultur gegenüber jenen, die aus anderen Kulturen stammen, vorzuziehen. Der Grund dafür ist zunächst kein politischer oder moralischer, sondern im Selbstverwirklichungsstreben und dessen beständiger Suche nach andersartigen Erfahrungen verankert: Ein kultureller Ethnozentrismus würde schlicht eine Einschränkung jener Erlebens- und Valorisierungsmöglichkeiten bedeuten, welche die Welt-Kultur bietet. Das ehemals „Fremde“ wird so zur potenziellen Quelle der Bereicherung des Selbst, entsprechend wird „der bunte Mix“ der Kulturen in der Metropole von der neuen Mittelklasse als anregender empfunden als die öde Monokultur der alten Industriestadt. Auch hier regiert nicht das Entweder-oder, sondern das Sowohl-als-auch: Man muss sich nicht zwischen dieser oder jener Kultur entscheiden, sondern kann problemlos kulturelle Versatzstücke aus indischer Spiritualität, italienischer Früherziehung, lateinamerikanischer Bewegungskultur und deutschem Ordnungssinn miteinander kombinieren. Vor dem Hintergrund des Fremden kann dann auch wieder eine partielle Rückbesinnung stattfinden. Angesichts der Vergleichsmöglichkeiten schaut man auf das Eigene – die schwäbische Küche, die Küste der Nordsee oder Franz Schubert – mit der Brille des Fremden und findet es ungeahnt bereichernd.

Die eben angesprochene Haltung des Sowohl-als-auch, die bei allen drei Grenzauflösungsprozessen eine Rolle spielt, verweist darauf, dass das Subjekt der neuen Mittelklasse eine transhistorische und interkulturelle Switching-Kompetenz entwickelt. Es ist eben kein beliebiger „Allesfresser“, sondern in der Lage, mühelos zwischen dem Zeitgenössischen und dem Historischen, dem Populär- und dem Hochkulturellen sowie zwischen den Kulturen hin und her zu wechseln – immer auf der anspruchsvollen Suche nach dem Singulären und Authentischen. Dabei kristallisiert sich etwas heraus, was man als die kulturelle Conaisseurhaftigkeit der neuen Mittelklasse bezeichnen kann:* Man entwickelt bezogen auf die valorisierten kulturellen Objekte häufig eine ausgesprochene Kennerschaft, welche das Singularitätserleben noch intensiviert, da erst so die Komplexität des Objekts wahrnehmbar wird. Diese Connaisseurhaftigkeit, die man aus der klassischen Hochkultur (Literaturkenner) ebenso kennt wie aus Segmenten des bürgerlichen Lebensstils (Weinkenner), wird nun auf alle anderen, auch ursprünglich populärkulturellen Objekte und Aktivitäten ausgedehnt, die man in seinen Lebensstil integriert: auf Computerspiele oder die ausgefeilten Techniken des Kochens, auf Musikbands oder die Reiseziele Südfrankreichs, auf Vintage-Mobiliar, Rennräder und das Herstellen von Marmelade, auf das Werk von Gilles Deleuze oder die Geheimnisse der Sneaker-Kultur. (Seite 301)

Zusammenfassend ist das Subjekt der neuen Mittelklasse durch einen Kulturkosmopolitismus charakterisiert.* Kultur erscheint ihm als globales Reservoir, reich gefüllt mit vielfältigen Elementen, die jeweils ihre eigene Berechtigung und ihren eigenen Wert haben und potentielle Gegenstände der Aneignung durch das nach Authentizität trachtende Subjekt sind: hier gibt es keine Besitzansprüche seitens verschiedener Herkunftsgemeinschaften mehr, sondern jedes kulturelle Element ist zumindest potentiell mit jedem kombinierbar.* Der Kulturkosmopolitismus ist gewissermaßen ein Globalismus, der vom Wert der Vielfalt des Lokalen lebt. Er schätzt nicht jene globalen Objekte und Praktiken, die überall gleich sind, sondern die lokalen Besonderheiten, die authentischen Singularitäten, die jedoch global zirkulieren müssen, um überhaupt zugänglich zu sein. Und er beruht emphatisch auf Offenheit, die neben der Kreativität zum scheinbar alternativlosen Leitwert der spätmodernen Hyperkultur avanciert ist. Vorausgesetzt im Kulturkosmopolitimus ist das scheinbar selbstverständliche Gefühl des Berechtigtseins , über die Weltkultur in allen ihren Facetten zur Bereicherung des eigenen Lebensstils verfügen zu können.* Das Subjekt der neuen Mittelklasse beansprucht das Recht, sich Kulturelemente zu eigen, das heißt zu Eigenem zu machen – auch solche aus Gegenkulturen, aus der working class culture oder aus anderen Traditionen, die nicht seine eigenen sind.

Damit zieht der Kulturkosmopolitismus seine eigene Wertgrenze: gegen das abgewertete Provinzielle, dem es aus dieser Sicht an Offenheit gegenüber der Vielseitigkeit mangelt, auch an kultureller Souveränität und Kennerschaft; das Provinzielle erscheint als in geschlossenen Grenzen gefangen. Die Provinzialität hat aus der Sicht der kosmopolitischen Akademikerklasse vor allem in der Unterklasse (zumindest in der einheimischen, sesshaften Fraktion) und im „kleinbürgerlich“ scheinenden alten Mittelstand ihren sozialen Ort. Die Unterscheidung Kosmopolitismus/Provinzialismus wird so zu einem zentralen Schema des symbolischen Kampfes der Spätmoderne. Die neue Mittelklasse ist dabei sowohl in ihren Grundzügen als auch in den Details ihres Lebensstils eine globale Klasse. Sie ist nicht nur in den USA, in Deutschland, Frankreich, Schweden, Italien etc. sowie in den sich rasant modernisierenden Ländern wie China in ähnlicher Weise tonangebend, ihre kulturellen Muster erweisen sich auch über nationale Grenzen hinweg als ähnlich.*

Quelle Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten / Zum Strukturwandel der Moderne / Suhrkamp Berlin 2017 Wissenschaftl. Sonderausgabe 2019 (Zitat ab Seite 298) Anstelle der * befinden sich im Original Zahlen mit Anmerkungen und Quellenhinweisen.

(Fortsetzung folgt)

JR

Als Ergänzung und Kontrapunkt ist zu lesen: „Bürgerlichkeit als soziale und kulturelle Erscheinung“ im Wikipedia-Artikel Bürgertum. Siehe auch Mittelschicht.

Des weiteren: „Bürgerliche Musikkultur“ von Barbara Boisits.

Und vielleicht sogar – auf mich „privat“ bezogen – in diesem Blog unter dem Titel Museum und integrales Konzert hier.

Melodie & Rhythmus

Iran – Südindien

(Vorweg: lassen Sie sich nicht irreführen durch die Mimik des Protagonisten auf den Videos weiter unten, es handelt sich nicht um einen Komödianten, sondern um einen kenntnisreichen Rhythmiker…)

Um einzelne Parameter aus dem Gesamtblock der musikalischen Möglichkeiten herauszuarbeiten – was können wir da tun? Bescheiden bleiben, Pausen einlegen, sich nicht überfordern? Nein, man muss anfangen, an jedem Tag, ab Neujahr und bis Silvester – nicht zu bescheiden, vor allem nicht kleinmütig, aufs Ganze gehen, ziemlich hoch pokern, ja, nach den Sternen greifen, ich sage: alles was ich will ist alles! Ich will teilhaben an allem, was ich greifen (begreifen) kann, ein Stück Holz bearbeiten, einen Fußball auf der Zehenspitze jonglieren, und alles amalgamieren, was Menschen kreativ hervorbringen. Und jeden beobachten, der etwas Unbegreifbares lernt. Ich sage das, aber es gilt für alle.

In etwa dies. Und morgen etwas anderes. Ich erinnere mich zum Beispiel, wie es mich enthusiasmiert hat, als ich die folgende Sammlung entdeckte, das war 1996. Konnte ich ihr als Mensch genügen? Nein, aber immer wieder werde ich darauf zurückkommen, werde mich begeistern für alles, was es in der Musik gibt und was mir etwas gibt. Bis an mein Lebensende, sage ich ohne Übertreibung. Oder soll ich etwa sagen: nein, jetzt ist zu spät? Oder: (noch viel schlimmer): kenn ich schon…

französisch

englisch

Kürzel unter den Artikeln: J.D.= Jean During, J.L.= Jean Lambert

Habe ich an dieser Stelle (Anmerkg. Libanon) nicht damals doch gesagt: kenn ich schon? Gottseidank! Mein gutes Jahr 1969! (Es begann eigentlich 1967.) Das hätte also sein können, – der Name, der da unten in roter Schrift steht, findet nähere Erklärung in dem Blog-Artikel „Arabisches Melisma“ hier.

Ginge es um iranische Musik, hätte ich sicher den Ausdruck „Tahrir“ darübergesetzt, der lexikalisch immer nach Kairo führt, für mich aber vor allem den unvergesslichen iranischen (fast gejodelten) Triller bezeichnet, der also gesungen wird. Ich schreibe es hierher, um mich daran zu erinnern (und an Ali Attar, der vor vielen Jahren eine WDR-Sendung darüber gemacht hat). Merkwürdig, dass diese sehr auffällige und ausdrucksvolle Technik oft sehr beiläufig behandelt wird, wie hier bei dem besten westlichen Kenner iranischer Musik Jean During:

Wichtig: die Ornamentation gehört zum wesentlichen Bestandteil der traditionellen iranischen Kunstmusik. Man kann sie nicht auf punktuell definierte Melodien reduzieren, selbst wenn jeder einzelne Ton manuell angerissen wird, wie bei den Langhalslauten TAR (zwei Klangkörper) und SETAR (ein Klangkörper).

Quelle Jean During: La Musique Iranienne. Tradition et Evolution / ISBN 2 86538-087-4  Institut Français d’Iranologie de Téhéran Bibliothèque Iranienne No.29 [den Autor kennenlernen? Radiosendung in frz. Sprache hier]

Dank für die Links an Manfred Bartmann!

Noch nicht alles verstanden? Vielleicht zuviel verpasst? Also: weiter zurückgehen!

Zur Entspannung:

Der Ton des Schilfrohrs

Duduki, Zurna, Shannai – ein Lebenswerk

 

     

Ein wunderbares Buch (Privatdruck), auch eine graphische Meisterleistung aus der Werkstatt Martina Irion, Stuttgart.

Siehe auch hier

Und noch eine gemeinsame Erinnerung an damals:

 

Man sieht es an dem Zusatz „UdSSR“ – hinter jedem Bild steht eine Geschichte, z.B. der vorangehende Auftritt des Ensembles „Rustavi“ beim WDR-Festival in Bonn, die vorangehenden Reisen über Moskau nach Tblissi (mit Klaus Bednarz als Vermittler) …

Siehe auch in meinem provisorischen Lebenslauf Oktober 1988 HIER

Ethnologie im Alltag

Eine Sammlung 

Ich kam darauf, als ich heute die Zeitung las, ein Foto des wieder mal erfolgreichen Lewandowski, der zweisame Torjubel, hinter den beiden ausflippenden Kontrahenten die leere Zuschauertribüne, wie trostlos. Jedes „Geisterspiel“ im Fernsehen – wie jüngst Leverkusen gegen Mailand – wirkt wie ein Ersatzspiel, ein Spiel das – trotz Lukaku – ohne die riesige Echokammer des physischen Publikums ein Geisterspiel bleibt, ganz besonders mit Fanjubel-Einspielern wie hier. – In der Post die Ankündigung einer neuen Reihe der Pianistenelite, und man reagiert nicht enthusiasmiert, bis man den jungen Mann entdeckt, den wir nachts im Fernsehen wie aus der Nähe gesehen haben, Alexander Krichel, sympathisch moderierend, Beethoven, Liszt, im Autokino Iserlohn („Liebe Musikfreunde, sehr verehrte Damen und Herren, liebe Autos!“), ein ganz großes Talent, – will man ihn nicht lieber live aus mittlerer Nähe erleben? Ohne beifälliges Hupen und blinkende Scheinwerfer. Ich glaube nicht, da lag auch ein Merkblatt mit Coronamaßnahmen bei. Und dann so viele große Talente hintereinander, alle mit Tasten unter den Händen, aber das ist vielleicht nicht das, was unter den Nägeln brennt. Oder im Ernstfall dann eben doch?! Ist ein Musikleben ohne Konzertsaal oder Theater denkbar? Nur mit Medien? Oder unter Wasser zum Beispiel, bei sehr knappem Lebensraum? Ob die Buckelwale sich – singend – über weite Strecken auch mit Kunstwerken versorgen? Oder melden sie einander den topografischen Ort der auf Korallenriffen gestrandeten und auslaufenden Öltanker? Kann man sich der nagenden Verzweiflung erwehren?

Aus dem Garten die Rufe der Taube, Ringeltaube, Türkentaube, – was denn nun? dieselbe, die Erich Moritz von Hornbostel versucht hat zu notieren (bitte abbilden!) – sie nervt, weil sie eine Menschenstimme karikieren könnte, eine jammernde alte Frau mit ihrer Kopfstimme,

und immer dasselbe, mit diesem Abbruch auf dem „Auftakt“, das Vorläufige, das darin anzuklingen scheint, sie wollen ja nur das Eine – ich denke an die Kaluli in Papua-Neuguinea, wie Steven Feld die Vogelstimmen erforscht hat und die zugehörigen Mythen vom Muni-Vogel, ob es für ihn auch so dämlich klang, nur dass er es den Kaluli zuliebe ernst nehmen musste? Aber es ändert sich ja auch schnell, wenn man es mit großer Aufmerksamkeit hört, z.B. nach verschlüsselten Aussagen sucht (Quatsch, nur als Beispiel gemeint). Heute Nachmittag kommt ein Film in ARTE, den ich wohl kenne und kritisiert habe, war das in Ordnung? Die Langeweile im Urwald, der Forscher, der mit seinem lästigen Team einfach zu lange blieb und im Grunde nicht interessiert war (so schien es mir). Neu verlinken! Das gibt es also ab heute Nachmittag noch einmal auf ARTE.

HIER

https://www.arte.tv/de/videos/083918-001-A/west-papua-mein-jahr-bei-den-korowai-1-3/

Und damals:

Neue Welt Papua

Was hatte JMR über die bedeutenden Menschen geschrieben (Thema Blumenberg, Adorno, Hegel).

hattest Du den tollen Aufsatz über Adorno und Blumenberg lesen können
gestern? Das bleibt ja faszinierend, wie große Geister aneinander
vorbeileben können... - und es gibt ja heute MEHR große Geister
gleichzeitig als zur Zeit von Hegel oder Kant. Weil es MEHR MENSCHEN gibt.

Così fan tutte noch einmal hören und sehen, vorher Excursions in World Music  repetieren (Anfang über Figaro, Bruno Nettls Vater Paul war Mozart-Forscher). Die Nebenfigur wichtiger nehmen. Habe ich erst nachträglich gescannt, obwohl sie mir besonders aufgefallen war(en).

  noch abrufbar hier

Das Fischer-Buch für das Mozart-Jahr 1956 fesselte mich schon früh:

  Paul Nettl

   Bruno Nettl

Oben: ISBN-13: 978-0-13-188785-5  //  ISBN-10: 0-13-188785-8 //

Die großartige Widmung dieses Buches an John Blacking:

(Bei dieser Gelegenheit erfahren, dass Bruno Nettl leider am 15. Januar 2020 verstorben ist.)

Nachzutragen: das unerhört kluge Gespräch Alexander Kluge / Vogl über Corona, aber auch die Wahrheit über Hegels Tod…

Kluge: Stellen Sie sich vor, Außerirdische kämen zu uns. Die haben keine Erfahrung, sie würden uns umbringen aus Ungeschicklichkeit. So ist es mit diesen Coronaviren, Außerirdische vom selben Planeten. Die kommen aus einer anderen Evolution. Und es ist ein absoluter Zufall, dass sie unsere Lungen anfallen. Die nehmen nicht „Lunge“, „Atmen“, „Mensch“ wahr, sondern „warm“ und „hochinteressante Art von Feuchtigkeit“.

Vogl: Es ist eigentümlich, dass diese Wesen, die weder lebendig noch tot sind, irgendwie lebende Kristalle, dass diese Wesen gerade dadurch herausfordern, dass sie einen Vorsprung an praktischem Wissen zu haben scheinen, dem Virologen, Epidemiologen, Hygieniker, Politiker notgedrungen hinterherlaufen.

Kürzlich hatte ich begonnen, einen Text über Neue Musik (Nono, Sciarrino) zu lesen, – dem Vorsatz nach: wie Clifford Geertz den Text einer Kultur liest, indem er dem Schreibenden über die Schulter schaut -, und jetzt lese ich aufs neue den Beginn eines geschriebenen Textes über ein geschriebenes Buch, das sich mit Resonanz in unserer Weltbeziehung beschäftigt, als etwas durchaus Nicht-Geschriebenes, ich lese den Anfang gewissermaßen laut, indem ich ihn herauslöse bzw. abschreibe:

Welche Rolle spielt Musik für die Menschen und deren Weltbeziehung? Der Umgang mit Musik in alltäglichen und außeralltäglichen Situationen hat in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere aufgrund technologischer Entwicklungen der Speicherung, Übertragung und Wiedergabe von Musik (Tonträger, Radio, Internet, mobile Abspielgeräte) stark zugenommen. Doch was genau machen Menschen mit Musik und was macht Musik mit den Menschen? In der Gegenwart gibt es einerseits starke Tendenzen zu einer Instrumentalisierung von Musik, etwa als Wachmacher, als Mittel der Entspannung, zur Erlebnisintensivierung oder Stimmungsregulation. Andererseits zeigt sich jedoch ein ungebrochenes Verlangen nach neuen, unerwarteten Musikerlebnissen, nach Berührt- und Ergriffenwerden von Musik, nach der Erfahrung eines ‚Anderen‘ in und durch Musik. Gerade in dem Umstand, dass dieser Wunsch nicht immer eingelöst wird, dass also tiefgreifende, den Menschen berührende Musikerfahrungen stets unverfügbar bleiben, zeigt sich die Macht der Musik als eines Gegenübers, zu dem das Subjekt in eine mehr oder weniger ‚resonierende‘ Beziehung des Gebens und Nehmens treten kann.

Quelle Martin Pfleiderer und Hartmut Rosa: Musik als Resonanzsphäre / in Musik & Ästhetik Heft 95 Juli 2020 (Seite 5)

Andererseits lese ich alle paar Tage langgesponnene Texte, denen ich kein Wort glaube. Zum Beispiel kürzlich über die Aufnahme der Bach-Solosonaten und – Partiten mit Thomas Zehetmair, und zwar in einem Internet-Magazin von kostbarer Aufmachung, genannt Klassik.info, also hier: Klassik.info , darin allzu vieles, was man nicht recht versteht, was einen ratlos macht, kann man auch besten Gewissens beiseitelegen. Ein Beispiel. Mich stört schon die (zufällige) Assonanz an Rilke:  „… ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht.“

ZITAT

Ganz anders Zehetmair. Er tanzt auch, aber nicht am Hof. Er wirbelt sich mit seiner Virtuosität geradezu in eine Trance, in deren Mitte Momente schwereloser Intensität entstehen.

Das beginnt von der ersten Note weg. Das Allegro der g-Moll-Sonate setzt ein Fragezeichen und damit das Ostinato für die gesamte Interpretation: ein befreiendes, improvisatorisches Fragen. Die Fuge dann öffnet den Klangraum zu einer musikalischen Suche, die zwischen pulsierendem Drang und stotterndem Grübeln alles Höfische und Ornamentale verflüssigt zu einem expressiven Glutkern. Selbst die Arpeggien auf dem emotionalen Höhepunkt – in den meisten Einspielungen ein unüberwindbares Geklippe – werden mit atemberaubender Eloquenz in diese Ästhetik eingebunden. Zehetmairs Agogik folgt einer emotionalen Intelligenz, die feinste Abschattungen einfängt.

Selbst wenn man „das Allegro der g-Moll-Sonate“ als Schreibfehler entschuldigen mag – eigentlich nicht entschuldbar, wenn man das Schriftbild des Adagios vor Augen hat, das vorher so schwülstig gerühmt wurde -, der Gedanke an das stotternde Grübeln und das unüberwindbare Geklippe lässt jedes Wohlwollen auf den Nullpunkt schwinden. Solch einem Stilisten glaubt man keinen „expressiven Glutkern“ mehr oder gar „feinste Abschattungen“, ob mit oder ohne emotionale Intelligenz eingefangen.

Ohnehin kann es nur auf himmelschreiender Unkenntnis beruhen, wenn jemand als Vergleichseinspielungen, die in der letzten Zeit erschienen seien, nur die von Amandine Beyer (2012) und von Giuliano Carmignola (2019) erwähnenswert findet. Und warum sollen die mit historischen Instrumenten und Bögen gespielten überhaupt in einer streng getrennten Liga wahrgenommen werden?

Ich bin noch einseitiger und unterscheide zuerst einmal, wer spielt in Sonata I zu Anfang der zweiten Zeile ein E als „Basston“ und wer ein Es, das ja leider nicht dasteht (und trotzdem richtig ist). Und lässt sich in der 8. Zeile durch die leuchtende Parallele des Quintgriffs As/Es nicht belehren? Das machen nun allmählich alle der wirklich großartigen Bach-Geigerin Isabelle Faust nach, aber es bezeugt einen Mangel an Urteilsvermögen, ganz besonders wenn man es einfach nachmacht.

*     *    *

Die Theorie von der Kugelgestalt der Zeit hat mir schon bei Bernd Alois Zimmermann nicht eingeleuchtet. Und nun fangen – davon ganz unabhängig – Vogl und Kluge davon an und überzeugen mich kaum:

Vogl: Wie Jorge Luis Borges das versucht hat, in der Erzählung Der Garten der Pfade, die sich verzweigen: Man kann Täter oder Opfer, beides zugleich und keines von beiden sein – aber alles muss gleichzeitig erzählt werden?

Kluge: Ja, ein kugelförmiges Erzählen mit geschwächten Konsequenzen und Kausalketten. Der Zeitpfeil dreht sich wie eine Kompassnadel, Abdriften entstehen, und durch eine Veränderung des Winkels kommt man in einer anderen Realität als der an, von der man ausgegangen ist. Wenn wir also an der Fülle des Konjunktivs festhalten, der ja immer kugelförmig ist, weil alle Möglichkeiten darin enthalten sind, wenn die Sinne damit umzugehen lernen und die Arbeitskraft sich daran gewöhnt, dann würden wir ganz konkret an der Nicht-Linearität bauen, wie Bauleute an einer utopischen Architektur. In der Musik gibt es das übrigens, in den Obertonreihen, man hat nicht nur den linearen Fortgang. Also wenn man den Ton C und dann den Ton E anschlägt, dann schwingt auf beiden eine Obertonreihe mit, die ist ziemlich unendlich, irgendwann hört man sie nicht mehr. Aber im Grunde wurde die Fülle aller Töne gleichzeitig angeschlagen, und darin kann sich ein guter Komponist bewegen. Das wäre eine kugelförmige Dramaturgie. Und so könnte auch ein polyphones, mehrstimmiges Denken möglich sein…

Das klingt dilettantisch. Warum C und E, interessanter wäre doch etwa C und H ? Wenn die beiden Obertonreihen noch weniger Töne miteinander gemeinsam hätten und beide vollkommen gegeneinander „schwebten“.

Auch wer noch nie von dem österreichischen Kulturphilosophen Robert Pfaller gehört hat, ist vielleicht schon drauf gekommen, dass es komisch ist, wie erfolgreich die Kochshows im Fernsehen sind, während das Gros der Zuschauer*innen gar nicht mehr selbst kocht. Es geht nicht darum, die Anregungen praktisch umzusetzen und real zu genießen. Es genügt, anderen beim Genießen oder bei der Vorbereitung eines Genusses zuzuschauen. Der Philosoph hat das auf den Begriff gebracht: Interpassivität. „Kochen dient vielen Menschen zur Erholung. Interpassives Verhalten besteht nur darin, diese Erholung an den Fernseher zu delegieren.“

Dabei gehe es um Steigerung der Lust bzw. Vermeidung von Unlust, die sich üblicherweise durch aktives Tun einstellt. Wer eine Speise genießen will, müsse sie zumindest aktiv verzehren. Bei der Interpassivität hingegen würden die eigenen Genüsse an andere Personen oder Geräte delegiert, so dass es zu einer Verlagerung der Lust komme – ohne dass man selbst aktiv werden müsste.

Ich bin nicht sicher, ob er uns unterstellt, dass wir glauben, „der Fernseher“ selbst sei des Genießens mächtig. Oder ob wir es doch wieder selbst sind, die sich dieser Vorstellung erfreuen, so kümmerlich sie auch sei; es winkt keine Enttäuschung, weil ihre Virtualität ja gar nicht in Frage steht. Die Wirkung ist schwach, aber vorhanden!

Bei Wikipedia lese ich:

Ein geläufiges Beispiel […] aus dem Alltag ist das von Slavoj Žižek analysierte Konservengelächter („canned laughter“) in Sitcoms, das an unserer Stelle lacht und uns so die „Mühe“ des eigenen Lachens erspart. Wir fühlen uns so befreit, als wäre das Lachen unser eigenes gewesen.

Ich fühle mich allerdings nicht befreit, sondern verärgert. Man erkennt es: das künstliche Lachen wird als künstlich erkannt, es tötet den Witz. So wie jemand, der einen Witz – eine Handlungsweise – nicht versteht und dennoch lebhaft darauf reagiert. Das Konservengelächter erkennt man daran, dass es der Witzigkeit der Pointe nicht angemessen dosiert ist.

Man könnte einen Umweg machen und den Gebrauch der Pornografie vergleichen. Da ist eine Stellvertretung im Spiel: da wird nur der reale andere Mensch als ein „Störfaktor“ umgangen, die aktivierten Vorstellungen sind Genuss genug und sind mit dem Kochbeispiel nicht kompatibel. Denn da weiß man absolut nicht, wie die Wirklichkeit schmeckt. (Man spricht nicht umsonst vom „gemalten Mittagessen“.) Während man im andern Fall einfach sagt: diese Hälfte des Anteils lässt mich auf die andere gern verzichten.

Die Analyse darf weitergehen, – aber nicht hier.

Wenn die ZEIT auf dem Tisch liegt wie heute (13.08.2020), möchte ich, weil ich keine Zeit habe, in kürzester Zeit wissen, welche zwei oder höchstens drei Artikel für mich HEUTE relevant sind, bzw. nicht nur für mich, sondern für ALLE. Da habe ich den Bericht über den Mainzer Schott-Verlag und die Lage der von Tantiemen lebenden Komponisten vorgemerkt, dann den über die Lage des Planeten (Wie empfindlich reagiert das System Erde?), und dann auf derselben Seite „Wissen II“ – eher als Satyr-Spiel des Luxus-Sonder-Dramas: „Menschen, die mäßig viel Alkohol trinken, bleiben im Alter geistig fitter“ – sagt eine Studie, die uns auch das Relativieren lehrt, selbst zu ungunsten der eigenen Person. Der entscheidende Punkt, an dem ein prinzipieller Fehler passiert, ist der, dass man zwei Sachverhalte an denselben Personen konstatiert, z.B. dass sie alle über 85 Jahre alt sind und alle die Eigenart haben, jeden Abend ein Glas Wein trinken, UND DANN die Sachverhalte in kausale Verbindung setzt: die Leute sind so alt geworden, WEIL sie jeden Abend ein Glas Wein trinken.

Mehr vielleicht hier. ZEIT online Der Zweifel „Zum Wohl?“ Von Stefanie Kara. Und zur Lage des Planeten „Der zarte Planet“ Wie empfindlich reagiert das System Erde? Wer das versteht, weiß auch, wie sich der Klimawandel auswirkt. Dank Korallen und Wolken sind Forscher nun einer Antwort näher gekommen. Von Stefan Schmitt: hier. Und weiter:

Schott-Verleger Hanser-Strecker will es gar nicht so weit kommen lassen, dass irgendetwas dichtgemacht wird oder „ganze Werkgattungen ausgeschaltet werden wie Dinosaurier“. Wenn die Milliardenpakete nicht an der richtigen Stelle landeten, sagt er, sei das „Wurzelwerk“ unwiederbringlich zerstört. Mit 100 Milliarden Euro „Bruttowertschöpfung“ liegt die Kultur- und Kreativwirtschaft an zweiter Stelle hinter der Autoindustrie. Das Bewusstsein dafür dürfte in der Politik in den letzten Monaten gewachsen sein.

Und was tat der Komponist Jörg Widmann, als sich sein Kalender plötzlich leerte? „Ich habe mir immer gewünscht, Zeit am Stück zum Komponieren zu haben. Aber ich konnte nicht! Ich war unerklärlicherweise wie gelähmt.“ Im Juni wurde der Bann gebrochen – Daniel Barenboim wollte ein Stück für den Pierre-Boulez-Saal in Berlin. Mit einem Atmen und einem Metallklang beginnt und endet Widmanns Empty Space. […] „“Ich wollte, dass wir weiter auseinanderstehen als erlaubt, damit man erst recht spürt, wie sich der leere Raum füllt.“

Doch nur das reale Füllen der Räume kann verhindern, dass „alles zusammenbricht, was sich in den letzten Jahrhunderten aufgebaut hat“, wie der Komponist Aribert Reimann sagt. Berühmt wurden die Fotos, die der Bariton Michael Volle postete, als es langsam wieder losging: der randvolle Flieger, in dem er saß, das fast leere Theater, in dem er sang. Längst gibt es Erwägungen, Konzertbesuche lückenlos, aber nur mit Corona-App zu erlauben. „Ohne Risiko funktioniert es nicht“, meint Kanngießer-Strohmeier [Boosie& Hawkes, Berlin], „und man muss darüber nachdenken, weil die Häuser sonst in die Knie gehen.“

Quelle DIE ZEIT 13. August 2020 Seite 49 Das Jahrhundertwerk muss überleben Der Mainzer Schott-Verlag druckte Beethovens „Neunte“ und Wagners „Ring“. Corona ist die größte Krise in seiner Geschichte. Eine Erkundung zwischen leeren Sälen und den Schreibtischen berühmter Komponisten. Von Volker Hagedorn. / online HIER. /

Noch zu erwähnen (ist die Titelseite lesbar?) und bzgl. der ersten beiden Artikel hier zu behandeln ist das neue Heft Musik & Ästhetik.

1) Musik als Resonanzsphäre / von Martin Pfleiderer und Hartmut Rosa

2) Metapherntanz auf dem Brocken / Zu Kierkegaards Musikdenken. Oder: Resonanz als das Dämonische in der Musik / von Boris Voigt

3) Über musikalische Entdifferenzierung / von Tobias Janz

Janz: ab Seite 104 über Reckwitz

(folgt)