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Was ist uns Kurdistan?

Ein Blick zurück

Tobias Matern

Der Anlass war gestern dieser wichtige Leitartikel der Süddeutschen Zeitung zur heutigen Lage der Kurden. Die Erinnerung an meine erste Begegnung im Jahre 1974, was hat das nicht alles aufgerührt, ein freundlicher kurdischer Journalist, der am Ü-Wagen auftauchte, – ich war noch „freier Mitarbeiter“ des WDR, alles andere als ein politisch motivierter Mensch – plötzlich war klar, wie brisant dieses Thema war, es genügte nicht, nach den Texten der Lieder zu fragen oder die Übersetzung in Auftrag zu geben. In Kürze würde ich zum Frühlingsfest nach Afghanistan geschickt werden, der ersten ganz großen Reise nach der Tournee 1967, die nach dem Schulmusik- und dem Violin-Examen – mein ganzes Leben auf eine neue Spur gesetzt hat (von Musikwissenschaft zur Musikethnologie). Ich muss das kurz rekapitulieren, diese frühen Eindrücke, die mich in eine merkwürdig zwiespältige Erregung versetzen. Allein schon der Anblick der damaligen Arbeitsblätter, die gewöhnlich erst nach der Sendung in ein ordentliches Typoskript verwandelt wurden. Was mich damals am meisten bezauberte, waren die lyrischen Texte, die erst dank der fähigen Helfer zugänglich wurden.

     

Übersetzung der Liedtexte: Darwich Hasso (Mitarbeit 1973/74: Kamal Saydo)

Am Ende dieser Rekapitulation kommt mir eine dunkle Erinnerung: habe ich diese (oder eine ähnliche Recherche) schon einmal durchgeführt? In der Tat: hier, im Februar 2017. Wie gehe ich damit um? Mit Freude oder mit Selbstzweifeln? Zumindest habe ich heute den Namen korrigieren können…

Nachtrag 28.11.22 Zuschrift eines Lesers:

Ich finde es sehr schön und gut und wichtig, dass Sie im Blog Kurdistan erwähnen. Ich glaube, ich habe das schon mal geschrieben, wie sehr mich die Situation in Kurdistan deprimiert. Gerade in den selbstverwalteten Gebieten um Rojava gibt es ja das schönste, edelste und wichtigste demokratische Projekt nicht nur im Nahen Osten. Die Selbstverwaltung, die Rolle der Frauen, Bildung und Gesundheitssystem, und gleichzeitig der Kampf gegen den IS – und das alles unter dauerndem Beschuss, im Wortsinn wie auch sonst. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass sich an der Kurdistan-Frage die Frage Zivilität („civilisme“ ist das schöne französische Wort) oder Barbarei für unsere Zeit entscheidet – so wie zum Beispiel vor mehr als einhundert Jahren in Armenien, oder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Spanien. Sind vielleicht etwas pathetische Worte, aber wie können „wir“ („der Westen“) noch von Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung faseln, wenn wir nicht nur zuschauen, wie der türkische Diktator völkerrechtswidrige Angriffe gegen die Kurdengebiete führt, sondern „wir“ ihn dabei auch noch massiv unterstützen (wie diese Woche zum Beispiel die sich immer furchtbarer gerierende Innenministerin – die SPD-Bundestagsfraktion entblödete sich nicht, nicht einmal 48 Stunden, nachdem Frau Faeser der türkischen Regierung Unterstützung bei der Ermordung der kurdischen Urheberinnen des Slogans „Frau – Leben – Freiheit“ zugesagt hat, eben diesen Slogan zu posten). Und die Kurden stehen völlig allein, wenn man von manchen geringfügigen taktischen Unterstützungen etwa mit dem Iran befeindeter Nationen absieht – die USA haben sich ja auch wieder zurückgezogen, nachdem die Kurden den wesentlichen Teil des Kampfes gegen den IS noch mit ihrer Unterstützung geleistet haben – jetzt muss man wieder den NATO-Partner Türkei pampern, der ja auch „uns“ Deutschen einen guten Teil der Flüchtenden vom Leib hält. Wie gesagt, es ist alles nur noch deprimierend. Wenn ich zwei, drei Jahrzehnte jünger wäre, würde ich ernsthaft in Erwägung ziehen, nach Kurdistan zu gehen und die dortigen Bestrebungen unterstützen – auch im Kampf. Wie gesagt: Spanien 1936… (in der Realität werde ich einfach nur 3000 Euro an medico international überweisen zur Unterstützung von Projekten in Rojava – ohne mich deswegen irgendwie besser zu fühlen…)

JR: Dem möchte ich nichts Relativierendes hinzufügen, empfehle nur dringend, alles zu lesen, was es an Aufklärung unter dem Stichwort ROJAVA zu finden gibt. Ich beginne hier : Anja Flach / Ercan Ayboğa / Michael Knapp: Revolution in Rojava /
Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo.