Archiv für den Monat: Oktober 2018

Eine Frage der Perspektive

Ist es sinnvoll, das Fernrohr umzudrehen?

Ein nützlicher Ratschlag von Bruno Latour beschäftigte mich beim Anblick des offenen Meeres vor Texel. Er warnte davor, unsere Erde vom Sirius aus zu beurteilen, einem doch ziemlich imaginären fernen Standpunkt. (Ich glaube, er hat nicht an Stockhausen gedacht, der von dort kam und auch dorthin zurückkehrte, – wenn diese selbstbiographischen Angaben irgendeine Verbindlichkeit haben.) Aber ein durchaus ähnlicher Standpunkt gehört ja zur abendländischen Philosophie und ihrer theologischen Vorgeschichte. Zweifellos ist es verständlich, dass der nachdenkende Mensch Abstand gewinnen will, um nicht alltäglichen Kleinkram in jedes Problem einzumischen, vor allem, wenn er gerade Kopfschmerzen hat. Aber schon bei Liebeskummer hilft es nicht, sich damit zu trösten, dass in 50 Jahren sowieso alles vorbei sei. Man muss die Sachen also z.B. voneinander trennen, vor allem auch zwischen Gegenwart und Zukunft unterscheiden, Gegenwärtiges nicht einfach sub specie aeternitatis entwerten: warte ab, es wächst Gras drüber, – obwohl auch dieses Phänomen nicht geleugnet werden kann. Aber existenziellen Problemen kann man damit nicht beikommen. Und sie bewegen den Menschen seit Jahrtausenden. Ich zitiere wieder einmal Rüdiger Safranski:

Düstere ‚Wahrheiten‘ zirkulieren auch in der griechischen Antike. „Das Beste wäre, nicht geboren zu sein“, lautete der Spruch des Silen, eines Gefährten des Dionysos. Die griechische Metaphysik aber kam ja gerade deshalb auf, weil solchen dunklen Wahrheiten der Mythologie hellere entgegengesetzt werden sollten, Wahrheiten, die das Leben lebbar und den Tod als nicht tödlich erscheinen lassen sollten.

Aber am Ende ihrer zwei Jahrtausende währenden Geschichte ist die Metaphysik von der Verzweiflung, die sie überwinden wollte, selber überwältigt worden. Der Blick auf die monströse Gleichgültigkeit leerer Räume und auf eine Materie, in der ein blinder Wille tobt, wird, bei Schopenhauer etwa, eine ihrer letzten Pointen sein: „Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welchen etwa ein Dutzend kleinerer beleuchteter sich wälzt, die, inwendig heiß, mit erstarrter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat – dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt.“ (Schopenhauer)

Schon wieder entsteht die Frage: ist dieser Blick aus dem unendlichen Raum eigentlich gestattet? Wie nun, wenn ich von ganz tief innen, aus dem Mikrobereich oder unserem eigenen Herzen umherschaue, ist es nicht ganz respektabel, was da um uns her aufgebaut ist, ein substantieller Körper und ein Geist, der ihm aus allen Poren quillt, wenn ich das so frech behaupten darf? (Besser nachzulesen unter „das moralische Gesetz in uns“ hier!) Doch weiter bei Safranski:

Aber diese Verzweiflung, in der antiken Metaphysik niedergerungen, hatte sich bereits in der frühen christlichen Metaphysik gerührt.

Die antike Metaphysik hatte über das in sich ruhende, abgeschlossene Sein nachgedacht. Die christliche Metaphysik, die von der biblischen Schöpfungsgeschichte ausging, begann bei Augustin damit, über das beängstigende Nichts zu meditieren. Gott hat die Welt aus dem Nichts geschaffen, und deshalb kann sie auch wieder nichtig werden.

Augustin stellt in seinen „Bekenntnissen“ die fast komische Frage: „Was tat Gott, bevor er Himmel und Erde schuf?“ und gibt am Ende einer ausführlichen Betrachtung die fast noch komischere Antwort: „Ehe Gott Himmel und Erde machte, machte er nichts.“ Der untätige Gott entschied sich „irgendwann“ einmal dazu, das Sein sein zu lassen; und er kann dieses Sein jederzeit in einem anderen Sinne „sein lassen“, nämlich verschwinden lassen.

Quelle Rüdiger Safranski: Wiewiel Wahrheit braucht der Mensch? Über das Denkbare und das Lebbare. Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main 1993 (Zitat Seite 103)

Wir lachen wahrscheinlich, weil wir es ohnehin verschroben finden, die menschliche Philosophie unbedingt bei Gott ansetzen zu wollen (wie es noch Hegel tat). Aber wenig später erläutert Safranski:

Man sollte nicht vergessen, daß die christliche Metaphysik mit ihren Gottesspekulationen zugleich ins Zentrum der menschlichen Erfahrung vorstoßen wollte. Der Umweg über die Gottesspekulation bewahrte sie davor, zu niedrig vom Menschen zu denken.

An dieser Stelle wird es sehr interessant, zumal auch gleich die Liebe ins Spiel kommt, – und niemand ist heute gefeit vor der Gefahr, „zu niedrig“ von der Liebe zu denken, indem er sie mit der Assoziation Sex energetisch auflädt. Überraschenderweise kommt vielleicht ein Konsens auf, wenn wir vom „Zentrum der menschlichen Erfahrung“ sprechen. Da pocht heute jeder auf Unmittelbarkeit, was gern mit dem dürftigen Wort „Bauchgefühl“ angedeutet wird. Leider ist es nicht viel wert. Abgesehen davon, dass man sich plötzlich als Musiker wieder voll zuständig fühlen darf. Stichwort Thrill-Erlebnis. Mir ging es jedenfalls mit einem Aufsatz über Wagner so, den ich eigentlich bei Strandspaziergängen am Meer mit Bach verbinden wollte. Zusätzliche Motivierung kam durch den Essay von Martin Geck. Ja, sagte ich mir, es ist wohl diese unselige Arbeitsteilung: dass ein wesentlicher Teil der Inszenierung bestimmter Opern bei einer Person liegt, deren Lebensziel nicht in der Musik liegt, sondern in der Realisierung ganz eigener (auch abwegiger) Ideen. Mit der einzigen Beschränkung, dass die Musik selbst unangetastet bleibt. Ihre Wirkungen blieben im Dunkeln. Es ist aber nicht müßig, sich über die vielfachen Wurzeln des Gesamtkunstwerkes kundig zu machen, wenn es am Ende als solches gedacht war. Wobei niemand bezweifelt, dass Wagner lediglich als Musiker überlebt, nicht als Dramatiker, als Initiator überwältigender Bühnenbilder oder als Schöpfer unvergleichlicher Rahmenbedingungen. Z.B. Leute dazu zu bringen, stundenlang freiwillig, unter Schweigezwang, nahezu bewegungslos, in einem geschlossenen Raum zu sitzen. Es wäre ein unlösbares Rätsel, gäbe es nicht die Partituren des Tristan, der Götterdämmerung, des Parsifal. (Da musste erst ein Außenseiter kommen wie Navid Kermani, der den Vorschlag machte, endlich das Bayreuther Orchester auf die Bühne zu setzen, als unumstrittenen Hauptakteur.) Aber was ins Auge fällt: ist die primäre, gewaltige Außenwirkung, die religiösen Charakter hat.

Vor der großen realen Aktion (Foto Wiki)

Ich erinnere mich – wieder einmal – an eine Langspielplatte meiner Jugend: Lohengrin, Vorderseite: Vorspiel, Rückseite: 2.Szene „Elsas Traum“ . Damit fing unsere Begeisterung an, – im Vorspiel geduldig dem Höhepunkt mit den Becken- bzw. Paukenschlägen zugeführt zu werden, und in der Szene das Wechselspiel zwischen Sologesang und Chor der Männer zu erleben: wir merkten nicht, wie wir von ihnen die gläubige Haltung des Zuhörens übernahmen. Man beachte Elsas zunächst pantomimisches Verhalten, die Regieanweisungen, die wir nicht kannten – („Elsa neigt das Haupt bejahend“, „Elsas Mienen gehen von dem Ausdruck träumerischen Entrücktseins zu dem schwärmerischer Verklärung über“), die verbalen Reaktionen der Männer ringsumher (flüsternd): „Wie wunderbar! Welch seltsames Gebaren!“ DAS SIND WIR (mein Bruder und ich als LP-Hörer). Rührend und geheimnisvoll, speziell für uns, Elsas Worte: „Mein armer Bruder.“

Mir scheint heute, dass Elsa sich unschicklich verhält und dass ihr Verhalten, ihr „Wahnsinn“, zur wahren Natur umgedeutet werden soll, und zwar so, dass wir alle als Zuschauer umgewendet werden sollen, genau so, wie die zuschauenden Männer auf der Bühne. Ich komme darauf durch einen wahrhaft augenöffnenden Vortrag über Medien, Melodramen und ihr(en) Einfluß auf Richard Wagner von Mathias Spohr. (In den folgenden Zitaten werden Anmerkungen weggelassen oder in den fortlaufenden Text mit Kennzeichnung eingefügt.)

Obwohl sie etymologisch die Kunst des Nachahmens ist, wird die Pantomime zum Urmedium des Ausdruckshaften. Was an ihr allerdings naturhafter Ausdruck und was bloß naturnachahmende Affektdarstellung ist, bleibt unklar. Oft werden Gesten nur deshalb für ausdruckshaft gehalten, weil sie nicht schicklich sind (etwa bei den groteken Manierismen des Bühnenwahnsinns seit Ende des 18. Jahrhunderts) oder weil sie sportlich wirken. Ohne das Schickliche als Gegenmodell gibt es offenbar auch keinen Ausdruck, deshalb wandelt sich das Höfische zum Höflichen. Wo Schickliches und Natürliches übereinstimmen oder sich widersprechen, ist Ansichtssache, und die Neudefinition dieser Grenze stellt ein Mittel dar, sich von älteren Generationen zu unterscheiden, was sich in der Geschichte des Gesellschaftstanzes zeigt.

Die Theatererfahrung lehrt, daß auch bloße Technik natürlich und ausdrucksvoll wirken kann. Dieses von Denis Diderot erstmals formulierte Paradox [siehe auch in diesem Blog hier] ist meines Erachtens die Grundlage der sogenannten Mediengesellschaft: Seit dem Ausklang des Aufklärungszeitalters bildet sich die Überzeugung, daß Natur mit technischen Medien nicht bloß nachgeahmt, sondern hergestellt werde. Natürliches und Künstliches kann deshalb synonym sein, weil natürlich als Gegensatz zu schicklich gilt. Evident ist nur der ausgelöste Reflex, und seiner Wiederholbarkeit wegen kan man sich an ihm [sic] halten. Durch Drill, Dressur, Technik, also die willkürliche Vermehrung automatisierter Assoziationen nach dem Modell des Reflexes, wird Fiktion zu Natur, als funktionierende Gegenwelt zum schicklichen Alltag, wo nicht alles funktioniert. Physisch erlebte Reflexe scheinen den „lebendigen“ Ausdruck gegenüber der „toten“, distanziert begutachteten Naturnachahmung aufzuwerten.

In Wirklichkeit ist es umgekehrt; hier beginnt die traditionelle Verwechslung der automatisch vollzogenen Regel mit dem „Objektiven“, das wiederum für naturgesetzlich gehalten wird: Das durch schickliches Verhalten überforderte Bewußtsein hat ein Bedürfnis, bloß technisch zu funktionieren und schafft sich technische Medien, um sich mit ihnen zu identifizieren. Die Evidenz der eigenen Reflexe läßt das medial Vermittelte natürlich erscheinen, als sei es die Wirkung einer gleichermaßen physikalischen wie moralischen Kraft. Was nun als Schärfung der Sinne oder Vertiefung des Gefühls für dieses Natürliche verstanden wird, ist vielmehr eine verstärkte Identifikation mit den Medien, die diese Reflexe verfügbat machen, und erscheint der Außenwelt als Zwangsdenken oder Suchtverhalten.

Anm.: Überidentifikation mit Medien scheint mir die einzig plausible Erklärung für die Vielfalt zivilisatorischen Suchtverhaltens, vgl. Werner Gross, Sucht ohne Drogen. Arbeiten, Spielen, Essen, Lieben…, Frankfurt am Main 1990

Rückverweis vorher: Der unwillkürliche Reflex als Grundlage eines „natürlichen“ Erlebens und Verhaltens wird unter dem Motto der „sensibilité“ von den französischen Aufklärern diskutiert. Der Nimbus des Natürlichen, mit dem reflexartiges Verhalten seither umgeben wurde, führte im 19. Jahrhundert zu Versuchen, erlernte „Reflexe“ nicht nur als Technisierung des Handelns, sondern als rein physiologische Vorgänge zu erklären; der einflußreichste ist der von Iwan Petrowitsch Pawlow (ab 1903), von dem auch die Begriffe „bedingter“ und „unbedingter“ Reflex sowie „Konditionierung“ stammen (….).

Im Melodrama äußert sich das so: Die ausdruckvolle Gebärde wird oftmals ins Extrem geführt, um sie im Gegensatz zur schicklichen Gebärde als Übertragung überwältigender Energie zu kennzeichen, die das Publikum „in Schwung“ bringen soll. Dessen Bereitschaft, sich mit physischen Reaktionen „Resonanz“ vorzuspiegeln, wie mit kollektiven Automatismen, Klatschen, Stampfen, aber auch Weinen, erschrockenem Schreien oder „hysterischer“ Begeisterung, bestätigt das scheinbar. Diese physischen Reaktionen sind aber nicht wirklich spontan, sondern gehören zur Selbstinszenierung des Publikums, im Bewußtsein der Kausalität von Reiz und Reflex, die nicht angelernt, sondern naturgesetzlich erscheinen soll. Jene Verhaltensmuster haben sich seither auf Sportanlaß, Popkonzert oder Filmmelodram übertragen und sind bei politischen Veranstaltungen oder in religiösen Gemeinschaften geblieben, die sich des Melodrams bedienen. Die vormoderne Vorstellung einer Beseelung und Versittlichung durch Ausdrucksenergie wird hier weiterhin kultiviert, weil sie das Gefühl von Zusammengehörigkeit, also Identität in einer kollektiven Illusion, ermöglicht. Doch was sie als Energieübertgragung kundtut, ist nur die Faszination verfügbar gemachter Reflexe.

Etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts schafft sich das Publikum in ganz Europa mit „spontanem“ Weinen über rührende Situationen bei noch erleuchtetem [damals noch nicht verdunkeltem] Zuschauerraum ein Gemeinschaftserlebnis als Mensch unter Menschen. Kinderpantomimen ritualisieren, durch kollektive Rührung der Erwachsenen, ein Generationenverhalten jenseits von Standesunterschieden. Die Herkunft dieser Selbstinszenierungen vom höfischen Zusammenwirken gesellschaftlichen und theatralischen Rollenspiels ist hier am besten zu greifen.

Auf den folgenden Seiten wird exemplarisch an Jean-Jacques Rousseau und seiner melodramatischen Szene Pygmalion (1762) gezeigt, wie die Statue „vom pantomimischen Ausdrucksdrang des Künstlers in Resonanz versetzt“ wird. Die Übertragung „beseelender“ Energie lasse aus dem Zeichen das Bezeichnete werden. Rousseau reflektiere hier, „was er auf den Jahrmärkten gesehen hat, und macht es durch seine Autorität als berühmter Verfechter des Natürlichen salonfähig.“ Interessant, wie die neuen Geschlechterrollen definiert werden.

Der wirkliche Mann ist seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert nicht mehr männlich im Sinne einer ständisch differenzierten „virtus“, sondern er ist ein Medium, das Ideen realisiert. Eine solche Idee ist die „Natürlichkeit“ der Frau; das Weibliche ist Wirkung der männlichen Energie. Die „holde Kunst“ ist nicht mehr als allegorische göttliche Macht selbst aktiv, sondern wird vom männlichen Gesang als das reflexhaft Liebende definiert. Als heilendes Medium macht der Magnetiseur, später der Psychiater, die hysterische Patientin natürlich. Allseitige Bereitschaft, auf das Pygmalion-Rollenspiel einzugehen, garantiert die (auf bewußtes Erleben scheinbarer Resonanz reduzierte) Katharsis.

Als typisches Beispiel fungiert der berühmte Kampf zwischen Armida und Rinaldo. Ein nach Tasso frey bearbeitetes Melo-Drama in vier Aufzügen mit Chören und Tänzen vermischt. Burgtheater Wien, 1793 (Text: Josef Marius Babo, Musik: Peter Winter).

Armida ist als rächende Königin der klassizistischen Tragödie nicht „weiblich“ im Sinne des modernen Rollenverhaltens. Ihre vorübergehende, einem filmischen Zwischenschnitt ähnliche Wandlung zur „liebenden Frau“, von ihr selbst als Sieg der „Natur“ verstanden, wird von melodramatischer Musik begleitet. Der Musikeinsatz trennt zwei aufeinanderfolgende Arten von Gestik: das Unnatürliche, Irreale, bloß Heroische der Rache (dargestellt durch das herkömmliche „noble“ Bewegungsrepertoire) vom Natürlichen, Realen, Ausdruckshaften der Liebe (dargestellt durch das moderne „schlichte“ Bewegungsrepertoire).

Hier läßt sich exakt beschreiben, wie der Kurzschluß zustandekommt, der dem Medium „Macht“ verleiht: Musik wird, rein technisch, als reflexauslösendes Signal eingesetzt. Das Publikum projiziert die Ursache der Wandlung zur „Natürlichkeit“ in das unsichtbare Medium, da es die natürliche Gestik als Wirkung einer moralischen Kraft verstehen will, die von dem betrachteten Mann ausgeht – umso mehr als „Ausdruck“ hier zur Abwehr gegen das Schickliche älterer Generationen instrumentalisiert ist. Die Selbsttäuschung hat zur Folge, daß das Medium im Medium Ursache für Wirkungen wird, die es nicht hat. Die Musik an sich, bloß weil sie Reflexe auslöst, scheint als Symbol jener moralischen Kraft die Figur natürlich und weiblich zu machen, bekommt also ein imaginiertes Eigenleben als unsichtbare, bewegende Seele.

Da der Autor diesen Mechanismus im Folgenden an Mozarts Bildnisarie nachzeichnet, sei der Text zur Erinnerung eingefügt:

Dies Bildnis ist bezaubernd schön
Wie noch kein Auge je geseh’n.
Ich fühl‘ es, wie dies Götterbild
Mein Herz mit neuer Regung füllt.
Dies Etwas kann ich zwar nicht nennen,
Doch fühl‘ ich’s hier wie Feuer brennen;
Soll die Empfindung Liebe sein?
Ja, ja! Die Liebe ist’s allein.
O wenn ich sie nur finden könnte!
O wenn sie doch schon vor mir stünde
Ich würde – würde – warm und rein –
Was würde ich? –
Ich würde sie voll Entzücken
An diesen heissen Busen drücken,
Und ewig wäre sie dann mein!

Wie in der Bildnisarie der Zauberflöte stellt die Musik eine scheinbare Kausalität zwischen dem „Betrachteten“ und dem „natürlichen“ Verhalten her. Das überlagerte [übergelagerte? überlagernde?] Medium, die Musik, scheint vom darunterliegenden, dem Bildnis oder dem Schlafenden als lebendem Bild [Rinaldo], reproduziert zu werden, sein Reflex zu sein; hier wird besonders klar ersichtlich, daß technische Reproduktion ihr Vorbild im Reflex hat und dessen Verlängerung ist. Das überlagerte Medium wird nun automatisch als das „innerliche“ wahrgenommen. Demnach ist die Fiktion in der Fiktion das Innerliche des Innerlichen, wie in der Bildnisarie das Besingen der Abbildung auf dem Theater. Überlagerte Information wird scheinbar zu inniger Ausdrucksenergie, Ausdruck ist die „Kraft“ der technischen Objektivierung.

Das Medium Musik ist nun nicht mehr parallel zum Optischen, sondern scheint die innerste der Fiktionen zu sein. Das Publikum glaubt demzufolge, selbst ein „inneres“ Medium zu haben: Die scheinbar natürliche Kausalität zwischen innerer und äußerer Fiktionsebene führt zur Illusion des „Unterbewußtseins“.

Anm.: Etwa seit dem 17. Jh. erfolgte auf vielen Ebenen des gesellschaftlichen Verhaltens ein planmäßiger Aufbau eines „Unterbewußtseins“ (um es später zu „Natur“ zu verklären). In die systematische Pflege reflexhaften Handelns, wie sie in Pantomime und Rührstück, im „bürgerlichen Konzert“ und im Sport zum Ausdruck kam, fügt sich auch die von Norbert Elias beobachtete Entwicklung des Scham- und Peinlichkeitsverhaltens ein, das zunehmend vom Bewußten ins Unbewußte verlegt wurde. (Quelle Elias)

An dieser Stelle kommen ernste Zweifel auf, ob der Autor wirklich den gesicherten Stand der Forschung reflektiert, ebenso im folgenden Absatz (JR):

In diese allseitige Identifikation mit technischen Medien ist Sigmund Freud hineingeraten, der das seinerzeit Unschickliche für wahren Ausdruck hielt und von daher auf die Existenz eines Unterbewußtseins schloß – während seine Patientinnen bloß auf eine Art, die sie im Melodrama lernen konnten, gegen das Schickliche rebellieren.

Quelle Mathias Spohr: Medien, Melodramen und ihr Einfluß auf Richard Wagner. In: Richard Wagner und seine „Lehrmeister“ Hrsg.: Christoph-Hellmut Mahling und Kristina Pfarr. Are Edition Mainz 1999 (Seite 49-80)

Ich bin konsterniert und zugleich in meinem Element. Um in Bildern zu sprechen:

.     .     . .     .     . .     .     .

Das übliche Missverständnis: der eine spricht – wie so oft – von dem einsamen Pferd da hinten auf der Weide; der andere aber von dem Insekt auf der Scheibe. Die Optik der beiden Augenpaare ist unterschiedlich eingestellt, schwer verständlich wenn man die Fotos sieht. Im Reich der Ideen ist das an der Tagesordnung, und es bedarf einiger Worte, klarer zu sehen. Ist es innen oder außen, Imagination oder Projektion, Phantasie oder Fata Morgana? Gibt es denn ein Unterbewusstsein oder nicht? Ich wusste doch seit langem, dass Freud und C.G.Jung kaum mit alldem vereinbar war, was z.B. in Thomas Metzingers „Bewusstsein“ (1995) zu lesen ist. Aber es lief gewissermaßen parallel, sooft ich wieder Adorno las und etwa sein Wagner-Buch (1952) nach wie vor richtungweisend fand. Der Perpektivwechsel als zweite Natur!

Und dieses Wagner-Buch, das ich gerade lese, beruht auf einer Tagung von 1997 und rührt in meinem Fall an tiefgehende Musikerlebnisse, die etwa 1957 begannen und jetzt plötzlich in einem anderen Licht erscheinen. So als habe mir jemand erklärt, dass ich das Opernglas damals falsch herum gehalten habe. Daher die Überwältigung durch das, was ich hörte und innerlich sah oder dank der LP mir lebhaft als Realität vorstellte. – Und jetzt überspringe ich alles, was es da an Wissenswertem über Pantomime, Melodramen usw. zu lernen war, um zu meinem Lohengrin-Wagner von 1957 zurückzukommen, auch wenn hier letztlich vom Tristan die Rede ist:

Wagner entfernt die Ensembles, die dem Publikum mit synchronen Aktionen Resonanz vorspiegeln, von der Bühne, macht gestikulierende Dirigenten und Instrumentalisten unsichtbar und verschleiert die Taktmetrik als Merkmal veräußerlichter Resonanz: Die naivste melodramatische Wirkung, den Ausdruck, der malend auf sich selber zeigt, soll es im Musikdrama nur innerhalb der Musik geben. Reflexe sollten nicht vorexerziert, sondern unauffällig konditioniert und dann direkt und differenziert ausgelöst werden, damit das Publikum glaubt, sie stammten aus dem eigenen Bewußtsein, das sich als verschlungenes, vielschichtiges und doch logisches Ganzes wie von außen betrachten läßt und damit den zivilisierten Glauben an eine Zerlegbarkeit der Welt in objektivierte Funktionselemente bestätigt. Wagner versucht, die Faszination der Objektivität, die von Medien wie Technik oder Photographie ausging, für sich zu nutzen. So wird der vom Melodrama beförderte Glaube an eine Kausalität moralischer Kräfte wieder glaubwürdig.

Mit der Hingabe an den Ausdruck, erlebt als physische Energie, verbindet sich lustvoll das Bewußtsein seiner technischen Beherrschtheit; diese gleichzeitige Distanz und Distanzlosigkeit gegenüber den erzeugten Emotionen, das genießerische Betrachten der verfügbar gemachten Reflexe, kennzeichnet die Katharsis im Melodrama. In derselben gesteigerten Ausdruckshaftigkeit, mit technisch virtuoser, aber nicht sichtbar veräußerlichter, sondern ins unsichtbar Musikalische verlagerter Gebärde, schafft das Musikdrama soziale Identitäten. Tristan und Isolde bekommen durch komplexes Ineinandergreifen chromatischer „Schmerzens“-Figuren (also einer melodramatischen Übersteigerung des barocken „Pathos“ zu modernem „Ausdruck“) ein „Unterbewußtsein“, als großartiges und von selbst ablaufendes Innenleben. So ein Unterbewußtsein möchte auch das Publikum gern haben, deshalb glaubt es naiv wie das Publikum der Melodramen an die Magie des Mediums. (…)

Quelle Mathias Spohr: Medien, Melodramen und ihr Einfluß auf Richard Wagner. In: Richard Wagner und seine „Lehrmeister“ Hrsg.: Christoph-Hellmut Mahling und Kristina Pfarr. Are Edition Mainz 1999 (Seite 49-80)

Fortsetzung hier

Mozart im Sog des Regietheaters

Ein Essay von Martin Geck

Geschrieben für die Kolumne in der Zeitschrift Concerto. Magazin für Alte Musik. Vorabdruck mit freundlicher Erlaubnis des Autors.

Weil diese Kolumne vor allem von Musikern und Musikliebhabern gelesen wird, darf ich es wohl wagen, anhand eines konkreten Beispiels gegen Auswüchse des sogenannten Regietheaters vom Leder zu ziehen. Als ich solches vor einigen Jahren angesichts von Frank Castorfs Bayreuther „Ring“ in der FAZ getan habe, hat mich Manuel Brug, Kritiker der WELT, alsbald einer PEGIDA-Mentalität bezichtigt.

Nun wäre es in der Tat unvernünftig, sich gegen das Regietheater wenden zu wollen, also gegen jedwede unkonventionelle Inszenierung: Es gibt stets Triftiges und Untriftiges, Erhellendes und Verdunkelndes, Pfiffiges und Läppisches. Und gottlob leben wir in einer Gesellschaft, in der über das jeweilige Für oder Wider gestritten werden kann.

Und weil ich hier in einem Magazin für alte Musik schreibe, darf ich hinzufügen, dass mir gerade die Oper der Barockzeit als ein geeignetes Spielfeld für inszenatorische Experimente erscheint: Moral und Message vieler barocker Libretti sind so verstaubt, dass man ihren Plot aus den Angeln heben darf, jedenfalls nicht todernst nehmen muss. Außerdem zeigt die u. a. von Händel ausufernd gepflegte Parodiepraxis, dass die Musik kaum verliert, wenn sie als gleichsam „absolute“ präsentiert wird.

Ich erinnere mich an die Fernsehaufzeichnung einer Händel-Oper, in der eine Sängerin zu edelstem Gesang suchend in einer Ansammlung von Lumpen oder Abfall wühlt. Ich fand diesen Regieeinfall, dessen Kontext ich vergessen habe, keineswegs befremdlich oder gar abwegig, sondern geradezu erhellend für meine Seele: hier die Perlen begnadeter Musik, dort unser aller Gedankenmüll.

Zwar verdienen Händels Opernlibretti Respekt, wo sie trotz ihres generell affirmativen Wesens eine humanitäre Botschaft erkennen lassen. Der Vergleich mit späteren Generationen führt uns jedoch einen gewaltigen qualitativen Sprung vor Augen – etwa hin zu Mozarts Oper „Hochzeit des Figaro“, von der hier anhand eines Details die Rede sein soll.

Mozarts Librettist Da Ponte hat auf der Grundlage des Schauspiels von Beaumarchais ein Textbuch geschaffen, das an Prägnanz und Aussagekraft seinesgleichen sucht. Auch die „Message“ ist sonnenklar: Am Vorabend der französischen Revolution begehrt der Diener gegen seinen adeligen Herrn auf. Und er gewinnt – nicht zuletzt mit Hilfe gewitzter Frauen.

Ich kenne kaum ein anderes Opernlibretto des 18. /19. Jahrhunderts, das unsere Gegenwart ähnlich triftig abzubilden vermöchte. Doch das bedeutet eben nicht, dass man den Grafen Almaviva mit einer Trump-Maske ausstatten und die Handlung ins Weiße Haus verlegen sollte! Es heißt vielmehr, das Zeitlose im Zeitbedingten wahrzunehmen und bereits der Musik Mozarts inszenatorische Fähigkeiten zuzutrauen. Das Paradigmatische eines Kunstwerks zeigt sich gerade in Formen, die keiner platten Aktualisierungen bedürfen. Mit dieser Auffassung weiß ich mich mit namhaften Opernregisseuren einig; und ich denke dabei nicht nur an die früh verstorbene Ruth Berghaus, die sich in ihren Regiearbeiten vorab stets an der Partitur orientierte. Auch Hans Neuenfels und Andrea Breth, die im jüngsten Heft der Zeitschrift „Lettre International“ zu Wort kommen, treten für eine Regie ein, die sich auf die Musik einlässt. Das schließt Konfrontationen mit dem Unerwarteten, etwa mit märchenhaften oder gestischen Einfällen, keineswegs aus. Wenn Neuenfels in seinem Bayreuther „Lohengrin“ die Chorsänger als Ratten in Laborsituation auftreten lässt, so hat das einen guten Sinn: Sofern die Voraussetzungen stimmen, ist die geballte Masse des Brabanter Volks gern bereit, auf einen Wink einiger Wortführer hin Elsa zu quälen. Wir brauchen uns als Zuschauer nur in Elsa hineinzuversetzen, um das zu verstehen: „Wer quält mich da?“, fragt sie sich – um festzustellen, dass es anonyme, manipulierbare Wesen sind, derer sie kaum habhaft werden kann.

Andrea Breth erzählt, sie habe anlässlich der Stuttgarter Inszenierung von Luigi Dallapiccolas Oper „Der Gefangene“ vom April dieses Jahres „wahnsinnige Angst“ vor der Szene gehabt, in der die bereits vom Tod gezeichnete Titelfigur in wahnhafter Weise denkt: „Das ist jetzt das Leben und die Hoffnung“. Sie habe dann während der Proben intuitiv, ohne nachzudenken, um einige Seile gebeten und mit diesen Seilen die Akteure miteinander verknotet. Auch hier geht der Transfer nicht über den Intellekt, sondern über die Geste, welche eine Situation öffnet aber auch offenlässt – offen für unsere eigene Fantasie.

Und nun der Darmstädter „Figaro“ vom Herbst letzten Jahres – eine Übernahme der Kölner Inszenierung von Emmanuelle Bastet. „Die Regie weiß eigentlich gar nicht, welche Geschichte sie erzählen soll“, heißt es in einer Aufführungskritik. In der Tat will sie vor allem mit beliebigen Gags punkten. Der in meinen Augen am meisten deplatzierte: Zur Arie „Non più andrai farfallone amoroso“ („Aus und vorbei, verliebter Schmetterling“), in der Figaro den ungeliebten Cherubino boshaft auf die Strapazen des ihm drohenden Soldatenlebens vorbereitet, sind auf der Bühne flimmernde Videobilder mit Szenen aus dem 1. Weltkrieg zu sehen! Diese Dummheit raubt einem den Atem bis zur Übelkeit. Mozart will, dass unser inneres Auge den armen Cherubino bei seiner Musik „über Berge, durch tiefe Täler, bei Schnee und bei Hitze“ stolpern sieht, während ihm die Kugeln um die Ohren pfeifen. Und er komponiert solches nicht etwa passgenau tonmalerisch, schafft vielmehr einen Freiraum, in dem unsere Fantasie Handlung und Musik vor eigenem Erfahrungshorizont verschmelzen kann. Zugleich verdeutlicht er, dass die imaginierte Szene nur Figaros genüssliche Wunschvorstellung ist, wir uns also nicht wirklich um den verwöhnten Pagen sorgen müssen.

Weniger Prekäres passiert im neuen Mainzer „Figaro“ in der Regie von Elisabeth Stöppler. Doch als ob man nicht ohnehin wüsste, dass es in der Oper um Sex und Eros geht, zeigt eine der Protagonistinnen – innerhalb einer an sich ansehnlichen Kostümshow – ihr Lack-Korsett-Mieder her. ‚Nun ja, kann man alles machen’, sagt der postmodern und liberal gesonnene Betrachter. Ist es nur altmodisch, von einer „Figaro“-Inszenierung etwas anderes zu fordern, nämlich zugleich Biss und Charme? Zumindest sollte das der Musik eigene utopische Moment nicht auf der Szene verhöhnt werden. Mozart mit dem Holzhammer – kann das gutgehen?

Wann endlich geschieht der große Aufstand gegen die inszenatorische Dummheit? Er müsste von den Musikern ausgehen, die sich ja vergleichbare Dummheiten nicht erlauben können, sie aber am Pult oder im Orchestergraben ständig hinnehmen müssen.

*      *      *

Vorabdruck des Textes (©martin geck), der in der Zeitschrift Concerto – Magazin für Alte Musik erscheinen wird. Mit herzlichem Dank an den Autor, Prof. Dr. Martin Geck.

Mahlers Dritte doppelt (und dreifach)

Zwei Aufführungen in Bild und Ton live

 Screenshot SWR

SWR Currentzis HIER

Gürzenich Roth Hier

oder:

(Zum Nacherleben, Vergleichen und Überwältigtsein. Nicht: zum Zensurengeben!)

Tagelang hören. Kommentare vielleicht später einmal.

Für alle Fälle noch eine der neuesten Aufnahmen im Hörfunk WDR 3  HIER. (Bis 27.Okt.)

 Screenshot WDR

Viola!

Der aufrechte Gang und die Cello-Suiten

Dieser Untertitel ist natürlich eine Frechheit. Animiert hat mich die Tatsache, dass die heutige ZEIT eine ganze Seite der Bratsche bzw. der Künstlerin Kim Kashkashian widmet, zumal gerade bei ECM ihre Aufnahme  der Bachschen Cello-Suiten herauskommen wird. Ein paar Tage kann es noch dauern, aber ich muss sie besitzen, zumal es mit den eigensten Intentionen koinzidiert. Mitte der 80er Jahre, im Zusammenhang mit einer neuen analytischen Behandlung der 6 Solissimo-Werke für Violine hatte ich mir auch die Cello-Suiten aneignen wollen, ja selbst die Flöten-Partita BWV 1013; hatte also begonnen, die folgende Violin-Bearbeitung systematisch zu üben und stellte fest, dass mein Eifer schneller erlahmte, als ich befürchtet hatte. Ich vertröstete mich mit der Suche nach der idealen Aufnahme von Yo Yo Ma bis Jaap ter Linden.

 Edition Hug Zürich 1913 Bearbtg.: Joseph Ebner

Eine entscheidende Komponente war ausgeblendet (zweifellos spielte der fortwährend vergleichende Blick auf die Violin-Partiten eine Rolle): die Tiefe, das Schwere, die Begründung der scheinbar einfacheren Machart, die weniger glänzende Virtuosität, das Etüdenhafte (gerade dieser Satz erinnert an die Kreutzer-Etüde A-dur). Alles was dem Cello von Natur gegeben ist. Was hat sich in den letzten Wochen geändert? Ganz einfach: Ich habe eine Bratsche zur Verfügung und versuche, ihr ernsthaft gerecht zu werden, indem ich für längere Zeit die Geige nicht mehr anrühre.

 Kreutzer 1796 (mit Vorübungen)

 Größenvergleich, links die Geige

Ich erinnere mich an einen freundschaftlichen Disput zwischen meinem Lehrer, dem Geiger Franzjosef Maier, und dem Cellisten Rudolf Mandalka. Es ging um die unterschiedliche  Behandlung der tiefen Töne: das Cello verleite aufgrund des Einschwingvorgangs der dickeren Saiten prinzipiell zu einem Verharren auf den Basstönen, jedenfalls mehr als es aus musikalisch-strukturellen Erfordernissen nötig wäre. Und es leuchtet unmittelbar ein: man soll nicht unbedingt „in den Grundfesten erschüttert“ werden, aber ein bisschen davon lauert doch bei jedem Gang in die untersten Regionen, im abgebildeten Prélude z.B. auf dem Weg zum tiefen Gis, das auf dem Cello dem Cis – eine Quint plus eine Oktave tiefer – entspricht. Und es wird im nächsten Takt über- oder besser unterboten durch die dröhnende leere Saite C. Kein Cellolehrer der Welt würde sagen: das Tempo der Sechzehntel muss unbeirrbar durchgehen, die erste Note im Takt darf über ihre Betonung hinaus kein Privileg haben, sonst kommst du fortwährend ins Stocken, nur weil du die Macht deines Instrumentes auskosten willst!

Die Fortsetzung der Suite I (siehe Beispiel ganz oben) im Cello-Original (alte Bärenreiter-Version) mit meinem hinzugefügten Bratschen-Fingersatz.

 youtube Hörbeispiel ab ca.1:15

Wenn nach dem – im Takt vorher erreichten – Cis dieses C der leeren Saite ertönt, weiß jeder Kenner: tiefer geht es nicht! Der Ton ist jedoch Bestandteil des Sekundakkordes (Dominantseptakkord auf D), strebt also nach Auflösung in den Ton H, ein großes Fragezeichen steht im Raum. Es wäre zu billig, nach oben auszuweichen, um dort eine Ersatz-Auflösung zu inszenieren. So ließe sich das nachwirkende tiefe C nicht aus der Welt schaffen. Unglaublich, wie Bach diese Frage löst: er intensiviert das C durch zweimalige Wiederholung und lässt den nach oben aufgefalteten Septakkord über ein eingefügtes Cis auf dem hohen D (Fermate!) nachwirken. Und baut neu auf, breitet den Dominantseptakkord über den ganzen folgenden Takt aus und überbietet alles Dagewesene durch den höchsten Ton des bisherigen Verlaufs: im Es und der zugehörigen Kreisfigur. In diesem neuen Zusammenhang darf das tiefe D als eine befriedigende Basis auftreten. Auch für den G-dur-Dreiklang in Gestalt eines Quartsextakkordes, der jedoch nicht als Reprise der Tonika, sondern als Subdominante fungiert. Ihm folgt die Dominante auf A (wunderschöne Sonderrolle der wiederkehrenden „Kreisfigur“ mit dem schon seit der Fermate im Ohr hängenden Cis) und schließlich – durch Dreiklang, Tonleiter und Abstieg zum Basiston – die neue Tonika D (Takt 28).

Was ich sagen wollte: auch zwischen dem Ton Cis auf der Bratsche (vom Cello zu schweigen) und dem Gis auf der Geige liegen Welten!

Und ich erinnere mich wiederum an das Wort meines Lehrers, der behauptete, die Bratsche sei ein Kompromiss. Den physikalischen Verhältnissen nach müsste sie über ein mehr als doppelt so großes Corpus verfügen, also ganz in der Nähe des Cellos rangieren.

Im ZEIT-Artikel konstatiert Kim Kashkashian ganz Ähnliches, wenn auch befremdlicherweise im Zusammenhang mit der Praktizierung von Tai-Chi und Kung-Fu: sie habe viel vom dortigen Umgang mit Schwertern für ihre Bogentechnik gelernt. (Ich erinnere mich an das zu meiner Zeit populäre Büchlein über „Zen in der Kunst des Bogenschießens“, das ich für die Streichertechnik nutzbar zu machen hoffte und naiverweise auch meinem Lehrer schenkte, der weltanschaulich „immun“ war.

Überhaupt sei sie [Kim Kashlashian] recht spät darauf gekommen, was für ein kurioses Instrument die Bratsche sei: „Die Länge der Saiten und der Tonumfang passen nämlich nicht zusammen, anders als bei der Geige oder beim Cello. Also gibt es eine größere Vielfalt in den Ausdrucksmöglichkeiten, wie bei einem Menschen, den man vorsichtig behandeln muss, weil er vielleicht etwas kompliziert sei. Als Bratschistin sollte man in seinem Instrument eher einen Partner sehen als jemanden, den man kontrollieren oder beherrschen muss.“

ZITAT aus der ZEIT a.a.O.

Ursprünglich hätte die Amerikanerin die Solo-Suiten bereits vor drei Jahren aufnehmen sollen, doch dann hatte sie einen Unfall, brach sich mehrere Rippen, und das Projekt musste verschoben werden. Schicksal? Der entscheidende Aufschub auf dem Weg zur Erkenntnis? Transatlantisches Knistern in der Leitung, sind Sie noch da? In ihrem kurzen, poetischen Booklet-Text schreibt Kim Kashkashian: „Ob in der Höhle des Minotaurus oder in der Kathedrale von Chartes – Bach leitet uns durch alle Labyrinthe und führt uns zu immer neuen Ein- und Ausblicken, während wir uns dem geheimnisvollen, wunderbaren Schnittpunkt nähern, wo Kunst und Handwerk eins werden, wo das Streben frei von Verlangen ist und wo aus ungreifbaren Elementen wie Energie, Resonanz und Raum eine konkrete Architektur und eine universale Heimat im Klang entsteht.“

Große Worte, – ich hätte Verständnis, wenn die Künstlerin diese oder ähnliche nicht auswendig über den Atlantik schicken konnte. Wenn ich recht verstehe, fehlt der Inhalt. Was keineswegs bedeutet, dass die Aufnahme nicht schön und hörenswert ist. Aber was könnte ich bloß noch aus der seitenfüllenden Besprechung zitieren?

Bratschespielen betrachtet sie als ganzheitliche Angelegenheit, es gehe dabei um die Einheit von physischem Körper, Raum und Instrument: „Natürlich gibt es so etwas wie künstlerische Imagination und Fantasie: Ich stelle mir vor, wie dieses oder jenes Stück klingen soll. Aber wie ich dahin komme – das ist eine sehr vielschichtige Frage.“

Ich spüre, die Antwort steht kurz bevor. Ich muss weiterlesen.

Die Balance zwischen dem Analytischen und dem quasi Improvisatorischen, der Inspiration des Augenblicks, und wie Kashkashian sie hält, ist faszinierend. „Es geht immer um Loslassen und Vibrierenlassen. Nur dann kann ich meine Ziele verwirklichen. Das ist eine Lebensaufgabe, ganz jenseits von Kunst und Musik.“

Stopp! Deutlicheres, fürchte ich, wird nicht kommen…

Dann erzählt sie, leise glucksend, Folgendes: „Wenn ich aufnehme, stelle ich mir einen Menschen im Raum vor, in einer Ecke, mit dem ich mich unbedingt unterhalten möchte. Das sind sehr verschiedene Leute, je nach Stück, bei Bach wechselten sie pro Suite! Wichtig ist, dass ein direktes und persönliches Gespräch entsteht. Dadurch werden die Mikrofone sozusagen neutralisiert, und die Situation wird subjektiver und objektiver zugleich.“ Indiskrete Frage natürlich, um welche Personen es sich handelte beim G-Dur-Prélude oder bei vielen, so gar nicht zwangsmunteren Tänzen, bei der Gigue etwa, dem letzten Satz der Suite, dessen Sechsachteltändeln man nicht recht trauen mag. Kashkashian schweigt beredt, Bach selbst habe jedenfalls zu keiner Zeit in der Studioecke gestanden.

Ja, so ähnlich sagt’s die Rhetorik auch. „Steht aber doch immer schief darum“, meinte Gretchen, als sie fand, dass Faust etwas am Thema vorbeiredete.

Nehmen wir die Frage der Ornamentik:

„Mein Verständnis für Bach ändert sich täglich, auf der emotionalen wie auf der strukturellen Ebene. Insofern ist jede Aufnahme eher wie ein eingefangener Moment – bei ihm ganz besonders. Die Verzierungen zum Beispiel, die ich in den Suiten spiele, sind aus dem Moment heraus geboren und zugleich sehr intim, also eigentlich nicht dafür gemacht, festgehalten zu werden.“

Quelle DIE ZEIT 4. Oktober 2018 Seite 53 In der Höhle des Minotaurus Die hohe Kunst des Loslassens: Kim Kashkashian, die Bratschistin, spielt Bach. Von Christine Lemke-Matwey.

Für welches Instrument die sogenannten Cello-Suiten tatsächlich geschrieben sind, weiß man nicht mit Sicherheit. Möglicherweise hat Bach selbst sie gespielt, und seine Vorliebe für die Viola ist bezeugt. Andererseits gibt auch die Tatsache zu bedenken, dass die Noten etwa für das Sonderinstrument „Violoncello piccolo“ in einem Bachschen Kantatensatz der Konzertmeisterstimme beigefügt war, so dass man von einem Wechsel des Instrumentes, nicht des Spielers ausgehen kann. Manche Forschungen deuten auf das Cello da spalla, und man kann die praktische Umsetzung bei Sigiswald Kuijken, Dmitry Badiarov oder Sergey Malov studieren, ausgehend etwa von dem Concerti-Artikel mit anklickbaren Musikbeispielen hier. Oder auch auf der Website von Dmitry Badiarov, dessen Blog eine wahre Fundgrube ist: hier.

Ich muss gestehen, dass ich als „abgestiegener“ Geiger trotzdem der Bratsche den Vorzug gebe, vor allem, in klanglicher Hinsicht (menschlicher), aber auch was die Handhabung und Haltung angeht (würdevoller). Braccio hin, Spalla her, mir fehlt der aufrechte Gang (Geige) genauso wie der souveräne Sitz (Cello).

Um mich gleichzeitig zur Ordnung zu rufen: Es handelt sich immerhin um die im Original vorgeschriebene Tonhöhe, im Bass-Schlüssel, in der Bass-Region ohne Wenn und Aber.

Andererseits mag ich wieder nicht zustimmen, wenn ich das Folgende lese:

Das Revolutionäre an Bachs Werken für Solostreicher bestand im Verzicht auf den traditionellen Generalbass. Die Stimmen hatten das Fundament in sich selbst zu finden. Im Gegensatz zum Cello nun mit seinen tieferen Frequenzen kann die Basslage auf der Viola nur angedeutet werden: „Der Interpret muss diese Stimme hören und mitdenken, ja mitspielen, obwohl sie gar nicht da ist“, sagt Kim Kashkashian. „Es gibt etwas großes Unausgesprochenes in dieser Musik.“

Oje! Schon wieder solch ein Satz. Im übrigen: revolutionär ist die Qualität, aber durchaus nicht der Generalbass-Verzicht (in Studienwerken üblich). Ich freue mich auf die neue CD, – ohne zu vergessen, dass mich dieses nebulöse Künstler- und Journalisten-Gelabere über Bach zunächst einmal missvergnügt stimmt. Loslassen und Vibirierenlassen… Imaginäre Personen in der Studioecke anspielen, pro Suite wechselnd … die Balance zwischen dem Analytischen und dem quasi Improvisatorischen, der Inspiration des Augenblicks …

Ich wäre schon glücklich, ein paar andeutungsweise analytische Sätze über die reale Balance zwischen Akkord- und Linienverlauf zu hören.

Grund genug, abschließend an den großen Ernst Kurth zu erinnern, und zwar mit zwei Seiten aus den genialen „Grundlagen des linearen Kontrapunkts“ (1917):

„Abschließend“ kann dies nicht gedacht sein, es muss fortgeführt werden. Ich stehe übrigens nicht allein mit den hier angedeuteten unabgeschlossenen Gedanken zu Bachs Melodik.

 Bach Lexikon Laaber Verlag

Der Autor des Lexikon-Artikels über Bachs Melodik ist Clemens Kühn. Sein Name hat für mich ein solches Gewicht, dass ich mir gerade auch noch das neue Büchlein besorgt habe, dessen Titel verdächtig „populistisch“ anmutet: Abenteuer Musik / Eine Entdeckungsreise für Neugierige. Um so nachdrücklicher möchte ich darauf hinweisen, dass es tatsächlich als Vorbild dienen kann, wenn es um eine nicht simpifizierende Allgemeinverständlichkeit geht. Niemandem hilft andächtiges Geraune à la J.E.Berendt („Hinübergehen – das Wunder des Spätwerkes“), am wenigsten bei Bach. Ehrlich gesagt, stört mich schon, dass in dem neuen Buch zweimal Fritjof Capra zitiert wird…

Hier zunächst die Fortsetzung des Lexikon-Artikels, den man voll ausschöpfen sollte, wenn man sich mit Bachs Solissimo-Werken beschäftigt:

  

Quelle Das Bach-Lexikon / Herausgegeben von Michael Heinemann / Laaber-Verlag 2000 (Autor des Artikels: Clemens Kühn; sehr lesenswert auch sein Artikel über Form)

Beruht also Bachs Melodik in den Sätzen für Violine und Cello solo auf Einstimmigkeit, die latent mehrstimmig ist, oder umgekehrt auf Mehrstimmigkeit, die in Einstimmigkeit zusammengezogen ist?“ Mit dieser Frage (s.o. S. 366 unter Punkt 6.) hat auch Kühns vorsichtige Kritik an Kurth zu tun. Und ich fühle mich in aller Bescheidenheit ermutigt, bei meinem Ansatz von 1991 zu bleiben, nämlich: Bachs G-moll-Adagio BWV 1000 auf einen imaginären Choral-Satz zurückzuführen (siehe hier). Obwohl die Arbeit aus heutiger Sicht gewiss überarbeitet werden müsste.

 Bärenreiter Metzler 2018

Von den frühen Freimaurern

Persönlichkeit, Selbstanalyse, Unterwerfung

ZITAT (Hans-Josef Irmen)

Die Illuminaten bildeten einen politischen Geheimbund, dem das Ideal eines humanistischen Weltbürgertums außerhalb christlicher Institutionen zugrundelag. Die Ordensmitglieder sollten in die wichtigsten Staats- und Kirchenämter gelangen, auf eine gewaltlose Reform des Staates hinwirken und den Einfluß der Jesuiten zurückdrängen. Der Bund breitete sich seit Beginn der achtziger Jahre rasch aus und zählte 1785 schätzungsweise 2500 Mitglieder unter bürgerlichen und adligen Verwaltungsbeamten, Weltgeistlichen, Professoren, Juristen und Literaten. In Wien, einem wichtigen Illuminatenzentrum, arbeiteten führende Männer wie Kaunitz, Cobenzl, Kollowrath, Sonnenfels und Born für den Orden, in Braunschweig, Gotha und Weimar traten die Herzöge dem Bund ebenso bei wie Goethe, Herder und Knigge, in Neuwied erwuchs eine Illuminatenhochburg, die in die rheinischen Lande wirkte und den Aufbau einer Minervalkirche in Bonn unterstütze.

Freimaurerischem Bildungsstreben gemäß arbeiteten die Illuminaten an der planvollen Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit. Voraussetzung für jegliches Fortkommen im Orden war eine gründliche psychologische Selbstanalyse. Jeder Illuminat war verpflichtet, ein Charakterbild seiner selbst zu entwerfen und der Initians hielt für diese „Generalbeicht“ des Recipienden einen hundertfältigen Fragenkatalog parat. Auf Neefes Lebenslauf folgt im Manuskript denn auch der „beigefügte Karakter“, er entspricht Punkt für Punkt dem vorgegebenen Muster. Dieses Psychogramm erfaßt seine Persönlichkeit im Detail, ihren physischen Zustand und ihre politischen und moralischen Eigenschaften. Wer die Aufnahme in die Führungskader des Illuminatenordens begehrte, mußte sich schamlosen Blicken bis hinter den Lendenschurz bloßstellen. NOSCE TE IPSUM (= Erkenne dich selbst) hieß dieses Dokument, dessen Ideologie in Neefes Illuminatenblättern erläutert wurde: „Richtige unpartheiische Prüfung und Kenntniß seiner selbst, führt zur wichtigsten unpartheiischen Prüfung anderer, wenn’s darauf abkommt, Menschenwerth“; seiner Selbstbiographie „beigefügten Karakter“ nannte Neefe „Resultat der Beobachtung meiner selbst“ und stellt einen Katalog von Selbstenthüllungen zusammen.

Neben Neefe boten auch andere Adepten als Konvertiten solch seelischen Exhibizionismus und entblößten sich vor den Startlöchern ihrer Illuminatenlaufbahn stehend „in unterwürfig-zerknirschten, oft peinlich wirkenden Beichtformeln“. Was in diesen Dokumenten positiv aufscheint, ist situativ erpreßt, bewußt inszeniert, subjektiv eingefärbt und nur mit Abstrichen zitierbar. Unangebracht, solchen vom totalitären System der Illuminaten verlangten Bekenntnissen einer mehr oder weniger schönen Seele objektiven Charakter beizulegen. Sie sind situationsgebunden und zweckorientiert, denn Neefe wollte im Orden die obersten Grade erklimmen.

Quelle Hans-Josef Irmen: Neefe als Freimaurer und Illuminat / in: Christian Gottlob Neefe / Eine eigenständige Künstlerpersönlichkeit / Tagungsbericht Chemnitz 1998 /  Herausgegeben von Helmut Loos / Gudrun Schröder Verlag (Laaber)  Chemnitz ISBN 3-926196-34-3

Diese aufschlussreichen Bemerkungen über die restriktive Praxis in Freimaurerorden waren mir inhaltlich neu, auch wenn man aus dem Zeremonial der Zauberflöte einige Rückschlüsse ziehen kann. Interessant ist auf jeden Fall der große Artikel über FREIMAURERMUSIK, in dem es zwar auch eine allgemeine Einführung zur Freimaurerei gibt, sehr kompetent, wobei jedoch die oben angesprochenen Aspekte völlig fehlen. Die großen Komponisten werden ausführlich behandelt – Haydn, Mozart und Beethoven, aus dessen Abschnitt im folgenden ein Spalte zitiert sei.

 MGG 1995 Sp. 885

Quelle Musik in Geschichte und Gegenwart MGG neu SACHTEIL Bd. 3 „Freimaurermusik“ (Autor: Hans-Josef Irmen) Bärenreiter Kassel Basel London New York Prag Metzler Stuttgart Weimar 1995.

Der Autor ist derselbe, der darüber in der Neefe-Monographie geschrieben hat. Aber was im MGG-Lexikon noch fehlt, ist der Hinweis auf die negative Seite, das totalitäre System, den Anspruch des Systems auf völlige Unterwerfung. Ich denke in diesem Zusammenhang nicht an den Islam und das ehrerbietige Niederfallen, aber an den Pietismus, an die endlosen Demütigungen, die der Roman Anton Reiser (Karl Philipp Moritz 1785) ausbreitet. Und an die katholische Litanei des „Herr, ich bin nicht würdig“, an all die Übungen, die keinen Gläubigen jemals vor Selbstüberschätzung bewahrt haben.

Und dann bin ich schnell bei Michel Foucault.

Vogelgesänge in der Neuen Musik

Die erste Natur in der zweiten

Dies ist eine Radiosendung, die ich im Auge behalten will. In der aktuellen Woche kann man sie noch nach-hören, und dass man eine so farbige Sendung nur hört, kann man als Vorteil nehmen, zumal wenn man sich in dieser Stunde mit nichts anderem ablenkt. SWR2! Immer noch ein bemerkenswerter Sender! Der Zugang wäre hier.

Und doch will ich niemandem die dort vorhandene Ansicht (Foto Messiaen und Pressetext der Sendung) an dieser Stelle vorenthalten, damit man gar nicht erst in Versuchung kommt, groß rumzuklicken… (Entschuldigung!)

Stichworte zum Inhalt

Kurt Schwitters (Wolfgang Müller) und ein Star, der Passagen der „Ursonate“ zitiert, die Frage der Rechte. Stare von Hjertøya. Worte für die Lautäußerungen der Vögel. Klangsilben und Noten. Gesang des Sprossers. „Obervogelgesang“. Madrigal. Haubenlerche. Sciarrino. Atemsystem. Messiaen „nichttemperierte Intervalle“. Dorngrasmücke. „Reveil d’Oiseaux“. Singdrossel. Ab 25:15 Bauckholt „Zugvögel“. Lockpfeifen. Robin Hoffmann. „Die Pfeife verrät das Holz, woraus sie geschnitten sind.“ John Cage 1972. Drei Tonbänder Alltagsgeräusche New York, seine eigene Stimme, Käfigvögel, Titel „Bird Cage“. Zufallsverfahren. Immer ist es der Mensch, der die Situation bestimmt. Kurt Schwitters und die Stare. Spiel mit diesen Imitationen. Leierschwanz. Motorengeräusche. Differenziertes Hörvermögen der Vögel. 1823. Akustische Umweltverschmutzung oder Dialog. Beo aus Thailand: „I love you“.

Mehr über Jan Kopp in Wikipedia hier.

Wieviele werden kommen?

„Sie werden aus Saba alle kommen“

ZITAT (ein syrischer Komponist, der seit 18 Jahren in Deutschland lebt)

Zuerst ist es die logische Folge, die ich gerade sehe; vor 15 Jahren oder so habe ich es von meinem Vater gehört, er meinte, das wird so sein: Die werden kommen, die werden alle kommen, so wie bisher funktioniert’s nicht, die werden alle kommen. Es geht nicht mehr um Flüchtling und Asyl oder so, es wird eine Völkerwanderung geben. Er meinte, so wird’s nicht bleiben, die werden kommen. Das ist keine Prophezeiung, das ist wie gesagt eine logische Folge. Eins.

Das zweite Gefühl ist: was kann man mit diesen armen Menschen jetzt anfangen? Ich weiß es wirklich nicht, ich sehe sie überall. Es gibt diese Art unsichtbare Verbindung zwischen den Leuten, die aus Syrien, Libanon und Irak kommen und mir, obwohl ich jetzt seit mehr als 18 Jahren weg bin von der Heimat.

Und das dritte … es ist peinlich zu sagen – aber: Ist das wahr, dass wir auf diesem Niveau landen [müssen]? Denn ich kann jetzt nicht darüber sprechen, dass sie nur Opfer sind. Auch über mich, ich spreche jetzt auch über mich, obwohl die Umstände verschieden sind, damals und jetzt, aber … in einer Kette. Und ich schäme mich ein bisschen. Ist das wahr, dass wir auf diesem Niveau landen? Dass wir so zerstreut sind überall hin … dass es bei uns an sehr vielem fehlt und wir wirklich keine Basis für eine Heimat, ein internationales Gefühl haben, überhaupt kein nationales Gefühl… Und allmählich verstehen wir mehr und mehr, aber leider immer zu spät. Wir sind keine Philosophen, um das Ganze zu verstehen.

Ich habe das Interview, das Wolfgang Hamm 2015 mit Saad Thamir geführt und in einer WDR-Sendung veröffentlicht hat, im Dezember 2016 aufgeschrieben und  in einem Artikel festgehalten (hier), einiges ist mir für immer ins Gedächtnis gegraben, gerade in dem schwermütigen Tonfall des Mannes, den ich bei einem Dreiergespräch im Café des Kölner Museums Ludwig auch persönlich kennengelernt hatte.

Später habe ich die Bach-Kantate 62 „Sie werden aus Saba alle kommen“ rekapituliert und in den neuen Zusammenhang hineinphantasiert: hier.

Und es jetzt fiel mir all dies wieder ein, als ich in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ den Artikel „Wir schaffen es nicht“ las (27. September 2018). Der Autor Stephen Smith, der an der Duke-Universität in den USA Afrikanistik lehrt, hat ein Buch geschrieben, das Emanuel Macron zur Pflichtlektüre erklärte: „Nach Europa! Das junge Afrika auf dem Weg zum alten Kontinent“. Es wird in diesen Wochen auch in Deutschland erscheinen.

Dem ZEIT-Interview nach sagt er – ausgehend vom Asylkompromiss der großen Koalition in Berlin -, Europa müsse schon innerhalb der nächsten 30 Jahre mit 150 bis 200 Millionen neuen Einwohnern mit afrikanischem Migrationshintergrund rechnen.

ZITAT (Stephen Smith)

Die Lage lässt sich einfach beschreiben. Es gibt heute 500 Millionen Westeuropäer, auf der anderen Seite des Mittelmeers leben 1,3 Milliarden Afrikaner. Schon im Jahre 2050 werden es 2,5 Milliarden Afrikaner sein. Und zwar sehr junge Afrikaner, zwei Drittel von ihnen werden unter dreißig sein. Die Westeuropäer werden dagegen sehr alt und nur noch 450 Millionen sein. Schon die nackten Zahlen lassen also einen ungeheuren Migrationsdruck erkennen.

Quelle DIE ZEIT 27. September 2018 Seite 50 „Wir schaffen das“ Millionen kommen, doch es kümmert niemanden: Der US-amerikanische Afrikanist Stephen Smith über den bevorstehenden Ansturm afrikanischer Flüchtlinge auf Europa /  Interview: Georg Blume.

Um diese Zahlen bedrohlich zu finden, muss man nicht der AfD angehören. Natürlich sieht Smith das nicht anders als jeder Mensch, die die Zukunft nicht rassistisch, sondern realistisch ins Auge fasst. Stephen Smith:

Ich glaube mit Hans Magnus Enzensberger, dass man sich nicht vor Applaus vn der falschen Seite fürchten darf. Aber Marine Le Pen hätte meinem Buch einen anderen Titel gegeben: „Die schwarze demografische Bombe“ zum Beispiel. Sie hätte damit Angst schüren wollen. Das liegt mir fern. In Frankreich lebten in den 1920er Jahren nur 3000 Schwarzafrikaner, heute sind es Millionen. Trotzdem sage ich: Frankreich ist immer noch Frankreich.

Angst zu schüren ist ein probates Mittel der rechten Politik. Und ich sage auch nicht, was schert mich das Jahr 2050, dann bin über 100 Jahre und werde, auch wenn ich Glück habe (oder wie soll ich das nennen?), nicht mehr viel bewegen. Aber eins weiß ich heute schon: nicht die Schwarzafrikaner in Europa werden unsere Enkel beunruhigen (nebenbei: die beiden besten Freunde meines Enkels haben schwarzafrikanische Eltern), sondern die globalen, klimatisch bedingten Katastrophen werden die Menschheit insgesamt in Schrecken versetzen.

Ich werde überhaupt keine Analyse, kein Buch mehr ernst nehmen, das den Klimawandel ignoriert, jedoch die Bevölkerungsverschiebungen durch Migration als Hauptproblem der Zukunft beschreibt.

Bevor ich mich weiter dem Smith-Interview widme, registriere ich eine andere Sicht der gleichen Probleme, eine „linke“ Sicht (wobei zu vermerken ist, dass die „bürgerlichen“ Zeitungen zumeist eine Zahl-Schranke vor dem online-Portal präsentieren), nämlich hier.

Im übrigen nehme ich ein neues Buch sehr ernst, das sich als „terrestrisches Manifest“ begreift. ZITAT:

Migrationen, Explosion der Ungleichheiten und Neues Klimaregime ein und dieselbe Bedrohung. Die meisten unserer Mitbürger unterschätzen oder leugnen, was der Erde widerfährt, sind sich aber der Tatsache, dass die Migration ihre Träume von gesicherter Identität gefährdet, vollkommen bewusst.

Zur Zeit sehen sie, von den sogenannten „populistischen“ Parteien stramm bearbeitet und aufgewiegelt, nur die eine Dimension der ökologischen Mutation: dass sie Menschen über ihre Grenzen treibt, die sie nicht wollen. Also denken sie sich: „Machen wir die Grenzen dicht, damit entgehen wir der Invasion!“

Die andere Dimension dieser Veränderung haben sie noch nicht so deutlich zu spüren bekommen: Das Neue Klimaregime fegt seit Langem schon über alle Grenzen hinweg und setzt uns allen Stürmen aus. Und gegen diese Invasoren sind unsere Mauern machtlos.

Wenn wir unsere Zugehörigkeiten und Identitäten verteidigen wollen, müssen wir auch diese form- und staatenlosen Migranten identifizieren, die da heißen: Klima, Bodenerosion, Umweltverschmutzung, Ressourcenknappheit, Habitatzerstörung. Selbst wenn ihr die Grenzen vor den zweibeinigen Flüchtlingen dicht macht, die anderen werdet ihr nicht aufhalten können.

„Ist denn niemand mehr Herr im eignen Haus?“

Nein, in der Tat. Weder die Souveränität der Staaten noch die Undurchlässigkeit der Grenzen sind noch in der Lage, Politik zu ersetzen.

„Aber dann ist ja alles offen; dann müssen wir draußen leben, vollkommen schutzlos, von Sturmwinden gebeutelt, vermischt mit allen, gezwungen, um alles zu kämpfen, ohne irgendwelche Sicherheiten, müssen pausenlos den Ort wechseln, auf jede Identität, allen Komfort verzichten? Wer kann denn so leben?“

Niemand, ganz richtig. Kein Vogel, keine Zelle, kein Migrant und kein Kapitalist. Selbst Diogenes hat Anrecht auf eine Tonne, der Nomade auf sein Zelt, der Flüchtling auf sein Asyl.

Glaubt denen keine Sekunde, die von der großen weiten Welt faseln, davon, aufs „Risiko zu setzen“, alle Sicherheitsnetze sausen zu lassen, und die weiter mit großer Geste auf den endlosen Horizont der Modernisierung für alle zeigen; diese scheinheiligen Apostel nehmen selbst dann nur Gefahren auf sich, wenn Komfort garantiert ist. Statt zu lauschen, was sie nach außen von sich geben, schaut lieber, was da auf ihrem Rücken glänzt: der sorgfältig gefaltete goldene Fallschirm, der sie vor allem Unbill der Existenz schützt.

Quelle Bruno Latour: Das terrestrische Manifest / edition Suhrkamp Berlin 2018 (Zitat S.18f)

(Fortsetzung folgt)