„Sie werden aus Saba alle kommen“
ZITAT (ein syrischer Komponist, der seit 18 Jahren in Deutschland lebt)
Zuerst ist es die logische Folge, die ich gerade sehe; vor 15 Jahren oder so habe ich es von meinem Vater gehört, er meinte, das wird so sein: Die werden kommen, die werden alle kommen, so wie bisher funktioniert’s nicht, die werden alle kommen. Es geht nicht mehr um Flüchtling und Asyl oder so, es wird eine Völkerwanderung geben. Er meinte, so wird’s nicht bleiben, die werden kommen. Das ist keine Prophezeiung, das ist wie gesagt eine logische Folge. Eins.
Das zweite Gefühl ist: was kann man mit diesen armen Menschen jetzt anfangen? Ich weiß es wirklich nicht, ich sehe sie überall. Es gibt diese Art unsichtbare Verbindung zwischen den Leuten, die aus Syrien, Libanon und Irak kommen und mir, obwohl ich jetzt seit mehr als 18 Jahren weg bin von der Heimat.
Und das dritte … es ist peinlich zu sagen – aber: Ist das wahr, dass wir auf diesem Niveau landen [müssen]? Denn ich kann jetzt nicht darüber sprechen, dass sie nur Opfer sind. Auch über mich, ich spreche jetzt auch über mich, obwohl die Umstände verschieden sind, damals und jetzt, aber … in einer Kette. Und ich schäme mich ein bisschen. Ist das wahr, dass wir auf diesem Niveau landen? Dass wir so zerstreut sind überall hin … dass es bei uns an sehr vielem fehlt und wir wirklich keine Basis für eine Heimat, ein internationales Gefühl haben, überhaupt kein nationales Gefühl… Und allmählich verstehen wir mehr und mehr, aber leider immer zu spät. Wir sind keine Philosophen, um das Ganze zu verstehen.
Ich habe das Interview, das Wolfgang Hamm 2015 mit Saad Thamir geführt und in einer WDR-Sendung veröffentlicht hat, im Dezember 2016 aufgeschrieben und in einem Artikel festgehalten (hier), einiges ist mir für immer ins Gedächtnis gegraben, gerade in dem schwermütigen Tonfall des Mannes, den ich bei einem Dreiergespräch im Café des Kölner Museums Ludwig auch persönlich kennengelernt hatte.
Später habe ich die Bach-Kantate 62 „Sie werden aus Saba alle kommen“ rekapituliert und in den neuen Zusammenhang hineinphantasiert: hier.
Und es jetzt fiel mir all dies wieder ein, als ich in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ den Artikel „Wir schaffen es nicht“ las (27. September 2018). Der Autor Stephen Smith, der an der Duke-Universität in den USA Afrikanistik lehrt, hat ein Buch geschrieben, das Emanuel Macron zur Pflichtlektüre erklärte: „Nach Europa! Das junge Afrika auf dem Weg zum alten Kontinent“. Es wird in diesen Wochen auch in Deutschland erscheinen.
Dem ZEIT-Interview nach sagt er – ausgehend vom Asylkompromiss der großen Koalition in Berlin -, Europa müsse schon innerhalb der nächsten 30 Jahre mit 150 bis 200 Millionen neuen Einwohnern mit afrikanischem Migrationshintergrund rechnen.
ZITAT (Stephen Smith)
Die Lage lässt sich einfach beschreiben. Es gibt heute 500 Millionen Westeuropäer, auf der anderen Seite des Mittelmeers leben 1,3 Milliarden Afrikaner. Schon im Jahre 2050 werden es 2,5 Milliarden Afrikaner sein. Und zwar sehr junge Afrikaner, zwei Drittel von ihnen werden unter dreißig sein. Die Westeuropäer werden dagegen sehr alt und nur noch 450 Millionen sein. Schon die nackten Zahlen lassen also einen ungeheuren Migrationsdruck erkennen.
Quelle DIE ZEIT 27. September 2018 Seite 50 „Wir schaffen das“ Millionen kommen, doch es kümmert niemanden: Der US-amerikanische Afrikanist Stephen Smith über den bevorstehenden Ansturm afrikanischer Flüchtlinge auf Europa / Interview: Georg Blume.
Um diese Zahlen bedrohlich zu finden, muss man nicht der AfD angehören. Natürlich sieht Smith das nicht anders als jeder Mensch, die die Zukunft nicht rassistisch, sondern realistisch ins Auge fasst. Stephen Smith:
Ich glaube mit Hans Magnus Enzensberger, dass man sich nicht vor Applaus vn der falschen Seite fürchten darf. Aber Marine Le Pen hätte meinem Buch einen anderen Titel gegeben: „Die schwarze demografische Bombe“ zum Beispiel. Sie hätte damit Angst schüren wollen. Das liegt mir fern. In Frankreich lebten in den 1920er Jahren nur 3000 Schwarzafrikaner, heute sind es Millionen. Trotzdem sage ich: Frankreich ist immer noch Frankreich.
Angst zu schüren ist ein probates Mittel der rechten Politik. Und ich sage auch nicht, was schert mich das Jahr 2050, dann bin über 100 Jahre und werde, auch wenn ich Glück habe (oder wie soll ich das nennen?), nicht mehr viel bewegen. Aber eins weiß ich heute schon: nicht die Schwarzafrikaner in Europa werden unsere Enkel beunruhigen (nebenbei: die beiden besten Freunde meines Enkels haben schwarzafrikanische Eltern), sondern die globalen, klimatisch bedingten Katastrophen werden die Menschheit insgesamt in Schrecken versetzen.
Ich werde überhaupt keine Analyse, kein Buch mehr ernst nehmen, das den Klimawandel ignoriert, jedoch die Bevölkerungsverschiebungen durch Migration als Hauptproblem der Zukunft beschreibt.
Bevor ich mich weiter dem Smith-Interview widme, registriere ich eine andere Sicht der gleichen Probleme, eine „linke“ Sicht (wobei zu vermerken ist, dass die „bürgerlichen“ Zeitungen zumeist eine Zahl-Schranke vor dem online-Portal präsentieren), nämlich hier.
Im übrigen nehme ich ein neues Buch sehr ernst, das sich als „terrestrisches Manifest“ begreift. ZITAT:
Migrationen, Explosion der Ungleichheiten und Neues Klimaregime ein und dieselbe Bedrohung. Die meisten unserer Mitbürger unterschätzen oder leugnen, was der Erde widerfährt, sind sich aber der Tatsache, dass die Migration ihre Träume von gesicherter Identität gefährdet, vollkommen bewusst.
Zur Zeit sehen sie, von den sogenannten „populistischen“ Parteien stramm bearbeitet und aufgewiegelt, nur die eine Dimension der ökologischen Mutation: dass sie Menschen über ihre Grenzen treibt, die sie nicht wollen. Also denken sie sich: „Machen wir die Grenzen dicht, damit entgehen wir der Invasion!“
Die andere Dimension dieser Veränderung haben sie noch nicht so deutlich zu spüren bekommen: Das Neue Klimaregime fegt seit Langem schon über alle Grenzen hinweg und setzt uns allen Stürmen aus. Und gegen diese Invasoren sind unsere Mauern machtlos.
Wenn wir unsere Zugehörigkeiten und Identitäten verteidigen wollen, müssen wir auch diese form- und staatenlosen Migranten identifizieren, die da heißen: Klima, Bodenerosion, Umweltverschmutzung, Ressourcenknappheit, Habitatzerstörung. Selbst wenn ihr die Grenzen vor den zweibeinigen Flüchtlingen dicht macht, die anderen werdet ihr nicht aufhalten können.
„Ist denn niemand mehr Herr im eignen Haus?“
Nein, in der Tat. Weder die Souveränität der Staaten noch die Undurchlässigkeit der Grenzen sind noch in der Lage, Politik zu ersetzen.
„Aber dann ist ja alles offen; dann müssen wir draußen leben, vollkommen schutzlos, von Sturmwinden gebeutelt, vermischt mit allen, gezwungen, um alles zu kämpfen, ohne irgendwelche Sicherheiten, müssen pausenlos den Ort wechseln, auf jede Identität, allen Komfort verzichten? Wer kann denn so leben?“
Niemand, ganz richtig. Kein Vogel, keine Zelle, kein Migrant und kein Kapitalist. Selbst Diogenes hat Anrecht auf eine Tonne, der Nomade auf sein Zelt, der Flüchtling auf sein Asyl.
Glaubt denen keine Sekunde, die von der großen weiten Welt faseln, davon, aufs „Risiko zu setzen“, alle Sicherheitsnetze sausen zu lassen, und die weiter mit großer Geste auf den endlosen Horizont der Modernisierung für alle zeigen; diese scheinheiligen Apostel nehmen selbst dann nur Gefahren auf sich, wenn Komfort garantiert ist. Statt zu lauschen, was sie nach außen von sich geben, schaut lieber, was da auf ihrem Rücken glänzt: der sorgfältig gefaltete goldene Fallschirm, der sie vor allem Unbill der Existenz schützt.
Quelle Bruno Latour: Das terrestrische Manifest / edition Suhrkamp Berlin 2018 (Zitat S.18f)
(Fortsetzung folgt)