Archiv der Kategorie: Religion

Gebrandmarkte

Bildnotizen zu Kirchen in Lemgo 19. Juli 2015

Lemgo St Marien Chor  Lemgo St Marien Nebeneingang

Lemgo Jude mit Spitzhut St. Marien, Lemgo

Erläuterung auf einer beigefügten Schrifttafel: Diese Figur aus der Bauzeit der Kirche (um 1313) ist ein Zeugnis mittelalterlichen Antijudaismus. Mit dem thronenden Christus am rechten Wandpfeiler bilden beide Figuren zusammen die personifizierte Darstellung der jüdischen und christlichen Religion: Synagoge und Ecclesia. Die Synagoge ist in der Person eines Juden mit Spitzhut (mittelalterliches diskriminierendes Bekleidungsmerkmal für Juden) zu erkennen. Sie hält ein aufrecht stehendes Schwein in Händen. Damit verhöhnt die Darstellung das dem Juden heilige Gesetz, das Gott seinem Volk durch Moses gegeben hat. Das Schwein gehört zu den unreinen Tieren (3. Mose 11,7), das weder gegessen noch im toten Zustand angerührt werden darf.

(Der Rest des Textes ist identisch mit den entsprechende Absätzen auf der unten wiedergegebenen Tafel.)

Lemgo Säule Jude & Jesus  Lemgo Jesus & Juden

Lemgo Tafel Jesus, Juden Passion

So wurden aus den beschämenden Selbstzeugnissen einer verwirrten Theologie gewissermaßen Gedenksteine. Zu sehen in der sehenswerten Kirche St. Marien. Sobald man die andere, schon in der Außenansicht spektakuläre Kirche St.Nicolai betritt und sich an die mystische Beleuchtung des Innenraums gewöhnt hat, fällt der Blick bald auf den tiefschwarzen Stein mit dem quer durchgeschlagenen Riss, der zunächst kaum auffällt, wie durch Blitzschlag hineingebrannt: ein Kainsmal . GOTT WIRD ENDLICH MEIN HAUPT AUFRICHTEN UND MICH WIEDER ZU EHREN SETZEN / ANDREAS KOCH, 1647 – 1665 Pfarrer an St. Nicolai.

Was ist ihm widerfahren?

Pfarrer Andreas Koch Riss (Bitte anklicken)

Man kann es kaum entziffern, ganz unten stehen die grausamen Fakten:

Pfarrer Andreas Koch Bio

Er ist hingerichtet worden, weil er sich gegen die Hexenprozesse gewandt hat, und zwar als sogenannter „Teufelsbündner“. Ein „Sympathisant“ der Gebrandmarkten? Ganz so einfach ist die Sachlage nicht: er hat den Glauben seiner Zeit durchaus geteilt, sein Ziel war nicht die Auflösung des Hexenwahns, – er wollte nur mehr Gerechtigkeit in das Verfahren bringen.

Die Lektüre des lutherischen Theologen und Erfurter Professors Johann Matthäus Meyfarth wird später ausdrücklich erwähnt, doch hat er möglicherweise auch die „Cautio Criminalis“ von Friedrich Spee gekannt. Wie diese beiden Autoren bestritt Andreas Koch nicht die Existenz von Hexen oder die Möglichkeit zu Schadenzauber, doch sah er wie sie die Gefahr, daß durch ein fragwürdiges Prozeßverfahren Unschuldige ihr Leben verlören. Damit stand er repräsentativ für die Lemgoer Oberschicht, die in der Prozeßwelle 1653-1656 erstmals nicht mehr bereit war, Beschuldigungen gegen ihre Familienangehörigen fraglos zu akzeptieren, und sich mit allen juristischen Mitteln dagegen wehrte.

Quelle  siehe HIER  (www.historicum.net).  In den historischen Details auch nachzulesen bei Wikipedia (Artikel Andreas Koch).

Lemgo St. Nicolai Bus  Lemgo St Nicolai fern St. Nicolai

(Handyfotos: JR)

In diesem Zusammenhang habe ich mich eines Buches erinnert, das mein Bruder 1955 von Verwandten aus Greifswald zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte; ich las damals viel Historisches (angefangen mit Quo Vadis) und so auch dies, das sich nachhaltig einprägte:

Hexen Bernsteinhexe 1 Wilhelm Meinhold

Timor Dei

Es ist doch nur ein alter Spruch… Wieso hat er mich besonders berührt, als ich ihn über dem Eingang einer Schule in Solingen sah? Siehe hier.

Vielleicht weiß ich es heute? Ich habe ihn wiedergesehen:Lohe Schule Spruch

An der Volksschule in Lohe bei Bad Oeynhausen. Dort habe ich 1947 mein erstes Schuljahr erlebt und und ziemlich zu Anfang von Lehrer Stark eine schallende Ohrfeige erhalten. Von nun an wusste ich, was das ist, die Furcht des Herrn, eines Herrn, der sogar „Stark“ hieß. Er kam aus dem Osten und legte größten Wert darauf, dass dumme kleine westfälische Kinder eine deutliche, aufrechte Aussprache erlernen und z.B. nicht einfach „Wuast“ sagen, sondern Wurrrst. Er selber wurde deshalb gern Herr „Starrrk“ genannt. Hier ist der Eingang der Schule heute, dann der Blick durch die Bäume auf die Fenster der Klasse, in der ich damals meinen ersten Unterricht erlebte. Die Schule lag und liegt gleich unterhalb der Kirche, wie man sieht.

Lohe Schule Wand z Lohe Schule Kirche z

Warum die Ohrfeige? Ich sollte Silben bilden aus Buchstaben, die wir schon durchgenommen hatten, also aus f und a etwa „fa“, aus b und o vielleicht „bo“. Das war die Hausaufgabe. Ich hatte sie aber missverstanden und schrieb immer ganze Wörter, das hatte ich bei meinem älteren Bruder schon viel früher mitgelernt, also: „Familie“, „Boden“ u.ä., – ich erhielt die Ohrfeige für die Anmaßung. War ich überheblich oder allzu selbstbewusst? Ich glaube nicht.

Von nun an wusste ich allerdings, was die Furcht des Herrn ist: die Furcht vor dem Herrn Starrk! So stand es draußen an der Wand. Und zwar mit Quellenangabe: Sirach 1, 14. Das ist ein apokryphes Buch des Alten Testaments, in der Bibel meiner Loher Oma kommt es überhaupt nicht vor. Aber die andere Oma aus Belgard, die zitierte gern noch einen anderen Spruch von Sirach: „Wer die Rute schonet, hasset seinen Sohne“. Irgendwie habe ich es früh zu spüren begonnen – ein derart schlechter Reim kann schon mal per se nichts mit der Weisheit Anfang zu tun haben.

Die Schläge waren damals noch an der Tagesordnung: einmal ging der HErr zu weit, und jemand musste mit Nasenbluten nach Hause gehen, die Mutter kam, und der Lehrer schimpfte, wie sich die Kinder heutzutage dumm anstellen! Und dann auch noch so aufsässig zu bluten, unerhört!!

Aber eines Tages kam der neue Lehrer Sichelschmidt (s.u.), und alles war gut. Der Knabe, der da vorn in der Mitte sitzt, sieht doch ganz glücklich aus, oder nicht?

Lohe Schulklasse (Teil) + Sichelschmidt

Geschrieben nach einem Wiedersehen auf der Lohe – eingedenk der frühesten Zeiten. KINDHEIT. Unten: Auf einem neuen Foto (1947) der Nachbarn: auch meine Eltern. Notiz aus den Erinnerungen meiner Mutter. (Stolz, ja doch! Aber etwas übertrieben.) Meine genaue Größe am 7.3.47: 121 cm; am 26.12.47: 127 cm. (Nach Krieg und Flucht: Das neue Leben auf dem Lande!)

LOHE  1947

LOHE Notiz Schulbeginn

LOHE 32 P1040183

Die Landschaft meiner Kindheit. Die sogenannte Steinkuhle, Hobergs Busch. Der Blick  über Feld und Wald auf das ferne Kaiser-Wilhelm-Denkmal an der Porta Westfalica. Dort – in Wolkenformen oder Dunst – las meine Oma das kommende Wetter ab. Dorthin – auf ein im Tal liegendes Waffenlager – waren auch die Flaks gerichtet, die die Amerikaner nach dem Einmarsch hier auf die Felder gestellt hatten.

LOHE 21 P1040159

(Fotos unten: E.Reichow, Handyfotos oben: JR)

17.07. Neue Lektüre (s.u.) / 18.07. Nachbarschaftstreffen Lohe / 19.07. Lemgo (Extra-Beitrag) Nicht vergessen: Geläut St. Marienkirche A-C-Es, Juden, Hexen, St. Nicolai, Pfarrer Andreas Koch „Teufelsbündner“.

Foucault 150717

Von der Angst zur Höflichkeit

Timor Dei

Heute kam ich am Gymnasium Schwertstraße vorbei, hörte die typischen Pausengeräusche aus dem Innern, fragte mich, ob in Solingen wohl schon an den Schulen das rufende Sprechen eingeübt wird, ein Schreien fast; mir erschien es seit je als eine ortsgebundene Taktik, auch bei kleinen Meinungsverschiedenheiten sofort den ganzen Luftraum zu besetzen, noch ehe man an den Austausch von Argumenten gehen kann. Die Frage ist, ob sich eine weitgehend höfliche Auseinandersetzung unter Jugendlichen überhaupt durchsetzen ließe (höflich durchsetzen?), ehe nicht die Grundregeln der Logik und des Sprachverständnisses erlernt und als solche (an)erkannt wurden. „Bauchgefühl“ und „emotionaler Einsatz“ stehen gesellschaftlich hoch im Kurs. Während ich noch überlegte und meine gestrige Zeitungslektüre zu rekapitulieren suchte, hatte ich schon das Smartphone gezückt und den ehernen Schuleingang fotografiert:

Spruch Schwertstraße fern

Es ging mir um den Spruch, der mich wiederum an den Spruch am gelben Gemäuer meines alten Gymnasiums in Bielefeld erinnerte; ich habe ihn schon früher einmal beschworen: nämlich hier. DEO ET LITERIS, – in genau dieser Schreibweise, die unter Altsprachlern noch elegant problematisiert werden konnte. Und immerhin waren es ja zwei Bereiche, die durch das „Et“ nicht nur verbunden, sondern auch sichtbar getrennt wurden. Und hier? Gibt es hier überhaupt noch Latein, so dass man klären könnte, wie es zur Furcht Gottes kommen konnte, ob das Wort mehr mit Ehrfurcht oder mit Angst zu tun hat, in jedem Fall aber als Furcht vor Gott verstanden werden muss, was bei gottesfürchtigen Kindern natürlich außer Zweifel steht. Und sicher geht es nicht darum, den TIMOR DEI nach dem Vorbild des heiligen Augustinus (oder Kierkegaards?) unter dem Doppelaspekt von Furcht und Angst zu betrachten. Aber ist es nicht ein Schlag ins Gesicht der Philosophie, dass eine solche „Emotion“ von vornherein als der Weisheit Anfang  apostrophiert und gewissermaßen petrifiziert wird? Warum eine solch massive, freiheitsberaubende Vorgabe?!

Spruch Schwertstraße nah

Die erwähnte Zeitungslektüre betraf eine der zahllosen „Gewissensfragen“, die niemand so brillant behandeln kann wie ein gewisser Dr. Dr. Rainer Erlinger im Magazin der Süddeutschen. Diesmal ging es um ein – sagen wir – Übermaß an Höflichkeit, überraschend war mir nur, dass wir es täglich anwenden, etwa wenn ich frage: „Darf ich um das Salz bitten?“ Ich erwarte natürlich nicht, dass der andere mit „ja“ antwortet und weiterfrühstückt, als sei nichts gewesen. Er soll handeln, als hätte ich gesagt: „Bitte, gib mir das Salz!“ Es soll aber so scheinen, als ließe ich ihm eine Alternative, es geht schließlich um die Freiheit des Menschen.

Ich erlebte einmal die Situation, dass ich, vergeblich nach einem Stift suchend, mein Gegenüber fragte: „Haben Sie vielleicht einen Stift?“, und er antwortete ausgesucht höflich: „Darf es auch ein Rotstift sein?“, was ich bejahte, worauf die Entgegnung kam, „tut mir leid, hab ich auch nicht!“ Das hatte er schon vorher gewusst, er war jedoch ein Spaßvogel. Davon ist jetzt nicht die Rede. Auch nicht von der sprichwörtlichen japanischen Höflichkeit, die dem, der etwa nach dem Weg zum Bahnhof fragt und in eine Richtung weist, um keinen Preis eine Korrektur zumuten mag: „Ja, das ist richtig, aber noch besser wäre es, Sie gingen diesen Weg …“ und dabei verschämt in die Gegenrichtung weist. Ob es heute noch genau so ist, kann ich nicht sagen: Im Jahre 1973 beschrieb Dietrich Krusche in seinem Buch „Japan – Konkrete Fremde / Eine Kritik der Modalitäten europäischer Erfahrung von Fremde“ das Phänomen der japanischen Ritualisierung der Höflichkeiten auf den Seiten 75 bis 85. Zitat zur Auskunft, wie denn das Wetter sei: „Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich sagen, die Sonne scheint.“

Heute gibt es dazu – wie ich aus der SZ-Kolumne der „Gewissensfragen“ lerne – eine Theorie, die nicht nur Japan, sondern uns alle betrifft: sie heißt nun „psycholinguistische Theorie der Höflichkeit“ und wurde 1987 von Penelope Brown und Steven C. Levinson vorgelegt. Auf die Vorarbeiten bezieht sich Harald Weinrich 1986 in seiner großen Rede „Lügt man im Deutschen, wenn man höflich ist?“, im pdf. nachzulesen hier.

Das ist ein sehr nützlicher Hinweis, dennoch finde ich, dass der hochintelligente Ratgeber des süddeutschen Magazins am Ende doch nicht ganz zufriedenstellend argumentiert. Es geht um ein Schild im Wartezimmer: „Sie dürfen noch kurz Platz nehmen.“ Früher habe es geheißen: „Bitte nehmen Sie doch Platz“.

Unter Berücksichtigung der Theorie der Höflichkeit sagt Erlinger nun, die Psychologie unterscheide

ein positives Gesicht, ein Bedürfnis nach Anerkennung, und ein negatives Gesicht, das Bedürfnis nach Freiheit und Autonomie. Höflich zu sein, bedeutet in dieser Theorie, sogenannte face threatening acts, Handlungen, die das Gesicht des Gegenübers bedrohen, zu vermeiden. Hier geht es um das klassische Problem der Aufforderung, etwas zu tun, die, auch wenn sie mit einem „Bitte“ versehen wird, das Gegenüber in seiner Freiheit und Autonomie, dem negativen Gesicht, bedroht. Deshalb wird sie sprachlich verkleidet (…)

„Sie dürfen noch kurz Platz nehmen“ sollte man nicht wörtlich als anmaßende Erteilung einer Erlaubnis auffassen, sondern als – sprachlich etwas unglücklichen – Versuch, eine direkte Aufforderung, die ja trotz „bitte“ etwas von einer Anordnung hat, zu vermeiden. Deshalb liegt darin auch keine Arroganz, sondern im Gegenteil das Streben nach Höflichkeit.

Quelle Süddeutsche Zeitung Magazin „Gewissensfrage an Dr. Dr. Erlinger“ 19. Juni 2015 Seite 6

Mir scheint, dass hier etwas unberücksichtigt bleibt, was nicht nur sprachlich leicht verunglückt ist, sondern ebenso nach dem Reglement der Höflichkeit: das Wörtchen „kurz“, das eine unerträgliche Einschränkung meiner Freiheit avisiert, da ich möglicherweise geplant hätte, mich für eine sehr lange Zeit im Wartezimmer einzurichten, etwa in Anbetracht einer guten Lektüre.

Im Ernst: hier soll mir suggeriert werden, dass die Wartezeit ohnehin nur kurz ist, ich soll sie aber höflicherweise in meine Verantwortung übernehmen (für den Fall, dass es doch länger dauert). Wie lange werde ich unter diesen Umständen mein Gesicht wahren können?

Im aktuellen SPIEGEL (Nr. 26 / 20.6.2015 Seite 125) macht sich Nils Minkmar gerade Gedanken, ob der heute gängige Konversationsbeginn „Alles gut?“ wirklich geeignet ist, die früher übliche Formel „Wie geht es Ihnen?“ zu ersetzen.

Es war gegenüber der heute beliebten Formel ein nicht invasiver Gruß: Er bezog sich im Verständnis der meisten Zeitgenossen auf die Gesundheit oder den frischen Moment und überließ es weitgehend dem Befragten, wie er es verstehen sollte.

„Alles gut?“ ist dagegen eine fragende Wendung mit nahezu kindlichem Vollkommenheitsanspruch. Wie schockiert wären alle, wenn man sie glattweg verneinte. Es ist der Gruß in einer Kultur, in der auch die Erwachsenen sich jederzeit fühlen möchten wie Pippi Langstrumpf im Süßigkeitenladen, und einer digitalen Ökonomie, die vom Versprechen lebt, dass auch der entlegenste Wunsch … [nein, nein, nein!]

Ich schlage vor, zunächst einmal den Gruß, die Begrüßung, nicht mit dem harmlosest möglichen Gesprächsbeginn gleichzusetzen; es ist doch nur eine Ermunterung, die Andeutung einer Gesprächsbereitschaft (also nach dem „Guten Tag“ oder „Grüß Gott“, bzw. über diesen Gruß, meinetwegen auch über ein erstes „Hallo“, hinaus).

Noch fragwürdiger als die „Alles gut?“-Frage zu Beginn ist wohl die „Alles klar!“-Behauptung zum Abschluss; sie sollte einen nie zu erneuter Nachfrage veranlassen, etwa: was haben Sie gesagt:  A l l e s klar? das hätte ja nicht einmal Aristoteles von sich sagen können! Also könnten Sie mir vielleicht erklären, warum mich der Wandspruch aus einem bayrischen Wirtshaus mein Leben lang verfolgt: „Trink Gott und nicht iß vergiß!“ ??? Und zwar auch, wenn ich gerade den Rätselspruch von aller Weisheit Anfang  an einer Schule betrachte? So steht es wohl heute noch dort als Menetekel an der Wand, im Gasthof Adler neben dem Schloss Kirchheim bei Mindelheim, Bayrisch Schwaben,  in kunstvoll gegliederter, ziselierter Schrift:

Trink          GOTT

Und            Nicht

Iß                 Vergiß

              !

Intoleranz tolerieren?

Inzwischen kehrt sich die Meinung von dem besinnungslosen „Ich bin Charlie“-Bekenntnis, das auf einem spontanen Mitgefühl für die Opfer von Gewalt beruhte, zu einer differenzierteren Betrachtung der Machtverhältnisse. Derjenige, der partiell die Macht übernimmt, weil er im Besitz von Waffen ist, kann sich, aufs Ganze gesehen, in einer Position der Ohnmacht befinden. Seine Lage ist hoffnungslos, er weiß, dass seine Gegenmeinung keine Chance hat, und die Anderen, die diese Meinung mit Füßen treten oder der Lächerlichkeit preisgeben, wissen es auch. Sie sind in einer Position der Stärke.

Man fragt sich jedoch, „ob der höchste Gebrauch, den man von der Meinungsfreiheit machen kann, ausgerechnet in der absichtsvollen Beleidigung einer Religion und in der Kränkung einer Minderheit bestehen muss…“.

Dass beide Prinzipien, das der Toleranz und das der Meinungsfreiheit, derselben Quelle entstammen, verhindert allerdings nicht, dass sie in der Praxis heftig aneinanderstoßen. Man kann aber das eine nicht zurückdrängen, ohne das andere zu beschädigen. Der polnische, seinerzeit in Oxford lehrende Philosoph Leszek Kołakowski hat schon vor Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass hier eine echte Aporie vorliege. Toleranz gegenüber einer fremden Kultur wird zum Problem, wenn sich diese Kultur ihrerseits durch Intoleranz auszeichnet, wie beispielsweise der Islamismus unserer Tage. Vollendete Toleranz müsste eigentlich den Respekt vor der Intoleranz einschließen. Ist der Respekt vor der Intoleranz aber einmal gewährt, gibt es keinen Grund mehr, der eigenen Kultur nicht ebenfalls das recht auf Intoleranz zuzugestehen. Man könnte also sofort zurückschießen. Oder, anders gesagt: die vollständig tolerierte, einschließlich ihrer Feindseligkeit akzeptierte Minderheit wäre die, die man auch vollständig entrechten könnte. Respekt für einen radikalen Islamisten hieße dann – Guantánamo.

Quelle DIE ZEIT 7. Mai 2015 Seite 47  In den Sackgassen der Toleranz. Sind Mohammed-Karikaturen imperialistisch? Warum zweihundert Schriftsteller in New York gegen die posthume Ehrung der ermordeeten Mitarbeiter von „Charlie Hebdo“ protestieren. Von Jens Jessen

Ein Nachruf auf Kołakowski  (18.07.2009 FAZ) endete mit dem schönen Satz:

Der Selbstvergötterung des Menschen, so Kołakowski, habe der Marxismus den gültigen philosophischen Ausdruck verliehen. Auch diese Idolatrie ende „wie alle individuellen und kollektiven Versuche der Selbstvergötterung. Sie erweist sich als der farcenhafte Aspekt der menschlichen Unzulänglichkeit.“

Mit einem leider etwas komischen musikalischen Bild beginnt Jens Jessen die hörenswerte Coda seines Berichtes über den New Yorker Protest der Schriftsteller:

Den von Minderwertigkeitsgefühlen Gepeinigten sollte man die Melodie ihrer Minderwertigkeit nicht immer aufs Neue vorspielen. Es ist auch richtig, dass der Streit universaler Prinzipien nie im machtfreien Raum ausgetragen wird. Was sich in der philosophischen Logik nicht befriedigend auflösen lässt, könnte sehr wohl in der gesellschaftlichen Wirklichkeit wenigstens ausbalanciert werden, durch Sinn für Fairness – und sei es, dass die Mehrheit ihre Macht einmal nicht dazu einsetzt, die Minderheit zu verspotten, sondern ihr zu neuem Selbstbewusstsein zu verhelfen.

Insofern haben die zweihundert Autoren, die sich dem Konsens der Karikaturenverehrung entzogen, in New York etwas Großes getan. Sie haben die von Kołakowski bezeichnete Aporie nicht aus dem Weg schaffen können, aber sie haben den Umweg gezeigt, den man auch gehen könnte – und den die politischen Pragmatiker sei Langem schon gehen, auch wenn sie dafür von den Intellektuellen bis vor Kurzem verachtet wurden.

Quelle s.o. DIE ZEIT „In den Sackgassen der Toleranz“ (Jens Jessen)

Noch einmal: Muss der Respekt vor der anderen Kultur – ob wir sie nun in der Ferne als Mehrheitskultur oder bei uns in der Nähe als Minderheitskultur erleben – soweit gehen, dass wir z.B. auch ihre Frauenverachtung respektieren?

Natürlich nicht. Genügt es – frei nach Diderot – den anderen die Möglichkeit zu geben, ihre Meinung über die Stellung der Frau zu artikulieren?

Jens Jessen meint (a.a.O.):

Das Dilemma lässt sich nur lösen, wenn man das Prinzip der Toleranz an seiner Vollendung hindert. Daher die berühmte, schon von Voltaire und anderen im 18. Jahrhundert erdachte Formel: Die Toleranz müsse ihre Grenze an der Intoleranz finden. Mörderischer Fanatismus muss nicht toleriert werden. Für unsere Tage und unseren Konflikt mit der islamischen Welt könnte das aber auch heißen, das eigene Toleranzideal nicht auszureizen, bis es den intoleranten Kern der fremden Kultur erreicht. Wo aber sollte die Grenze sein? Erst bei offener Blasphemie? Oder schon beim Kopftuch oder der notorischen Unterdrückung der Frau?

Pop-Stenogramm

„Take me to Church“ (Eine Übung)

Buchstaben A bis I nacheinander anklicken

A Lena Meyer-Landrut (Cover-Version)

B Hozier (Original)

C Englischer Text

D Deutsche Übersetzung

E Hozier-Biographie

F Hozier-Interview (+ Live-Version „Church“)

G Ed Sheeran (Cover „Church“)

H Kiesza (Cover „Church“)

I Zur Interpretation Text & Video

Zurück zu A ? (Nein!)

Diese Übung wird gelöscht, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hat.

(Aber zunächst soll noch eine Notenskizze folgen. Und danach kann ich mich vermutlich nicht mehr trennen. Zumal erst damit der analytische Vergleich zwischen den verschiedenen Versionen auf festeren Füßen steht.) Was den überwältigenden Erfolg des Stückes ausmacht, wird natürlich durch keine musikalische Analyse verdeutlicht; der entscheidende Punkt war wohl das Video: die Botschaft, Homosexualität betreffend. Zu dieser persuasiven Haltung passt der fast leiernde Parlando-Ton der Melodie, das Auf- und Abwogen, das erst allmählich eine rein melodische, fast hymnische Wirkung entfaltet; aus dieser ökonomischen Anordnung weniger Töne entsteht Hozier’s Glaubwürdigkeit. Der Text – oder jedenfalls die Explikation des Inhalts – scheint mir völlig zweitrangig. Das „Amen“ sogar albern. Ein Manko im Fall Lena ist vielleicht die unverkennbare Blasiertheit, im Fall Kiesza trotz allen Engagements das allzu hoch gesteckte „Kunst“-Ziel.

Hozier Noten aa

Hozier Noten b''

Dank an Eos!

Bruchstücke aus dem Jahr 1955

Als es mit der Musik wirklich ernst wurde

JR Januar 1955 JR Konfirmation kl

Chronik Anna Magdalena Titel Chronik Anna Magdalena Widmung

Albert Schweitzer Bundesarchiv_Bild_183-D0116-0041-019 Albert Schweitzer Buch Vorspruch Foto: Albert Schweitzer 1955

Albert Schweitzer Buch Titel 1931 / 1954

Unterstreichungen beim Thema Wagner und Bach, auch seine positive Meinung über Nietzsche hat mich beeinflusst. Ebenso könnte ich dies gelesen haben (Seite 112):

Was den Pedalsatz angeht, so konnte Bach der damaligen Pedaltasten wegen, den Absatz nicht verwenden, sondern war ganz auf das Spiel mit den Fußspitzen angewiesen. Durch die Kürze der Pedaltasten war er überdies auch in dem Übersetzen des einen Fußes über den andern behindert. Er war also öfters genötigt, mit einer Fußspitze von einer Taste auf die andere zu gleiten, wo wir durch Übersetzen des einen Fußes über den anderen oder durch die Verwendung von Spitze und Absatz ein besseres Legato verwirklichen können, als es ihm möglich war. Das kurze Pedal der Bachschen Zeit habe ich in meiner Jugend noch auf vielen alten Dorforgeln angetroffen. In Holland sind noch heute manche Pedale so kurz, daß die Verwendung des Absatzes unmöglich ist.

JR Orgel 1955 Orgelstunden-Notate 31.4.55 – 17.9.55

März 1955: Albert Schweitzer war mein großes Vorbild, ich wollte – genau wie er – mehrere Berufe. Sein Foto hing bei mir an der Wand, daneben ein Epheben-Kopf des Praxiteles. So wäre ich gern gewesen. Das Buch bekam ich zur Konfirmation. Ich erlebte eine Phase der Frömmigkeit, sang im Kirchenchor die Bach-Motette „Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf“.  Auch Brahms „Warum ist das Licht gegeben“.

Februar 2015 – immer noch:  Die Pauluskirche in Bielefeld, in der ich vor 60 Jahren von April bis September genau 10 Stunden Orgelunterricht bei Kantor Eberhard Essrich bekam, danach Harmonielehre & Generalbass. Zum Kirchturm hatte ich aus unserer Wohnung im 2. Stock einen etwas anderen Blickwinkel als hier. Die Glocken waren ein wiederkehrendes Wochenenderlebnis, auch der Trompeter, der vom Turm aus Choralstrophen in alle vier Himmelsrichtungen blies. Im Erkerzimmer auf der linken Seite stand mein Schreibtisch. In dem Zimmer ganz links (mit dem runden Erker) der Bechstein-Flügel meines Vaters. Man sieht das Fenster gerade noch auf dem Konfirmationsbild (oben rechts), wo mir mein Geigenlehrer Gerhard Meyer die Hand schüttelt.

Pauluskirche Bielefeld 2-2015 Pauluskirche Bielefeld

Bielefeld Paulustr Eckhaus Paulusstraße

Ich las sein Bach-Buch und auch „Afrikanische Geschichten“, erinnere mich an vieles, was ich damals gelesen habe, obwohl das meiste nicht mir gehörte, sondern in der Stadtbücherei stand. Mereschkowski (Leonardo da Vinci u.a.), Colerus (Leibniz), Kant im Dünndruck (mit wenig Erfolg), Lehrbücher zur Botanik, auch Trainingsmethoden für Leichtathletik (Fünfkampf), immer sollte es etwas Universales sein, ich glaube, deshalb studierte ich auch Schulmusik und Germanistik, obwohl ich nie an die Schule wollte.

Noch ein Zitat von Albert Schweitzer, – dessen Hochschätzung Nietzsches letztlich bei mir dazu führte, Nietzsche zu lesen und Schweitzer aufzugeben, aber er fällt mir wieder ein, wenn ich heute über den Briefwechsel Adorno/Scholem und die Verbindung Aufklärung/Kabbala höre.

Das Christentum bedarf des Denkens, um zum Bewußtsein seiner selbst zu gelangen. Jahrhundertelang hatte es das Gebot der Liebe und der Barmherzigkeit als überlieferte Wahrheit in sich getragen, ohne sich auf Grund desselben gegen die Sklaverei, die Hexenverbrennung, die Folter und so viele andere antike und mittelalterliche Unmenschlichkeiten aufzulehnen. Erst als es den Einfluß des Denkens des Aufklärungszeitalters erfuhr, kam es dazu, den Kampf um die Menschlichkeit zu unternehmen. Diese Erinnerung sollte es für immer vor jeglicher Überhebung dem Denken gegenüber bewahren.

Quelle Albert Schweitzer: Aus meinem Leben und Denken (1931) Richard Meiner Verlag Hamburg 1954  (Seite 196)

„Was ist das für ein Kopf!“ sagte meine Mutter. Solche Nettigkeiten wollte ich, als diese Phase vorüber war, nicht mehr hören. Auch das Wort vom „rein Menschlichen“ hatte ich in der Familie zu oft gehört.

PS.

Übrigens: die Chronik der Anna Magdalena, Geschenk des Cellisten Friedrich Mahlke, las ich mit Begeisterung, bis mich ein anderer Freund meines Vaters aufklärte, dass sie nicht „echt“ sei. Und „das“ D-dur-Mozartkonzert in der Kritik ganz oben, das war gar nicht das große Mozartsche und nicht einmal von Mozart. Aber diese harte Wahrheit erfuhr ich erst im Studium. Meine Aufklärung begann überhaupt viel später.

Zur Charakteristik Adornos

Was ist Normalität?

Wie den gemeinsamen Freund Benjamin interessieren die Briefpartner [Theodor W. Adorno und Gershom Scholem], aus jeweils verschiedener Perspektive, das Schicksal des Sakralen nach der Aufklärung – ob und wie es „in die Profanität einwandern“ kann.

Das Hellseherische einer solchen Antizipation, die in einem langen Prozess der Annäherung erst Schritt für Schritt eingeholt wird, möchte man eher einer körperlosen Intelligenz zuschreiben. Diese Qualität ist für den Menschen Adorno charakteristisch. Entspannt war er nur im engsten Kreise und wirklich frei nur an seinem Schreibtisch. Diese verletzbare Person behielt Zugang zur eigenen Kindheit und war gleichzeitig mehr als bloß erwachsen. Sie lebte überwach und ängstlich, gleichsam mit schützend vorgestreckter Hand, sowohl diesseits wie jenseits einer Normalität, an der wir anderen unseren Halt haben.

Scholem war ein Teil dieser Normalität, auch wenn er – mit seinen großen abstehenden Ohren – aus ihr als Person und Gelehrter herausragte. (…)

Quelle DIE ZEIT 9. April 2015 (Seite 43) Jürgen Habermas: Vom Funken der Wahrheit. Zwei große Denker und ihre ungewöhnliche Freundschaft: Der soeben erschienene Briefwechsel von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem ist eine Sternstunde deutsch-jüdischer Geistesgeschichte.

Ein weiteres Zitat daraus:

Scholem, der seinen Freund Benjamin in finanzieller Abhängigkeit von dem im New Yorker Exil noch vergleichsweise komfortabel überlebenden Institut für Sozialforschung wuste, wollte eigentlich von „diesen Leuten“ nichts wissen. Insbesondere Horkheimer mochte er nicht. Seine erste Meldung an Benjamin über die Begegnung mit Adorno und seiner Frau ist nüchtern: „Mit Wiesengrund war ich einige Male zusammen, sonst habe ich mit niemand von der Sekte intimer gesprochen.“

[Nach der ersten Begegnung im April 1938 in New York, „im Hause von Paul und Hannah Tillich. Auch Siegfried Kracauer war anwesend.“]

Das Wort Sekte erscheint wie ein leicht salopper Einfall, spielte aber doch wohl in dem Kreis eine gewissen Rolle, zumal es im Zusammenhang mit Anton Webern mehrfach verwendet wird.

Quelle Musik & Ästhetik Heft 74 April 2015 Stuttgart (Seite 5) Michael Schwarz: Über Anton von Webern Theodor W. Adorno bei den Darmstädter Ferienkursen 1951

Die Notizen Adornos zum Vortrag sind hier zum erstenmal abgedruckt (darin „Problem des Sektierertums“ Seite 19):

Der falsche Glaube an musikalische Naturheilverfahren liegt darin, dass ein selber so unendlich Geschichtliches, wie das von Webern ganz auf die Reihe konzentrierte Zwölftonverfahren, hier in einem gewissermaßen zahlenmystischen Sinn dem Material als solchem zugeschrieben wird. (Adorno)

Hoffnungsloses Ostern …

… jedenfalls beim Zeitunglesen

ST Wochenende

Als Osterwochenendlektüre winkt uns die Schlagzeile Der Herr der Hasen (na sowas: in dem Erholungsort Glonn entstehen die Kunststoffformen für Schokoladenhosen), Vorsicht am Ende der Klammer: ein Versprecher, – letztlich geht eben alles in Richtung O-Vokal, aber der Osterinselartikel hat mich doch etwas aufgeregt: abgesehen vom gewissermaßen naturgegebenen Unsinn ihres Namens geht aus dem Text selbst mit keiner Zeile hervor, dass die Inselgeschichte eher vom Wahnsinn der Menschen und der Irreleitung durch religiöse Ideen kündet als vom Heilsweg, den das Christentum mit Ostern verbindet. Allein die wohl beiden gemeinsame Aussicht auf „mystische Geschichten“ soll uns weiterlocken.

ST Wochenende mystisches

Gleich daneben findet man auch noch das Angebot einer Schiffsreise „ins mystische Island“!

Und in der Stadt erhielt ich heute morgen das mystische CDU-Ei, das ich zuhaus ganz spontan mit geistigen Dingen in Kontakt brachte. Um den Zauber zu bannen…

Osterei CDU

Ich habe nochmal nachgelesen, was bei Jared Diamond abschließend zur Osterinsel steht.

„Was sagte der Bewohner der Osterinsel, der gerade dabei war, die letzte Palme zu fällen?“ Schrie er wie moderne Holzfäller: „Wir brauchen keine Bäume, sondern Arbeitsplätze!“? Oder sagte er: „Die Technik wird unsere Probleme schon lösen, keine Angst, wir werden einen Ersatz für das Holz finden?“ Oder vielleicht: „Wir haben keinen Beweis, dass es nicht an anderen Stellen auf der Osterinsel noch Palmen gibt, wir brauchen mehr Forschung, der Vorschlag, das Abholzen zu verbieten, ist voreilig und reine Angstmacherei“? Ähnliche Fragen stellen sich in jeder Gesellschaft, die ihre Umwelt absichtlich geschädigt hat. Wenn wir in Kapitel 14 auf dieses Thema zurückkommen, werden wir sehen, dass es eine ganze Reihe von Gründen gibt, warum Gesellschaften dennoch solche Fehler begehen.

Quelle Jared Diamond: KOLLAPS Warum Gesellschaften überleben oder untergehen S.Fischer Verlag Frankfurt am Main 2005 (Seite 147)

Wenn ich recht sehe, bleibt nicht viel Platz für Mystik…

Anfang und Ende der Inhaltsangabe dieses Buches:

Diamond Inhalt Anfang a Diamond Inhalt Ende b

ZITAT

Die meisten der Rätsel sind inzwischen halbwegs befriedigend gelöst. Sprachforscher haben nachgewiesen, dass die Osterinsulaner von Westen her, aus Polynesien, eingewandert sind. Der Zeitpunkt ist umstritten. Vielleicht erst im 12. Jahrhundert. Pollenanalysen haben ergeben, dass auf der Insel einst die größten Palmen der Welt wuchsen. Der Wald wurde abgeholzt, um die Statuen zu transportieren, um Kanus zu bauen und um Leichen einzuäschern.

Dem Raubbau folgte die Erosion des Bodens, der immer weniger Feldfrüchte hergab. Mit den Bäumen verschwanden die Landvögel. Auf Delfinfleisch und Fisch mussten die Insulaner verzichten, weil das Holz für seetüchtige Boote fehlte. Ein Teufelskreis. Die ökologische Katastrophe führte zu Stammeskriegen und schließlich – gegen Ende des 17. Jahrhunderts – zum rapiden Rückgang der Bevölkerung. 1994 hat Hollywoodstar Kevin Costner aus dem Stoff einen viel diskutierten Film gemacht (Rapa Nui); und just tauchte die beispielhafte Geschichte in dem Buch Kollaps des amerikanischen Geografen Jared Diamond wieder auf, das weltweit auf den Bestsellerlisten steht.

Quelle ZEIT online 29.05.2009 „Das Eiland am Ende der Welt“ von Thomas Schmid  HIER

Wissenswertes aus anderer Quelle (ZDFneo TERRA X  03.01.2010)

Heiße Spur auf Rapa Nui / Verlorenes Paradies

Die Osterinsel gibt Generationen von Wissenschaftlern Rätsel auf. Einst war die Insel ein Palmenparadies – eine Oase inmitten des Südpazifiks. Dann passierte etwas Merkwürdiges: 16 Millionen Palmen verschwanden und die riesengroßen Statuen, für die das Eiland heute bekannt ist, wurden umgestürzt.

 HIER (http://www.zdf.de/terra-x/schliemanns-erben-heisse-spur-auf-rapa-nui-5319172.html) Ab 16:18 Haben etwa eingeschleppte Ratten den Untergang des Waldes verursacht?

Der Zeitungsbericht ganz oben, der hier zum Anlass wurde, – Westdeutsche Zeitung WZ Wochenende 4. April 2015 -, endete mit den Sätzen:

Wenn die Sonne hinter den Steinfiguren langsam im Ozean versinkt, ist das ein wunderschöner Moment zum Grübeln und Sinnieren. Mancher Betrachter bastelt sich eine eigene Theorie über die Herkunft der Moai zurecht. Und mancher ist froh, dass es nicht auf alles eine Antwort gibt.

Dabei muss man es wirklich nicht belassen…

Zeichen der Zeit

Verdopplung der Dunkelheit

Kirche W Detail Detail (s.u.)

Kirche W li

Kirche W

Solinger Tageblatt 4. März 2015 Seite 23 (gegenüberliegende Spalten, links & rechts)

Am Tag danach

Natürlich ist die obige Presse-Auswahl unfair. Einer alten Gewohnheit folgend, lese ich am Donnerstagmorgen DIE ZEIT, allerdings ohne besondere Hoffnung, obwohl sie aus soviel Papier besteht, dass sie nicht in den Briefkasten passt. In solchen Fällen suche ich nach dem einen Artikel, der irgendwie zündet… Musik? Nicht ein Wort, wenn man von der Werbe-Beilage zum Heidelberger Frühling absieht.

ZEIT 150305 (Bitte anklicken! Wer sucht mit mir?)

Lisa Batiashvili? Glauben Sie wirklich, es habe mit Musik zu tun, wenn eine Geigerin über die Ukraine spricht? Bilde, Künstlerin, rede nicht! (s.u.)

Und DJ Westbam? Da steht immerhin das Wort Musik…

Und Seite 51 Madonna. Seien wir offen, Pop könnte man wie Musik hören, aber liest man hier auch etwas darüber?

Ach, was waren das noch für Zeiten, als man in der ZEIT belehrt wurde: Hier zum Beispiel (s.o.).

„Bilde, Künstler! Rede nicht! / Nur ein Hauch sei dein Gedicht!“

Die erste Zeile ist selbstverständlich von der zweiten nicht zu trennen und wird durch sie erst spezifiziert. Der Sinn des Ganzen ist also: der Künstler soll in seinem Werke nicht „reden“, nicht dick auftragen, nicht mit dem Holzhammer (wie wir heute sagen würden) auf den Betrachter oder Leser einwirken, vor allem: nicht merkbar dozieren, keine fühlbare „Verkündigung“, keine außerkünstlerische Idee oder Tendenz übermitteln wollen. Es ist ein Manifest gegen jene dilettantische Kunstauffassung, die in jedem Werke Weltanschauung sucht.

Quelle DIE ZEIT 15.1.1960 Walter Abendroth: Klassiker – falsch zitiert.

Walter Abendroth – bis 1955 Leiter der Feuilleton-Redaktion der ZEIT – war ein Musiker und bekam 1973 einen schönen Nachruf von Josef Müller-Marein, hat aber unschöne Passagen im Wikipedia-Artikel. So habe ich doch noch etwas über Musik gelernt. Abendroths Buch „Vom Werden und Vergehen der Musik“ (1949) – eine Musikgeschichte ohne Namen – gehörte zu den überflüssigeren Lektüren meiner 50er Jahre. Jetzt hätte ich Lust, nochmal reinzuschauen. Eine Geschichte ohne Namen, allein von dunklen Kräften bewegt, wäre das nicht ein aufschlussreiches Unternehmen in Sachen Ideologie?

Zurück in die Dunkelheit!

Sayyed Qutb – vom Dorfkind zum Islamisten (II)

Ein biographischer Essay von Hans Mauritz (Teil II ! Teil I siehe HIER)

Für Sayyed Qutb war die Reise nach Amerika alles andere als Erfüllung eines Traums. Um den unbequemen Publizisten loszuwerden, schickt ihn das Erziehungsministerium, vielleicht auf Anordnung des Palastes, auf „Mission“, mit dem vagen Auftrag, in den Staaten über Lehrpläne und Pädagogik zu forschen. Abgrenzung und Ablehnung prägen seine Reise von Anfang an. Bei der Überfahrt setzt er durch, dass er mit moslemischen Passagieren und nubischen Matrosen das Freitagsgebet verrichten darf. Eine betrunkene, halb nackte Dame, die in seine Kabine eindringen will, weist er empört hinaus. Aus seinen Briefen und Aufzeichnungen wird ersichtlich, dass er das Land nicht mit den Augen eines Mannes sieht, der neue Horizonte entdecken will. Auf den Strassen von New York erblickt er Menschen, die „auf der Suche nach ihrer Beute“ fieberhaft dahingetrieben werden, „scharfe funkelnde Blicke, voll von Gier, Verlangen und Lüsternheit“, und begreift, dass sie dabei sind, einem „Leben in Völlerei, Genuss, Gelüsten und Konsum“ nachzujagen. Bald quält ihn das Heimweh und die Sehnsucht nach Freunden: „Wie sehr brauche ich jemanden, mit dem ich über andere Themen als Geld, Filmstars und Automodelle sprechen könnte“. Die amerikanische Kultur sieht er beherrscht von American Football, Cowboy-Filmen, Thrillern und dem seichten Small Talk, der auf Partys herrscht.Was Sayyed Qutb entdeckt, ist ein von Materialismus geprägtes Land, ohne spirituelle Dimension.

Am State College of Education in der Kleinstadt Greeley im Bundesstaat Colorado verbessert er sein Englisch, lässt sich aber sonst nicht ernsthaft auf Studium und Forschung ein. Im Gegensatz zu Taha, der sich in Frankreich allen Prüfungen stellt, um „Diplome zu erlangen, die keiner seiner Mitbürger jemals vor ihm erworben hatte“, ist Qutb zu solchen Herausforderungen nicht bereit. Das Leben in der amerikanischen Provinz beobachtet er scharf und reagiert darauf mit Unverständnis und Ablehnung. Die Amerikaner, meint er, leben nicht in solidarischer Gemeinschaft, sondern abgeschottet, jeder für sich selbst. Ihre Welt hört auf an ihrem Gartenzaun, und Gartenarbeit ist ihre liebste Freizeitbeschäftigung. Was er vermisst, ist wahre Lebensfreude. Zutiefst erniedrigt fühlt er sich, als ihm der Zutritt in ein Kino verwehrt wird, weil man ihn wegen seines dunklen Teints für einen Afro-Amerikaner hält. Heftig attackiert er den Rassismus der Weissen: „Sie sprechen über Farbige, auch über Ägypter und Araber allgemein, als wären sie nur halbe Menschen (…). Ich habe erlebt, wie sie die Farbigen mit verabscheuenswürdiger Arroganz und widerlicher Barbarei behandeln.“ Trotz der zahlreichen Kirchen, meint er, sei niemand so weit entfernt von Spiritualität und Heiligkeit der Religion. Eine Tanzveranstaltung, die in Anwesenheit des Geistlichen in den Räumen einer Kirchgemeinde stattfindet, widert ihn an: „Arme legten sich um Taillen, Lippen trafen auf Lippen, Brüste auf Brüste, und die Atmosphäre war angefüllt mit Leidenschaft“. Den unerfahrenen keuschenTräumer, der einem weiblichen Idealbild huldigt, empört der ungezwungene Umgang zwischen den Geschlechtern und die Freizügigkeit in Sachen Erotik und Sexualität. Sayyed Qutb, der sich schon in Kairo entwurzelt fühlte, den die vom Westen inspirierte Lebensweise abstiess, der in der liberalen Wirtschaftordnung nichts als Egoismus, Kolonialismus und Ausbeutung sah, wird der Aufenthalt in Amerika in seiner radikalen Opposition bestärken und weiter treiben auf einem Weg, der Heil und Rettung allein im Islam sucht.

Abdel Nasser

Nach seiner Rückkehr aus Amerika verstärkt Sayyed Qutb seine Annäherung an die Moslembruderschaft und ihre Positionen. Die amerikanischen Erfahrungen fliessen in seine Schriften ein. In seinem Buch „Der Kampf zwischen Islam und Kapitalismus“ (1951) konstatiert er, dass in Ägypten der Landbesitz noch immer genau so ungerecht verteilt ist wie zur Zeit der Feudalherrschaft. Der Staat schützt nicht die Interessen der Mehrheit, sondern jene der Elite und der ausländischen Investoren. Materielle Abhängigkeit vom Westen hat ideologische Abhängigkeit hervorgebracht, und daraus ist eine Generation von „braunen Engländern“ entstanden, die ihre ägyptisch-arabische und islamische Identität verlieren. Qutbs Angriff gegen den Kapitalismus bedeutet jedoch keineswegs, dass er mit dem Kommunismus sympathisert, denn dessen Atheismus würde die Ägypter ihrer angeborenen Spiritualität berauben.

Im Herbst und Winter 1951/52 erheben sich die Ägypter gegen die britischen Besatzer. In Ismailiyya demonstrieren und sterben Polizisten, Arbeiter, Azharis und Studenten. Gegen den Willen ihrer Führer kämpfen auch Moslembrüder in vorderster Linie. In Kairo Down Town brechen Feuersbrünste aus: vor allem Etablissements, die Ausländern gehören, gehen in Flammen auf, über 700 Betriebe und Geschäfte werden zerstört. Bevorzugte Ziele sind Kinos, Bars, Tanzlokale und Treffpunkte der Schickeria wie das Café Groppi am Midân Talat Harb.

Wenige Tage vor dem Staatsstreich der Freien Offiziere am 23. Juli 1952 kommt es zu einem geheimen Treffen zwischen Abdel Nasser und seinen Verschwörern mit ausgewählten Moslembrüdern im Haus von Sayyed Qutb. Die Freien Offiziziere brauchen die Zusammenarbeit der Moslembrüder, damit diese ihren Einfluss auf die Massen geltend machen. Qutb seinerseits sieht gemeinsame Anliegen wie soziale Gerechtigkeit, nationale Unabhängigkeit und Annäherung an die arabisch-islamische Welt und an die blockfreien Staaten. Er hofft, die Revolutionäre könnten zum Vehikel werden für die Renaissance des Islam. Im August wird er eingeladen, im Offiziersclub von Zamalek einen Vortrag zu halten über „Intellektuelle und spirituelle Befreiung im Islam“. Unter den Zuhörern ist Abdel Nasser selbst, der ihm gratuliert und seinen Schutz verspricht. Qutb wird zu einer Art kulturellen Beraters des Revolutionsrates und träumt davon, eine Führungsrolle als Architekt des neuen Ägyptens zu einzunehmen. Je mehr aber der Revolutionsrat die Kontrolle über den Staat übernimmt, desto mehr trüben sich die Beziehungen zu den Moslembrüdern. Die Offiziere wollen ihre Macht nicht an einen Konkurrenten verlieren, der eine weit grössere Anhängerschaft im Volk besitzt als sie.

Als Nasser im Dezember 1952 die politischen Parteien verbieten lässt, bleibt die Moslembrüderschaft zunächst verschont. Als Reaktion auf die Verschlechterung der Lage tritt Sayyed Qutb im Februar 1953 auch offiziell den Moslembrüdern bei. Er fühlt sich wie neu geboren und avanciert rasch zum Mitglied der Führung und zum Chef der Propaganda-Abteilung. Im Januar 1954 befiehlt Abdel Nasser die Auflösung der Organisation. Mit 450 anderen wird Qutb vorübergehend festgenommen. Als im Oktober 1954 ein Moslembruder auf Nasser schiesst, der vor einer Viertelmillion von Anhängern in Alexandria spricht, ist dies willkommener Vorwand, um mit den Brüdern aufzuräumen. Sie werden vor ein Volkstribunal gestellt und angeklagt, einen blutigen Aufstand geplant zu haben. Qutb wird gefoltert, „anti-gouvernementaler Aktivität“ beschuldigt und zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Von seiner Zelle aus muss er die positiven Errungenschaften des Regimes zur Kenntnis nehmen: Bodenreform und Landverteilung an die kleinen Bauern, Verstaatlichung von Grossgrundbesitz und ausländischem Eigentum, kostenlosen Schulbesuch, Industrialisierung , Nationalisierung des Suez-Kanals und Bau des Aswân-Staudammes, Gesundheitsfürsorge, Bau von Wohnungen für die Armen und Trinkwasser für alle: Anliegen ganz im Geiste Qutbs, aber realisiert von einem Gewaltregime, das nach seiner Überzeugung gegen die Werte des Islam verstösst.

Die „Flitterwochen“ zwischen Säkularen, Modernisten und Sozialisten auf der einen und Traditionalisten und „Islamisten“ auf der anderen Seite haben nur wenige Monate Bestand gehabt. Wie wäre wohl Ägyptens Geschichte verlaufen, wenn statt der Gewaltspirale auf beiden Seiten Kompromiss, Zusammenarbeit und Austausch von Ideen stattgefunden hätte? Stattdessen haben sich die beiden Lager brutal bekämpft. Seit der Revolution von 2011 hat sich der Konflikt verschärft. Die Moslembrüder hatten unter Morsi ihre „Chance“, haben sie verspielt und sind vom politischen Parkett verschwunden. Ihre Aktivisten warten im Gefängnis auf ihren Prozess, andere Islamisten sind abgetaucht und haben sich im schlimmsten Fall jenen angeschlossen, die anderswo einen „islamischen Staat“ errichten wollen. (16)

Sayyed Qutb hat neun Jahre im Tura-Gefängnis verbracht und miterlebt, wie Gefangene geprügelt, gefoltert und von Hunden zerfleischt wurden. Hier, berichten Zeugen, verliert er die letzten Illusionen, was den moslemischen Charakter des Nasser-Regimes angeht. Seine im Kerker entstandenen Schriften „Im Schatten des Islam“ und „Zeichen auf dem Weg“ rechnen ab mit einem Regime, von der er aus eigener Anschauung nur die Konzentrationslager kennt (17). Wer Sayyeds Lebensgeschichte verfolgt, kann nachvollziehen, wie sich ein „aufgeklärter“ Publizist zu einem Denker wandelt, der sein Heil einzig im Islam sucht. Was wir jedoch nicht akzeptieren dürfen, ist das totalitäre Programm, das er nun verkündet und das weiterwirkt bis in den radikalen Islamismus unserer Tage.

„Zeichen auf dem Weg“ zur Gottesherrschaft

Sayyed Qutb analysiert nicht nur das Nasser-Regime, sondern alle Staatsformen, welche die Welt beherrschen, seien sie kapitalistischer, sozialistischer oder faschistischer Natur. Alle sind von Grund auf böse, weil in ihnen die Souveränität الحكيميّة , „al-hakîmiyya“, nicht in Gottes Hand liegt, sondern in der Hand eines Diktators, einer herrschenden Klasse oder Partei (18). Herrschaft des Menschen über Menschen aber führt unweigerlich zu Unterdrückung. Nur die Herrschaft Gottes und seines Gesetzes, der Sharî‘a, in einem durch und durch islamisch geprägten Staat befreit von Tyrannei, Armut, Angst und Laster (19). Staatsformen, in welchen Menschen wie Götzen angebetet werden, gehören für Qutb zu الجاهليّة , „al-jâhiliyya“, der Zeit heidnischer Ignoranz und Barbarei, die vor dem Siegeszug des Islam geherrscht hat und in den Diktaturen des 20.Jahrhunderts auferstanden ist. In solchen Gesellschaften unterdrückt der Starke den Schwachen, häufen Individuen unglaubliche Reichtümer an, verdrängen Materialismus und Egoismus die Sorge um das Wohl der Allgemeinheit und breiten Dekadenz und Unmoral sich aus (20). Als جاهيلي (heidnisch, ignorant, barbarisch) brandmarkt Sayyed Qutb aussereheliche Beziehungen und Homosexualität, und er verurteilt Frauen, die sich ihr attraktives Aussehen und ihren Sexappeal zunutze machen, um im Beruf Erfolg zu haben, statt sich der Erziehung ihrer Kinder zu widmen. Die Jâhilîyya prägt nicht allein die „heidnischen“ Gesellschaftssysteme, sondern hat auch alle moslemischen Gesellschaften der Moderne infiziert, so sehr, dass nicht nur moslemische Regimes, sondern ganze Völker ausserhalb des wahren Islam leben. Auch wer an Allah und seinen Propheten glaubt, betet, fastet und nach Mekka pilgert, verharrt in Barbarei und Ignoranz, solange sein Leben „nicht gegründet ist auf Unterwerfung unter Gott allein.“

Moderne Regimes sind nur schwer zu stürzen, denn sie stützen sich auf Militär und Polizei. Qutb glaubt nicht, dass die Moslembrüder dies ändern, indem sie am politischen Leben teilnehmen, es unterwandern und Schritt für Schritt zur Macht gelangen. Er hofft auch nicht auf einen Aufstand der Massen, denn diese hat man durch Zuckerbrot und Peitsche, durch Gewalt und Propaganda zu gefügigen Untertanen gemacht. Er sieht das Heil allein in einer Avant-Garde, الطليعة „al-Talî’a“ , einer auserwählten Schar von Moslems, welche die Menschen zum wahren Islam zurückführen und zu professionellen Revolutionären werden, welche das Regime zu Fall bringen. „Predigen allein genügt nicht mehr, um die Herrschaft Gottes auf Erden zu etablieren“.

Allahs Herrschaft kann nur errichtet werden, wenn sie sich nicht auf die moslemische Welt beschränkt. Damit sie universal wird, muss zum جهاد „al-jihâd“ aufgerufen werden. Der Verbstamm ج ه د meint „sich bemühen, sich anstrengen, streben, kämpfen“ und „den heiligen Krieg gegen Ungläubige führen“. Der Begriff ist im Koran nicht frei von Ambiguität. Während manche Theologen den Akzent auf „einen geistigen Kampf“ legen, der darauf zielt, Begierden und böse Neigungen zu zügeln, und andere den heiligen Krieg nur dann erlauben, wenn Moslems von Ungläubigen angegriffen werden, rechtfertigen wiederum andere den Jihad als „Krieg gegen alle, die nicht an Allah glauben.“ Sayyed Qutb verkündet, „dass der Islam (die Hingabe an Allah) eine universale Botschaft ist, welche die ganze Welt akzeptieren oder mit der sie Frieden schliessen sollte. (…) Der Islam ist die wahre Zivilisation.“ Seine Botschaft ist totalitär: „Es gibt nichts jenseits des Glaubens außer Unglauben, nichts jenseits des Islam außer Jâhîliyya, nichts jenseits der Wahrheit außer Unwahrheit.“

Zwar ermahnt er ungestüme Kämpfer zur Geduld: die Avant-Garde braucht eine lange Zeit spiritueller Vorbereitung. Ihre Kämpfer sollen sich zurückziehen, sich abschotten von der Welt, um sich von Irrtümern und Lastern nicht kontaminieren zu lassen. Erst nach dieser Zeit des „Rückzugs“ und der erfolgreichen Mission unter moslemischen Massen wird man zum Angriff übergehen. Allahs Religion „hat das Recht, alle Hindernisse zu zerstören, die in Form von Institutionen und Traditionen die Wahlfreiheit des Menschen einschränken (…). Sie greift keine Individuen an, noch zwingt sie sie, ihren Glauben anzunehmen (…). Der Islam verbietet Moslems, ihre Feinde zu foltern und zu erniedrigen.“ Wie diese Avant-Garde aber Institutionen zerstören und Staaten zerschlagen will, ohne auch Unschuldige zu treffen, sagt er nicht.

Durch Intervention des irakischen Präsidenten wird Sayyed Qutb 1964 auf freien Fuss gesetzt, aber weniger als ein Jahr später zusammen mit Tausenden seiner Gefährten wieder festgenommen, weil Nassers Geheimdienste angeblich einen Umsturzversuch der Moslembrüder aufgedeckt haben. Sein Todesurteil führt zu Protesten in der moslemischen Welt. Am 29. August 1966 wird Sayyed Qutb gehängt. Das Problem der islamistischen Gewalt ist damit freilich nicht gelöst. Qutb wird zum شهيد „shahîd“, zum Märtyrer, der für seinen Glauben gestorben ist  (21). Seine „Wegzeichen“ werden zur programmatischen Schrift. Im Oktober 1981, elf Jahre nach Nassers Tod, wird sein Nachfolger al-Sadât von Jihadisten umgebracht. Eine Generation später wird Osama Ben Laden eine Strategie entwickeln, die den Terror exportiert und sich dabei die Errungenschaften moderner Massenkommunikation zunutze macht. Die letzten Monate haben in Syrien und im Irak gezeigt, wozu die Gewalt von Islamisten fähig ist. Wir können nicht entscheiden, ob Sayyed Qutb all dies gebilligt hätte. Was er geschrieben hat, wirkt jedoch programmatisch fort und bietet manchen Interpretationen Raum: „Wir müssen den Ungläubigen den Islam nicht rational erklären (…), wir werden mit ihnen äusserst offen sein: die Ignoranz, in der du lebst, macht dich unrein, und Allah möchte dich reinigen (…), das Leben, welches du lebst, ist niedrig, und Allah möchte dich erhöhen“. Was Sayyed Qutb verschweigt, sind die Konsequenzen: wer sich nicht „reinigen“ und „erhöhen“ lassen will, dem wehe Gott! Wer das folgende Bekenntnis eines IS-Kämpfers von heute liest, kann nicht umhin, an Qutb zu denken: „Der Islam ist die einzig wahre Religion. Weltweit haben wir leider keinen einzigen echten islamischen Staat (…). Wenn man für eine gute Sache tötet, ist das legitim (…). Wenn Allah sagt, es ist erlaubt, solche Menschen zu töten, dann würde ich das auch machen. Ich folge seinen Gesetzen blind (…). Ich würde sogar meine Familie töten, wenn sie sich gegen den islamischen Staat stellt (…) In zwanzig, dreissig Jahren haben wir das geschafft. Wir kämpfen so lange, bis der ganze Planet islamisch ist.“ (22)

Anmerkungen

  1. Taha Hussein, „Kindheitstage“, „Jugendjahre in Kairo“ und „Weltbürger zwischen Kairo und Paris“, Edition Orient, 1985 ff. Das arabische Original الآيام “al-ayâm“, „Die Tage“, ist in drei Bänden 1926, 1940 und 1955 erschienen. Vgl. Hans Mauritz, „Taha Hussein – vom blinden Jungen aus Oberägypten zum Dichterfürsten“, http://www.leben-in-luxor.de/luxor_essays_mauritz_taha.html

  2. Sayyed Qutb, „Kindheit auf dem Lande. Ein ägyptischer Moslembruder erinnert sich“, aus dem Arabischen von Horst Hein, Edition Orient 1997. Das Original ist unter dem Titel طفل من القرية „Tifl min al-qarya“ 1946 erschienen.

  3. Was Taha Hussein a fellol?” siehe HIER

  4. Dabei spielten gerade im geistigen Leben von Musha die Sufi-Orden eine wichtige Rolle. Vgl. Nicholas Hopkins „Sufi Organization in Rural Asyut: The Riffa’iyya in Musha”, in “Upper Egypt. Identity and Change”, The American University in Cairo Press, 2004.

  5. عفريت „’ifrît“ pl. عفاريت“’afârît“ sind Dämonen und Teufel, die im Volksglauben noch heute lebendig sind.

  6. القرينة ist „ein weiblicher Dämon der Frauen, bes. Kindbettdämonin“ (Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart.)

  7. Vgl. den Roman von Mansura Eseddin, „Hinter dem Paradies“, Zürich 2011. In einem Interview gesteht die Schriftstellerin, wie sehr sie vom Mysteriösen und Unheimlichen fasziniert ist: „Der Wahnsinn fasziniert mich, die Frage, wie das wilde Tier aus dem Menschen herausbricht (…). Sie würden sich wundern, wie elementar meine Ängste sind“. (H.Mauritz, „Gestohlenes Leben. Die ägyptische Schriftstellerin Mansura Eseddin“, KEMET 4/2013, pp.73-76). Das Motiv des Zwillings, der sich nachts in eine Katze verwandelt, behandelt Hassan Abd al-Mawgud in seinem Roman „Das Auge des Katers“, Lisan-Verlag, Basel 2006.

  8. Auch heute noch haben ägyptische Eltern die Wahl, ihre Kinder in Staatsschulen oder in von al-Azhar geführten Instituten einzuschulen. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder in Privatschulen, vor allem ausländische Schulen.

  9. „Efendi“ oder „afendi“, plural „afendiyât“ war der Titel für einen europäisch gekleideten Ägypter, für einen Mann aus dem Mittelstand und für Lehrer an staatlichen Schulen.

  10. Wer wie der Schreibende seit langem in Oberägypten gelebt hat, ist mit ähnlichen Schildbügerstreichen vertraut.

  11. العدالة الاجتماعيّة في الاسلا „al-’adâla al-igtimâ’iyya fi al-Islâm“, 1949

  12. „Er begann sich Gedanken zu machen über diesen tiefen Graben, der die Reichen von den Armen trennt.“ („Jugendjahre in Kairo“, p.146.) Vor allem die Cholera-Epidemie von 1947 macht ihm bewusst, wie sehr sein Land „unfähig ist, das zu bekommen, was die freien Völker erlangen: das Gefühl eines Minimums an menschlicher Würde.“ („Au-delà du Nil“, Paris 1977, pp.246 f

  13. Die folgenden Kapitel unserer Arbeit stützen sich auf John Calvert, „Sayyid Qutb and the Origins of Radical Islam“, The American University in Cairo Press, 2011. Zitate, für die keine andere Quelle genannt werden, stammen aus diesem Buch.

14. Nagib Mahfûs, „Mirrors“, AUC, pp.119-122. Die deutsche Übersetzung „Spiegelbilder“, Unionsverlag Zürich, ist vergriffen.

15. „Weltbürger zwischen Kairo und Paris“, p.32

16. Über junge Ägypter, die in Syrien auf der Seite des „Daëch“ kämpfen vgl. Manar Attiya, „ces jeunes qui font la guerre sainte“, al-Ahrâm Hebdo, 24.-30.9.2014, p.24

17. „Tatsächlich ist Qutb überzeugt, dass die Wärter und Folterer in den Konzentrationslagern Gott vergessen haben. Sie beten ihn nicht mehr an, sondern setzen an seiner Stelle Nasser und den Staat zum Götzen ein.“ Gilles Kepel, „Le prophète et le pharaon“, Gallimard, folio histoire, 2012, pp.21ff

18. «al-  hakîmiyya» ist ein Neologismus, gebildet vom Verbstamm ح ك م , der „herrschen, regieren, richten, urteilen, entscheiden, befehlen“ bedeutet.

19. Alle Zitate nach John Calvert, s.o., Anm. 12, pp.212-225

20. „Diese Jahiliyya basiert auf der Rebellion gegen Allahs Herrschaft auf der Erde; sie überträgt den Menschen eine der grössten Eigenschaften Allahs, nämlich die Souveränität, und macht Menschen zu Herren über andere.“ (Shahîd Sayyid Qutb, „Zeichen auf dem Weg“, aus dem Englischen von Muhammed Shukri, TEXT HIER.) 

21. Die „Shiitische Republik Iran“ hat den „Märtyrer Sayyed Qutb“ 1984 mit der Herausgabe einer Briefmarke geehrt.

22. „Erhan A. würde für den islamischen Staat töten“ (Interview mit einem jungen Islamisten, der auf dem Absprung nach Syrien ist), Tages-Anzeiger, „Das Magazin“, nr.40, 2014.

John calvert - Qutb Qutb Wiki Commons