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Mitleid und Freiheit

Von Kindern, Tieren und Pflanzen

Südtirol 2019 (Foto JR)

Ich gebe zu, dass es eine Provokation ist, diese Begriffe zusammenzudenken. Aber man darf sich nicht von Vorstellungen eines falschen Friedens ablenken lassen. Es geht um den Widerstand gegen Denkgewohnheiten.

 

Dieses Bild hing im Schlafzimmer meiner Großeltern an der Wand, bis zuletzt, und die beiden Kühe im Stall hatten es gut; das Heu, das sie im Winter bekamen, war handverlesen und gelüftet, aber die Gemeinschaft eines Bären oder Löwen wurde ihnen nicht zugemutet, und mein Großvater hatte kaum Sympathie für den palmwedelnden Kind-Engel. Anders als meine Oma hätte er die Stelle in Jesaja 11 nicht mehr gefunden, vielleicht nicht einmal das Heilige Buch, aus dem das Zitat stammt. In seinem Leben hatte es eine Kehrtwende gegeben. Alles was er brauchte, stand nun in biologisch-dynamischen Ratgebern, maßgeblich war ansonsten – auch für mich in frühen Jahren – ein zerschlissenes Werk mit dem unschlagbaren Titel: „Realienbuch“. Was ich beiden verdanke, – dem Buch wie dem Opa -, war eine unsentimentale Empathie für Tiere.

Daher war ich wohl auch 10 Jahre später so empfänglich für bestimmte Lektüren, die sich mit den Realien der lebendigen, körperlichen Welt abgaben. Das begann in „meinem“ Bezugssystem mit Albert Schweitzer (Bach, Musik, Medizin, Afrika, Tiere, Leben), und verlegte sich dann auf Schopenhauer und Nietzsche, ob ich sie nun verstand oder nicht.

Quelle Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral / III. Begründung der Ethik § 19

Man kann getrost ignorieren, was der Autor da – zeitbedingt (1840) – mit dem Wort „foetor Iudaicus“ markieren will: er ist einer der ersten in der Reihe der Philosophen, die sich aller Lebewesen annimmt, die schutzbedürftig sind, auch der Tiere, einer Tradition, an deren Ende heute Peter Singer oder Richard David Precht stehen.

Der direkte Link zum Beitrag der ttt-Sendung folgt HIER

ZITAT Precht ab 1:51 Im 18. Jahrhundert war Botanik das große Thema, weil das eine Möglichkeit war, über Sex zu reden. Also die Befruchtung und Bestäubung der Pflanzen usw. war ein Vehikel, um einen Sexualdiskurs in gebildeten bürgerlichen und adligen Kreisen zu führen. [andere Stimme] Darwin zum Beispiel habe seine Vorstellung von der Evolution im Kapitalismus des viktorianischen Zeitalters entnommen. [Precht] Ich glaube, dass allein die physische Präsenz einer Bibliothek ein anderes Verhältnis zur Bildung vermittelt als nur das schiere Wissen, dass man es nachschlagen kann, wenn es als sinnliches Objekt nicht mehr vorhanden ist. 2:27

Der interessante Gedanke zum Sexualdiskurs wird nicht weitergeführt (Schnitt?). Man kann dies bei Foucault nachlesen, siehe „Sexualität und Wahrheit“  Kapitel I Wir Viktorianer II Die Repressionshypothese, darin 1. Die Anreizung zu Diskursen.

ZITAT ab 3:24 Diese Fische sind viel intelligenter als sie sein müssen. Und sie sind ja nicht deswegen intelligent geworden, weil es die Evolution ihnen abverlangt hat, so intelligent zu werden. Und das ist beim Menschen genau das gleiche, also es gibt ja immer diese Vorstellung, der Mensch wäre in Anpassung an die Umwelt so intelligent geworden, wie er heute ist. Aber alles was wir heute machen, also Symphonien komponieren oder Infinitesimalrechnungen sind keine Anpassung an irgendwelche Umwelten. Das einzige, was uns heute abverlangt wird, ist nur Anpassung an kulturelle Umwelten, aber auch das setzt keine Spitzenleistung voraus, da muss man einfach nur halbwegs sehen, dass man mittelintelligent ist und mit jedem klarkommt. Also so würden sich viele Dinge überhaupt nicht erklären lassen. Sondern in der Evolution setzt sich alles das durch, was keinen tödlichen Nachteil hatte. 4:02 [über Kraken!]

Was wollte ich noch mit der Überschrift…? Manche Menschen weichen aus auf die Tiere, sie lieben Katze und Hund, weil diese manipulierbar sind und Ersatz bieten für die allzu komplexen Verbindungen unter Menschen. Eins habe ich mit Precht gemeinsam: es gab eine Zeit, in der ich Zoodirektor werden wollte (seltsamerweise kam ich nie auf die Idee, mich mit dem Beruf des Tierwärters zu bescheiden). Als weitere Möglichkeit sah ich den Beruf des Försters (Herr über ein riesiges Waldgebiet, aber ohne den Gebrauch einer Flinte). Bei meiner Konfirmation war ich ziemlich strenggläubig, Albert Schweitzer schien mir als Vorbild geeignet, und bei ihm las ich, dass man zugleich Nietzsche lesen „darf“.

ALBERT SCHWEITZER: Ehrfurcht vor dem Leben (und Begrenzung)

 Differenzierung nach Komplexität?

Quelle Albert Schweitzer: Aus meinem Leben und Denken / Richard Meiner in Hamburg 1954 (1931)

FRIEDRICH NIETZSCHE (Morgenröte): Ist es nur Sentimentalität?

 

Quelle Friedrich Nietzsche: Morgenröte / Gedanken über die moralischen Vorurteile / Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1952

DOSTOJEWSKI-Lektüre (1959/60): Ich gebe die Eintrittskarte zurück

      

      

Quelle F.M. Dostojewskij: Die Brüder Karamasoff / Aus dem Russischen von E.K. Rahsin / Deutsche Buch-Gemeinschaft Berlin Darmstadt, Wien  (Piper 1925) 1958

Was ist geblieben? Sympathie (Empathie) für das Tier, verkörpert nicht nur in Singvögeln. Skepsis gegenüber Menschen und Ideologien.

 

Texel 2015: Halbwilden Tieren vertrauend (nicht zur Nachahmung empfohlen)

Jürgen Giersch, der Maler (s.a. hier), beschwört Nietzsches Umarmung der vom Kutscher misshandelten Tiere, ein erschütterndes Bild:  die Welt ist aus den Fugen, die ins Licht führende Röhre erinnert an den Aufstieg der Seligen bei Hieronymus Bosch, aber hier ist kein Trost, nicht einmal zwischen den beiden Tieren.

 (©JG 2017,3) bitte anklicken!

… das Unheimliche an dem Vorgang hat mich am meisten ergriffen, denn Nietzsche hatte vorher in der Straße verkündet, daß er Gott sei. Und diese Barmherzigkeit mit dem geschlagenen Tier leuchtet sanft heraus aus der Finsternis seines Wahnes.

An der Nordsee, in St.Peter-Ording hatte ich auch den Pferden zugeschaut, – den Spiegelungen auf dem Fell, – unvergessen ist auch ein großes schwarzes Pferd bei einem lokalen Turnier, auf dem ein etwa zehnjähriges blondes Mädchen saß in einem weißen, von den Hüften abstehenden Rock, wie er auch von Tennisspielerinnen getragen wird. Das große Tier trabte an den Hindernissen vorbei, es gehorchte seiner kleinen Herrin nicht, und doch erschienen mir die beiden als die Sieger… (JG 6.11.2019)

Keine Sieger, aber zu zweit (Langeoog 2013 JR)

Willkommener Besuch im Garten HEUTE MITTAG 16. November 2019 (Foto: E.Reichow)

  

Nachtrag zum Mitleid

Folgenden Artikel lesen: NZZ „Humanismus für alle – warum die Kälte des Herzens den sozialen Frieden bedroht“ 13.1.2020

Mitgefühl für den Schmerz von Fremden ist ein wichtiger Kitt unserer Gesellschaft. Wer sein Herz gegenüber dem Leid anderer verhärtet, um wahnhaft utopischen gesellschaftlichen Idealbildern nachzuhängen, vergeht sich an der Humanität des Menschseins. Von Peter Strasser HIER.

Wikipedia über den Autor hier.

In dem Artikel geht es auch um Peter Handke und um Nietzsche, – zwei Zitate:

1) Nun, mit moralischem Defizit, einem ethischen Nihilismus hat Handkes «Gerechtigkeit für Serbien» gewiss auch zu tun. Doch die Grundlage dieses Defizits ist – und hier wäre weiterzudenken – die Unfähigkeit, Mitleid zu empfinden. Wie ist es möglich, fragt man sich, dass ein begnadeter Autor, der mitten in das postmoderne Getümmel an «Dekonstruktionen» und «Narrativen» eine Fähigkeit zur Naturbetrachtung einbringt, die völlig singulär ist (man lese nur einmal sein Journal «Die Geschichte des Bleistifts», 1982) – wie ist es möglich, dass diese Gabe, uns einen neuen Blick auf die Welt zu schenken, mit einer Fühllosigkeit für die Geschundenen, Gefolterten, Hingeschlachteten einhergeht? Bloss, weil die Westmächte angeblich ein kriegslogistisches Spiel mit dem «Traumland» Titos, das heisst der zerfallenen kommunistischen Diktatur namens Jugoslawien, spielten? Das wäre doch eine absurde Logik! Indessen hat man auch diese schon bemüht, um Handkes poetische Mitleidlosigkeit zu rechtfertigen.

2) Die – vermutlich gut erfundene – Episode über den nervenschwachen Nietzsche ist von weitreichender Bedeutung. Wir empfinden Mitleid, wenn wir das Wesen, das leidet, zugleich als eines erleben, das uns nahesteht. Dabei mag es sich um ein Pferd oder einen Menschen handeln. Auf dieselbe Weise werden wir jedoch kaum jemals Mitleid mit denjenigen empfinden, die als Teil einer Menge oder Masse leiden. Wenn wir an die Männer, Frauen und Kinder denken, welche von den Nazis in die Gaskammern gepfercht wurden, dann beschleicht uns – sofern wir keine Psychopathen sind – ein Grauen, das sich weder in Worte fassen lässt noch eigentlich ein Gefühl zu nennen ist. Wir erstarren innerlich, eine Kälte breitet sich aus, so als ob die Welt des Menschen zu existieren aufgehört hätte.

Bruchstücke aus dem Jahr 1955

Als es mit der Musik wirklich ernst wurde

JR Januar 1955 JR Konfirmation kl

Chronik Anna Magdalena Titel Chronik Anna Magdalena Widmung

Albert Schweitzer Bundesarchiv_Bild_183-D0116-0041-019 Albert Schweitzer Buch Vorspruch Foto: Albert Schweitzer 1955

Albert Schweitzer Buch Titel 1931 / 1954

Unterstreichungen beim Thema Wagner und Bach, auch seine positive Meinung über Nietzsche hat mich beeinflusst. Ebenso könnte ich dies gelesen haben (Seite 112):

Was den Pedalsatz angeht, so konnte Bach der damaligen Pedaltasten wegen, den Absatz nicht verwenden, sondern war ganz auf das Spiel mit den Fußspitzen angewiesen. Durch die Kürze der Pedaltasten war er überdies auch in dem Übersetzen des einen Fußes über den andern behindert. Er war also öfters genötigt, mit einer Fußspitze von einer Taste auf die andere zu gleiten, wo wir durch Übersetzen des einen Fußes über den anderen oder durch die Verwendung von Spitze und Absatz ein besseres Legato verwirklichen können, als es ihm möglich war. Das kurze Pedal der Bachschen Zeit habe ich in meiner Jugend noch auf vielen alten Dorforgeln angetroffen. In Holland sind noch heute manche Pedale so kurz, daß die Verwendung des Absatzes unmöglich ist.

JR Orgel 1955 Orgelstunden-Notate 31.4.55 – 17.9.55

März 1955: Albert Schweitzer war mein großes Vorbild, ich wollte – genau wie er – mehrere Berufe. Sein Foto hing bei mir an der Wand, daneben ein Epheben-Kopf des Praxiteles. So wäre ich gern gewesen. Das Buch bekam ich zur Konfirmation. Ich erlebte eine Phase der Frömmigkeit, sang im Kirchenchor die Bach-Motette „Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf“.  Auch Brahms „Warum ist das Licht gegeben“.

Februar 2015 – immer noch:  Die Pauluskirche in Bielefeld, in der ich vor 60 Jahren von April bis September genau 10 Stunden Orgelunterricht bei Kantor Eberhard Essrich bekam, danach Harmonielehre & Generalbass. Zum Kirchturm hatte ich aus unserer Wohnung im 2. Stock einen etwas anderen Blickwinkel als hier. Die Glocken waren ein wiederkehrendes Wochenenderlebnis, auch der Trompeter, der vom Turm aus Choralstrophen in alle vier Himmelsrichtungen blies. Im Erkerzimmer auf der linken Seite stand mein Schreibtisch. In dem Zimmer ganz links (mit dem runden Erker) der Bechstein-Flügel meines Vaters. Man sieht das Fenster gerade noch auf dem Konfirmationsbild (oben rechts), wo mir mein Geigenlehrer Gerhard Meyer die Hand schüttelt.

Pauluskirche Bielefeld 2-2015 Pauluskirche Bielefeld

Bielefeld Paulustr Eckhaus Paulusstraße

Ich las sein Bach-Buch und auch „Afrikanische Geschichten“, erinnere mich an vieles, was ich damals gelesen habe, obwohl das meiste nicht mir gehörte, sondern in der Stadtbücherei stand. Mereschkowski (Leonardo da Vinci u.a.), Colerus (Leibniz), Kant im Dünndruck (mit wenig Erfolg), Lehrbücher zur Botanik, auch Trainingsmethoden für Leichtathletik (Fünfkampf), immer sollte es etwas Universales sein, ich glaube, deshalb studierte ich auch Schulmusik und Germanistik, obwohl ich nie an die Schule wollte.

Noch ein Zitat von Albert Schweitzer, – dessen Hochschätzung Nietzsches letztlich bei mir dazu führte, Nietzsche zu lesen und Schweitzer aufzugeben, aber er fällt mir wieder ein, wenn ich heute über den Briefwechsel Adorno/Scholem und die Verbindung Aufklärung/Kabbala höre.

Das Christentum bedarf des Denkens, um zum Bewußtsein seiner selbst zu gelangen. Jahrhundertelang hatte es das Gebot der Liebe und der Barmherzigkeit als überlieferte Wahrheit in sich getragen, ohne sich auf Grund desselben gegen die Sklaverei, die Hexenverbrennung, die Folter und so viele andere antike und mittelalterliche Unmenschlichkeiten aufzulehnen. Erst als es den Einfluß des Denkens des Aufklärungszeitalters erfuhr, kam es dazu, den Kampf um die Menschlichkeit zu unternehmen. Diese Erinnerung sollte es für immer vor jeglicher Überhebung dem Denken gegenüber bewahren.

Quelle Albert Schweitzer: Aus meinem Leben und Denken (1931) Richard Meiner Verlag Hamburg 1954  (Seite 196)

„Was ist das für ein Kopf!“ sagte meine Mutter. Solche Nettigkeiten wollte ich, als diese Phase vorüber war, nicht mehr hören. Auch das Wort vom „rein Menschlichen“ hatte ich in der Familie zu oft gehört.

PS.

Übrigens: die Chronik der Anna Magdalena, Geschenk des Cellisten Friedrich Mahlke, las ich mit Begeisterung, bis mich ein anderer Freund meines Vaters aufklärte, dass sie nicht „echt“ sei. Und „das“ D-dur-Mozartkonzert in der Kritik ganz oben, das war gar nicht das große Mozartsche und nicht einmal von Mozart. Aber diese harte Wahrheit erfuhr ich erst im Studium. Meine Aufklärung begann überhaupt viel später.