Inzwischen kehrt sich die Meinung von dem besinnungslosen „Ich bin Charlie“-Bekenntnis, das auf einem spontanen Mitgefühl für die Opfer von Gewalt beruhte, zu einer differenzierteren Betrachtung der Machtverhältnisse. Derjenige, der partiell die Macht übernimmt, weil er im Besitz von Waffen ist, kann sich, aufs Ganze gesehen, in einer Position der Ohnmacht befinden. Seine Lage ist hoffnungslos, er weiß, dass seine Gegenmeinung keine Chance hat, und die Anderen, die diese Meinung mit Füßen treten oder der Lächerlichkeit preisgeben, wissen es auch. Sie sind in einer Position der Stärke.
Man fragt sich jedoch, „ob der höchste Gebrauch, den man von der Meinungsfreiheit machen kann, ausgerechnet in der absichtsvollen Beleidigung einer Religion und in der Kränkung einer Minderheit bestehen muss…“.
Dass beide Prinzipien, das der Toleranz und das der Meinungsfreiheit, derselben Quelle entstammen, verhindert allerdings nicht, dass sie in der Praxis heftig aneinanderstoßen. Man kann aber das eine nicht zurückdrängen, ohne das andere zu beschädigen. Der polnische, seinerzeit in Oxford lehrende Philosoph Leszek Kołakowski hat schon vor Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass hier eine echte Aporie vorliege. Toleranz gegenüber einer fremden Kultur wird zum Problem, wenn sich diese Kultur ihrerseits durch Intoleranz auszeichnet, wie beispielsweise der Islamismus unserer Tage. Vollendete Toleranz müsste eigentlich den Respekt vor der Intoleranz einschließen. Ist der Respekt vor der Intoleranz aber einmal gewährt, gibt es keinen Grund mehr, der eigenen Kultur nicht ebenfalls das recht auf Intoleranz zuzugestehen. Man könnte also sofort zurückschießen. Oder, anders gesagt: die vollständig tolerierte, einschließlich ihrer Feindseligkeit akzeptierte Minderheit wäre die, die man auch vollständig entrechten könnte. Respekt für einen radikalen Islamisten hieße dann – Guantánamo.
Quelle DIE ZEIT 7. Mai 2015 Seite 47 In den Sackgassen der Toleranz. Sind Mohammed-Karikaturen imperialistisch? Warum zweihundert Schriftsteller in New York gegen die posthume Ehrung der ermordeeten Mitarbeiter von „Charlie Hebdo“ protestieren. Von Jens Jessen
Ein Nachruf auf Kołakowski (18.07.2009 FAZ) endete mit dem schönen Satz:
Der Selbstvergötterung des Menschen, so Kołakowski, habe der Marxismus den gültigen philosophischen Ausdruck verliehen. Auch diese Idolatrie ende „wie alle individuellen und kollektiven Versuche der Selbstvergötterung. Sie erweist sich als der farcenhafte Aspekt der menschlichen Unzulänglichkeit.“
Mit einem leider etwas komischen musikalischen Bild beginnt Jens Jessen die hörenswerte Coda seines Berichtes über den New Yorker Protest der Schriftsteller:
Den von Minderwertigkeitsgefühlen Gepeinigten sollte man die Melodie ihrer Minderwertigkeit nicht immer aufs Neue vorspielen. Es ist auch richtig, dass der Streit universaler Prinzipien nie im machtfreien Raum ausgetragen wird. Was sich in der philosophischen Logik nicht befriedigend auflösen lässt, könnte sehr wohl in der gesellschaftlichen Wirklichkeit wenigstens ausbalanciert werden, durch Sinn für Fairness – und sei es, dass die Mehrheit ihre Macht einmal nicht dazu einsetzt, die Minderheit zu verspotten, sondern ihr zu neuem Selbstbewusstsein zu verhelfen.
Insofern haben die zweihundert Autoren, die sich dem Konsens der Karikaturenverehrung entzogen, in New York etwas Großes getan. Sie haben die von Kołakowski bezeichnete Aporie nicht aus dem Weg schaffen können, aber sie haben den Umweg gezeigt, den man auch gehen könnte – und den die politischen Pragmatiker sei Langem schon gehen, auch wenn sie dafür von den Intellektuellen bis vor Kurzem verachtet wurden.
Quelle s.o. DIE ZEIT „In den Sackgassen der Toleranz“ (Jens Jessen)
Noch einmal: Muss der Respekt vor der anderen Kultur – ob wir sie nun in der Ferne als Mehrheitskultur oder bei uns in der Nähe als Minderheitskultur erleben – soweit gehen, dass wir z.B. auch ihre Frauenverachtung respektieren?
Natürlich nicht. Genügt es – frei nach Diderot – den anderen die Möglichkeit zu geben, ihre Meinung über die Stellung der Frau zu artikulieren?
Jens Jessen meint (a.a.O.):
Das Dilemma lässt sich nur lösen, wenn man das Prinzip der Toleranz an seiner Vollendung hindert. Daher die berühmte, schon von Voltaire und anderen im 18. Jahrhundert erdachte Formel: Die Toleranz müsse ihre Grenze an der Intoleranz finden. Mörderischer Fanatismus muss nicht toleriert werden. Für unsere Tage und unseren Konflikt mit der islamischen Welt könnte das aber auch heißen, das eigene Toleranzideal nicht auszureizen, bis es den intoleranten Kern der fremden Kultur erreicht. Wo aber sollte die Grenze sein? Erst bei offener Blasphemie? Oder schon beim Kopftuch oder der notorischen Unterdrückung der Frau?