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Wie Willie Nelson Neues erfand

War es überhaupt „neu“?

Ich habe zunächst in einem anderen Zusammenhang über dieses Buch geschrieben, hier, da ging es mir in erster Linie um die zweifelhafte Lernerfahrung, die Alan Rusbridger anhand der Ballade in g-moll von Chopin protokolliert hat. Willie Nelsons Lebensbericht wollte ich gewissermaßen als Folie aus einer weniger reflektierenden Welt dagegenhalten. Bei weiterer Lektüre merkte ich, dass ich beiden so nicht gerecht werden konnte. Dass ich z.B. über das einzelne „Kulturgut“ von Chopin kaum etwas Neues erfahren kann (es steht schon alles in den Monographien), über die zahlreichen „Kulturgüter“ aber, die Nelson aufzählt, vielleicht eine andere Perspektive vermittelt bekomme, die ich im Traum nicht eingenommen hätte. Um dabei nicht ins Uferlose abzudriften, präzisiere ich meine Motivation für diesen Beitrag:

Ich will erkunden, was einen Song ausmacht, den der Autor und sein Publikum offenbar als völlig gelungen empfinden. Ganz unabhängig von meiner Meinung , – ich habe vielleicht keinerlei „authentischen“ Zugang zu dieser Musik, finde sie melodisch abgedroschen und kann den einen Song nicht recht vom anderen unterscheiden, der Text spielt in einer Welt, die mir gleichgültig ist. Vieles scheint mir banal, allzu häufig taucht mir als positive ästhetische Etikettierung das Wörtchen „entspannt“ auf. Ein Lebensgefühl, das vom Joint geprägt ist, scheint mir suspekt. Ich will aber keinesfalls altfränkisch-analytisch daherkommen, ich will Song für Song hören, und anhand der Hinweise Nelsons verstehen, was seine „Wahrheit“ ausmacht, werde auch die Links einfügen, damit jeder weiß, wovon die Rede ist, aber erst später, damit sich kein Vorurteil verfestigt. Eine kleine Reise also, ganz entspannt.

ZITAT

„Du meinst was Neues?“

„Was Altes, was Neues, was Geborgtes, was Blaues. Ich gebe dir so viel Studiozeit, wie du brauchst. Tu, was dir Spaß macht.“

Ich bin zurück ins Hotel und habe darüber nachgedacht. Wexler beteuerte dauernd, ich bräuchte keinen Produzenten, der mir sagte, was ich tun sollte. Er meinte, ich hätte eine Vision.

„Gib dieser Vision einfach einen Ausdruck“, drängte er. „Das Studio ist deine Welt. Du formst den Klang nach deinen Vorstellungen. Alle großen Künstler machen das so.“

Das hörte ich gern, aber ich spürte auch den Druck. Ich brauchte mindestens noch zwei oder drei neue Songs, um Wexlers Vertrauen in mich zu rechtfertigen. Ich musste mir schnell was einfallen lassen.

An diesem Abend saß ich im Badezimmer und zermarterte mir das Gehirn, um ein paar gute neue Songs zustande zu bringen, alsmein Blick auf einen Spender für Hygienebeutel neben der Toilette fiel. Ich nahm einen heraus, zückte meinen Bleistift und fing an, alles aufzuschreiben, was mir irgendwie in den Sinn kam. Die Worte purzelten nur so heraus.

Shotgun Willie sits around in his underwear
Bitin‘ on a bullet and pullin‘ out all of his hair
Shotgun Willie’s got all his family there

Well you can’t make a record if you ain’t got nothing to say
You can’t make a record if you ain’t got nothing to say
You can’t play music if you don’t know nothing to play
Shotgun Willie sits around in his underwear
Bitin‘ on a bullet and pullin‘ out all of his hair
Shotgun Willie’s got all his family there

Now John T. Floores was working for the Ku Klux Klan
The six foot five John T. was a hell of a man
Made a lotta money selling sheets on the family plan
Shotgun Willie sits around in his underwear
Bitin‘ on a bullet and pullin‘ out all of his hair
Shotgun Willie’s got all his family there

(Seite 257) Musik siehe hier: Shotgun Willie

Quelle Willie Nelson mit David Ritz MEIN LEBEN: EINE LANGE GESCHICHTE Aus dem Amerikanischen von Jörn Ingwersen / Wilhelm Heyne Verlag München 2015

Musik siehe hier / Reihenfolge der Titel:

1 „Shotgun Willie“ 0:00 2 „Whiskey River“ 2:39 3 „Sad Songs and Waltzes“ 6:43 4 „Local Memory“ 9:50 5 „Slow Down Old World“ 12:09 6 „Stay All Night (Stay a Little Longer)“ 15:02 7 „Devil in a Sleepin‘ Bag“ 17:38 8 „She’s Not for You“ 20:17 9 „Bubbles in My Beer“ 23:32 10 „You Look Like the Devil“ 26:05 11 „So Much to Do“ 29:31 12 „A Song for You“ 32:41

***

Ich füge ein, was mir ein guter Freund zur Ermutigung schrieb:

Klar kenne ich Willie Nelson, ein aufrechter Kerl, ein echter „Typ“, Underground in den USA, und immerhin hat er, zusammen mit sagen wir Kristofferson und dann auch Cash Nashville ein wenig entzaubert und eine „bessere“ Countrymusik durchgesetzt. Er ist wie Dylan ja auf never ending-Tour, lebt monatelang in einem umgebauten großen Bus, mit über 80. Bewundernswert. Ich kenne nur einige wenige seiner Alben, aber „Teatro“ liebe ich sehr (ist auch toll poduziert, klingt hervorragend: https://open.spotify.com/album/1OEt5rJZPkKm4zkHLfVYje ), und dieses Red Headed Stranger-Album ist sehr wichtig, und seine Popsong-Adaptionen find ich auch interessant, zum Beispiel auf „Stardust“, oder eben „Always On My Mind“. Er hat auch einige Songs von Townes Van Zandt groß gemacht, Pancho and Lefty etwa. Ich weiß nicht, ob ich sein Buch lesen sollte, sag Du’s mir, ich hatte registriert, daß es herausgekommen ist, habe es aber (noch?) nicht gekauft. Ich bin ja immer bei der „Wahrheit“ skeptisch und dem, was solche Leute zu sagen haben, so sehr ich ihn auch als Musiker und eben als gradlinigen Menschen achte.

ZITAT (weiter im Willie-Nelson-Text!)

Seite 278

Und es war gut, dass ich meinen Willen bekam, denn ich stand kurz vor einem Schreibrausch. Allerdings war mir das damals keineswegs bewusst. Kurz davor zu stehen und tatsächlich loszuschreiben sind zwei völlig verschiedene Sachen. Nachdem ich den Vertrag bei Columbia unterschrieben hatte, machte ich eine Phase durch, in der ich mich irgendwie blockiert fühlte. Vielleicht lag es daran, dass ich ziemlich schnell neues Material raushauen musste.

Um auf andere Gedanken zu kommen, fuhren Collie und ich zum Skilaufen nach Steamboat Springs in Colorado. Es war der Winter 1975. Weil ich mir Zeit nehmen wollte, beschloss ich, mit dem Auto hinzufahren. Das Skilaufen weckte meine Lebensgeister, und die kalte Bergluft tat mir gut. Auf der langen Rückfahrt kam ich um den Gedanken nicht herum, dass es langsam Zeit wurde, meinem müden Hirn ein paar neue Stücke abzuringen. Connie erwähnte beiläufig einen alten Song namens „Read Headed Stranger“, den ich als DJ drüben in Fort Worth gespielt und allen meinen Kindern vorgesungen hatte, als sie klein waren. Für mich war der Song ein alter Cowboy-Film. Ich sah die Geschichte förmlich vor mir. Ich konnte mir diesen alten Prediger gut vorstellen, der seine Frau ermordet hatte und für den Rest seines Lebens durch die Lande zog und nach Trost suchte, den er nie finden würde.

Ich sah den Anfang des Films schon vor mir. Ich hörte die Worte in meinem Kopf.

It was the time of the preacher when the story began
With the choice of a lady and the love of a man
How he loved her so dearly he went out of his mind
When she left him for someone she’d left behind
He cried like a baby he cried [screamed] like a panther in the middle of the night
And he saddled his pony and went for a ride
It was the time of the preacher in the year of ’01
And now the preaching is over and the lesson’s begun. [Text s.a. hier]

Ich ließ mir die Zeit und konzentrierte mich dabei auf die Empfindungen des Predigers. Ich dachte mir, wenn er erfuhr, dass seine Frau ihn verlassen hatte, könnte er bestimmt einen alten Song von Eddy Arnold nachempfinden – „I Couldn’t Believe It Was True“.

Als wir einen Bergkamm erreichten und dort unter uns die Landschaft liegen sahen, hatte ich plötzlich eine Idee, wie sich der Prediger und seine Frau kennengelernt haben könnten.

The bright lights of Denver are shining like diamonds
Like ten thousand jewels in the sky
And it’s nobody’s business where you’re goin‘ or where you come from
And you’re judged by the look in your eye

She saw him that evening in a tavern in town
In a quiet little out-of-the way place
And they smiled at each other as he walked through the door
And they danced with their smiles on their faces [Text s.a. hier]

Der Song „Denver“ wurde Teil der Geschichte, zusammen mit anderen Songs, die zur gedrückten Stimmung der Platte passten. Hank Cochrans „Can I Sleep In Your Arms“ war so ein Song, mit dem sich der Prediger vielleicht in den Schlaf singen würde. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass der Prediger eine schöne alten Ballade von Fred Rose sang, nämlich“Blue Eyes Crying in the Rain“ , die von Hank Williams über Gene Autry bis zu Conway Twitty schon alle gesungen. Es war ein weiteres Lied über verlorene  Liebe, dessen Mantra – „Love is like a dying ember and only memories remain“ – das Thema gut erfasste.

Es gab nur einen eher lockeren Zusammenhang zwischen den Songs, und dann schummelte ich auch noch so etwas wie „Just as I Am“ hinein, ein Kirchenlied, das Bobbie gespielt hatte, als wir Kinder waren. Um die Verzweiflung des Predigers darzustellen, brauchte meine Geschichte ein Gebet. „I looked to the stars, tried all the bars“, hieß es in „Hands on the Wheel“, dem letzten Song des Sets, „and I’ve nearly gone up in smoke.“ Zu guter Letzt hatte der Prediger wieder das Steuer in der Hand. Und er kehrte heim. Heim konnte dabei ein Traum sein. Oder der Tod. Oder einfach nur das Ende des Albums. [s.a. hier)

Als es ans Aufnehmen ging, erwartete man bei Columbia wohl, dass ich nach Nashville, New York oder L.A. fliegen würde, um die Songs in einem hypermodernen Studio mit erstklassigen Begleitmusikern aufzunehmen. Ich dagegen bat Mickey Raphael, uns ein unauffälliges kleines Studio zu suchen. Er erzählte mir vom Autumn Sound in Garland, einem verschlafenen Vorort östlich von Dallas. Ich nahm meine eigene Band mit. Bucky Meadows kam vorbei und spielte Klavier und Gitarre. Wir hielten es schlicht und einfach. Die Arrangements waren schlank. Die Begleitung war spärlich. Wir brauchten für die Songs nur wenige Takes. Ich orientierte mich an alten Alben von Eddy Arnold und Ernest Tubb, bei denen auch nur ein Sänger und eine Gitarre zu hören waren. Das Ganze klang unglaublich entspannt. Ich fand, wir hatten die Geschichte des Predigers genau richtig erzählt.

Als ich bei Columbia unterschrieben hatte, war mir ein Vorschuss von 60.000 Dollar angewiesen worden, um davon eine Platte aufzunehmen, die man mit 40.000 Dollar Kosten veranschlagt hatte. Ich glaube nicht, dass die Sessions im Autumn Sound mehr als 2000 Dollars gekostet haben. Die restlichen 58.000 Dollar nutzte ich, um davon besseres Equipment für unsere Roadshow zu kaufen. So weit, so gut.

Doch als der Oberboss von Columbia die Aufnahmen hörte, sagte er: „Wieso spielst du mir ein Demo vor?“

„Das ist kein Demo“, erklärte ich. „Das ist das fertige Produkt.“

(Seite 281)

Quelle Willie Nelson mit David Ritz MEIN LEBEN: EINE LANGE GESCHICHTE Aus dem Amerikanischen von Jörn Ingwersen / Wilhelm Heyne Verlag München 2015

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(Fortsetzung folgt)

Fertiggemachtes und andere Kunststücke

Von Objekten und Menschen

Ausgerechnet in dieser hochgestimmten Zeit möchte ich mich eines einst umstrittenen Kunstwerks erinnern – falls ich es so bezeichnen darf -, einer Skulptur, fontain genannt, die verloren gegangen ist, das erste ready-made oder objet trouvé; es handelte sich um ein fabrikfrisches Urinal, das damals auf dem Müll landete, vielleicht weil es – vom Sockel genommen – nicht mehr als Kunstwerk erkennbar war. Vielen Menschen will es nicht in den Kopf, dass es jemals als solches gemeint war, sie werden sogar böse, wenn sie darüber diskutieren sollen. Wie gesagt, es ist verschwunden, das Original-Urinal wurde allerdings von einem berühmten Photographen abgelichtet. Und eine lebensechte Replik findet man im Musée Maillol in Paris und auch anderswo. Wie schätzt man die Sache heute ein, nachdem daraus längst eine etablierte Kunstrichtung geworden ist – conceptual art?

The precedents for conceptual artists of the 1960s and 1970s were created in the early twentieth century by French artist Marcel Duchamp (1887 – 1968). In 1917, the father oft conceptual art – as he is often called – submitted a factory-made urinal to the Armory Show in New York on the basis that art could be anything the artist designated it to be. The labour on Duchamp’s part was minimal: he simply rotated the urinal from its functional vertical position to the horizontal and signed the piece with the fictional signature ‚R Mutt, 1917‘, a pun on the manufacturer’s name and the popular comic strip ‚Mutt and Jeff‘. Today, only photographs remain of the original Fountain, taken by Alfred Stieglitz (1864 – 1946) in his 291 Gallery in New York, seven days after the work was rejected by the judges of the Armory Show. (Multiple copies of the sculpture have since been made, thereby further questioning the idea of an ‚original‘ work of art that Duchamp intended to challenge.) The raw and confrontational nature of the Fountain is pronounced in Stieglitz’s photographs, as is the mystical symbolism of the piece, its formal relations to a Madonna figure or seated Buddha made apparent by the photographs‘ compositions.

Quelle Charlotte Cotton: The Photograph As Contemporary Art (third Edition) Thames & Hudson world of art London 2004, 2009, 2014 (Zitat Seite 22)

Man lese den Wikipedia-Beitrag über Duchamp HIER, lese die Argumente des Künstlers, gehe innerhalb des Artikels zur Werkauswahl und klicke in der Liste Einzelwerke an, z.B. auch das ready-made „Flaschentrockner“.

Empfehlenswert ist in diesem Zusammenhang ein schmaler Band von Michael Hauskeller: Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto (becksche reihe München 1998, 6./ 2002). Ab Seite 99 über den Philosophen Arthur C. Danto. ZITAT:

Warhol und andere Pop-Art-Künstler hatten gezeigt, daß von zwei Gegenständen, die genau gleich aussahen, eines ein Kunstwerk und das andere keines sein konnte. Darüberhinais schien plötzlich jeder beliebige Alltagsgegenstand, und zwar unabhäng9ig von seiner materialen Beschaffenheit und ästhetischen Qualität, kunstfähig zu sein. Schon fünfzig Jahre früher hatte marcel Duchamp mit seinen Ready-Mades Alltagsgegenstände zur Kunst erklärt, damit aber nur die Aufmerksamkeit des Betrachters auf Eigenschaften des gegenstandes gelenkt, die schon vorher da waren, aber gemeinhin übersehen wurden. Duchamp öffnete die Augen für die eigentümliche Schönheit, die auch etwas so Gewöhnliches wie ein Flaschentrockner und ein Urinal besitzen, wenn man sie nur als Dinge und in Absehung von jeder Zweckbestimmung betrachtet. Warhols Brillo Boxes aber waren nicht schöner als irgendetwas anderes. Mit ihnen hatte sich die Kunst von den letzten gegenständlichen Beschränkungen befreit. Es begann die „posthistorische Periode der Malerei“: Zum ersten mal in der geschichte der Kunst war alles möglich, konnte schlechthin alles Kunst sein.

Daraus folgte aber nach Danto nicht, daß auch alles Kunst war, und auch nicht, daß alles Kunst werden konnte, sofern man es nur dazu erklärte. Meine Schreibtischlampe wird nicht dadurch zum Kunstwerk, daß ich behaupte, sie sei eines, selbst dann nicht, wenn ich ein anerkannter Künstler wäre. Dazu müßte ich auch erklären können, was gerade sie zum Kunstwerk macht, und das heißt nichts anderes als zu erklären, worüber sie ist. Genau hierin besteht nämlich der Unterschied zwischen einem Kunstwerk und einem gewöhnlichen Ding. Wie Wörter oder Sätze ist Kunst immer über etwas, während gewöhnliche Dinge niemals über etwas sind. Ihnen fehlt der bezug, das Über-etwas-sein (aboutness). Die Topfreiniger-Kartons im Supermarkt sind über nichts, Warhols Brillo Boxes hingegen sind über die Welt, in der wir leben, über uns selbst und unsere Wahrnehmung dieser Welt.

Hauskeller

Von diesem Büchlein aus findet man einen idealen gedanklichen Anschluss in dem neuen Werk von Hanno Rauterberg über „Die Kunst und das gute Leben“:

Ein Maler der Vormoderne weiß sich – unabhängig vom jeweiligen Auftraggeber – eingebettet in eine lange Geschichte der Stile, der ikonografischen Ausdeutungen und Techniken. Er vermag diese Geschichte auf seine Weise zu variieren und fortzuspinnen, und jeder Betrachter kann seine Kunst folglich auf diese Weise begreifen: als Teil einer übergeordneten Entwicklung der Malerei oder Skulptur. (…)

Weil es keinen konzisen Kanon mehr gibt, nichts, was einer Regelästhetik gleichkäme, ist das einzelne Kunstwerk vor allem auf seine Beglaubigung angewiesen. Weil potentiell alles als Kunstwerk deklariert werden kann, wie etwa Arthur E. Danto dargelegt hat, weil also keine formalen Kriterien existieren, die über den Status und die Bedeutung eines Werkes entscheiden, bedarf es anderer Instanzen. Eine ist das Museum, eine noch wichtigere ist der Künstler. Er muss am Ende durch seine Person und also durch sein ethisches Verhalten die ästhetische Integrität seines Werkes erst ermöglichen.

Angenommen, es käme heraus, dass Marcel Duchamp nicht im Namen der Kunst handelte, als er einen gewöhnlichen Flaschentrocker zu einer museumswürdigen Skulptur erhob. Angenommen, er wäre von einer Flaschentrockner-Industrie dafür bezahlt worden, diesem Produkt eine größtmögliche Aufmerksamkeit zu erschleichen. Angenommen, auch die Museen wären heimlich in diese Kampagne eingebunden gewesen. Dann würde die Bedeutung Duchamps, sicherlich einer der einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts, deutlich geschmälert. Denn das Werk als solches gibt es nicht. Es zählen nicht die intrinsischen Qualitäten, seine technische Virtuosität oder kompositorische Raffinesse, sein Anspielungsreichtum. Was allein zählt, ist die Idee. Diese aber bezieht ihre Kraft ganz wesentlich aus der Lauterkeit der sie grundierenden Motive. Und Lauterkeit bedeutet in diesem Fall, dass sie allein der Kunst dienen und die Kunst meinen. je prekärer also der ästhetische Status eines Werkes, desto wichtiger wird die ethische Absicherung.

Quelle Hanno Rauterberg: Die Kunst und das gute Leben. Über die Ethik der Ästhetik. / Edition Suhrkamp Berlin 2015 (Zitat Seite 27 f)

Rauterberg

Ich muss noch einen Abschnitt weitergehen, um mich an ein Projekt zu erinnern, das ich weiterverfolgen will. Der entscheidende Name ist drucktechnisch hervorgehoben (von ethischer Absicherung war die Rede):

Dieses gilt umso mehr, da vormoderne Künstler in der Regel nicht dazu neigten, ihre eigenen Träume, Hoffnungen oder Zornesausbrüche zum Thema ihrer Kunst zu machen. Ihre Werke waren kein bewusster Ausdruck eines verborgenen Ichs, und schon deshalb kann der Betrachter bei einem Gemälde von Caravaggio leichter über alle biographischen Aspekte hinwegschauen. Schier unmöglich ist dies hingegen bei Künstlern wie Joseph Beuys oder Christoph Schlingensief, die nicht mehr zwischen Leben und Werk trennen wollen. Einige wie Timm Ulrichs und Ben Vautier haben sich selbst zu Kunstwerken erklärt und ausgestellt, andere wie Gilbert und George oder Marina Abramović machen ihren eigenen Körper, manchmal ihren Alltag zum Gegenstand ihrer Kunst. Umso mehr hängt die Glaubwürdigkeit an ihnen als Person. Auch hier sind Ethik und Ästhetik eng verknüpft und von einer Eigenmächtigkeit der Werke kann nur schwerlich die Rede sein.

Quelle Rauterberg a.a.O. Seite 28 f.

Fördert Kultur Eskapismus?

Wahrheit oder Schönheit oder weder noch

Wenn in dem folgenden Zitat – es stammt aus einem Filmlexikon (!) – von medialen Texten die Rede ist, könnte man sich fragen, bis zu welchem Punkt es inhaltlich erweitert werden könnte: darf man es auf Romane, Gedichte, Gemälde, Grafiken, Sinfonien, Opern, Kammermusik beziehen?

Mediale Texte bieten sich als Mittel eskapistischer Nutzung an, weil sie dem Zuschauer imaginäre Gratifikationen in einem risikofreien Raum gewähren. Er weiß, dass ihm nichts passieren kann und er jederzeit aussteigen bzw. abschalten kann; er muss keine Verantwortung übernehmen und kann trotzdem aus seinen Alltagsrollen heraustreten und sich in die kompensatorische Medienwelt flüchten. Gerade fiktive Charaktere und unrealistische Abenteuer erleichtern die Flucht aus der Realität.

Quelle HIER

Im Wikipedia-Artikel Eskapismus findet man folgenden Hinweis auf Peter Handke:

Gelegentlich wurde der Kunst im Allgemeinen sowie der Dichtung im Besonderen vorgeworfen, Mittel zur Realitätsflucht zu sein. Oft wurde hierfür das Bild des Elfenbeinturmes gebraucht, in dem der Dichter sich vor der wirklichen Welt verschanze und zurückziehe. Insbesondere auf die Kunst der Romantik, etwa die Dichtung Friedrich Hölderlins wurde dieser Begriff angewandt. Peter Handke ist diesem Vorwurf in seinem Band Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturmes (1972) begegnet. Dort betont er den utopischen Charakter der Kunst, der gerade durch seine Distanz zur Wirklichkeit ihre Veränderung ermögliche.

Ich neige dazu, die Kunst als ein Mittel gegen den Tod zu betrachten. „Nicht wirklich“, nicht in der Realität, aber in einer Sphäre, die es geben müsste, und deren Realität in der Kunst unbezweifelbar wird. (Was nicht im geringsten esoterisch gemeint ist! … oder … doch? im Sinne von „wundergläubig“?)

Aber die Hoffnung, durch Distanz zur Wirklichkeit doch noch deren Veränderung zu bewirken, scheint mir zu den 70er Jahren zu gehören, als es ohne diesen revolutionären Ausblick einfach nicht ging.

Es bleibt zu abstrakt. Konkreter Ausgangspunkt sind zwei Zeitungsartikel, die offensichtlich situationsgerecht sind und zugleich Widerspruch herausfordern. Skrupel darüber, dass bei uns Kultur stattfindet, während der Weltlauf (früher weit draußen, jetzt vor unserer Tür) ein Veto einzulegen scheint?

Es genügt nicht mehr, den Bürger aus Goethes Faust ironisch zu zitieren, – wissend, dass der Faust hoch genug angesiedelt ist, um alles zu integrieren, auch das Böse in der Welt. Wir haben Fernsehen und Medien aller Art, anders als der Biedermeier von einst, es quillt von überall herein. Wir stehen nicht mehr zufrieden am Fenster:

Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus,
Und segnet Fried und Friedenszeiten.

ZITAT aus DIE ZEIT:

Noch hat die Flüchtlingswelle, unter der das alte Europa ächzt, Salzburgs Festspielmeile nicht erreicht. Noch sind es einzelne Gestalten, die in der Hofstallgasse vor den Eingängen von Felsenreitschule, kleinem und großem Festspielhaus kauern und knien, auf Lumpen und in Lumpen, die Mienen stoisch, in den Händen Pappbecher, die sie den Besuchern stumm entgegenrecken – wohlweislich stumm. In Salzburg gebe es kein Bettelverbot, lässt die SPÖ-regierte Stadt verlauten, und solange diese ungebetenen Gäste niemanden verbal oder körperlich angingen, könne man nichts gegen sie unternehmen.

Wie umgehen mit solchen Situationen, fragt man sich und stellt sich vor, wie leicht aus diesen wenigen viele werden könnten und wie die Kunstliebhaber sich nicht mehr durch ihresgleichen wühlen müssen, um zu Wolfgang Rihms Eroberung von Mexico oder Beethovens Fidelio zu gelangen, sondern durch Menschenmengen, ja -massen aus Syrien und dem Irak, die sich auch in Salzburg in Turnhallen und Zelten eingepfercht wiederfinden. Die etwas abhaben wollen vom schönen Leben in Europa und sich vielleicht um so etwas wie Bettelkodizes nicht mehr scheren werden. Zu Recht.

Quelle DIE ZEIT 6. August 2015 Seite 47 Hier Leben. Da Kunst Vor den Operntoren von Salzburg kauern Flüchtlinge. Haben die Festspiele die Zeichen der Zeit erkannt? Von Christine Lemke-Matwey  Nachzulesen in ZEIT online: HIER.

Ja, man lese es nach und denke und zweifle … und stehe da als armer Tor und sei so klug als wie zuvor. Ganz besonders bei dem verwegenen Satz:

Vielleicht war Christoph Schlingensief der Letzte, der aus einer derart brisanten Konfrontation von Kunst und Leben hätte Funken schlagen können.

Was ist damit gemeint? Bei Wikipedia finde ich dies (siehe hier):

Schlingensief selber wollte, dass der Kunstbegriff neu definiert werden würde: „Ich fordere uns alle auf, unsere Vorstellungen von Kunst über Bord zu werfen und in den Reichtum eines solchen Ortes zu investieren. Mit der Schule fangen wir an. Sie soll das Zentrum sein. Was für eine Kunst, wenn uns Kinder und Jugendliche, die einen Unterricht besuchen können, an ihrem Wissen teilnehmen lassen! Was für ein Fest, wenn sie ihre eigenen Bilder machen, Instrumente bauen, Geschichten schreiben, Bands gründen. Und was für eine Oper, wenn in der Krankenstation, die wir bauen wollen, ein neugeborenes Kind schreit.“

Nicht mehr und nicht weniger? So lasst uns alles über Bord werfen, was uns lieb und teuer ist! Niemand wird widersprechen, wenn die Alternative ein nicht gerettetes Kind wäre. Letztlich war es auch Dostojewskis Argument, auf seine Eintrittskarte ins Paradies zu verzichten, wenn auch nur ein einziges Kind in der Welt Leiden ertragen müsste. Es handelt sich um listig konstruierte Zwangslagen: denn es gibt nun einmal keine solche Eintrittskarte, aber es gibt die Dummheit und das Böse! Und es geht niemals darum, Mozart in den Orkus zu jagen und stattdessen Kindern ein lebenswertes Leben zu ermöglichen, sondern z.B. darum, Kindern ein lebenswertes Leben zu ermöglichen, damit sie u.a. die Chance haben, Mozart (wahlweise auch gern Amadinda-Musik aus Uganda)  kennenzulernen und zu wissen, was Leben für eine Bedeutung haben kann. Man soll uns nicht Alternativen anbieten, die keine sind, weil die Wahl in jedem Fall absurd wäre.

Aber man kann auch nicht jedes Argument akzeptieren, das zugunsten der (nutzlosen) Kunst plädiert. Nützlicher wäre, sie tatsächlich nutzlos zu nennen, und über den Sinn des Spielens und des bloßen Lebens zu reden. Warum beschleicht mich ein solches Missbehagen, wenn ich einen gutgemeinten und ziemlich hoch angesiedelten Beitrag (s.o. Stichwort Faust, jetzt wird bald Adorno folgen) im letzten Wochenend-Feuilleton der SZ lese? Er beginnt so:

Jeder, der derzeit in Konzerte, Museen, Buchhandlungen geht, wird dabei auch an die Flüchtlingsströme und den (Pariser) Terror denken. Und es ist kein Wunder, dass das Theater, eine so wendige wie schnelle Kunstform, diese Erschütterungen schon kommentiert, dass in Konzerten der Opfer gedacht, für die Flüchtlinge gespielt wird. Aber all das sind äußerliche Aktionen, die kaum ins Innere der Kunst vorstoßen. Deshalb dürften viele Kunstfreunde immer ein etwas schlechtes Gewissen haben angesichts der desolaten Weltlage: Ist es nicht hedonistischer Egoismus, sich derzeit mit Kunst abzugeben? Zumal auch noch Bertold Brechts berühmte unselige Einlassung durch viele Hirne spuken dürfte: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“

Was soll denn das heißen? – „unselige Einlassung“? Das Gedicht wurde  im Jahre 1939 geschrieben. Ich habe es selbst kürzlich memoriert: hier, „In finsteren Zeiten“.

Ich möchte sagen: die „finsteren Zeiten“ heute erleben wir mehr oder weniger konfrontal in Syrien, indirekt in Gestalt der Flüchtlingsströme aus Süd und Südost, die „Bäume“ aber in Gestalt der Klimakonferenz in Paris, die das Gegenteil eines Verbrechens ist, die vielmehr „über so viele Untaten“ nicht mehr schweigen will.

Ich fahre fort im ZITAT, wobei ich mir ein paar Einwürfe nicht versagen möchte), nenne aber zunächst die originale Quelle:

Quelle Süddeutsche Zeitung 28./29. November 2014 Akkordmonster Angst vor dem Fremden? Nein. In ihren großen Momenten bringt die klassische Musik zusammen, was unversöhnlich erscheint / Von Reinhard J. Brembeck.

Theodor W. Adorno hat, zuletzt noch in seiner unvollendet gebliebenen „Ästhetischen Theorie“, immer darauf bestanden, dass es einen unaufkündbaren und wesentlichen Zusammenhang gebe zwischen den Kunstwerken und der Wirklichkeit. „Wird sie strikt ästhetisch wahrgenommen“, schreibt Adorno über die Kunst, „so wird sie ästhetisch nicht recht wahrgenommen.“ Denn: „Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form.“

Adorno bleibt konkrete Belege für solche Thesen erst einmal schuldig [Einspruch! sein Werk quillt über von Belegen], weshalb solche Statements manchem Leser vielleicht erst einmal als wohlfeiles Philosophengeschwätz gelten mögen. [Nein, man misstraut zunächst dem Journalisten!]. Macht man sich jedoch die Mühe, seine Thesen in der Wirklichkeit der Kunstwerke zu überprüfen [statt sie „erst einmal“ in Adornos Kontext zu verstehen] , dann dämmert einem schnell, dass es tatsächlich oft diese nicht von der Hand zu weisenden Bezüge zwischen den beiden Sphären gibt und dass dabei zentrale Widersprüche des Daseins verhandelt werden. Und zwar nicht so sehr in den an Themen gebundenen Künsten wie der Literatur, dem Theater oder Teilen der zeitgenössischen bildenden Kunst, der Malerei, sondern gerade in der scheinbar so abstrakten, sperrigen Instrumentalmusik der Wiener Klassiker, die einst als „absolut“ und „erhaben“ gedacht wurden, als aller Diesseitigkeit entrückt.

Wie lang zurück liegt denn dieses „einst“? Seit 50 Jahren liest man, wenn man über Beethoven liest, auch von Französischer Revolution, wenn über Schubert, dann auch über Metternichs Polizeistaat.

Eigentlich möchte ich nicht mehr zum neuen Hören der Eroica und der C-dur-Streichquartetts angeleitet werden, wenn etwa die Exposition des Beethovenschen Kopfsatzes als ein „forsch dahinwalzerndes [!!!] Anfangsstück“ gelten soll, und Schuberts Adagio als „ein E-Dur-Idyll [!!!], in dessen Zentrum er eine f-Moll-Hölle implantiert“.

Das derzeitige Flüchtlingselend, der Terror und die Kriegshysterie schärfen den Blick für die Bedeutung solch formimmanenter Prozesse. (…) Niemand, der das Fremde, Neue und Unvereinbare ausgrenzen will, kann sich auf Beethoven und Schubert berufen.

Niemand will heute das „Fremde, Neue und Unvereinbare“ ausgrenzen, es wird ja sorgfältig umetikettiert. Es heißt dann: die, die von unseren Sozialleistungen profitieren wollen. Die, die hier Parallelgesellschaften bilden wollen, die unsere christlichen Werte nicht anerkennen. Die uns – „ich hab nichts gegen sie“ – aber doch mit ihrer schief intonierten Jammermusik etwas auf die Nerven gehen und vor allem: keine Mittagsruhe einhalten. usw. usw.

Das „Fremde“ hat eine andere Dialektik als zu Schuberts Zeit, als es um ein Fremdempfinden innerhalb der vertrauten Gesellschaft ging, ein Ausgestoßensein, man schaue nur, was die Verehrung der „Fremden“, der „Peregrina“, des fremden Mädchens (möglichst noch stumm), des exotischen Erotischen in der Romantik bedeutet hat. An die Anerkennung einer fremden Musik zum Beispiel hat niemand nur im Traum (oder nur im Traum!) gedacht.

Man darf das nicht alles – etwa die gleichen Worte, die in der Substanz scheinbar verwandten Themen – über einen Kamm scheren. Etwa so:

Für dieses Phänomen bietet die Naturwissenschaft eine Erklärungshilfe. Mögen zwei Menschen auch noch so verschieden sein, in der DNA ist der Unterschied zwischen ihnen so gut wie irrelevant. Genau diesen Zusammenhang zwischen Außen und Kern hat Beethoven in der „Eroica“ vorweggenommen.

Nein, das hat er nun gerade nicht! Die kleinen Unterschiede sind z.B. das Relevanteste an zwei scheinbar ähnlichen Akkorden.

Man vergleiche nur die Ähnlichkeit der DNA eines Säugetieres mit der eines Menschen. Dieses Argument ist äußerst gefährlich…

Ausblick 2. Dezember

Es ist noch längst nicht zuende gedacht. Vor einigen Jahren habe ich es schon mehrfach angefangen. Hier zum Beispiel, in dem Essay 2012 für SWR 2: Schöne Fremde, verlorenes Ich… Wenn die Musik an ihre Grenzen stößt.

Oder in einem früheren Anlauf 2008, speziell für meine Geburtsstadt Greifswald, die ich bei dieser Gelegenheit wiederzuentdecken hoffte. Mir war allerdings schnell klar, dass hier keine Freunde zu gewinnen waren, gerade nicht unter Schubert-Freunden. Mit einer einzigen indischen Musik hat man sie für den Rest des Abends vergrätzt. Was man natürlich auch als Auszeichnung empfinden kann. So behält doch jeder seinen Schubert und muss an den vertrauten Klängen nicht irre werden.

Schubert und die Romantik des Fremden
Von österreichischen, ungarischen, schwedischen Farben,
romantischen Sehnsüchten und ethnischen Fragwürdigkeiten
Ein Vortrag von Jan Reichow

Nachzulesen HIER.

 Und erst heute erlebe ich nun in ein und derselben Süddeutschen Zeitung, wie Schubert unter Anrufung Adornos mit untauglichen Mitteln für das Flüchtlingselend mobilisiert wird und gleich daneben der romantische Begriff des Orients (vs. Naher Osten/Mittlerer Osten) aufs neue in Frage gestellt wird:

Solange die arabische Welt ein ferner Schauplatz von Konflikten und Kriegen war, genügten die spröden geografischen Bestimmungen. Nun, da dessen Bewohner zu uns kommen, kehrt ein Begriff zurück, der für das Fremde, das ganz andere steht, der aus einer vorglobalisierten Welt stammt, als nicht Hunderttausende ins Abendland aufgebrochen sind. Nun steht der Orient nicht mehr für Schlangenbeschwörer und Bauchtänzerinnen, sondern für Selbstmordattentäter und Traumatisierte in Second-Hand-Klamotten. Um die Menschen und ihre Kulturen ging es in diesen Fantasiene damals so wenig wie heute.

Quelle Süddeutsche Zeitung 28./29. November 2015 Seite 17 ORIENT Ein Klischee kehrt zurück. Von Jörg Häntzschel.

Fazit? Die krasse Wirklichkeit wird nicht in den Kunstwerken verhandelt, sondern in real politischen Schritten und direkter Öffnung. Ich möchte mich am liebsten nicht auf Schubert berufen, wenn es um die Flüchtlinge geht. Sondern z.B. auf den Solinger Oberbürgermeister Tim Kurzbach, der „mehr konkretes Engagement der Kirche bei der Unterbringung von Flüchtlingen“ forderte:

Er wolle sich nicht vorstellen, dass Katholiken festlich erbaut aus der Christmette kommen, am leeren, beheizten Pfarrheim vorbeigingen und wüssten, dass ein paar hundert Meter weiter die Flüchtlingsfamilien in Zelten hausten.

Quelle Solinger Tageblatt 1. Dezember 2015 Seite 15 Kurzbach: Kirchen sollen sich mehr engagieren. (Tim Kurzbach ist Vorsitzender des Diözesanrates.)

Kurzbach ST 151201

Armida – Projekt

Kölner Philharmonie 22. Oktober 2015

Über das Quartett und „In Memoriam Friedemann Weigle“: Hier.

Programm in Köln:

Jörg Widmann
1. Streichquartett (1997)  – Link zur Karlsruher Rede hier und zu den Streichquartetten hier.

Robert Schumann
Streichquartett F-Dur op. 41,2 (1842) – Links in diesem Blog hier und hier

Pause

Franz Schubert
Streichquartett G-Dur op. 161 D 887 (1826) – Link in diesem Blog hier

Musikbeispiel Beethoven Streichquartett No 15 in A moll op.132 V. Allegro appassionato

Oder hier – Beethoven f-moll, 1. Satz (bitte auf entsprechendes Video klicken):

http://www.br.de/fernsehen/bayerisches-fernsehen/sendungen/abendschau/studiogaeste/studiogast-armida-quartett-102.html

Beethoven f-moll

Eine Bemerkung zur Selbstdarstellung des Quartetts. Die vier Protagonisten verhalten sich sehr unterschiedlich: die Herren intro-, die Damen extravertiert, die Bratscherin zuweilen so auffällig, dass man nicht umhin kann, darüber zu reden, ob Musiker etwa nicht nur die Musik wiedergeben und dabei unwillkürlich auch das preisgeben, was die Musik mit ihnen macht, von ihnen verlangt, sondern dass sie zugleich eine Rolle spielen: dass sie dem Publikum zeigen wollen, wie sie zum Ausdrucksmedium der Musik werden. Das entscheidende Wort ist hier: wollen. Wenn man an Goethes Metapher vom Streichquartettspielen als einem Gespräch vernünftiger und empfindender Menschen denkt, so räumt man gern ein, dass sie auch heftiger miteinander diskutieren und mit starken Emotionen aufeinander reagieren, aber die Glaubwürdigkeit wäre dahin, wenn jemand die Wirkung seiner Äußerungen auf Dritte (bzw. Fünfte, Sechste), auf Außenstehende berechnete. Oder überhaupt: berechnete. Vielleicht ist aber auch dies – das Nicht-berechnen -, wenn jemand nun mal auf einer Bühne sitzt, eine Fiktion? (Siehe hier).

Was ist los, dass die Viola-Spielerin bei 0:21 (in Takt 12) den Cellisten derart verschwörerisch anschaut? Nur bei ihm ist in diesem Moment heftig bewegte Energie, und er antwortet auch in 0:26 mit einem kurzen Blick, aber im nächsten Takt wird sie mit dem Sechzehntel-Motiv eingreifen, 2 Takte später noch einmal, und dann Takt für Takt, bis alle vier im unisono den wilden Anfang mit diesem Motiv wieder aufgreifen. Also: so gesehen hat die Mimik und Gestik „Sinn“. Trotzdem bin ich überzeugt, dass ein Regisseur dahintersteckt, der weiß, „was man Klassikern beibringen muss“: die Show fürs Publikum. Er hat die alten Gender-Rollen inszeniert: der Mann ist Herr seiner selbst, die Frau arbeitet mit Gefühlen. (Wer weiß, ob Lang Lang vor seiner Karriere im Westen nicht den falschen Kurs bei Samy Molcho belegt hat?)

Was mich stört, ist der „Ausdruckstanz“. Ich gönne Künstlern die lebhaftesten Bewegungen, wenn sie auf der Bühne stehen (oder sitzen). Im Extrem habe ich das bei Gil Shaham in der Kölner Philharmonie erlebt, auf einem Aktionsraum von 4-6 Quadratmetern beim Bartók-Konzert, ein Fest des Lebens und der Energie.

Interessant zu vergleichen, wie die nette Violaspielerin sich im wirklichen Gespräch verhält (im vorhergehenden BR-Video, nach dem Mozart ab 3:34). Man würde durchaus nicht von Übertreibung reden.

Nach dem live erlebten Konzert

… würde ich von all dem nicht mehr reden. Vom Platz in der 15. Reihe aus sehe ich die Bewegungen der Ausführenden anders als durchs Auge der Kamera. (Der Cellist überzeugt mich freilich im Verein von Ton und Geste am meisten.) Um etwas vom Hören zu sagen (und die überwältigende Präzision zurückzustellen): im ersten Satz Schumann kann ich die Stimme der ersten Geige nicht verfolgen, das Tempo ist zu schnell, das Thema liegt relativ tief, müsste aber trotzdem „problemlos“ deutlich zu verfolgen sein, nicht nur, wenn man das Stück bereits auswendig kennt. Auch das eigenartige Achtelmotiv ab Takt 67 sollte sich auffälliger artikuliert geben, trotz des beiläufigen Charakters. Es mag sein, dass mein Ohr unmittelbar nach dem Widmann aus der gegebenen Entfernung noch nicht trennscharf wahrzunehmen bereit ist. Aber in den anderen Sätzen (abolutes Preziosum: das Trio im Scherzo!) und im ganzen (phantastischen!) Schubert sehe ich das Problem nicht. Es hat allerdings alles den Grad von Perfektion, wo die Gefahr besteht, dass man die kleinste nicht ganz perfekte Kleinigkeit übel nimmt, sich gewissermaßen nicht mehr hinreißen lässt. Ich bin nicht sicher. Fehlt so etwas wie „Wärme“? Sicher ist allerdings, dass dies Streichquartett-Konzert zu den besten gehört, die ich je erlebt habe.

Drei Tage im Oktober

JERUSALEM – Das Programm

Jerusalem Konzerte November 2015    Jerusalem Ablauf b  Jerusalem Programm Vorspann a  Jerusalem Programm Vorspann b
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Pressebericht Rhein-Neckar-Zeitung (Matthias Roth) HIER

Pressebericht Mannheimer Morgen m.morgenweb (Eckhard Britsch)  HIER

Ich bin dankbar, dass ich dabeisein konnte.

Jerusalem Termine c     Delauney in Ludwigshafen

Oben rechts: der von Messiaen geliebte Maler Robert Delaunay (s.a. am Ort bzw. hier)

Jerusalem El Melek notiert

(Versuch, der eigenen Stimme ein hebräisches Gebet phonetisch zu erschließen)

HH Ludwigshafen Museumskonzert 12

(Versuch, im Museum allein durch Kunstbetrachtung gesättigt zu werden)

Was ist Dichtung?

Bemerkungen über Fiktion und Non-Fiction

Roberto Saviano und Iris Radisch in der neuen ZEIT, mit Blick auf den eben verliehenen Nobelpreis. Zunächst R.S. auf die Frage, ob er sich als Schriftsteller oder als Journalist beschreiben würde:

Als Schriftsteller, ohne jeden Zweifel. Und als Schriftsteller, der Non-Fiction schreibt, bin ich sehr stolz darauf, dass Swetlana Alexijewitsch soeben den Nobelpreis für Literatur gewonnen hat. Sie wurde mit Non-Fiction in den Olymp der Literatur aufgenommen. Sie hat endlich die literarischen Weihen bekommen, die ihr bisher von der positivistischen angelsächsischen Kritik , die die Welt der Kultur dominiert, verwehrt wurde.

Iris Radisch in einer Kolumne, die dem Gespräch mit Saviano offensichtlich zugeordnet ist:

Das bloße Arrangement von Dokumenten und O-Tönen, die Zusammenstellung von Gesprächsprotokollen (….) oder Briefen (wie das Echolot-Projekt von Walter Kempowski) führt zweifellos zu hochbedeutsamen Zeugnissen der Sozial- und Zeitgeschichte. Genau darin liegt auch das unbestreitbare Verdienst der Gesprächbücher von Swetlana Alexejewitsch, in denen die Stimmen namenloser Zeugen und die Nacherzählung Hunderter Lebensschicksale aufbewahrt sind. Doch literarische Meisterwerke sollte man solche Materialcollagen oder Reportagen nicht nennen. Es sei denn, man legt es darauf an, die Hierarchien zwischen den Textgattungen zu verwerfen und sämtliche Kriterien für große Literatur fahren zu lassen.

Quelle DIE ZEIT 15. Oktober 2015 (Seite 51f)

„Ich habe es oft bereut“ Ein Gespräch mit Roberto Saviano über die Frage, ob sich der Kampf gegen die Mafia gelohnt habe, die Fernsehserie zu seinem Buch „Gomorrha“ und über seine besondere Arbeitsweise. (Interview: Ulrich Ladurner)

Plötzlich ist jeder ein Kunstwerk Was ist falsch an der Vergabe des diesjährigen Literaturnobelpreises. Von Iris Radisch

(Mit Absicht frage ich nach Dichtung, nicht nach Literatur. Was ist mit Thomas Mann, z.B. Doktor Faustus, Zwist mit Schönberg. Siehe Käthe Hamburger. Oder Victor Klemperers Tagebücher.)

„Blutmond“

Vergangene Nacht viertel nach 4 Kurparkwiese Bad Cannstatt

Eos Mond 20150928 a

Copyright flickr.com/photos/eosmaiajohanna

 ***

Mehr davon bzw. darüber bei ZEIT online (im Vorfeld seit 25.9.) Achtung: die Bezeichnung „Blutmond“ stammt aus der Zeit des Aberglaubens und wird heute von der Bild-Zeitung favorisiert.

Dank an Eos!

Wolkenlektüre

Von der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen

Juist Wolke 1 20150923

Juist Wolke 2 20150923

Juist Wolke 3 20150923

Kermani Cover rück

Juist Wolke 4a 20160925

Juist Wolke 5a 20160926

Juist Wolke 7 20150926

Das Buch hatte ich dabei, weil mich die SZ-Rezension neugierig gemacht hatte (ohne dass mir bewusst war, dass sie von einem Kirchenmann stammte): „Wünschelrute der Sinnlichkeit“ (23.08.2015), – und weil ich nun einmal verbale Bilderdeutungen liebe. Ich sehe dann besser. Hier also in Gestalt der Auseinandersetzung eines Moslems mit dem Christentum, vielleicht preiswürdig, für mich allerdings von sekundärer Bedeutung: Warum soll ich dergleichen in 100 Stichworten aufs neue durchdenken, dabei auf Bilder schauend, die eindrucksvoll genug sind, aber keine theologische oder philosophische Autorität haben? Zumal mir weder das Thema Islam noch das Thema Christentum persönlich auf der Seele brennt. Gut, der Autor interessiert mich seit Ende der 90er Jahre. Der Vertrauensvorschuss schwand hier allerdings schon mit der gespielt naiven Schmähung des Kunsthistorikers Jacob Burckhardt, während immer mehr in den Vordergrund trat, was der Kirchenmann in seiner Rezension als Vorwurf zu entkräften suchte: es handelt sich nicht so sehr um neue Aspekte der Ästhetik als um ein Stück „Erbauungsliteratur“. Deren Zeiten aber sind doch wohl vorbei. Einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller? Mit Märtyrerlegenden? Ehrlich gesagt ist mir die Sprache der Wolken lieber als solche Überdehnung des Didaktischen. Und gerade die herausgekehrte Sinnlichkeit ist mir suspekt. Sie hat keine Sprengkraft, außer in jugendbewegten Arbeitskreisen eines Kirchentags. Unbedingt zeigen zu müssen, dass es sich bei den Heiligen um Menschen aus Fleisch und Blut oder gar wie Du und ich handelt. Dass die Andacht bei der Bildbetrachtung flöten geht, wenn man Druck auf der Blase hat. Dass der ekstatische Gesichtsausdruck durchaus irdischer Natur sein kann, nun auch die Verzückung des Heiligen Franziscus wie schon länger die Verzückung der Heiligen Theresa triebhaften Ursprungs, wir wissen es, aber wie eindringlich hat uns z.B. Johann Sebastian Bach versichert: „Wir aber sind nicht fleischlich, sondern …“ – nun? – geistig oder geistlich? – jedenfalls „der Geist hilft unserer Schwachheit auf“!

Die Muskelfasern, die Falten, die die Kleidung der vier Personen und rechts unten das bläuliche Tuch werfen, die Barthaare, Brustwarzen und Bauchfalten Petri, seine dreckigen Fingernägel und die beinah schwarze Fußsohle, die der untere Scherge links unten dem Betrachter genau auf Kopfhöhe hinhält, der ausgeleuchtete Hintern des Schergen, der dadurch nicht schöner wird, die Maserung des Holzes, der Glanz auf dem Nagel und der Schaufel, die physische Anstrengung, die eine Kreuzigung für den Henker bedeutet, der Brotberuf, der sie nun einmal für die Henker gewesen sein wird – alle Welt rühmt heute Caravaggios derben Realismus, an genau dem sich die Kritiker früher stießen: Er wolle nur beweisen, schimpfte Jacob Burckhardt, „daß es bei allen heiligen Ereignissen der Urzeit eigentlich ganz ordinär zugegangen sei“. Das stimmt natürlich, denn es geht außerhalb von Heilsgeschichten und Romanzen immer ordinär zu; man könnte sogar sagen, daß das Ordinäre als ein Kontrast gerade dort am stärksten hervortritt, wo sich das Heilige oder die Liebe tatsächlich ereignen. Bei der Kreuzigung Christi hat es schließlich auch keine Filmmusik gegeben, sondern werden Jugendliche wie auf dem Ballermann gejohlt und fahrende Händler ihre Äpfel angepriesen haben. Der Vorwurf kehrt sich gegen seinen Urheber, denn er zeigt, wieviel mehr Caravaggio vom Heiligen begriffen hat als Jacob Burckhardt. (Seite 124)

Falls wir’s hier noch nicht begriffen haben, dann wenn wir die kopfüber hängende Lage des Petrus bei der Kreuzigung recht bedenken: „die Schmerzen müssen ihn jetzt schon zerreißen, ihm schwindelt, wie an den Augen zu erkennen ist, und gleich schießt ihm auch noch alles Blut in den Kopf. Wahrscheinlich wird er sich übergeben müssen, Herr Burckhardt.“ (Seite 127)

Vielleicht kann man über Märtyrer so reden, damit wir begreifen, dass es schlimm war, was sie erduldeten, aber einen genialen Kunsthistoriker wie Jacob Burckhardt muss man doch so nicht abkanzeln… (allenfalls … so wie hier, unter dem Punkt „Kritik“).

Im Namen Sigmund Freuds: Ich will nicht der Prüderie und dem Duckmäusertum das Wort reden, ich habe John Bergers Buch über das Sehen („Das Bild der Welt in der Bilderwelt“) im Sinn, auch Christina von Brauns großes Werk „Versuch über den Schwindel“, Untertitel: „Religion, Schrift, Bild, Geschlecht“, – kurz: mir fehlt das Aufklärerische, der kühne philosophische und wissenschaftliche Gedanke. Und mich stört immer noch, was Kermani so schwergefallen sein musss zu akzeptieren, das Kreuz im allgemeinen, und im besonderen das stählerne, das er sich in Rom auf seinen Schreibtisch gestellt hat. (Seite 53)

(Handyfotos JR)

Nachtrag 21. Oktober 2015

Navid Kermani sagt:

Mystik, das klingt nach etwas Randseitigem, nach Esoterik, nach einer Art Untergrundkultur. Nichts könnte mit Bezug auf den Islam falscher sein. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war der Sufismus fast überall in der islamischen Welt die Grundlage der Volksfrömmigkeit. Im asiatischen Islam ist er es bis heute. Zugleich war die islamische Hochkultur, insbesondere die Dichtung, die bildende Kunst und die Architektur, durchdrungen vom Geist der Mystik. Als die geläufigste Form der Religiosität bildete der Sufismus das ethische und ästhetische Gegengewicht zur Orthodoxie der Rechtsgelehrten. Indem er an Gott vor allem die Barmherzigkeit hervorhob, im Koran hinter jeden Buchstaben sah, in der Religion stets die Schönheit suchte, die Wahrheit auch in anderen Glaubensformen erkannte und ausdrücklich vom Christentum das Gebot der Feindesliebe übernahm, durchdrang der Sufismus die islamischen Gesellschaften mit Werten, Geschichten und Klängen, die aus einer Buchstabenfrömmigkeit allein nicht abzuleiten gewesen wären. Der Sufismus als der gelebte Islam setzte den Gesetzesislam nicht etwa außer Kraft, aber er ergänzte ihn, machte ihn im Alltag weicher, ambivalenter, durchlässiger, toleranter und durch die Musik, den Tanz, die Poesie vor allem auch sinnlich erlebbar.

Kaum etwas davon ist übrig geblieben. Wo immer die Islamisten Fuß fassten, angefangen schon im 19. Jahrhundert im heutigen Saudi-Arabien bis zuletzt in Mali, machten sie zuerst den sufischen Festen ein Ende, verboten die mystischen Schriften, zerstörten die Gräber der Heiligen, schnitten den sufischen Führern die langen Haare ab oder töteten sie gleich. Aber nicht nur die Islamisten. Auch den Reformern und religiösen Aufklärern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts galten die Traditionen und Sitten des Volksislams als rückständig und veraltet. Nicht etwa sie haben das sufische Schrifttum ernst genommen, sondern es waren westliche Gelehrte, Orientalisten wie die Friedenspreisträgerin von 1995, Annemarie Schimmel, die die Handschriften ediert und damit vor der Vernichtung bewahrt haben.

Ich höre nachträglich die Rede Navid Kermanis zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und empfehle sie weiter: man kann sie hier in voller Länge hören. Und hier nachlesen. Ein guter Ansatz zur unumgänglichen Selbstkritik des Islam? Die Kritik kann noch weiter gehen… Aber der richtige Nerv ist getroffen.

Übrigens: Auch die Rezensionen zu dem haltlosen Buch von Hamed Abdel-Samad sollte man zur Kenntnis nehmen, bevor man sich von unwissenschaftlichen Suggestionen und Verzerrungen hinreißen lässt: hier. Und auch hier.

Das Foto in der Süddeutschen, das Kermani beim Tee mit Martin Mosebach zeigt, bei dem es sich wohl um den vielzitierten „katholischen Freund“ handelt, erinnert mich an eine Lektüre Ende 2007, „Das Beben“ von MM, das ich begann, weil es in Rajasthan spielt, und vorzeitig beendete, indem ich an den Rand schrieb: „preziöse Prosa“. Und mir fällt ein Buch ein, das ich im Jahre 1987 nach wenigen Seiten beendete, es hieß „Das Leben Muhammads“ und war mir mit einem netten Begleitbrief von einem Dr. Djavad Kermani übersandt worden:

Kermani Muhammad Brief

Offenbar hat er sich auf Sendungen mit Aufnahmen der Konzerte bezogen, die Moh. Reza Shadjarian damals für den WDR gegeben hatte: siehe das Foto hier. Es war die letzte Zeit der Khomeini-Ära, und ich habe, glaube ich, auf den Brief nicht im erwarteten Sinne reagiert, weil es mir wirklich „nur“ um iranische Musik, Kultur und Poesie ging. Werde ich jetzt das Buch lesen? Ich glaube nicht.

Kermani Muhammad Titel

Der Klang der Kreide

Über Geräusche des täglichen Lebens (Vergangenheit)

Schulsituation / Finde ich auch das Geräusch des Griffels? / Die Sammlung WWS

Zunächst zum Griffel: zum Nebeneffekt – beim Schreiben mit dem Griffel auf die kleine Schultafel entstanden die Quietschgeräusche, die man zu den unangenehmsten zählt. Warum? Ich bin nicht sicher, ob es die letzte Auskunft der Wissenschaft ist, über die Dieter E. Zimmer 1987 in der ZEIT berichtet hat, – sie hat jedenfalls einiges für sich:

Die Forscher nahmen sich im Interesse der Wissenschaft zusammen und erzeugten dieses Geräusch mutwillig. Sie ließen eine dreizinkige Metallforke über eine Steinplatte ratschen. Dieses Geräusch schickten sie dann durch ihre elektronischen Apparate. Ihre Vermutung war die, daß das Unangenehme an ihm sein Anteil an hohen Frequenzen darstellt – ist es nicht seine Schrillheit, die uns so nervt? So filterten sie einzelne Frequenzen heraus, Das Geräusch blieb unangenehm auch dann, wenn ihm seine schrillen hohen Frequenzen genommen waren. Einzelne Frequenzen waren anscheinend für seine Schauderhaftigkeit überhaupt nicht verantwortlich. Deren Geheimnis wollte sich im Akustiklabor nicht preisgeben. Da begannen sie in der Natur zu suchen. Und siehe da, dort fand sich ein spektographisch ähnliches Geräusch: der Warnruf japanischer Affen.

Quelle (zum Weiterlesen): „Das gräßliche Geräusch“ in: DIE ZEIT 16. Januar 1987 (HIER)

Bevor ich zum Thema (Anlass des Blogeintrags) komme, rekapituliere ich kurz meine persönlichen Rahmenbedingungen. Es fing an mit den faszinierenden Anregungen, die von Kevin Volans ausgingen; er war es, der immer wieder beteuerte, dass man zu seinen Aufnahmen aus Südafrika, insbesondere Lesotho) immer den Klanghintergrund der Natur und des Alltags mitdenken müsse. Ich war ein willfähriges Opfer, da mich seit je nicht nur Vogelgesang, sondern jeder tierische Laut, das belebte Rauschen, die Geräusche der Bäume und der Meeresbrandung, der Bauernhöfe und der Bäche in den Bergen bewegte. Oder mehr: mit Erinnerungen aus der Kindheit verschmolz (Ostsee Strandbad Eldena, Lohe bei Bad Oeynhausen, Langeoog, Misburg „Am alten Saupark“). Die Dörfer, aber die Städte ebenso: Beirut 1969, Jabukovac in Ostserbien 1979,  Ftan im Unterengadin seit 1982, Dublin 1983, Tenganan auf Bali 1995 usw., unvergessliche Klangbilder. Schluss!

Um 1980 gab das Buch von Murray Schafer (s.u.) eine äußere Grundlage der „Gefühle“, viele andere Stationen – vermittelt durch die Natur-Aufnahmen von Walter Tilgner, die enzyklopädischen Soundscape-Anverwandlungen von Hans Ulrich Werner (HUW), die CDs und das Kaluli-Buch von Steven Feld – bis hin zu SOUND DES JAHRHUNDERTS (Gerhard Paul / Ralph Schock) 2013, ein mächtiger Band, dessen erste Präsentation in meinem verlorenen Blog steckt. Hier eine Reprise:

Murray Sc hafer The Tuning 1977   Sound des Jahrhunderts Cover neu  2013                       s.a. Besprechung hier (samt Intervention eines meiner Anreger).

Sound des Jahrhunderts Inhalt 1a Sound des Jahrhunderts Inhalt 2a

Und nun dies: es gibt – in der Nachfolge von Murray Schafer und seinem „World Soundscape Project“ – eine große europäische Initiative der Sammlung von Klängen aller Art, Klänge, die sich wandeln und die für immer verloren gehen können. Einzelklänge ebenso wie Klanglandschaften („Soundscapes“). Das Projekt heißt WWS – Work With Sounds.

Ich würde vermuten, dass es sich um ein ein „never ending project“ handelt, aber es sind Daten vorgegeben, die darauf schließen lassen, dass Ende dieses Monats ein Großteil der Arbeit geschehen ist, oder durch eine Erneuerung der Initiative vorangetrieben werden muss:

What does WWS do?

WWS is recording the endangered or disappearing sounds of industrial society – including sounds people try/tried to protect themselves from. During 1st September 2013 and 31st September 2015 we will record at least 600 sounds in their original settings. Every sound will also be documented: What and where is it? And how did we record it?

WWS will be creating a soundscape of industrial Europe.

Zudem sind diese Geräusche oft durch die entsprechenden Filmaufnahmen ergänzt, und all dies ist per Internet verfügbar und unterliegt ähnlichen (also wenig restriktiven) Copyright-Bedingungen wie Wikipedia (Wikimedia, Wiki Commons). Siehe hier. Beispielseite als Screenshot:

WWS Screenshot 2015-09-13 07.04.09

Stimmengewebe oder Solostimme?

Wird meine alte Lieblings-CD durch die neue verdrängt?

Ital Liederbuch neu a   Ital Liederbuch alt a

Ital Liederbuch neu b    Ital Liederbuch alt b

2011                                                                               1994

Es entscheidet sich mit der Rolle des Klaviers /  Im Vordergrund steht zunächst die vom Wort getragene Botschaft (wer spricht was wie?). Aber die Struktur der Musik erlaubt es nicht, dabei zu verharren. Der Gesang artikuliert, skandiert, deklamiert Sprache, aber der musikalische Text bildet den wesentlichen Zusammenhang.

Der ursprüngliche Einfall („Prägung oder Verdrängungswettbewerb“) bezog sich nur auf die zuweilen wahrgenommene Gefahr, dass man durch die Interpretation, die einem das Werk erschlossen hat, so geprägt wird, dass man jede neue Interpretation „sekundär“ findet, weniger überzeugend. Aber es gibt Fälle, in denen die neuen Qualitäten so überwältigend sind, dass die bisher wahrgenommenen defizitär erscheinen. Manchmal wirkt die differenziertere Version überinterpretiert, „gewollt“, manchmal setzt sie sich durch, verdrängt sie die einfachere, die ihren „natürlichen“ Charakter verliert und eher harmlos, naiv, unkundig daherkommt.

Aber um von Prägung und Voreingenommenheit zu schweigen, – beide sind letztlich durch geduldiges Vergleichen überwindbar -, was ist das A und O einer Liedaufnahme?

Etwa der Sänger, die Sängerin? Ja, aber nicht „die Stimme“, sondern die Gestaltung, das Verständnis des Gesungenen, die Seele, wie auch immer ich es in ein einzelnes Wort fassen will, – das ist das A.

Und das O?

Das ist der Klavierklang, nichts anderes! Aber nicht hier die Stimme, dort das Klavier, nicht A und O, sondern symbolisch bezeichnet als AO, umgeben von einem Kreis. Und dies ist mein erster Eindruck: in der neueren Aufnahme spielt das Klavier die zweite Geige, – die im Streichquartett durchaus nicht zu verachten wäre. Aber was bei Hugo Wolf im Klavier geschieht, ist die Hauptsache! Und wenn es diese Präsenz bei Geoffrey Parsons jederzeit hat, weniger jedoch bei Gerold Huber, so liegt das, wie mir scheint, zunächst an der Aufnahmetechnik. Steht das Instrument wirklich im selben Raum wie die Stimme, greift es tätig in die Gestaltung ein – oder bildet es nur den Hintergrund?

Bei Wagner geht es um das Orchester. Für meine Auffassung habe ich in der „Tristan“-Übertragung aus Bayreuth viel zu wenig davon gehört, das schamhafte Verbergen des physischen Klangapparates, angeblich von Wagner beabsichtigt, der tönende „mystische Abgrund“, verleitet offenbar zur sträflichen Missachtung in der Mikrofonierung. Um so schrecklicher das isolierte Vibrato der vielgerühmten Solisten auf der Bühne. Das gilt auch für Beethoven, Berlioz oder Verdi, man höre doch dessen Requiem live von der Konzertbühne und nachher dieselbe Aufführung aus dem Radio: dort wo im wirklichen Leben die Solostimmen in dem gewaltigen Schwall der Chor- und Orchestermassen fast unterzugehen drohten (fast!!!!), da stechen jetzt die Solostimmen mühelos hervor – und lassen einen kalt.

Man lese einmal, was Liedbegleiter hervorheben, wenn sie darüber reden; Erik Werba in seinem Hugo-Wolf-Buch, gewiss kein großer Wurf, aber authentisch:

„Auch kleine Dinge können uns entzücken“ ist mit Recht eines der berühmtesten Wolf-Lieder geworden. Man spiele oder höre einmal den Klavierpart allein: da haben wir ein nuancenreiches Klavierstück, dem mit keiner Sechzehntelnote und in keiner Phrasenpause die eliminierte Singstimme abgeht. Diese wieder hat den Tonfall der Worte und auch den Rhythmus des Gedichtes geradezu beispielhaft in Noten gesetzt erhalten. Dabei profiliert weder die Gesangsmelodie allein noch die Klavierstimme an sich die innere Aussage dieser Heyse-Poesie; das Miteinander wohlgemerkt: das belebende und belebte Miteinander, das Ineinandergreifen der Phrasierungsbögen von Singstimme und Klavierhänden, die komplementäre „Atmung“ der drei „Stimmen“ – des Gesanges, der rechten (harmoniegebenden) und der linken (Melodie bzw. Gegenmelodie tragenden) Hand – macht die schier vollkommene Einheit von Wort und Ton möglich.

Quelle Erik Werba: HUGO WOLF oder Der zornige Romantiker / Verlag Fritz Molden Wien München Zürich 1971 (Seite 221)

Was mir fehlt ist auch das Rühmen des Textes. Wie konnte man nur Paul Heyse nach seinem Tod so schmählich fallen lassen, was für ein Instinkt auf Seiten des Komponisten, diese Gedichtfolgen zu einem Zyklus zusammenzustellen, dessen Worte man nie ohne Rührung zitieren wird. Und man hört dabei eine innere Stimme singen: „Bedenkt, wie klein ist die Olivenfrucht“, „Es schließen Frieden Fürsten und Soldaten, und sollt‘ es zwei Verliebten wohl missraten?“, „Wie viele Zeit verlor ich, dich zu lieben! Hätt‘ ich doch Gott geliebt in all der Zeit.“ „Wie goldne Fäden, die der Wind bewegt, schön sind die Haare, schön ist, die sie trägt! Goldfäden, Seidenfäden ungezählt, schön sind die Haare, schön ist, die sie strählt!“

(Fortsetzung folgt)