Archiv der Kategorie: Medien

Endgeiler Journalismus

„Doofe Frage: Aber was denken Sie, während Sie Beethoven spielen?“ 

Levit Uslar ZEIT Schlagzeile

Angenommen, es geht um den Anfang der Waldstein-Sonate, die repetierten Achtel, warum einen das umhaut (den Moritz jedenfalls), dann meint Igor:

Weil er einfach so unglaublich geil ist. Weil er so aberwitzig abgeht. Weil er so bebt. Es ist ein Erdbeben. Herzschlag dreihundert. Es ist pures Leben. Du kannst auf dem Klavier kein Vibrato erzeugen, das geht nicht, du schlägst den Ton an, der Hammer berührt die Saite, Punkt, der Ton verklingt. Wie entsteht ein Vibrato, wie kriegt man das Klavier zum Vibrieren? Es ist ein endgeiler Anfang.

Es gibt Unsinn, der vielleicht Sinn ergibt, wenn man hinzurechnet, dass eben das Herz überfließt. Mit Vibrato hat der Anfang ja nun wirklich nichts zu tun, aber da zugleich vom Erdbeben, Herzschlag, vom puren Leben die Rede ist, könnte man es so hinnehmen. Aber wie lange? Und ohne Musik?

Ich finde durchaus, dass man dieses Interview lesen sollte. Schon um zu erfahren, wie jemand einem bekanntlich sehr guten Beethoven-Pianisten 32 Fragen über Beethovens 32 Sonaten stellen kann, ohne dass dabei etwas Triftiges zum Vorschein kommt. Nicht jeder Pianist muss wie Alfred Brendel reflektieren können. Aber Levit hätte Anspruch auf einen Gesprächspartner, der nicht einfach nur alle Sonaten verbal abgeklappert haben will. Die Sprachnot selbst angesichts der Musik könnte Thema sein, doch hier hilft niemand, der den Musiker nur auf falsche Fährten lockt.

Ich sage: Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht über die Hammerklaviersonate nachdenke. Woran das liegt? Da könnte ich mich jetzt hinsetzen und ein Buch darüber schreiben.

Bitte nicht! Vor allem soll er Mode-Musik-Meinungsmacher meiden und weiterhin spielen, nichts als spielen! Egal, was er sich dabei denkt…

Was passiert in meinem Kopf, wenn ich spiele? Ich sehe immer Menschen. Immer. Und immer andere Menschen. Ob ich sie kenne, weniger oder mehr mag oder liebe: Ich bin menschenfixiert.

Gut. Aber nicht mit ihnen reden!!! Und nichts aufschreiben, und die auch nichts aufschreiben lassen! Es ist besser sich auf das zu beschränken, was längst gesagt wurde:

Je häufiger ich eine Sonate spiele, je mehr ich damit arbeite, desto weniger verstehe ich sie, desto mehr entfernt sie sich von mir, desto glücklicher werde ich damit, und desto öfter will ich sie spielen.

Soweit Igor Levit. Aber …

Quelle DIE ZEIT 19. Mai 2016 Seite 41 Es ist so unheimlich geil/ 2020 ist Beethoven-Jahr, der 250. Geburtstag des Komponisten. Der deutsch-russische Pianist Igor Levit, als Virtuose gefeiert, bereitet sich schon jetzt auf das große Jubiläumsjahr vor. Moritz von Uslar stellt ihm 32 Fragen zu Beethovens 32 Klaviersonaten.

Aber … ist das nicht ein Satz von Karl Kraus? „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.“ Nur das Glück fehlt hier noch. Oder ist es die Zeit? Oder die Reife? Und dann schlage ich die Radio-Zeitung auf und erinnere mich ruckartig, dass mysteriöse Aussagen in der Werbung für klassische Musik Hochkonjunktur haben, weil sie doch so superrätselhaft ist. Das ist einfach der Preis der Event-Publicity. Und das gilt auch für mich: Je weniger ich eine Sache zu verstehen vorgebe, desto eher vertrauen mir die Leute, die auch nichts davon verstehen. Danke! Ich scherze nur! Ich weiß wirklich nix. Ich bin nur geil auf Musik.

Bronfman Beethoven Foto (Ausschnitt) WDR/Imago

Vom Schamanen

Material zum Film

Im SPIEGEL wurde darüber berichtet und in der ZEIT. Lesenswert, den Film habe ich mir vorgemerkt. Und ihn zum Anlass genommen, mir eine Veröffentlichung des Berliner Phonogramm-Archivs aus dem Jahr 2006 wieder vorzunehmen. Zu Theodor Koch-Grünberg siehe auch Wikipedia hier. Siehe auch Wikisource hier.

ZITAT aus dem ZEIT-Artikel von Andreas Busche:

Der Film handelt aber auch in einem unmittelbaren Sinn von einer Bewusstseinserweiterung: Es werden mehr psychedelische Substanzen konsumiert als in den Acid-Filmen des chilenischen Psychomagikers Alejandro Jodorowsky. Gleichzeitig besitzt die Psychedelik Guerras eine politische Dimension. Der Regisseur bezieht sich auf einen Grundlagentext der Kolonialliteratur, Joseph Conrads Herz der Finsternis, sowie dessen berühmteste Adaption Apocalypse Now von Francis Ford Coppola. Auch die Bilder, die Guerra dem kolonialisierten Unbewussten entreißt, bieten guten Stoff für Albträume.

ZITAT aus der Süddeutschen Zeitung vom 21. April 2016 Seite 12 (Martina Knoben):

So einen Film hat es noch nicht gegeben. „Der Schamane und die Schlange“ ist Abenteuerkino, spirituelle Reise, ein fiebriger Traum und Dokument einer vergessenen Kultur. Der alte Schamane hat das Wissen seiner Vorfahren vergessen, erst die Begegnung mit Evan hilft ihm, sich zu erinnern. Dies ist auch das Credo des Films, der die Kultur der Amazonas-Indianer bewahren und davon erzählen will – weil die Indianer es nicht mehr können, weil sie ihr Wissen nur mündlich überliefert haben und viele Stämme ausgerottet wurden.

Angeblich sind die beiden Hauptdarsteller zufrieden mit dem Film. Das grundsätzliche Dilemma einer solchen Reise bleibt bestehen: Auch Ciro Guerras Blick ist ein Blick „von außen“, sein Film will eine Kultur auf eine Weise festhalten, die ihr selbst völlig fremd ist. Der Regisseur ist sich dessen sehr bewusst, das beweisen nicht zuletzt seine Anspielungen und Parodien auf andere Dschungelfilme. Einen Ausweg aber gibt es nicht, Guerra simuliert ein Eingeständnis der Indios: Als Théo vom jungen Karamakate ein Foto* macht, empfindet dieser das Bild als „Chullachaqui“, als eine leere Hülle seiner selbst. Aber er erlaubt Théo, es mitzunehmen.

Theodor Koch-Grünberg Theodor Koch-Grünberg Evan Schultes_amazon_1940s s. hier

Zitat Wikipedia zu Koch-Grünberg:

Aus seinen Tagebüchern und Reiseaufzeichnungen Vom Roroima zum Orinoco schöpfte 1927 der brasilianische Autor Mário de Andrade für seinen Roman Macunaíma – Der Held ohne jeden Charakter (Macunaíma: o héroi sem nenhum caráter), eines der Hauptwerke der modernen brasilianischen Literatur. Ebenfalls auf die Aufzeichnungen Koch-Gürnbergs (sic!) über seine Reisen im Amazonasgebiet stützt sich der kolumbianische Film Der Schamane und die Schlange (Originaltitel El abrazo de la serpiente) von RegisseurCiro Guerra, der 2016 für den Oscar in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film nominiert wurde.

Zum Studium eines Werkes: hier  „Zwei Jahre bei den Indianern Nordwest-Brasiliens“ (1921)

Zum Studium der dort aufgenommenen Musik:

Film Schamane Phono

Koch-Grünberg CD Editorial

*Stichwort: Phonographie als Zerstörung des Schamanen-„Zaubers“

Anders war die Situation allerdings bei den Aufzeichnungen der Schamanengesänge (bei Koch-Grünberg: ,Zauberärzte‘). Vor allem der Schamane Katúra blieb misstrauisch und erkundigte sich besorgt, warum der Forscher ,seine Stimme mit sich nehmen wolle‘. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass die Krankenheilung aus indianischer Sicht u.a. Kontaktaufnahme mit der Welt sowohl hilfreicher als auch gefährlicher Geister darstellt, während der der Schamane bzw. seine Seele unter Singen, dem Geräusch des Begleitinstrumentes sowie vor allem über das Trinken von Tabaksaft seinen eigenen Körper verlässt, um in anderen Sphären einen Kampf mit dem Verursacher der Krankheit zu führen, ein Kampf, bei dem es nicht selten um Leben und Tod geht. Nur mit Unterstützung von Häuptling Pitá wie auch dem Versprechen eines großen Messers als Gegenleistung willigte Katúra schließlich in die Tonaufnahmen ein, bestand allerdings darauf, dass diese heimlich vonstatten gingen und anschließend nicht den anderen Dorfbewohnern vorgeführt würden. Mit stark näselnder Stimme sang er sodann in einem verschlossenen, halbdunklen Raum in das Aufnahmegerät, wobei er in der rechten Hand ein Bündel Zweige hielt, mit dem er auf dem Boden den Takt klatschte und in der linken die bei Heilungszeremonien so wichtige Zigarre inhalierte. Als auch diese Aufnahme anschließend in kleinem Kreise – neben Katúra und Koch-Grünberg waren lediglich Häuptling Pitú und der Indianer Pirokaí noch anwesend – vorgespielt wurde, war die Reaktion wie folgt: „Katúra macht ein bestürztes Gesicht, als ihm seine eigene Stimme klar und deutlich entgegen schallt; Pitá schüttelt sich vor Lachen“ (Koch-Grünberg 1917:53, Vgl. auch 1923:119f.).

Quelle CD (s.o.) Bookletbeitrag von Michael Kraus: Theodor Koch-Grünberg: Phonographische Aufnahmen im nördlichen Amazonien. (Seite 21)

(Ergänzungen folgen)

Mit Statistik hinters Licht

Medizin, Pharma, Kommerz

„Gibt es einen Zusammenhang zwischen Tierliebe und Mindestlohn?“

Sie wissen es nicht? Dann sehen Sie diese Sendung bis mindestens Minute 13:40 – und versuchen Sie zu stoppen…

Pharma Screenshot 2016-04-12 10.17.31

… noch bis 11.4.2017 in der ARD Mediathek abrufbar: HIER 

http://www.ardmediathek.de/tv/Reportage-Dokumentation/Die-Story-im-Ersten-Im-Land-der-L%C3%BCgen/Das-Erste/Video?bcastId=799280&documentId=34622130

Von wegen „Lügenpresse“ – diesem Hinweis der HörZu bin ich gefolgt:

Pharma-Sendung Hinweis zu Akte D HIER (nicht mehr abrufbar) – jedoch HIER.

***********************************

Private Rechtfertigung: Warum dieser Hinweis (es geht dir doch angeblich immer um Kultur)? Ja, das heißt aber nicht, dass es daneben kein „reales“ Leben gibt.

In einem Tagebuch, das ich nicht führe, müsste stehen, dass ich zwar heute nacht diese Sendungen gesehen habe, aber aufgewacht bin am Morgen (um Punkt 8 Uhr!) mit der innerlich laut gehörten Melodie „Der Morgenstern ist aufgegangen“, wobei ich darüber staunte, wie gewaltig (und unschuldig) sie gebaut ist: der Abstieg über eine ganze Oktave: „Hoch über Berg und tiefem Tal“!!! Danach kehrte ich zu meinem augenblicklichen Lieblingsthema zurück: betr. die verschiedenen Gestalten der aufsteigenden Chopin-Melodie (Mittelteil Impromptu As-dur, anders im cis-moll), die in f-moll, mit ihren immer neuen Ansätzen, der zunächst stockenden Begleitung, – nie habe ich eine angemessene Beschreibung dieses Wunders gelesen. Und dann kam ein gedanklicher Themenwechsel zu der Lothringer Weise „Ist das nicht der Morgenstern“ , das Aufsuchen des Textes, die überwältigende Erinnerung, wie das in der Neumeyer-Bearbeitung in Oktaven gesungen wurde, die Bestellung der alten LP (widerstrebend per Amazon). Ich sitze also am Computer, eigentlich: um zum Thema der Nacht zurückzukehren. Zu den Pharma-Lügen. Stelle mir vor, krank zu sein, wie mein Freund. Aber als erstes erschien mir eben der Morgenstern, vielmehr er lag mir in den Ohren. Deshalb musste es damit weitergehen. Dies alles klingt fast unglaubwürdig, aber genau so war es. Allerdings habe ich auch gefrühstückt (1 Apfelsine), die Zeitung gelesen (sehr genau die Seite über Böhmermann, große Zustimmung für Ulli Tückmantel, anschließend den Bericht über den der Lehrerin verweigerten Handschlag in der Schweiz). Und – unentwegt die erwähnten Melodien im Sinn – wieder zurück an den Schreibtisch, wegen des Morgensterns.

Lothringer Lieder & Balladen aus ‚verklingenden Weisen‘ von Louis Pinck in Sätzen von Fritz Neumeyer [Vinyl Doppel-LP] [Schallplatte]
Gertraut Stoklassa,Theo Altmeyer,Chor der ev. Singgemeinde Bern,Fritz Neumeyer (Leitung),Louis Pinck (Komponist),Franz Beyer,Zoltan Racz,Hans-Georg Renner,Eckard Schmidt,Josef Brejza
Zustand: Neu
Verkauft von: baagad

Ich verstehe, wie es zu Marienerscheinungen kommen kann, wenn man jung ist und an Wunder glaubt. Man sieht Zeichen und Wunder, wo man bereit ist sie zu sehen. Und man sieht sie nicht, wenn man andere Erklärungen in Betracht zieht. In meinem Fall: ich denke fast immer an Melodien oder an Musik, was Wunder, wenn sie auch von selbst kommen. Ein weiteres Beispiel: ich erwähnte oben die Zeitungslektüre:

ST Schweiz Handschlag Solinger Tageblatt 12.4.2016 Mehr davon.

Und ich erhalte wenig später eine SMS von M. aus dem Zug, beigefügt eine Visitenkarte, Kommentar: „Herr Prof. Dr. Xxx, ein Syrer mit Haus in H., nach seiner Pensionierung als Islamwissenschaftler heute noch in der Halalistik tätig. Im Auftrag einer japanischen Firma hat er das große Halal-Gutachten für den brunesischen und indonesischen Markt gefertigt. Leckere Dattelpralinen bot er mir an.“

Schon wieder ein Wunder, nicht wahr?

Mich interessiert, ob es schon einen Wikipedia-Artikel über die Wissenschaft (?) der Halalistik gibt. Oder über das große Halal.

A propos: ich muss ein bestimmtes Signal in Bachs erstem Brandenburgischen nachschauen. (s.u.)

Noch einmal kehre ich zurück zum Morgenstern. Die frühe Gestalt der alten Melodie (die der Praetorius-Fassung Modell stand) finde ich nicht, und in der Gesangbuchfassung (EKG 1954) fehlt mir gerade das lange Melisma „hoch über Berg und tiefe Tal“ (keine moderne Gemeinde könnte das, ohne abzuschlaffen).

Morgenstern EKG

In „Deutsche Lieder / Texte und Melodien / Ausgewählt und eingeleitet von Ernst Klusen“ Insel Verlag Frankfurt am Main 1980 findet sich auf Seite 801 die folgende Fassung (Seite 233 sogar der Text eines wunderschönen alten Liebesliedes „De morgensterne hefft sick upgedrungen“, wie in Wikipedia, aber nicht nur zwei, sondern 7 Strophen, an Stelle „der lieben Engel Schar“ singt hier noch „de leve nachtegal“); man beachte die Talfahrt des Melismas in der dritten Zeile.

Morgenstern Klusen Quelle wie angegeben

22.08.2016 Zur Bemerkung betr. Bach: hier nur ein kleiner Gag (von Halal zum Halali). Aber in der Tat erfährt man interessante Details zur Bedeutung der Jagdmotive in Bachs 1. Brandenburgischen Konzert bei Peter Schleuning (Bärenreiter 2003). 

Konzert, Performance, Ritual

Brauchen wir neue Rituale?

Jeder Künstler weiß, dass zu einem Konzertauftritt eine gewisse (Selbst-) Inszenierung gehört. Man zeigt Disziplin und Zielbewusstheit, Selbstkontrolle und Hochachtung für das Publikum. Man verbeugt sich, man konzentriert sich, wartet auf den Eintritt völliger Stille im Saal, man zelebriert den eigenen Einsatz und agiert sodann in einem eigenen, imaginären, vom Publikum abgeschlossenen Raum auf dem Podium. Oder man verzichtet bewusst auf einzelne Komponenten, indem man während der Darbietung hier und da einen Blick ins Publikum wirft, vielleicht sogar, um einen Huster abzustrafen oder ein knisterndes Bonbonpapier zu markieren. Die Grenzen des Üblichen haben sich im Lauf der Geschichte immer wieder verschoben.

Ich erinnere mich an ein WDR-Konzert mit Friedrich Gulda, in dessen erstem Teil er mit der Sängerin Ursula Anders sein skandalumwittertes „Opus Anders“ aufführte (siehe dazu das Gespräch mit André Müller hier), während er den zweiten Teil mit Mozarts A-dur-Sonate begann, die er auf unvergessliche Weise vortrug: Das Licht im Sendesaal war nicht ganz gelöscht, und während er das Thema und die Variationen spielte, schaute er unverwandt ins Publikum, von Platz zu Platz, von Reihe zu Reihe, – es war, als wolle er jeden Einzelnen ansprechen, es herrschte atemlose Stille. Unglaublich schöne Musik! Man hatte aber weniger den Eindruck einer musikalischen Konversation, – eher den einer Prüfung. Einer Prüfung, deren Ausgang fraglich war. Vielleicht wollte er es so, vielleicht war es eine Autosuggestion, die sich unwillkürlich einstellte.

So hatte es Couperin im Jahre 1717 wohl nicht gemeint:

An seinem Clavecin soll man eine gefällige Miene zur Schau tragen. Man hefte den Blick nicht starr auf einen bestimmten Gegenstand, schicke ihn aber auch nicht allzusehr ins Leere: endlich – man blicke eine Gesellschaft, so eine vorhanden ist, an, als ob man gar nicht anderweitig beschäftigt wäre. Dieser Rat ist natürlich nur für die bestimmt, die ohne Hilfe der Noten spielen.

Quelle François Couperin: L’Art de toucher le Clavecin / Herausgegeben und ins Deutsche übersetzt von Anna Linde / Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 1933 (Seite 11)

In meiner Jugend gab es ein „Bielefelder Kammertrio“, das mein erster Geigenlehrer mit meinem Vater zusammen gegründet hatte. Als Cellisten der ersten Zeit konnten sie einen begabten jungen Mann von der Detmolder Hochschule hinzugewinnen, der allerdings, wie sich bald herausstellte, eine schlechte Angewohnheit hatte: immer wenn er ein paar Takte Pause hatte, begann er, in aller Ruhe das Publikum zu mustern. Als suche er ein bekanntes Gesicht. Niemand fand das anregend oder kommunikativ, es wirkte so, als ob er sich die Langeweile vertrieb. Sogar wir Kinder, die heimlich lachten, wenn die Streicher im Erzherzog-Trio Pizzicato spielten, fanden das ungehörig.

Warum stört das? Man erwartet im Konzert Spannung oder auch nur Konzentration, gewiss vor allem Lebendigkeit, aber immer auf die Musik bezogen, nicht von ihr weggewandt oder ablenkend. Ich nehme ein Beispiel aus dem weniger strengen, ritualisierten Genre mit Folkloreanklängen. Man studiere intensiv die Gesichter der Mitwirkenden im folgenden Konzert, beobachte ganz besonders diejenigen, die gerade nicht aktiv am Geschehen beteiligt sind: was für ein Wunder an Beteiligung und Anteilnahme in jedem Moment, was für ein Ausstrahlung! Es geht nicht um Schönheit und Jugend der Beteiligten, es geht um den lebendigen Puls der Aufführung. (Springen Sie ruhig mitten hinein: z.B. bei 10:00.)

Carmina latina Screenshot 2016-03-22 16.29.25 Hier anklicken!

Ich habe schon kurz die Johannespassion unter Peter Deijkstra behandelt, die zur Zeit noch (bis 27. März) auf ARTE abrufbar ist, habe auch den Namen des Mannes erwähnt, der für die „Szenische Gestaltung“ verantwortlich war: Folkert Uhde. Und wenn man ihm nachgeht, weiß man auch, dass er den Begriff „Konzertdesign“ eingeführt hat und dass sich hinter dem, was ich hier zu entdecken glaubte, längst eine weitverzweigte Theorie steht.*Einfügung 19.04.2016: ein abschreckendes Beispiel ist für mich die Inszenierung der Geigerin Midori Seiler, die fabelhaft Bachs Solissimo-Werke spielt. Aber so möchte ich das keinesfalls in extenso erleben. Gleiches gilt für Vivaldis Jahreszeiten.*

Und schon habe ich Angst, dass alsbald auch ein weit sich verzweigendes System des Missbrauchs im Kommen ist, nämlich sobald es Usus wird, neben einem Dirigenten, einem Ensemble und verschiedenen Solisten auch einen Konzertdesigner zu verpflichten. Einen Menschen, der dieses Fach studiert hat, gewiss zusätzlich auch noch Kultur-Management, PR-Marketing und alles, wo man gut aufgestellt sein muss, am Ende vielleicht sogar noch etwas Klavier oder Gitarre. Denn die meisten wollen ja „ganz oben“ anfangen und nicht jahrelang mit Fingerübungen ihre Zeit verplempern. Andererseits suchen bedeutende Künstler, also solche, die es nie für eine Schande gehalten haben, sich täglich mit Fingerübungen abzugeben, neuerdings den Kontakt zu Leuten, von denen ihre Kunst spektakulär inszeniert wird, notfalls in spektakuläre Stille gehüllt, wie im Fall Igor Levit / Marina Abramović. Und jetzt ist es die Pianistin Hélène Grimaud, die sich mit dem bildenden Künstler Douglas Gordon zusammentut, um ein pianistisches Wasser-Programm über einem gigantischen Wasserteppich im Dunkeln zu spielen. Die klassischen Werke sind zudem von der ersten bis zur letzten Nummer – wie auf ihrer CD Water – durch Transitions verbunden, die der Phantasie des Komponisten Nitin Sawhney entsprungen sind.

Grimaud water

Man kann sich damit stichprobenartig befassen, indem man hier von Track zu Track geht, man kann aber auch genau auf den Fragen beharren, die im ZEIT-Interview gleich zu Anfang gestellt werden:

DIE ZEIT: Trügt der Eindruck, dass die absolute Musik Ihnen auf der Bühne nicht mehr genügt?

Hélène Grimaud: Das trügt definitiv! [Sie berichtet von ihren „normalen“ Konzerten.] Das ist mein täglich Brot. Alles andere nimmt nur einen sehr kleinen Teil meiner Arbeit ein. Das ist ein fremdes Reich, das ich ab und zu betrete. ich finde es enorm wichtig, dass alles Szenische so abstrakt wie möglich bleibt. Es geht nicht darum, den Zuschauern zu sagen, was sie fühlen sollen, es geht darum, eine Welt zu schaffen, die es ihnen ermöglicht, Gefühle zu erleben.

DIE ZEIT: Dennoch könnte man auch Ihre Water-CD als Misstrauensantrag an die Musik verstehen: Die Musik scheint mehr zu brauchen als sich selbst, ein Programm oder ein ästhetisches Surplus.

Grimaud: Ich sehe das genau andersherum: Jede Partitur ist eine Art Heilige Schrift, die zum Leben erweckt werden will und muss. Dieses Leben kann gar nicht prall genug sein.

Quelle DIE ZEIT 17. März 2016 Seite 59 „Die Kunst hält das aus“ Die Pianistin Hélène Grimaud spricht über ihre neue CD „Water“, über Spiritualität und die Grenze zwischen Musik und Aktivismus. (Gespräch: Christine Lemke-Matwey)

Es gilt, all dies sorgfältig zu prüfen und auf sich wirken zu lassen. Ist das „wahrhaftig“ durchdacht oder vom Größenwahnsinn gezeichnet? Läuft es auf etwas hinaus, was man – frei nach Adorno – als spirituelles Brimborium bezeichnen könnte? Einerseits ist immer nachvollziehbar, wenn man statt einer Nummernfolge einen größeren thematischen Zusammenhang schaffen und anbieten will, zugleich aber das Bewusstsein der Rezipienten aktivieren und präparieren will. Die leere Feierlichkeit des bürgerlichen Konzerts wird als ungenügend, als der heutigen Auffassung vom Kunstwerk nicht adäquat empfunden. Man will es vermeiden, bloße Zerstreuung anzubieten, und so bemüht man sich, gewissermaßen den Radius der Assoziationen vorgeben. Aber weiß man überhaupt, was ein großes Variationen-Werk von uns fordert, kümmert man sich eigentlich im Detail um die musikalischen Inhalte? Ich höre in den Berichten über die Goldberg-Variationen immer nur das Thema. Welcher Musiker unterzieht sich der Mühe, sagen wie, ein Werk wie das von Rolf Dammann über die Variationen durchzuarbeiten? Würde es vielleicht genügen, unter der strengen Regie von Marina Abramović 30 mal hintereinander das Thema zu spielen? Und mit Douglas Gordon über das Phänomen Wasser zu meditieren? Was meint Hélène Grimaud mit dem Satz „Die Kunst hält das aus“… Die ZEIT kommt vom Wasser auf Erderwärmung und Schmelzen der Pole und fragt: „Ist das unser Problem? Überfrachten wir die Musik mit unserer Realität?“

Hélène Grimaud: Wenn Sie so wollen, dann ist jede Rezeption eine Überfrachtung, eine Überwölbung mit eigenen Erfahrungen. Die Kunst hält das aus. Für frühere Zeitalter war die Natur ein Wissensspeicher. Man ging hinaus, machte einen Spaziergang, kam zurück und schrieb nieder, was der Wind einem durch die Blätter der Bäume zugeflüstert hatte. Das ist jetzt grob vereinfacht gesagt, so romantisierend war es nicht, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es bis heute gilt. Denn wenn wir uns diesen existentiellen Bezug zur Welt, in der wir leben, bewahrt hätten, wäre es nie so weit gekommen.

…wäre es nie so weit gekommen? Nicht ohne Grund hat sie vorher gesagt: “ (Man) kam zurück…“ Wahrscheinlich hätten wir auch keine Musik, keine Literatur, keine Bilder, wenn wir nicht zurückkämen, reflektierten, objektivierten. Denn die Kunst schließt aus, verzehrt, ignoriert schließlich alles, was nicht Kunst ist. Ich behaupte, dass auch Ravels „Jeux d’eau“ davon profitieren, dass die Künstlerin die Musik reflektiert und nicht das Lichterspiel auf dem Wasser.

Wenn Sie 5 Minuten Zeit haben, hören Sie doch, wie es bei Igor Levit war, auch was er selbst dazu sagt – und wie er das Thema der Goldberg-Variationen spielt: HIER(Nicht mehr abrufbar!)

Wollen Sie sich die Situation optisch vorstellen? HIER finden Sie eine Rezension und ein paar Bilder.

***

Und doch – könnte ich mir selbst in den Arm fallen, in die Tastatur, und versuchen, einen ganz anderen verbalen Ausdruck für dies alles zu finden. Einen Ausdruck des Schreckens und des Abscheus. Was für ein Aufwand wird hier getrieben, um eine Kunstwelt zu errichten, die sich geriert, als gehe es um nichts anderes als um die Beschwörung des wahren Augenblicks, des ungeheuer magischen Moments, der zur Ewigkeit wird. Oder um die technisch hoch aufwendige Installation einer Ewigkeit, die dann hoffentlich zu einem weltentrückten Augenblick zusammenschnurrt, man entfaltet auch die stumme Bildende Kunst – faltet sie geradezu auseinander -, bis sie in der einen genialen Performance zu einer Zeitkunst wird, versucht die Zeitkunst Musik in ein Ritual zu bannen, das uns reinigt und zu hörenden Giganten „entpersönlicht“, nein, ich finde keine Worte, und dann steckt am Ende längst die Erlebnis-Industrie dahinter, die längst alle Bastionen der künstlichen Intensivierung besetzt hat. Und im Saal sitzt allenthalben dieselbe Schickeria wie seit Menschengedenken, neuerdings aber mit dem festen Vorsatz, bei der Wiederkehr des Goldberg-Themas am Ende der Vorstellung in Ohnmacht zu fallen. Und dann hinauszugehen und zu sagen: ich widme diesen Abend den Flüchtlingen oder der Abwendung der Klimakatastrophe, nie war ich der Realität näher als im Moment dieser künstlich verordneten meditativen Einsamkeit in diesem riesigen Saal, der in den alten Zeiten als Waffenhalle (Armory) gedient haben soll. Und dann – ich sage es noch einmal (inszeniere mich womöglich gerade selbst) – versammelt sich da wieder die Menge der elitären Heerscharen und wartet auf die Gänsehaut wie in Bayreuth, wenn endlich das schwere Blech einsetzt. In diesem Fall die absehbare Wiederkehr des  zarten Themas als Wunder der intimsten Massenrührung. Eine Bach-Mirakelperzeption, die schon zu Glenn Goulds Lebzeiten weltweit eingeübt wurde, noch mehr aber nach seinem Tode: in nächtlichen Medien-Séancen mit dem Zeremonienmeister Bruno Monsaingeon.

Ich könnte aber auch an dieser Stelle daran erinnern, dass bestimmte Künstler immer noch eine unvergessliche, bezwingende Wirkung ausüben, indem sie einfach – normal beleuchtet – auf der Bühne stehen oder sitzen und vollendet Beethoven-Sonaten spielen und nicht einmal durch besondere Schönheit des Gesichtsausdrucks, der Haltung, der Gestalt oder der Gesten auffallen, wie Leonidas Kavakos („distanziert und fast mürrisch“), ob mit Enrico Pace oder Daniil Trifonov. Wie geht das? – Eigentlich – nicht so, wie ich es erlebt habe – in meinem Wohnzimmer – vor dem Fernsehapparat –

Ich breche ab, – ich muss noch ein paar einleuchtende Textstellen zur heutigen Funktion der Performance abschreiben. Vielleicht auch noch einmal Wolfgang Ullrichs Buch „Alles nur Konsum“ durchblättern. Oder nein, bei Hanno Rauterberg muss stehen, was ich suche… unter dem entwaffnenden Titel „Die Kunst und das gute Leben“…

***

ZITAT RAUTERBERG

Dass sich das Wesentliche nicht festhalten lässt, dass die Wahrheit im Augenblick liegt und ja ohnehin nur lebendig ist, was wandelbar bleibt, das sind geläufige Topoi des digitalen Zeitalters – in der Performance finden sie ihre ebenso geschmeidige wie unterhaltsame Form. Sie will sich den üblichen Verwertungszwängen entziehen, will kein Produkt sein, mit dem sich handeln und spekulieren ließe. Es ist eine liquide Kunst, die mit Kameras nicht vollgültig einzufangen ist. Man soll, man muss sie mit eigenen Augen sehen, sie zelebriert das Hier und Jetzt, eine wahre nondigitale Erfahrung. Es ist die Kunst der Präsenz. Sie setzt auf Anwesenheit und Körperlichkeit, sie erlaubt es den Besuchern, sich ihrer selbst zu vergewissern: gegenwärtig zu sein.

Manchmal geht es sehr meditativ zu, beispielsweise wenn der Künstler Anthony McCall auftritt, dessen Kunst nichts als Raum, Zeit und Licht sein möchte. Im tiefsten Dunkel erstrahlen dann klirren helle Spots, als hätte der Leuchtstrahl eines Ufos das Museum erfasst. Die Besucher sind es, die hier zu Performern werden: Sie baden im Licht des Künstlers, versuchen es zu ergreifen, eine irreal-reale Erfahrung. Der sogenannten Erschöpfungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts gefällt diese Art von Lebendigkeitsästhetik.

(…) Wo sonst in den Museen ein jeder Besucher für sich vor den Gemälden und Skulpturen steht und die ästhetische Erfahrung in der Regel das auf sich gestellte Individuum meint, legt es die Performance auf etwas Allumfassendes an. Sie verbindet den Raum, das Gezeigte, das Publikum. (…)

Die Performance Art kann auf eine erstaunliche Erfolgsgeschichte zurückblicken, die hat sehr unterschiedliche Spiel- und Spannungsformen entwickelt und mit Marina Abramović oder Tino Sehgal einige der populärsten Künstler der Gegenwart aufzuweisen. Doch ganz gleich, ob eine Performance ekstatisch, sanftmütig oder spielerisch gestimmt ist, ob sie das Irrationale bestärkt oder auf vernunftbetonte Dialoge abzielt, stets bemüht sie sich, die Betrachter aus ihrer gewohnten Rezeptionshaltung herauszureißen. Das Museum habe, so eine verbreitete Annahme, ein konsumbestimmtes Verhältnis zu Gemälden und Skulpturen begünstigt und damit den Besuchern eine passive Rolle verordnet. Daher müsse sich Performance vor allem der Neubelebung widmen: Die starren Formen der Kunst löst sie auf in etwas Atmosphärisches, dem Dauerhaften setzt sie das Ereignishafte entgegen und sie möchte aus dem passiven Betrachter einen aktiven Teilnehmer machen. Atmosphäre, Ereignis und Interaktion können je nach Performance unterschiedlich gewichtet sein, alle drei Aspekte aber treiben auf ihre Weise die Normalisierung der Kunst voran.

Quelle Hanno Rauterberg: Die Kunst und das gute Leben / Über die Ethik der Ästhetik / edition suhrkamp / Berlin 2015 (Seite 58 f) Hervorhebungen in roter Farbe JR

Um noch eine weitere Anregung hinzuzufügen, die sich leicht auf Musik-Aufführungen beziehen lässt. Das Zitat stammt aus dem Vorwort eines Buches, das schon 2004 erschienen ist:

Kunst ist in Bewegung: Theater und Konzertsäle öffnen sich für Installationen und Performances. Galerien machen Platz für Darsteller und Tänzer. Der Gang durch die Stadt ist ein Auftritt. Öffentliche und private Räume werden in ihrer Funktion hinterfragt und können dabei zum Ort für ästhetische Erfahrungen werden. Der Transformation der Räume entspricht eine Neubefragung der zeitlichen Disposition von Kunst. Anfang und Ende, Dauer und Verlauf fallen aus dem Rahmen konventioneller Muster. Damit wird eine ästhetische Praxis generiert, für deren Beschreibung Schlüsselbegriffe wie Dynamik, Prozessualität, Vollzug oder Präsenz kennzeichnend sind.

Solche neuen Produktionsweisen korrelieren mit veränderten Rezeptionsstrategien. Wahrnehmung wird nicht als passive Aufnahme und ausschließlich intellektuelle Beschäftigung mit statischen Objekten verstanden, sondern als sinnlicher und körperlicher Vorgang, der aktive Teilhabe erforderlich macht. Schließlich steht der Status von Zuschauern und Zuhörern selbst auf dem Spiel, wenn ihr Erleben im ästhetischen Vorgang thematisiert wird und sie durch ihre Anwesenheit und Wahrnehmung konstitutiver Teil ästhetischer Prozesse sind.
Wenn Kunst in Bewegung ist, dann gerät auch die tradierte Konzentration auf Werkcharakter und -ästhetik ins Rutschen.

Mit anderen Worten: Die Performativierung der Kunst stellt eine besondere Herausforderung für die Analyse dar. Kunst provoziert Wissenschaft, und die Entgrenzung der Kunst stellt die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen in Frage.

Quelle Hier Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst / Der Aufführungsbegriff als Modell für eine Ästhetik des Performativen / Hrsg.: Erika Fischer-Lichte, Clemens Risi, Jens Roselt.

Nachtrag zu Hélène Grimaud

Die Wasser-CD, die ich (siehe Bild oben) inzwischen besitze, ist sehr schön zu hören, leider auch beim Arbeiten, wenn ich gar nicht recht zuhöre. Sie plätschert dahin – Schönheit – „wie gleichst du dem Wasser!“ Soll ich über das Wesen des Wassers meditieren oder über die Verflüssigung unserer Seele beim Hören? Ja gern, ich mache alles mit. Aber wenn ich etwas über die Klänge, die mich beieindrucken, wissen will, schaue ich ins Booklet und lese über das erste Stück von Luciano Berio – „Wasserklavier“ No.3 from 6 Encores – per Antonio Ballista:

Die Werke dieses Programms gehen weit über lediglich neue Naturschilderungen hinaus. Ohne sentimental zu werden, regen sie an zu tiefer Versenkung in Wahrnehmungen, Erinnerungen oder Gefühle, die durch Wasser stimuliert werden. Berios Wasserklavier sinnt zunächst mit süßer Melancholie über die vom Wasser symbolisierte Unbeständigkeit der menschlichen Existenz nach.

Das ist alles, und es ist natürlich zu wenig. Denn der Verlag Universal Edition gäbe uns etwas mehr in die Hand:

Wasserklavier aus 6 Encores könnte in der Tat als ideale Zugabe nach jedem Klavierrecital dienen: es ist tonale Musik, die Motive aus Brahms’ Op. 117 sowie Schuberts Op. 142 verwendet. Das Ende bleibt irgendwie offen – mit einem Fragezeichen oder das Gefühl vermittelnd, dass die Musik noch weiter klingen könnte.

Was für eine Vorgabe! Darauf wäre ich nicht gekommen, obwohl mein absolutes Lieblingsstück dabei ist. Op.117 besteht aus drei Intermezzi und Schuberts op.142 aus vier Impromptus, auch lauter Lieblingsstücke von mir. Und ich habe – als ich dies noch nicht wusste – kein einziges Motiv erkannt, jetzt aber fällt es mir wie Schuppen … nein, keine Anspielung in diesem Zusammenhang.

Im Fall Takemitsu verfahre ich ähnlich, der Verlag All Music hilft mir ebenfalls… Haben Sie’s angeklickt? – Aber muss ich denn wirklich alles selber tun?

Pauschalurteile zur Musik

Ein letztes (?) Wort von Nikolaus Harnoncourt

Vorgestern, am 8. März, stand in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit dem Dirigenten und Pionier der „Alten Musik“, und da er gerade verstorben ist, hat es (zu Unrecht!) den Charakter eines „letzten Wortes“, obwohl es schon zwei Jahre alt ist und aus unerfindlichem (oder durchaus gutem) Grund in der Schublade verblieben war.

Also Lully ist ein wirklich schlechter Komponist, der in Italien, wo er herkommt, unmöglich reüssieren konnte. Dann ist er nach Frankreich gegangen, und da hat er genau die Form gefunden, die für die französischen Musik gut war. Wie die gestutzten Hecken, die es ja in Italien noch nicht gegeben hat. Für mich eine Non-Musik.

Schlechte Musik? Von schlechten Komponisten? Kurz vorher hat er gesagt:

Das ist vielleicht nicht einfach schlecht zu finden, aber Mahler könnte ich nicht aufführen, Berlioz könnte ich nicht aufführen, Bruckner könnte ich nicht aufführen. Lully könnte ich nicht aufführen.

Hatte er die von ihm aufgeführten, auf CD eingespielten und mit großem Tamtam von der Kritik propagierten Bruckner-Sinfonien vergessen?

Jean-Philippe Rameau?

Das ist große Musik, und wenn Bruckner, dann Rameau. Denn Bruckner versucht so zu schreiben wie der Rameau, und das gelingt ihm nie.

War er recht bei Verstand? Waren solche Sätze verantwortlich dafür, dass dieses Gespräch unter Verschluss geblieben ist? Muss man es ausgerechnet jetzt hervorholen, um den verstorbenen Meister lächerlich zu machen? Hatte er je sein Placet zum Abdruck gegeben?

Gustav Mahler?

Immer“Ich!“ Das ist etwas, was mir unangenehm ist. Wenn ein Künstler immer von sich spricht. Ich hab das Gefühl, alles, jeder Ton von ihm heißt „Ich“. Das Gleiche wie bei Berlioz. Eklig.

„Ich hab das Gefühl“?? Ich, ich, ich? Entsetzlich. Oder wie soll man sagen? Jedenfalls: Mahler – „eklig“???

Kaum ein Wort, das man in größerem Zusammenhang nicht zumindest schon etwas differenzierter gehört hätte, insgesamt ein Interview (alle Originalzitate in Rot), das wie ein schlechtes Kondensat wirkt, wenn man es mit älteren, sorgfältiger ausgearbeiteten Texten vergleicht, zum Beispiel mit dem Spiegel-Interview aus dem Jahre 2007: Schön durch Schmutz / Von Kronsbein, Joachim / Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt über seine Liebe zu Alter Musik, über Ego-Komponisten und musikalische Genies in DER SPIEGEL 45/2007 vom 5.11.2007 – siehe HIER.

Zu Mahler sagt er hier immerhin noch folgendes:

Harnoncourt: Am auffallendsten ist der Ego-Bezug bei Berlioz und Mahler. Jetzt kann ich natürlich nicht sagen, dass Mahler schlechte Musik ist. Ich habe nur keine Beziehung dazu.

SPIEGEL: Auch nicht zu den berührenden Liedern?

Harnoncourt: Dazu müsste ich mich zu sehr verändern. Die „Lieder eines fahrenden Gesellen“ haben mich sehr ergriffen. Ich habe selbst im Orchester gespielt, als Fischer-Dieskau sie sang. Und das ging unter die Haut. Und dann frage ich mich: Will ich das aufführen? Und ich sage sofort: Nein. Ich kann nicht genau sagen, warum.

Das ist ehrlich und relativ differenziert. Damals äußerte er sich auch noch über Bruckner ziemlich angemessen:

Harnoncourt: Nehmen Sie Bruckner und Schubert: Das sind zwei Komponisten, die beide keine Vorgänger und keine Nachfolger haben.

SPIEGEL: Wie Bach und Mozart.

Harnoncourt: Das sind zwei Gipfel, die aus der Musikgeschichte herausragen.

Viel ist damit auch nicht gesagt, aber immerhin, die Geistesverwandtschaft zwischen Schubert und Bruckner wird angedeutet. Sehr erfreulich auch die Würdigung der Lebensleistung Leopold Mozarts.

Besonders merkwürdig jedoch im SZ-Interview die Herabminderung der Bedeutung des Wissens in der Musik. Wie er dem Irrationalismus zuarbeitet, indem er zuerst sagt:

Für mich war es immer wichtig, alles zu wissen, was man wissen kann, was man erreichen kann. Um dann alles vergessen zu können, wenn es um die Aufführung geht. Denn wenn ich das Wissen höre, dann ist es eine schlechte Aufführung.

Und dann der absurde Vergleich:

Man hört, es wirkt studiert. Das finde ich auch, wenn ein Philosoph eine Rede hält. Kann mich sehr interessieren. Aber wenn ich den Denkvorgang verfolgen muss, das mag ich nicht.

Philosophie wäre also etwas anderes als ein Denkvorgang? Zweifellos ist das altersbedingt, und es ist vielleicht nicht in Ordnung, so etwas zu veröffentlichen. Harnoncourt war nicht mehr auf der Höhe seiner früheren Argumentation. Von daher vielleicht wird auch die Fehlleistung verständlich, den Schein-Pianisten Lang Lang in das letzte Mozart-Projekt einzubeziehen, als sei das alles im Vorübergehen lehr- und lernbar. Ausgerechnet bei Mozart, dem der Kollege Haydn vor allem höchste Kompositionswissenschaft bescheinigte.

Wie erfrischend ist es da, einen wachen Geist wir Reinhard Goebel über die Notwendigkeit des Wissens in der Musik reden zu hören, wie kürzlich im VAN-Magazin:

Für mich ist die Musik wie ein verschlüsseltes Bild, das man nach der Nomenklatur des 18. Jahrhunderts rückentwickeln kann. Sie können die Brandenburgischen Konzerte mit dem Kantatenwerk Johann Sebastian Bachs vergleichen und Strukturen aufbauen. Was ist los, wenn wir ein Horn hören? Dann denken wir an Jagd. Was ist los, wenn wir eine Trompete hören? Dann denken wir an Fama. Was ist los, wenn wir Blockflöte hören? Dann denken wir an pastorale Güte. Was ist los, wenn wir Gamben und Bratschen hören? Dann denken wir an Trauermusik, dann denken wir ans Sterben. Das sind die objektivierbaren raisons d’être der Musik. Meine Student/innen müssen in der Lage sein, ein Stück aus sich heraus hermetisch abgeschlossen zu diskutieren: was zeigt ihnen die Partitur über die Manier des Spielens, wie ist die Beweisführung, wenn in Takt 16 das steht und in Takt 18 aber das? (…)

Diese junge Generation, die ist zum Teil so maßlos unbeschlagen, dass es schon fast wehtut. Es ist ihnen nie vorgemacht worden, etwas erklären zu müssen, außer sich selbst. „Ich will das so, also machen wir es jetzt so.“ So fängt das an. Die Selbstverliebtheit und Selbstvernarrtheit der Musiker. Und das ist ein völliges Fehlbild, was Komposition oder Kunst anbelangt, das muss ich jetzt sagen. Wenn man das nicht grundsätzlich gelernt hat, dann ist es unter Umständen später schwer, es nachzuholen. Deswegen versuche ich allen klarzumachen: suchen Sie sich irgendein Spezialgebiet, und sei es nur, weil Sie eine Meise haben. Wir brauchen ja irgendwelche Synapsen, Wachheit. Eine Studentin, eine große Virtuosin, kam einmal völlig entleert zu mir, „ich weiß nicht mehr, warum ich Musik mache, ich weiß nicht mehr wo vorne und hinten ist.“ Da habe ich gesagt, „nehmen Sie doch mal ein Buch zur Hand“. Und dann kam sie drei Tage später zurück und meinte, „das hat am Anfang so weh getan im Kopf.“ Da fiel mir ein, wie ich als Zehnjähriger meine ersten Lateinvokabeln lernen musste, irgendetwas zu lernen, wo wir keine Verbindung zu haben. Agricola, der Bauer, ara, der Altar, avia, die Großmutter, das hat so wehgetan, ich habe gebrüllt zu Hause. Bei meiner Studentin hat das dann aber total angeschlagen, heute gewinnt sie jeden Preis, kann Wissen mit Können verbinden, eine hinreißende Mischung, der kann man sich gar nicht entziehen, die spielt zehnmal so gut Geige wie der Goebel ever und hat Charme und eben Wissen!

Am schönsten Goebels Antwort auf die Frage, OB ES SCHADEN KÖNNE, ZU VIEL ZU WISSEN:

Das kann nicht sein, das Wissen ist doch die Quelle der Inspiration! Das ist atemberaubend. Im letzten Semester bin ich von Lexikon zu Lexikon gestiegen auf der Suche nach einer Erklärung eines Satzes, der gegen Johann Sebastian Bach ist. Es hat mich elementar glücklich gemacht, als ich sie gefunden habe. Das Wissen kann berauschen. Und das Mehr-Wissen berauscht noch mehr.

Quelle „Leute, ich weiß es immer noch am besten“. Ein Interview mit Reinhard Goebel. (Autor: Hartmut Welscher) in: VAN Magazin 2.3.2016 online nachzulesen HIER.

Kölner Phase (unrepeatable)

Steve Reich hören lernen

In der Kölner Philharmonie hat sich ein Skandal ereignet, endlich mal, da muss man nicht immer wieder von dem Skandal 1913 beim „Sacre du printemps“ anfangen, oder ich mit meinem Lieblingsbeispiel, das ich 1960 nur vom Tonband eines Freundes gehört habe: Moses und Aron in Berlin unter Hermann Scherchen. Die Proteste bei der Uraufführung waren offenbar live über den Sender gegangen: als Scherchen den protestierenden und randalierenden Zuschauern zurief: „…dann muss ich Sie denen zurechnen, die meine Autoreifen zerschnitten haben und die gedroht haben, mir Vitriol ins Gesicht zu schütten!“ – Ich eilte zu Beginn meines Studiums sofort in eine Aufführung, die ruhig verlief, sehr eindrucksvoll (mit Josef Greindl), mir schien auch, dass nicht Schönbergs Musik die Menschen so erregt hatte, sondern der Tanz ums Goldene Kalb, die Nacktheit der tanzenden Menschen in ihren fleischfarbenen Trikots, ihre bacchantisch zur Schau gestellte, überzeugend gespielte Lüsternheit.

Nichts von alledem in Köln! Im Konzert des Ensembles Concerto, offenbar vor einem Publikum, das gewöhnt ist, in Konzerte Alter Musik zu gehen und das sich dieser Tatsache auch im Verlauf des Konzertes bewusst bleiben will, geschah das Unglaubliche: es wurde das gespielt, was im Programm vorgesehen und auch während des Konzertes im Programmheft nachzulesen war. Was dann aber passiert ist, muss ich nicht aufschreiben, man kann es leicht nachlesen: in Spiegel online, (jedoch: nicht „abgebrochen“, sondern „unterbrochen“!), man studiere auch die Kölner Medien (und klicke sich darin weiter) z.B. hier und vor allem die Beiträge von Seiten des Ensembles Concerto auf Facebook, klicke in den Bericht des Solisten („Noisy dissent disrupts a harpsichord recital“) und in die Stellungnahme des Cellisten Alexander Scherf hier.

Ein Jahr bleibt nun Zeit, die Schande wieder gut zu machen und am 1. März 2017 bestens präpariert aufs neue in die Kölner Philharmonie zu wandern. Mahan Esfahani: auch ich will dabeisein! Im Namen der persischen Musik! Und im Namen der Mbira-Musik Zimbabwes! Im Namen des Bach-Kanons auf dem Haussmann-Porträt!

Es ist nur ein kleiner Ausschnitt – aber keine Kapitulation vor dem Publikum – ein Appetizer – man kann die CD erwerben und die „Piano Phase“ nicht nur vollständig hören, sondern vor allem das Hören üben. Es ist nie falsch, das Hören auch als eine Aufgabe zu betrachten, Musik ist nicht nur eine Bringschuld des Interpreten, sondern ebenso eine Holschuld der Rezipienten. Wenn sie nicht hören (wollen), was da vor sich geht, können sie es nicht dem Interpreten anlasten, der sein Bestes gibt.

Dem Programmheft wäre übrigens durchaus Anregendes zum Prinzip „Wiederholung“ zu entnehmen gewesen:

Auch wenn sie mit ihren Phasenverschiebungen mitunter sehr spielerisch erscheint, ist sie doch eng mit geistigen und spirituellen Fragen verknüpft. Für Piano Phase trifft das in besonderer Weise zu. Einerseits ist es sehr reizvoll, dem musikalischen Verlauf aufmerksam zu folgen, andererseits rufen die Klänge bei entsprechender Einlassungsbereitschaft einen Zustand meditativer Versenkung hervor – wobei beides gleichzeitig erfolgen kann. Steve Reich abstrahiert in Piano Phase von Annäherung und Entfremdung, indem er eine einheitliche Melodiesequenz subtil auseinanderdriften lässt.

(Egbert Hiller)

Wenn man die Struktur auch technisch besser versteht, hätte man die Chance, eine besondere Wahrnehmungsweise zu entdecken. Und ich schwöre: wer es genau weiß, wird mit höchster Aufmerksamkeit, ja, mit Spannung zuhören, was nicht heißt: das Stück hat die gleiche Relevanz wie ein Bach-Konzert. Darum geht es nicht. Nein, ohne dieses Werk wäre unsere Alte Musikkultur nicht in Gefahr. Aber mit der plumpen Verweigerung ist keinesfalls das Abendland verteidigt, – sondern die schiere Dummheit hätte wieder einmal gesiegt.

Als Ziel meiner Überredungskunst noch ein spezieller Hinweis, von besonderem Interesse für Klavierspieler, die imstande sind, mit ihren zwei ineinanderwirkenden Hände eine einfache Tonfolge einzustudieren. Zwei Seiten aus Hans Peter Reutters Satzlehre HIER.

Und hier die Nutzanwendung:

Ausführende: Tinnitus Piano Duo / Tine Allegaert & Lukas Huisman

Nachtrag 3. März 2016: Das seltsame Echo des Kölner Eclats

Kölner Skandal im ST 160303

Ein so großer Bericht auf Seite 3 einer ganz gewöhnlichen Tageszeitung über ein außergewöhnliches Konzert? Ja, und von einem Journalisten, der sonst politische Kommentare schreibt (lesenswerte). Ich vermute, dass also übergeordnete Gründe zum Tragen kommen sollen, keine musikalischen. Das Bild ist ein Blickfänger, die Unterzeile suggeriert jedoch, dass der Musiker auf eine „erzwungene Unterbrechung seines Konzertes“ in dieser Weise reagiert habe: nämlich provokativ schlafend. Verachtung zeigend. War es so? Ist es nicht eins der üblichen Künstlerfotos, die den Interpreten in ungewöhnlichen Posen zeigen, um eine allzu biedere Sicht auf die Podiumssituation zu unterlaufen? Wie hier zum Beispiel:

Mahan Esfahani kl Foto: Marco Borggrefe 2009

Ärgerlich wird es, wenn der längere Teil des verbalen Berichtes unter dem Stichwort „Argwohn des Kulturbetriebes gegen das eigene Publikum“ steht und dann ausgerechnet Handkes programmatische „Publikumsbeschimpfung“ aus dem Jahre 1966 heranzieht. Damals war die Provokation unmissverständlich künstlerisches Ziel der Veranstaltung, wie auch oft bei den Happenings jener Zeit. Es ist aber einfältig, im Zusammenhang mit der aktuellen Situation zu schreiben: „Misstrauen und Verachtung des Publikums gehörte immer schon zur intellektuellen Folklore.“

Im Kölner Konzert wurde ein heute durchaus normales Programm präsentiert, nicht provokativer als etwa Beethovens „Eroica“. Und wenn ein Segment des Publikums – zur Kaffeezeit am Sonntagnachmittag – deutlicher als sonst zeigt, dass es vom Ernst des Spieles auf der Bühne noch nie gehört hat, kann das eigentlich niemanden erschrecken. Aber erst recht nicht zur freundlichen Verständigung mit diesem Segment ermuntern. Ich habe ein ähnlich – sagen wir – kühn aufgebautes Programm an einem Abend (!) in der Kölner Philharmonie erlebt (mit dem Kelemen-Quartett ) und habe nicht nur über die Interpreten, sondern auch über das hoch motivierte, ja, ideale  Kölner Publikum gestaunt.

Nachtrag 19. März 2016

Ein verspätet veröffentlichter Leserbrief im Solinger Tageblatt erinnert mich an die Möglichkeit, Steve Reich im Konzert eines Ensembles, das mit der engagierten Interpretation Alter Musik bekannt geworden ist, ganz anders wahrzunehmen, als es mir, der ich nicht dort war, einleuchtend erschien. Und auch anders als es dem Briefschreiber, mit gutem Grund, berichtenswert erscheint:

Cembalo Philharmonie ST 160318 Solinger Tageblatt 18/03/2016

Steve Reichs „Piano Phases“ (1967) ist ein fast 60 Jahre altes Stück, das immer wieder zu einer Ohren-Übung einlädt, aber es ist alles andere als ein Klassiker, den man immer wieder zu hören wünscht, sagen wir: wie Ligetis „Atmosphères“ (1961). Es gibt – wenn man es einmal kennt -keine neuen Facetten daran zu entdecken. Und wenn die Einführung des Cembalisten etwa (ich weiß es nicht!) den Eindruck erweckt hat, dass das Publikum vorweg eine Nachhilfestunde braucht, kann man sich einen gewissen Unmut erklären, der auch durch einen zu Hilfe eilenden Herrn aus dem Publikum nicht unbedingt gemindert wird.

Um nicht die falsche Klientel zu bedienen, habe ich übrigens im Artikel ganz andere (von mir durchaus gewünschte) Heiligtümer einer öffentlichen Aufführung beschworen:  „Im Namen der persischen Musik! Und im Namen der Mbira-Musik Zimbabwes!“ Und mit der Erwähnung des Bach-Kanons (BWV 1072) meinte ich eine Wiedergabe in perpetuo, die ihn wie (!) eine minimalistische Musik wirken lässt (vgl. u.a. auch Conlon Nancarrow).

Aber ich bin nicht überzeugt, dass man ein typisches Publikum der Alten Musik im Konzert erwecken muss, – übrigens erst recht nicht mit einem Stück von Górecki.

Classics light statt Musikkulturen?

Zur Erinnerung (wie es bis Ende 2015 war)

Musikkulturen Programm Screenshot 2016-02-04 14.59.09

Musikkulturen Programm f Screenshot 2016-02-04 14.59.43

Musikkulturen fff Screenshot 2016-02-04 15.15.00

Dies sind nur Screenshots. An Ort und Stelle kann man immer noch die Broschüren mit dem Verzeichnis aller Sendungen aufrufen. Also etwa (Stand 4. Februar 2016) HIER 

Es gibt nach wie vor Sendungen zum Nachhören, wie hier die von Barbara Wrenger, gesendet am 31.05.2015: „Himalaya und Köln – Klänge hohen Glücks“.

Man weiß offenbar, was man daran hatte.

Auf diesem kleinen Sendeplatz, dem freundlich geduldeten Reservat der Musikkulturen (sonntags ab 16.05 Uhr), gibt es nun ab 2016 etwas ganz anderes: Klassische Musik in einer neuen Form der Präsentation. Lauter Einzelstücke als Klangteppich ohne Moderation, kunstvoll aneinandergefügt und mit Übergängen versehen von DJs, die uns aufgrund des Club-Charakters dieser Darbietung eine Erschließung neuer, mutmaßlich junger Publikumsschichten versprechen.

Klassik KlubScreenshot 2016-02-04 15.55.13 direkt anzuklicken hier

Die Sendungen sind für den einmaligen Gebrauch, nachhören kann man sie nicht, klar, sie verstehen sich von selbst, jedoch kann man die ebenfalls recht wortkargen Musik-Ablaufpläne anklicken. Und Informationen über die DJs findet man in ausreichendem Maße hier.

Ich enthalte mich jeder Bewertung dieser Sendeform im Rahmen klassischer Musikvermittlung, erinnere nur daran, dass diese Präsentation, – die Idee, jeglichen historischen und narrativen Ballast abzuwerfen -, nicht neu ist. Die Frage bleibt, ob die Musik nun auch leichter wird und ihren (lästigen) Anspruch verliert. Ob nicht im Gegenteil die Gefahr wächst, dass sie in Bruchstücke der Beliebigkeit zerfällt. Während Klassik im emphatischem Sinn von Vertiefung lebt, nicht vom Vorrüberrauschen.

Die Soundscapes der 70er und 80er Jahre wären in Erinnerung zu rufen, Klarenz Barlows gigantische Klangwelt Calcutta, die anspruchsvollen „Reisen des Ohres“ (s.u.), selbst die Matinee Couleurs, in denen World-Music-Fragmente aneinandergehängt und überblendet wurden, ohne dass es weh tat, aber auch ohne dass es lange nachwirkte. Ich weiß nicht, ob ich wirklich die ganzen Diskussionen, Widersprüche, Improvisationen und Experimente wieder revue passieren lassen soll.

Nein, ich sehe doch: – heute überlegt man auch sehr genau, wie man mit der Musik umgeht, wenn schon mal entschieden ist, dass sie im Prinzip aus den etwas unhandlichen klassischen Bausteinen bestehen soll. Aus dem Umgang mit ihnen lässt sich in jedem Fall etwas lernen. Wenn nicht über ihren Geist, so über unseren Zeitgeist.

Aus einzelnen Werken formt der „WDR 3 Klassik Klub“ ein neues und ganzes Hörerlebnis mit eigener Dramaturgie. So kommt ein Stück Club-Kultur ins Radio.

Viele Vorgaben macht WDR 3-Redakteur Michael Breugst den DJs nicht. Außer, dass die Mischung abwechslungsreich und spannend sein soll: nicht zu viel aus dem gleichen Jahrhundert, nicht nur leicht, sondern auch mit dem Mut zum Bruch innerhalb eines Mixes. Der Sonntag soll ein Tag auf WDR 3 sein, der sich auch für klassikaffine Einsteiger eignet. Und da muss die Mischung stimmen.

„Ich hatte einen Versuch gemacht, das ganz konventionell anzugehen, (…) nämlich Stücke zu suchen, die von der Tonart und der Stimmung gut zueinander passen und diese auch durchaus mit einer kleinen Pause hintereinander zu spielen. das erschien mir aber dann etwas ermüdend.“

„Ich habe wirklich Übergänge gemacht, teilweise auch Überlappungen, Überblendungen, wo sich das anbietet. Und ich habe dazu produziert, mit Effekten gearbeitet, ganz unterschiedlich von Stück zu Stück.“

…   [er kann nämlich] Sampler einsetzen und – wenn nötig – mit seinen analogen Synthesizern Übergänge basteln.

Eine aufwändige Denk- und Bastelarbeit, die sich gelohnt hat. Die Sendung wirkt wie aus einem Guss und nimmt den Hörer mit auf eine musikalische Reise. Dabei stammt die Musik aus allen Epochen. Brahms, Ravel, Strawinsky, Prokofjew, Chopin und Mozart tauchen in der Playlist auf, ein traditioneller marokkanischer Tanz mit Streichquartett und Minimal Music von Komponist Philip Glass.

Dennoch: Blume würde nie ein komplettes Stück einen Ganzton höher pitchen, damit die Tonart passt. Für vier Takte am Anfang erlaubt er sich diesen Trick aber schon. Er schneidet auch niemals Takte am Anfang oder Ende eines Stückes weg. Aber er produziert aus Elementen der Musik ein bisschen was dazu, um Übergänge zu bauen, verwendet dabei sogar gelegentlich Vogelzwitschern. Aber gering dosiert, fast unauffällig.

„Es ist ein schmaler Grat, (…), die Stücke sollen sich in der Sendung zu einem neuen funktionierenden Ganzen zusammenfügen, man muss aber auch sehr respektvoll mit dem Material umgehen.“

Auch sein Kollege Jürgen Grözinger will „sehr sensibel herangehen, da ich vor einem Radiopublikum bin. Ich würde nicht wagen, die Stücke hinsichtlich Geschwindigkeit oder mit Effekten zu verändern.“

Auf jeden Fall sei die Sendung „eine sehr schöne Spielwiese“, so Blume.

Quelle print Das Magazin des WDR Februar 2016  Seite 37 ff  „Einmal KLASSIK am Stück, bitte“ (Christian Gottschalk)

P.S. Ich habe den marokkanischen Tanz rot hervorgehoben, weil er hier vielleicht als kühnes Element gilt. Ein Mini-Mahnmal dessen, was an dieser Stelle und in diesem Programm einmal möglich war.

***

Zurück in die Zukunft! Hiermit soll keine Priorität beansprucht werden. Sicher ist nur: Das Radio ist selten ganz neu erfunden worden, erst recht nicht in jüngster Zeit. Insofern hilft ein Blick in die Geschichte:

Reise des Ohrs 1 Ansage 1987 Ansage WDR 3 am 9. Mai 1987

„In der folgenden Sendung und an den nächsten beiden Sonnabenden zur selben Zeit geht es um Musikwelten und musikalische Welterfahrung, Sendungen, in denen kein Wort der Erklärung gesprochen wird. Gewiß, jedes akustische Zitat hat etwas zu bedeuten, d.h. der Autor hat sich etwas gedacht bei der Auswahl und Aneinanderreihung dieser Hörstücke aus dem Wald, dem Wasser, Dörfern des Balkan, aus Orient und Okzident: er versuchte nämlich Natur und Kunst voneinander zu unterscheiden und bemerkte, daß das Ohr daran nicht interessiert ist. Da´ß es gern und ständig mit diesen verschiedenen Schichten der Wirklichkeit umgeht; in der Natur wie in der Kunst. Wollen Sie Ihrem Ohr diese einstündige Reise zwischen Abend und Morgen erlauben? Idee und Zusammenstellung: Jan Reichow“.

Geplant waren folgende drei Sendungen, die allerdings so erfolgreich waren, dass eine ganze Sendereihe daraus wurde.

Reise des Ohrs Werbung

Der Plan der ersten Sendung, wie ihn der „DJ“ damals, lange vor der Einführung der Digitalisierung ausgearbeitet hatte:

Reise des Ohrs Ablauf a  Reise des Ohrs Ablauf b

Für einen späteren Zeitpunkt habe ich mir vorgenommen, alle Sendungen dieser Reihe aufzulisten und zu dokumentieren. Vielleicht werde ich damit endlich berühmt. Und habe nur zuviel geredet. Ich habe sogar noch eine schöne wortlose Sendung in Erinnerung, in der Iranische Tar- und Santur-Fantasien sich mit Bachschen Cembalo-Toccaten nahtlos zusammenfügten. In der Tat, es ging um wechselseitige Beleuchtungen, und zumindest ich war hin- und hergerissen von den erhellenden Wirkungen der bloßen Musik.

P.S.

Was ich jetzt noch nicht erzählt habe? Weshalb ich eines Tages völlig damit aufgehört habe. Es war die Furcht vor der Beliebigkeit. Die Sorge, Meisterwerke oder Meisterleistungen zu „verheizen“, ohne dem falschen Einverständnis wenigstens verbale Stolpersteine in den Weg gelegt zu haben…

Gute Musik braucht guten Kontext.

(Deshalb konnte ich mich auch nie mit der Sendung „WDR 3.pm“ anfreunden. Stichworte: Beliebigkeit + zu wenig Respekt gegenüber hochrangigen Bestandteilen + unangemessen ironischer Blick von weit oben )

***

Ein gutes Beispiel verbaler und physischer Klassik-Vereinnahmung kommt gerade aus dem – was auch immer das ist – „clubzwei“ in München:

Die Goldberg-Variationen wurden geschrieben, um in eine tiefere Entspannung zu gelangen. Sie tragen eine wirkmächtige, hypnotische Kraft in sich. Jacques Palminger wird diese Energie freisetzen. In einer konzertanten Séance macht er die heilenden Frequenzen, die magisch reale Schönheit und die alles durchdringende Wahrhaftigkeit der Goldberg-Variationen zu einer bewusstseinserweiternden Erfahrung. In einem luftigen, sich immer weiter verdichtenden Netz aus Einflüsterungen, Wachträumen und assoziativen Gedichten aktiviert er das suggestive Potential dieser Jahrhundert-Komposition. Nach dem Vorbild der jamaikanischen Dub-Musik werden die Variationen in Echtzeit verlangsamt und mit psychoakustischen Effekten belegt, um so ihre Wirkung voll zu entfalten. Unterstützt wird Palminger durch den Jazz-Musiker, Bach-Intimus und Multi-Instrumentalisten Lieven Brunckhorst.

„Erwarten Sie nichts weniger als eine mental-positivistische Gruppenhypnose mit surrealistischem Mehrwert und maximalem Glücksversprechen. Diese musikalische Lesung hat den Anspruch, der zauberhafteste Abend des Jahres zu werden. Die Fallhöhe ist enorm, die Chancen stehen gut. Lernen Sie, Ihre innere Katze zu streicheln und Ihre Leber zur Sonne zu drehen! Kommen Sie mit auf den Goldberg!“ (Jacques Palminger)

Kann es überhaupt bessere Worte geben, um das Elend der Musik heute zu beschreiben?

Neues von Berthold Seliger

Wer wissen will, wie in etwa (oder auch im Detail) das Musikgeschäft läuft, besitzt längst sein aufschlussreiches Buch über „Das Geschäft mit der Musik. Ein Insiderbericht“ (Berlin 2013 Edition Tiamat). Und wer darüberhinaus auf dem laufenden bleiben will, der liest regelmäßig seinen Presserundbrief, dessen Version 1/16 soeben eintraf, – Berthold Seliger.

Ich zitiere Auszüge und empfehle eiligen Lesern (gibt es die hier?) das Video zum Echo 2015 (am Ende dieses Beitrags).

Auf der Womex in Budapest gab es eine Session mit dem schönen Titel „Why Curation Will Save the Music Industry – The Power of Guidance in the Era of Algorithms“.
Und wer waren die Referenten? WDR-Funkhaus Europa-Chef Francis Gay und die Chefin des Lollapalooza-Festivals Berlin. Also ausgerechnet jenes Festivals, das so ziemlich das mainstreamigste und langweilste Konzertprogramm aller deutschen Festivals im abgelaufenen Jahr aufzuweisen hatte. Ganz so, wie man sich ein zum weltgrößten Konzert-Konzern Live Nation gehörendes Festival eben vorstellt, in dem die großen Namen zusammengebucht (oh, Verzeihung: zusammenkuratiert) werden, von denen man sich die größtmöglichen Profite verspricht, zu dessen Programm aber garantiert keine unbekannten Weltmusik-Acts gehören.
Wie man es schafft, ausgerechnet auf so ein Podium ausgerechnet bei der Womex ausgerechnet eine Vertreterin des weltgrößten Livemusik-Konzerns, der allüberall die kulturelle Vielfalt erschwert, Werbung für ihr Festival machen zu lassen, während unter den akkreditierten Womex-Teilnehmer*innen doch nun wahrlich genug Vertreter*innen unabhängiger Festivals aus ganz Europa zu finden gewesen wären, bleibt ein Rätsel. Und ein beträchtliches Ärgernis.

* * *

Lollapalooza Berlin 2016 hat zwar noch keinen Spielort, aber kommerziell ist bereits alles am Start: „Kommen Sie mit. Zum Melt!, zum splash!, zum Lollapalooza oder dem ‚Pure&Crafted’. Wir bieten umfassende Sponsoringberatung ‚aus einer Hand’ – und haben eine passende Medialisierung sowie Streaming-Pakete ebenfalls im Angebot“, flötet die „Festivalvermarktungsabteilung“ des HUG-Konzerns in einer Mail Ende November 2015, „Copyright © 2015 Intro GmbH&Co.KG“.
In dieser Mail steht in bemerkenswerter Offenheit, warum man Festivals wie Melt oder Lollapalooza (mit-)veranstaltet:
„Die zunehmende Fragmentierung jugendlicher Zielgruppen macht ein Engagement in jungen Umfelder immer schwieriger. Im Vergleich dazu wächst der Festivalmarkt seit Jahren und gehört zu den attraktivsten Möglichkeiten, eine Marke in jugendlichen Umfeldern zu platzieren. Musik bedeutet Emotion und Leidenschaft: Unternehmen, die sich in diesem Umfeld engagieren, werden in Umfragen überwiegend als positiv bewertet – wenn das Engagement glaubwürdig und authentisch ist. Wir bieten in unserem Netzwerk dazu optimale Marketing-Plattform quer durch alle musikalische Genres, „Millenials“ ohne Streuverluste direkt und nachhaltig anzusprechen und Markenbotschaften zu platzieren.“
Die einen kuratieren also das Ding, in dem die anderen ihre Markenbotschaften platzieren. Eine Marketing-Plattform ohne Streuverluste.
Wenn Sie dachten, da gehe es um Musik – awcmon, das haben Sie nicht wirklich gedacht, oder? So naiv sind Sie schließlich nicht? Wollen Sie M.U.S.I.K. erleben? Dann fahren Sie besser zum Fusion, nach Haldern, Roskilde, Rudolstadt oder zum Beispiel nach Barcelona zum Primavera Festival. Oder besuchen Sie den Musikclub Ihres Vertrauens.

* * *

Doch nicht nur die HUG-Unternehmensgruppe weiß, worum es wirklich geht (nämlich nicht um Kultur, sondern zuvörderst um Sponsoring und Profite). In Münster hat sich Anfang 2015 eine „Translate Entertainment GmbH“ gegründet, die „Programmplanung, Beratung, Künstlerbuchung und Organisation zum Beispiel für Corporate Events, Incentives, Galas und Stadtfeste“ sowie „inhaltliche und unternehmerische Konzeptionen für Veranstaltungen abseits vom traditionellen Konzertgeschäft“ anbietet.
Leute, die solche Firmen gründen, sprechen amtliches Musikindustriesprech, und das hört sich dann so an: „Vor Kurzem realisierte Translate für den Klambt Verlag einen IncentiveEvent mit Nena, konzipierte für einen Kunden aus dem TV ein LiveProdukt im Kids Entertainment und buchte bereits große Acts auf Veranstaltungen von Mercedes Benz, Telekom, HapagLloyd sowie weiteren Unternehmen.“ (laut „Musikmarkt“)
Gesellschafter der Firma sind Till Schoneberg mit seinem Konzertbüro Schoneberg und Florian Brauch und Florian Böhlendorf von Sparta Booking sowie Markus Hartmann von Green Entertainment. Worum es geht, fasst Translate Entertainment-Geschäftsführer Kevin Bergmeier im „Musikmarkt“ so zusammen: „…auf individuelle Anforderungen wie beispielsweise die musikaffine Inszenierung einer Marke, Entwicklung von EventKonzepten und den Einsatz eines VIP, eines Künstlers, dessen Musik oder Stimme in einer Werbekampagne können wir zielgerichtet eingehen.“

* * *

Echo? Das ist diese von der Lobbyorganisation der deutschen Musikindustrie veranstaltete Dauerwerbesendung, die das Staatsfernsehen stundenlang im Abendprogramm auszustrahlen pflegt. Alles, was Sie über den Echo @ ARD wissen müssen, habe ich anhand des Echos 2015 in weniger als zwei Minuten auf einem YouTube-Video zusammengefasst:

Autor des oben zitierten Textes und des Videos: Berthold Seliger / siehe auch hier.

Musikkulturen landesweit?

Ja, dieses Angebot scheint doch noch zu bestehen:

WDR Weltmusik Screenshot 2016-01-24 08.24.14

Ein Nostalgie-Link? Es war einmal… Irre ich mich, oder findet man wirklich im gesamten Radioprogramm Januar 2016 keine einzige Sendung mehr, die zur Rubrik „Weltmusik“ oder „Musikkulturen“ gezählt werden könnte. War das der Sender, auf den wir gebaut haben? Der nicht mehr existiert?

Ist das schon eine gravierende Nebenwirkung der Flüchtlingsströme? Augen zu, Ohren zu und vorbeirauschen lassen? Wegschauen, wegschieben als rein organisatorische Frage. Integration hat doch mit uns nichts zu tun, mit unserer Kultur (für kurze Zeit auch bekannt unter dem Namen „Willkommenskultur“); es ist doch die Aufgabe der Anderen. Wenn sie schon mit leeren Händen kommen. Was soll es denn da auch gegeben haben… Märchen aus Tausendundeiner Nacht…

P.S.

Ich habe doch noch etwas entdeckt, – sorgfältig verborgen in der täglichen Nachtsendung „Jazz & World“, was bedeutet: Jazz im Überfluss und offenbar einmal pro Woche ein Quentchen „Weltmusik“, am Mittwoch. Vielleicht nur der Auftakt zu den großen Konzerten der Musikkulturen und den Festivals, von denen wir noch nichts erfahren?

Nachtrag 18. Februar 2016

Neuerdings wird behauptet: Der WDR schafft die Welt ab. Man möchte es nicht glauben, aber schauen Sie doch selbst – HIER

Wiener Klassik vormerken?

Sonntagabend kann man die Fortsetzung der ARTE-Serie „Epochen der Musikgeschichte“ im Fernsehen einschalten oder im Netz abrufen: HIER.

Der Pressetext zur Sendung „Wiener Klassik“ lautet:

Die Zeit der Wiener Klassik ist die Zeit der Revolution, der Befreiung, der Aufklärung. Europa ordnet sich in blutigen Kriegen neu und die Musik Haydns, Mozarts und Beethovens entwickelt sich zu zeitloser symmetrischer Eleganz, beseelt vom Drang nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Haydn entwickelt die Sinfonie als zentrale Gattung der Musik, in Wien wird das Wunderkind Mozart zum Liebling der Musikszene und Ludwig van Beethoven fasst den Freiheitsdrang der Epoche in bisher unerhörte Töne. Mit seiner gewaltigen 9. Sinfonie beschließt er eine Ära der hochfliegenden Hoffnungen, die bald von der Restauration verschluckt sind.
Die venezolanische Pianistin Gabriela Montero führt durch die Epoche der Klassik, und zeigt an kurzen Beispielen, wie die Komponisten gearbeitet haben, warum sie ihre Musik genauso geschrieben haben und wie der Charakter des Komponisten sich in seiner Musik widerspiegelt.

Der Text stimmt mich skeptisch: Gabriela Montero zeigt uns, wie die Komponisten gearbeitet haben? Sie hat den kreativen Prozess Mozarts und Beethovens in der Tasche? Man kann einen Vorgeschmack dazu abrufen, s. folgenden Scan, oberste Reihe Mitte: „Gabriela Montero Studiosession / Wiener Klassik“, erreichbar über den Klick HIER  (runterscrollen).

ARTE Klassik Screenshot 2016-01-17 00.15.02

Mein Fall ist das nicht, – ich fürchte, Improvisationen dieser Art führen uns geradeswegs an Haydn, Mozart und Beethoven v o r b e i . Die Prima-Vista-Elaborate machen uns unfähig, die Essenz wirklich großer Werke aufzuschließen. Alles klingt fortan nach Monteros Kinderspiel. Aber man kann es auch direkt an sich selbst erproben, – etwa mit Beethovens Violinkonzert (2. Reihe, Mitte) oder Haydns Sinfonie mit dem Paukenschlag unter Andris Nelsons (2. Reihe, rechts).

Es sind auch absolut abturnende Beispiele unter diesen Clipsen. Die – Beethoven unangemessene – Albernheit mit den Fingerspielen, auch die „Wiener Klassik als Graphic Novel“: mit Haydn hat das nichts zu tun, und auch Berühmtheiten reden Unsinn (womit ich nicht Leif Ove Andsness meine). Aber warum wird – im Blick auf ein „neues“ Publikum, nicht mal erklärt, warum Sängerinnen oder Sänger (selbst die in der Alten Musik erfahrenen) immer noch unerträglich druckvoll vibrieren, jedenfalls wenn sie Oper singen. Manch ein „Laienhörer“ würde Entlastung finden… Nie in meinem Klassik-Erleben seit den 50er Jahren habe ich diesen Gesang gut gefunden (bis Fischer-Dieskau und vor allem Fritz Wunderlich kamen), – was für eine Erlösung war es damals, anstelle der italienischen Vibratomaschinen endlich Maria Stader mit Puccini zu erleben. Oder (viel später) Frederica von Stade als Cherubino. Es ist vielleicht die Nähe zur „unschuldigen“ Knabenstimme? Aber hören Sie doch heute nur Julia Lezhneva mit einer der schönsten Melodien, die überhaupt je erfunden wurden. (Hier). So klingt es, wenn jemand fast gar nichts macht…

Nachwort post factum: Abbitte, – die Sendung ist viel besser als die vorher zugänglichen Clipse. (Am meisten irreführend: die Comic-Szene mit Haydn als einem seltsamen Kauz an der Abakus-Rechenmaschine.) – Eindrucksvoll immerhin: Gabriela Montero. Aber ihre Formeln für Haydn, Mozart und insbesondere Beethoven sind viel zu einfach. Und immer nur die „Schlachtrösser“ vorführend. – Das Bemühen, keine kondensierten Statements aus dem Off zu präsentieren, sondern möglichst alle Inhalte durch live extemporierte O-Töne zu liefern, hat auch viel Leerlauf und Aneinanderreihung von Halbwahrheiten zur Folge. Andererseits tolle Bilder, Lebendigkeit vor allem durch Opernausschnitte und Szenen aus Spielfilmen, guten oder schlechten, schwer zu sagen. Positiv: dass ein Eindruck enormer Vielfalt zurückbleibt, andererseits: was für eine Sendefläche – 90 Minuten!!!

Darin so Überflüssiges wie das Geschwätz über das Produkt Mozart (in Milliarden ausgedrückt und mit Bill Gates u.a. verglichen). Was bleibt, wenn man den Einzelpunkten auf den Grund geht? Wozu regt sich da jemand über Äußerlichkeiten auf, als sei er „innerlicher“ als der Rummel, den er selbst mit repräsentiert, und erweckt z.B. den Eindruck, als sei das Produkt-Etikett „Amadeus“ völlig aus der Luft gegriffen und eine bloße Kitschkonvention? Das Ruder nach 200 Jahren herumwerfen und „Amadé“ sagen oder „Theophil“? Mag sein, dass der Name Amadeus, den Mozart selbst – wenn auch selten – verwendete, favorisiert wurde, weil man den Klang des Namens Mozart so seriös wie nur möglich inszenieren wollte. Vor allem in der bald – 1798 bis 1806 – explosionsartig verbreiteten Ausgabe: Oeuvres Complèttes de Wolfgang Amadeus Mozart bei Breitkopf & Härtel. Musste man das nicht allgemein für authentisch halten? In allen Heiratsdokumenten Mozarts steht übrigens statt Amadeus der Name Adam, und man weiß wieder nicht, ob es vielleicht ein Scherz war.

Und wenn heute irgendwo die Figur des Don Giovanni als Harlekin inszeniert wird, sollte doch festgehalten sein, dass diese Idee (wenn auch auf Mozart persönlich bezogen) von dem Musikwissenschaftler Martin Geck (2005) stammt.

Die Fernsehsendung ist per Internet abrufbar bis 27. April 2016 um 22h59