Archiv der Kategorie: Interpretation

Unbehagen & Tagesgeschehen

Zuckerkandl

Die Ausgangslage

Wohltemperiertes Klavier I BWV 863 Quelle Victor Zuckerkandl: Vom musikalischen Denken / Begegnung von Ton und Wort / Rhein-Verlag Zürich 1964 / Zuletzt studiert 2006/2007

Die Lage des Tages 25. Juni 2021

Im Tageblatt über Beuys (sein Lob auf Lehmbruck) gelesen: größtes Unbehagen. Wieder einmal scheint mir alles verdächtig, was nach wohlfeiler Esoterik riecht. Zufall: auch Zuckerkandl lag wieder auf dem Tisch, den ich als unverdächtig und inspirierend in Erinnerung habe. Das Bach-Praeludium BWV 863 habe ich am Klavier (d.h. nicht nur auf dem Papier) wiederholt und kann es „besser denn je“.  Über dem vor Jahren (nach Bergner) in der Studienpartitur analysierten Stück steht mein Hinweis von damals, der nun diesen (voraussichtlich – unfreiwillig –  kritischen) Artikel auf den Weg bringt. Doch zunächst das aktuelle Motiv:

Quelle Solinger Tageblatt 25. Juni 21 Seite 7 „Der Mann, der Beuys zum Künstler machte“ von Christoph Driessen

„Steiner war das große Idol von Beuys“ (was einen nur skeptisch stimmen kann), er führte „die Katastrophe des Ersten Weltkrieges darauf zurück, dass man der Kultur zu wenig Raum gegeben habe.“ (Schwachsinn: die größten Künstler waren mit Begeisterung gerade in diesen Krieg gezogen). Die Rede vom „Innenton, den jede Skulptur in sich trägt“, ist metaphorisches Gesäusel. Und die dauffolgenden Worte von der Synästhesie sind keine Erklärung, sondern ebenfalls Gesäusel, „vor allem ganz intuitiv und emotional“. Die Begabung der Synästhesie ist ebensowenig eine künstlerische Auszeichnung wie etwa das absolute Gehör, erst recht kein Kriterium für Urteilskraft.

Motivation gis-moll Mitte Juni

Mein ältestes Buch zum WTK wirkt zuweilen immer noch „verstärkend“ (Hermann Keller Bärenreiter 1963 Seite 94):

Das Präludium ist, ebenso wie das nächstfolgende, eine dreistimmige Invention, die erste im W.Kl. Was das Wesen einer Invention ausmacht, nämlich die Durchführung eines Themas (einer „inventio“) ohne Dazutritt weiterer Motive oder Themen , das ist hier in beispielhafter Weise erfüllt. Das Thema ist ein charakteristisches aus Sechzehnteln und Achteln gebildetes Taktmotiv. Es wird im Sopran aufgestellt, vom Baß nachgeahmt, dann mit seiner ersten Hälfte im Sopran sequenzmäßig weitergeführt und leicht umgebildet (T. 3/4). Dann wiederholt sich das Spiel zwischen Alt und Baß (T. 3/4), so daß damit alle drei Kombinationen ausgeschöpft sind. In Takt 10 tritt das Thema in der Umkehrung auf, in T. 14 schließt der erste Teil.

Das ist interessant, in meiner Partitur habe ich das übersehen (s.o.), ich war (mit Christoph Bergner) anderer Meinung, weil der Triller als Abschluss doch ziemlich viel Gewicht hat. Ich vermute allerdings, dass ich damals z.B. die Umkehrung in Takt 10 noch nicht erkannt habe, zumal sie Bach durch Überbindung des AIS bewusst versteckt hat. Dafür habe ich etwas anderes entdeckt, das mich an meinen älteren Bruder erinnert hat: ein Motiv, das sich nicht als bloße Abwandlung erklärt, sondern als „Wink“, der … ja was? es ist ein abfallender Dreiklang oder nur ein Quintfall, der durch einen vorhergehenden Zeitlupentriller auffälliger wird: Übergang Takt 6/7 und Übergang 7/8. Es ist lediglich eine Mikroassoziation, der ich aber aus familiärer Sentimentalität Raum gebe: Mein Bruder „musste“ damals nach den zweistimmigen Inventionen mit den Bachschen Sinfonien anfangen und schimpfte beim Üben über die vertrackte Dreistimmigkeit, bis er sich in diese eine Stelle verliebte und mich drauf aufmerksam machte, indem er sie gefühlvoll mitsang, – er war stolz auf seine Entdeckung! Für mich schlägt die Stelle bis heute eine anachronistische Brücke zu Mozarts wunderbarem Cantabile-Thema des zweiten Satzes der „Sonata facile“, die wir natürlich längst gespielt hatten, – obwohl sie keinem von uns „facile“ vorkam, wohlwissend, dass sie genau so klingen sollte: und nicht nur „facile“, sondern auch „semplice“.

das grüne Motiv

Was das Praeludium angeht, fährt Keller a.a.O. fort: „Der Spieler erinnere sich, daß für Bach der Hauptzweck der Inventionen war, eine cantable Art im Spielen zu erlangen. So erfordert dieses anmutig alle starken Akzente vermeidende Stück doch einen kantablen, alle Stimmen beseelenden Vortrag, dessen Voraussetzung wiederum eine ruhig gehendes Zeitmaß mit Achteln als Zählzeit ist.“

Hinsichtlich der Form, dem dynamischen Aufbau des Ganzen, wäre für mich allerdings wesentlich, dass neben dem kantablen Fluss auch in diesem Stück – wie schon in der vorhergehenden Fuge angemerkt – ein Höhepunkt vor der Coda herausragt (ohne dass man ihn besonders hervorhebt): Takt 24. Gern sehe ich darin eine Vorahnung der resoluten Tonrepetition im Ausgang des nachfolgenden Fugenthemas, – eigentlich ein Problem für die unauffällige Verzahnung der Stimmen. Oder gerade ein willkommenes Strukturmerkmal? – Der Alltag schafft eigene Kontrapunkte, und so begleiteten mich diese Überlegungen und Motivrelikte zum Zahnarzttermin, der wiederum eine kleine Reise nach Remscheid heraufbeschwor.

Homunkulus und Dentaltechnik (Erinnerung an vorgestern)

SG: Remscheid: Von hier aus kann man den Kölner Dom sehen, wenn das Wetter es zulässt.

Analyse

Eine Million Zahnformen – Leibniz exemplifizierte seine Monaden an Blattformen.

… geniale Apparaturen, mit und ohne Menschen funktionierend, sympathische junge Leute aus Aleppo, Bagdad, aus dem Iran, der Türkei, Argentinien, das Digitale verbindet sie alle. Für mich spielte an Remscheids Eingang wie vor 40 Jahren (Jugend musiziert) das elektronisch ausgelöste Blitzlicht eine Rolle, S-Kurve, Tempo 30, jäher Schreck, Protokoll folgt. Ich bin aus der Zeit gefallen, ein Restbestand. Alles nur für einen streng analogen Zahnfarbenabgleich, als sei ich der Mann der Zukunft. Ich werde sorgenfrei lächeln können. Ausfahrt in Richtung SG mit präzisen 30 km/h, – leichter Druck im linken Unterkiefer, fast ohne Schmerz, grundlos glücklich.

Rückfahrt nach SG, wachsendes Unbehagen, Gedanken über Automatisierung kreisen unabweisbar weiter, künstliche Intelligenz, soviel Feintechnik für die Funktion unserer Kauwerkzeuge, Ästhetik der Formen und Farben ins Unendliche aufgefächert, reduziert auf Homunkulus in Faust II, über die unzureichenden Mittel des bloßen Geistes, über den Film „Ich bin dein Mensch“. Ein Roboter. Darin „steckt eine jahrtausendealte Diskussion um Menschlichkeit und Künstlichkeit, um Natur und Kunst, um den menschenbildenden Prometheus und die technischen Raffinessen des Mängelwesens Mensch. (…) Und so wie für Alma ein Roboter zum Menschen wird, so wird uns der Film mit all seinen doch nur vorgespielten Gefühlen und Gedanken zur täuschend echten Gegenwart. Diese traurige, ernste Komödie ist ein Fest der Kunst und der Künstlichkeit, und manchmal fällt ja beides in eins.“ (Adam Soboczynski in DIE ZEIT „Tänzchen mit Frankenstein“ 24.6.21 Seite 55)

Zur Musik

Ich mag den Anfang des Bach-Praeludiums nicht so groß sehen, wie es Zuckerkandl nahelegt, ausgehend von einem melodischen „Urphänomen“, den ersten drei Tönen der Oberstimme. Ein Einfall? … auf den die Arbeit folgt. Und dann die Relativierung (S.115 vorletzte Zeile):

Eine solche Überleitung, Verlegung des Schwerpunktes der Tonbewegung von einem Klang zum anderen, ist eine simple Aufgabe, die nach den Regeln der Kunst durchzuführen ein Kompositionsschüler im zweiten Studienjahr fähig sein muß.

Das galt für mich, seit ich das Stück kennenlernte, ich wollte es nie üben, – zu simpel, der Wechsel zum verminderten Septakkord und das schwächliche Zurückgleiten in der zweiten Takthälfte. Kein Wunder, dass der kleine Reuter bei „Jugend musiziert“ gedächtnismäßig versagte und sich die Noten holen musste: es sind keine Artikulationen, die sich ins Hirn eingraben. Es ist ein Schema; jeder kann es benutzen, ein leichtes Unbehagen auch hier:

Es ist die gleiche Polarität (A), die das Thema der „Kunst der Fuge“ prägt, oder das komplexere „Thema regium“. Erst in Bachs jeweiliger Metamorphose lädt es sich auf. Es steht nicht, wie ein anderes Praeludium, etwa das in cis, mit der ersten Geste groß vor uns, aber jenes, mit verdoppelten Proportionen (2+2 statt 1+1), fährt ganz ähnlich fort mit einem Sequenzgang, nur gesteigert, groß und pathetisch ausholend ab Takt 5, unvergesslich:

cis-moll BWV 849

Wie erwähnt, folge ich bei der oben in die Noten eingezeichneten Gliederung – wie so oft – den hervorragenden „Studien zur Form der Präludien“ etc. von Christoph Bergner (Hänssler 1986). Alfred Dürr (Bärenreiter 1998 Seite 196f) hat eine ganz andere Skizze zum Formverlauf gegeben, die ich vielleicht ein andermal diskutieren möchte, was aber letztlich nicht weiterführt. Es geht nicht nur um die Frage, ob Takt 13 das Ende eines Formteils darstellt (Indiz: der eindeutig abschließende Triller) oder den Anfang eines neuen (Indiz: Themeneinsatz im Bass, dem der Sopraneinsatz Takt 14 nur folgt). Davor und danach spielt die Umkehrung des Motivs eine Rolle…

Man soll die Idee der Symmetrie, die mit Hilfe des verminderten Sextakkords und der Technik der Umkehrung entsteht, nicht strapazieren. Als Warnung und Anreiz zugleich gebe ich die folgenden Seiten wieder:

1

2

Quelle 1Hanns Heinrich Eggebrecht: Bachs Kunst der Fuge / Serie Piper 1984 / 2 Walter Kolneder: Die Kunst der Fuge Mythen des 20. Jahrhunderts Bd.I Heinrichshofen 1972

(Fortsetzung folgt)

Bach-Übung im Frühling

Die Heiterkeit der Strukturen

Fuge ab 1:22. Man darf nicht vergessen, dass dies aus einer Gesamtaufführung herausgelöst ist, kleine Fehler (Takt 21) also wahrhaftig keiner Erwähnung bedürfen. Um so bewundernswerter vom Interpreten, die Ruhe zu bewahren. Alles schön, aber meine Überschriften passen nicht recht dazu. Frühling, heitere Stimmung? Alles so ernst und sanft… nur angenehm, dass das Fugenthema nie hervorsticht; selbst wenn dann der Affekt kumuliert, wie in den Vorhalten Takt 31 (ab 3:14), scheint der Pianist sich mehr für die wohltönenden Bassgänge zu interessieren. Wie gesagt: alldas gehört zu einem langen Vortrag des „Wohltemperierten Klaviers“, und da hat die Tonart As-dur einen eigenen Stellenwert.

Man wird am Anfang unwillkürlich lächeln (Zeitwickelmaschine), das Tempo ist entsprechend. Aber zumindest in der Fuge (ab 1:39) ist es nett, die mit Rauten gefüllten Tupfer des Themas zu beachten, ohne den „stimmigen“ Verlauf  des Ganzen aus den Augen zu verlieren. Sopran rot, Alt gelb, Tenor grün, Bass blau. Es lebe die digitale Didaktik!

Oben: Einer der größten Pianisten des vergangenen Jahrhunderts spielt ein furioses Praeludium und eine Fuge (ab 1:11) auf Sammetpfoten, durchweg in Pedal getaucht, das Thema ab 1:53 (Durchführung II) demonstrativ serviert, ansonsten so grau wie die Noten aussehen, verwischt, ab 3:12 (Durchführung V) tendenziell monumental, doch gleich danach wieder säuselnd, ab Takt 33 ritardando, nach dem Trugschluss – Bass F, dazu Sopran Vorhalt B, der zum As aufgelöst wird, – geradezu herausgeknallt, weil dieser Ton zugleich den Beginn des letzten Themenzitats bedeutet: es wird mit einem Riesenritardando gefeiert. Altmodisch.

Autograph Takt 31-34

Sehr korrekt, aber dieser eine Fehler (rote Klammer) sei doch vermerkt: Takt 32, der dritte Ton im Sopran, DES, muss mit dem Haltebogen zum nächsten DES verbunden sein, sonst erkennt man das im Alt darunterliegende Terz-Motiv B-G nicht (das auf die vorhergehenden Terzen reagiert, genau wie auch noch die im Sopran folgende Terz ES-C); die Eins des Taktes 33, der Quartsextakkord, ist das Ziel (samt Trugschluss). Eine Kleinigkeit, aber – erwähnenswert.

Liebenswert, weil ausgerechnet das angeblich strenge Cembalo soviel Privates einbezieht. Die Fuge schneller zu spielen, ist wahrscheinlich schwieriger als auf dem Flügel, – auch wenn man dort das Pedal sparsamer einsetzen würde als vorher Richter. Keiner kommt merkwürdigerweise auf die Idee, das Fugenthema weniger lyrisch anzugehen. Glenn Gould, denke ich, würde vor einem Staccato nicht zurückzucken. Oder doch? Siehe hier ab 17:20, Fuge 18:42 – 20:12. Er bindet im Thema die Töne 1 bis 4, ja auch den 5., den er allerdings dann wie den 6. im staccato erfasst. Und im Verlauf des Stückes hält er es mal so, mal so. Im Präludium bindet er zwei Achtel und hängt zwei Staccato-Achtel dran, macht es aber sonst schon mal umgekehrt, das Tempo ist moderat, der Vortrag eher „buchhalterisch“. Takt 32 rechte Hand auf den letzten drei Achtelanschlägen falsche bzw. fehlende Töne, womöglich Absicht. Tempo: „Schnadahüpfel“.

Zum Mitlesen

Form nach Dürr Form nach Czaczkes

aber jetzt loslegen!

Übenoten sehen natürlich anders aus. Meist ist vermerkt, wann ich sie geübt habe (und zwar richtig! nicht nur durchgefingert). Für einen Geiger relativ oft, andere Doppelstücke wohl viel regelmäßiger, zudem schon seit 1960 oder einige Jahre früher (etwa das in d-moll, dessen Fuge leichter ist). Zwar nicht unbedingt konzertreif, aber es ist typisch, dass man allzuleicht zu wissen glaubt (im Studium galt das vor allem für Schulmusiker!), wie sie gespielt werden müssten, nämlich vor allem korrekt. Heute sehe ich es anders. Ich weiß nur, wie ich sie nicht hören will. Hier hatte ich mir noch Malcolm Boyd’s Vorschlag notiert, die Fuge als Gavotte zu interpretieren. Was ganz hübsch klingt und ein gezügeltes Tanztempo zulässt, andererseits auch bei jedem Themenzitat zur gleichen Charakteristik zwingen würde.  Siehe Orchester-Suite BWV 1066:

siehe auch im Blog hier

Meine Notiz in den Übenoten, betreffend Malcolm Boyd, bezog sich übrigens auf sein Bach-Buch (Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart), das ich mir 1985 zugelegt hatte:

Zunächst: was bedeutet es eigentlich für die Interpretation, wenn man die formalen Hinweise in Gestalt von Buchstaben oder römischen Zahlen eingezeichnet hat? Das muss nicht hörbar gemacht werden, man spürt allerdings, wieviel Bewusstsein drinsteckt. Noch etwas, was man nur wissen sollte: wieviel Mühe es Bach gekostet hat, ehe das Praeludium in dieser Form ans Licht trat (es gab eine Frühfassung), Alfred Dürr hat das detailliert beschrieben: erst so wurde es zu einer Form des Konzertsatzes, ein Versuch, dieses Konzertprinzip auf den Klaviersatz zu übertragen:

Das As-Dur-Praeludium läßt den Wechseln zwischen quasi Tutti- und quasi Solo-Partien deutlich erkennen, und auch ihre Funktion entspricht der des Instrumentalkonzerts.

Tutti: nichtmodulierend, relativ vollstimmig, ruhig und kompakt: Takte 1-8, 18-21, 35-38, 43-44;

Soli: modulierend, zweistimmig, bewegt: Takte 9-17, 22-34, 39-42.

Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel etc. 1998 (Zitat S.188)

Darf man die Fugeneinschnitte, bei kadenzierenden Abschlüssen, jeweils durch den Hauch eines Ritardandos kennzeichnen, wie der letzte Interpret? Oder dies gerade vermeiden, damit die unbeirrbare Bewegung von Anfang bis Ende präsent bleibt? Als Vorteil des Cembalos könnte gesehen werden, dass es das Thema nicht durch Betonung hervorhebt, was bei Pianisten zum guten Ton zu gehören scheint. Andererseits kann uns die häuslich-private Atmosphäre dieser Aufnahme nicht darüber hinwegtrösten, dass das Instrument nicht gut gestimmt ist. Unsicherheit im Takt 21 und (eingeübte) falsche Töne im Takt 29: GES statt G im Tenor, so dass sich ein übler Querstand ergibt mit dem letzten Achtel G im Alt. Zuwenig geübt? und deshalb auch dieses Sicherheitstempo? Selbst für eine Gavotte zu legato und vor allem zu lahm, – etwas bedauerlich.

Der Schwung des Praeludiums versteht sich von selbst und hat durch das Nachschlagen am Anfang, überhaupt durch den Wechsel zwischen oben und unten, links und rechts ohnehin etwas von einem ekstatischen Tanz. (Da vergisst man die Frage nach der Begründung.) Aber dann: worin besteht das Vergnügen, das eine solche Fuge bereitet, deren Dreiklangs-Thema eine gewisse Verwandtschaft mit dem des Praeludiums aufweist, aber zwingend ein gemäßigteres Tempo verlangt? Was geschieht da, und was „macht das mit mir“? Ich habe mich neulich über das modische Gerede von den Emotionen mokiert (siehe hier); ich wittere darin ein Prunken mit dem Reichtum des eigenen Innenlebens, während es in Wahrheit (?) um die Beschaffenheit des Werkes geht, die (nebenbei) meine Begeisterung erzeugt. Ich freue mich, wie es funktioniert, das ist alles. Ich freue mich, wie der aus dem Dreiklang entwickelte, an sich durchaus nichtige Einfall zur Quelle einer wunderbaren musikalischen Geschichte wird, sich verzweigt und fortbewegt, wie ein Lebewesen, sagen wir – um es nicht idealisch hoch anzusiedeln – wie ein Bergmolch in seinem Biotop. Aber es ist von Menschen „gemacht“, daher auch das Wort funktioniert. Seriöser ist es natürlich, mit Hermann Keller (Quelle hier S.93) zu sagen: „Die Fuge wendet die im Präludium wirkenden Kräfte nach innen; sie ist von einer unbeschreiblichen Hoheit und Wärme, scheint aber weniger für Klavier als für Orgel geschrieben zu sein, ja, man könnte sie sich als Chorfuge in einer Messe (etwas zum Sanctus) vorstellen.“ Vielleicht. Oder auch nicht. Fraglich auch, ob man den Schluss so empfinden will, als ob der Sopran die Fuge „in Demut“ abschließt.

Man könnte auch einwenden, dass ich ganz simpel einer Hanslickschen Ästhetik anhänge und die Musik lediglich als „tönend bewegte Form“ wahrnehmen möchte. Wie falsch. Ich möchte mich nur nicht mit Emotionen hervortun, wenn mir die tönend bewegte Form ein solches Vergnügen bereitete, ja, mich mit Freude erfüllt, in die sich Wehmut mischt, weil das schöne Leben meist anders verläuft, also vielleicht ohne das happy end eines abschließenden – „überzähligen“ – Themenzitates, mit dem ich glücklich zur Ruhe komme. Begeisterung, Vergnügen, Freude, Wehmut, Glück – mein Gott, warum soll es besser sein, wenn ich ständig mein Innenleben und meine einzigartigen, ja: unglaublichen Emotionen hineinmische?

Die äußere Form wäre greifbarer, aber schon hier ist es schwer, Übereinstimmung zu erzielen, etwa aus wieviel Teilen die Fuge besteht, aus wieviel Durchführungen mit wieviel Themeneinsätzen usw., schon da gibt es Meinungsverschiedenheiten (Riemann, Busoni, Keller, Dürr u.a.), aber am Ende hat immer nur Czazckes recht…

Quelle Ludwig Czaczkes: Analyse des Wohltemperierten Klaviers / Form und Aufbau der Fuge bei Bach Band I / Österreichischer Bundesverlag Wien 1982

Was mich ergreift: wie dieses scheinbar einfache Thema über sich hinauswächst, schon am Anfang, wenn die Antwort, der Comes, gerade beginnt und noch nicht ausformuliert ist, führt es in Sechzehnteln weiter bis in die Mitte von Takt 3. Später, in der Durchführung III geht der thematische Faden durch drei Stimmen T-A-S aufwärts (Bsp.), um dann in einer langen Sequenz abzusinken. In Durchführung IV ähnlich, A-S aufwärts, um wiederum in einer Sequenz abzusinken; in Durchführung V aber wird alldies überboten: nahtloser Aufstieg durch alle Stimmen B-T-A-S, dann eine Aufwärts-Sequenz mit „dringlichen“ Vorhalten und einer Wendung zum Abschließen der Geschichte, was erst – nach einer Hemmung durch den Trugschluss – durch ein letztes „überzähliges“ Zitat und eine letzte Sechzehntelwelle gelingt.

Es ergreift mich, gewiss, aber es geschieht allein durch die Struktur der Musik, durch motivische Arbeit, durch Verknüpfung, Fortspinnung usw. – lauter technische Maßnahmen – warum freue ich mich? Sind das schon Emotionen? In dem Stück oder auch in mir? Haben ähnliche Emotionen den Komponisten bewegt, als er sich entschloss, daraus ein Stück zu machen? Er kennt sie und er nutzt sie, aber er muss nicht drauf warten. Vielleicht wollte er einfach eine saubere und übersichtliche Fuge schreiben (siehe Czaczkes)? Dann hat er die Tonart gewählt, dann ein Thema aus Dreiklangstönen, man nennt das „inventio“,  dann einen ersten Kontrapunkt in Sechzehnteln, dann das und dann das usw., man nennt das Komponieren.

Wie die Fuge wächst:

Resümee

Was die Fuge außerdem noch zusammenhält: ist es Ihnen beim Hören aufgefallen, dass der Sechzehntelfluss, der nach den ersten 3 Takten einsetzt, erst in Takt 33 (beim Trugschluss) zum Stillstand kommt? Mit einer Ausnahme: Takte 10, 1. Achtel, also unmittelbar vor Beginn der Durchführung II. Siehe auch hier (Bachs barocker Bewegungsmodus) und hier (Barocke Bewegung).

Es gibt insbesondere drei Stellen, die einer sehr geduldigen spieltechnischen Ausarbeitung bedürfen, auch letztlich die Wahl des Tempos beeinflussen, denn es muss möglich bleiben, auch hier das Thema deutlich und schön zu spielen. Der Fingersatz ist von besonderer Bedeutung, auch um ein Gefühl für die Vierstimmigkeit zu wahren, während zugleich die motivisch zusammenhängenden Töne unregelmäßig auf beide Hände verteilt sind. Zudem ist es ein Vergnügen, dies mit Händen und „überlangen“ Fingern  zu ertasten und minutiös in die Handhaltung einzulagern. Ganz besonders also in den Takten 10-11, T.17-19 und T. 28-30. Ich werde künftig in jeder neuen Übephase mit diesen Stellen beginnen, um den Maßstab für die ganze Fuge zu setzen.

Die Übenoten (Peters, Kroll-Ausgabe) sind fremden Augen kaum noch zuzumuten, andererseits liebe ich sie, weil sie mich seit dem Beginn des Studiums in Berlin begleiten. (Sie lagen gebraucht & gratis auf dem Garderobentisch.) Ab Takt 10:

Erläuterung:

Schauen auf den Beginn der Durchführung II: Themeneinsatz im Tenor, linke Hand AS, 2. Finger, der nächste Ton jedoch, ES, wird ebenso deutlich mit dem Daumen angeschlagen, der übrigens den Daumen der rechten Hand kreuzt. Sie wandert nämlich gerade vom Des zum C, und zwischen diesen beiden Fingern der rechten Hand trifft der Daumen der linken Hand sein ES. Gleichzeitig erreicht die linke Hand eine Oktave tiefer in einer Sechzehntelbewegung das Es und unmittelbar danach das C, so dass die Hand eine Dezimenspannung spürt. Man sollte mehrfach diese Sechzehntelgruppe im Bass samt Zielton F gleichzeitig mit der Sechzehntelgruppe im Alt und deren Zielton ES spielen und wahrnehmen, wie die None sich mit der Septime reibt.

Der oberste Ton des ansonsten in der linken Hand vom Tenor vorgetragenen Themas wird von der rechten übernommen (rote Linie – es hat mich etwas Überwindung gekostet). Das kleine Fragezeichen vorm nächsten Taktstrich bedeutete: der Oktavsprung aufwärts vom AS in der linken Hand zum As in der rechten wollte mir nicht einleuchten; das ändert sich, wenn man den Alt vom Anfang dieses Taktes bis zum Anfang des nächsten singt: also doch keine bloße Verlegenheit. Ohne sich davon irritieren zu lassen, muss die linke Hand bereit sein, das Fugenthema nahtlos weiterzuführen in den beiden Tönen Des / Es. Der Alt schweigt nun bis zu seinem Themeneinsatz in Takt 13, und so läuft es ab dem 2. Sechzehntel des neuen Taktes links und rechts wunderbar entlastet, – trotzdem abbrechen und den 1. Takt bis zum Gehtnichtmehr durchfingern und egalisieren…

Ab Takt 16:

Ab Takt 27

Spannungen? Im zweiten Takt sollte der 5. Finger  – nach der Aktion mit der schwarzen Taste As – auf G in einer Position innehalten, die der Hand erlaubt, den Alt nach Ton C mit 3-2-1-Fingersatz und Verbleib auf 2 (As) weiterzuführen, um dann den Sopran freizugeben zum Gang aufs ES, das liegenbleibt, während eine Oktave tiefer das Thema im Alt beginnt und die Streckung der Finger 3-2-1 zu den Dreiklangstönen AS-F-DES verlangt. Natürlich zwanglos… Der Fingersatz im Bass Takt 2 sieht ungewöhnlich aus, macht aber Spaß.

Kompliziert in Worte zu fassen, – klar, am besten man zeigt es einander am Klavier und vermittelt irgendwie auch die erfreuliche Physiologie der Hand, die sich den Tönen mitteilt.

Zur Kultur- und Selbstkritik

Was ist die neue Hyperkultur?

Es ist ein langes Zitat, das ich seit ein paar Tagen glaube bewältigen zu müssen. Eine klare Analyse unserer Zeit, der Gesellschaft, oder des Teils der Gesellschaft, dem ich angehöre, und das deprimiert mich, – vorübergehend, wie ich vermute. Aber ich muss es analysieren, um es zu relativieren. Den Versuch zumindest möchte ich machen und auch irgendwie dokumentieren. Also: das psychologische Problem und die Heilungsmaßnahmen.

Andreas Reckwitz:

Wir haben schon gesehen, dass der singularistische Lebensstil der neuen Mittelklasse die gesamte Welt-Kultur aller Orte, Zeiten und sozialen Herkünfte als verfügbare Ressource für die eigenen Selbstverwirklichungswünsche behandelt. Kultur wird aus dieser Perspektive nicht – wie im traditionalistischen Kulturverständnis – innerhalb der eigenen sozialen Gruppe reproduziert, sondern hat sich in eine Ressource in Gestalt eines heterogenen Feldes von Aneignungsmöglichkeiten verwandelt. In dieser Hyperkultur kann potenziell alles zur Kultur werden, das heißt zu einem Objekt oder einer Praxis, das oder die einer ästhetischen, ethischen, narrativ-semiotischen, ludischen oder kreativ-gestaltenden Aneignung zugänglich ist. Die Elemente dieser Hyperkultur zirkulieren global und transhistorisch, daher kennt sie praktisch keine Grenzen. Die in ihr zirkulierenden Objekte und Praktiken sind einerseits unterschiedlich und singulär, andererseits befinden sie sich gerade in ihrer anerkannten Differenz im Prinzip alle auf derselben Ebene. Anders gesagt: Die Hyperkultur hat keine vorgefertigten Präferenzen, sondern macht Offerten. Diese De-jure-Gleichberechtigung kultureller Elemente bedeutet, dass klassische Grenzen des kulturell Wertvollen aufgelöst werden, insbesondere die zwischen dem Gegenwärtigen (Modernen) und dem Historischen, zwischen Hochkultur und Populärkultur sowie zwischen der eigenen und der fremden.

Die Renaissance des Historischen darf im übrigen nicht mit einem simplen Historismus verwechselt werden, denn keineswegs wird nun umgekehrt das Gegenwärtige und Moderne gegenüber einer imaginären Klassik abgewertet.* Vielmehr gilt, dass die Hyperkultur die Wertgrenze zwischen dem Gegenwärtigen und dem Historischen auflöst und durch einen unterschiedslosen Zugang zu beiden Sphären ersetzt.

Eine zweite Grenze , die hyperkulturell aufgelöst wird, ist die zwischen Hochkultur und Populärkultur. Alle empirischen Untersuchungen zeigen, dass die traditionelle Hochkultur – der klassischen Musik, der Literatur, der bildenden Kunst etc.-, wie sie für die bürgerliche Lebensführung prägend war, für die neue Akademikerklasse ihren privilegierten Status als Ausdruck des legitimen Geschmacks verloren hat. Vielmehr greift man nun vorurteilslos auch auf vormals eindeutig als populärkulturell qualifizierte Quellen zurück: Man besucht Pop-Konzerte , schaut Hollywood-Blockbuster oder begeistert sich im Fußballstadion. Richard Peterson und andere Kultursoziologen haben daraus den Schluss gezogen, dass der postmoderne Kulturkonsument zu einem „Allesfresser“ (omnivore) geworden sei.* Diese Diagnose muss jedoch präzisiert werden, denn es geht hier nicht um eine wie auch immer entstandene Geschmacksdifferenz. Erneut ist der entscheidende Punkt, dass nun potentiell alles geeignet ist, zur Entfaltung eines nach Authentizität und Selbstverwirklichung strebenden Lebensstils beizutragen. Damit können auch populärkulturelle Objekte und Ereignisse interessant und anziehend werden – unter der Bedingung, dass sie als authentisch erfahrbar sind. Auch hier gilt Analoges wie bei der ersten Grenzauflösung: Klassisch hochkulturelle und bildungsbürgerliche Objekte verlieren keineswegs ihre Relevanz, sondern erleben sogar eine Renaissance, ablesbar am Boom der Museen und Konzerthäuser seit den 1990er Jahren, die sich freilich der gleichen Authentizitätsbedingung zu unterwerfen haben. Auch die Hochkultur wird ausgesondert, wenn sie als unecht, langweilig, steif und erlebnisarm erfahren wird; und auf die Populärkultur wird verzichtet, wenn sie primär billig, kommerziell, primitiv und „aus der Retorte“ wirkt.

Die Hyperkultur löst schließlich auch die strikte Grenze zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“, zwischen Kulturkreisen, Nationen oder Regionen auf. Für den singularistischen Lebensstil gibt es keinen Grund mehr, Objekte und Praktiken der eigenen Kultur gegenüber jenen, die aus anderen Kulturen stammen, vorzuziehen. Der Grund dafür ist zunächst kein politischer oder moralischer, sondern im Selbstverwirklichungsstreben und dessen beständiger Suche nach andersartigen Erfahrungen verankert: Ein kultureller Ethnozentrismus würde schlicht eine Einschränkung jener Erlebens- und Valorisierungsmöglichkeiten bedeuten, welche die Welt-Kultur bietet. Das ehemals „Fremde“ wird so zur potenziellen Quelle der Bereicherung des Selbst, entsprechend wird „der bunte Mix“ der Kulturen in der Metropole von der neuen Mittelklasse als anregender empfunden als die öde Monokultur der alten Industriestadt. Auch hier regiert nicht das Entweder-oder, sondern das Sowohl-als-auch: Man muss sich nicht zwischen dieser oder jener Kultur entscheiden, sondern kann problemlos kulturelle Versatzstücke aus indischer Spiritualität, italienischer Früherziehung, lateinamerikanischer Bewegungskultur und deutschem Ordnungssinn miteinander kombinieren. Vor dem Hintergrund des Fremden kann dann auch wieder eine partielle Rückbesinnung stattfinden. Angesichts der Vergleichsmöglichkeiten schaut man auf das Eigene – die schwäbische Küche, die Küste der Nordsee oder Franz Schubert – mit der Brille des Fremden und findet es ungeahnt bereichernd.

Die eben angesprochene Haltung des Sowohl-als-auch, die bei allen drei Grenzauflösungsprozessen eine Rolle spielt, verweist darauf, dass das Subjekt der neuen Mittelklasse eine transhistorische und interkulturelle Switching-Kompetenz entwickelt. Es ist eben kein beliebiger „Allesfresser“, sondern in der Lage, mühelos zwischen dem Zeitgenössischen und dem Historischen, dem Populär- und dem Hochkulturellen sowie zwischen den Kulturen hin und her zu wechseln – immer auf der anspruchsvollen Suche nach dem Singulären und Authentischen. Dabei kristallisiert sich etwas heraus, was man als die kulturelle Conaisseurhaftigkeit der neuen Mittelklasse bezeichnen kann:* Man entwickelt bezogen auf die valorisierten kulturellen Objekte häufig eine ausgesprochene Kennerschaft, welche das Singularitätserleben noch intensiviert, da erst so die Komplexität des Objekts wahrnehmbar wird. Diese Connaisseurhaftigkeit, die man aus der klassischen Hochkultur (Literaturkenner) ebenso kennt wie aus Segmenten des bürgerlichen Lebensstils (Weinkenner), wird nun auf alle anderen, auch ursprünglich populärkulturellen Objekte und Aktivitäten ausgedehnt, die man in seinen Lebensstil integriert: auf Computerspiele oder die ausgefeilten Techniken des Kochens, auf Musikbands oder die Reiseziele Südfrankreichs, auf Vintage-Mobiliar, Rennräder und das Herstellen von Marmelade, auf das Werk von Gilles Deleuze oder die Geheimnisse der Sneaker-Kultur. (Seite 301)

Zusammenfassend ist das Subjekt der neuen Mittelklasse durch einen Kulturkosmopolitismus charakterisiert.* Kultur erscheint ihm als globales Reservoir, reich gefüllt mit vielfältigen Elementen, die jeweils ihre eigene Berechtigung und ihren eigenen Wert haben und potentielle Gegenstände der Aneignung durch das nach Authentizität trachtende Subjekt sind: hier gibt es keine Besitzansprüche seitens verschiedener Herkunftsgemeinschaften mehr, sondern jedes kulturelle Element ist zumindest potentiell mit jedem kombinierbar.* Der Kulturkosmopolitismus ist gewissermaßen ein Globalismus, der vom Wert der Vielfalt des Lokalen lebt. Er schätzt nicht jene globalen Objekte und Praktiken, die überall gleich sind, sondern die lokalen Besonderheiten, die authentischen Singularitäten, die jedoch global zirkulieren müssen, um überhaupt zugänglich zu sein. Und er beruht emphatisch auf Offenheit, die neben der Kreativität zum scheinbar alternativlosen Leitwert der spätmodernen Hyperkultur avanciert ist. Vorausgesetzt im Kulturkosmopolitimus ist das scheinbar selbstverständliche Gefühl des Berechtigtseins , über die Weltkultur in allen ihren Facetten zur Bereicherung des eigenen Lebensstils verfügen zu können.* Das Subjekt der neuen Mittelklasse beansprucht das Recht, sich Kulturelemente zu eigen, das heißt zu Eigenem zu machen – auch solche aus Gegenkulturen, aus der working class culture oder aus anderen Traditionen, die nicht seine eigenen sind.

Damit zieht der Kulturkosmopolitismus seine eigene Wertgrenze: gegen das abgewertete Provinzielle, dem es aus dieser Sicht an Offenheit gegenüber der Vielseitigkeit mangelt, auch an kultureller Souveränität und Kennerschaft; das Provinzielle erscheint als in geschlossenen Grenzen gefangen. Die Provinzialität hat aus der Sicht der kosmopolitischen Akademikerklasse vor allem in der Unterklasse (zumindest in der einheimischen, sesshaften Fraktion) und im „kleinbürgerlich“ scheinenden alten Mittelstand ihren sozialen Ort. Die Unterscheidung Kosmopolitismus/Provinzialismus wird so zu einem zentralen Schema des symbolischen Kampfes der Spätmoderne. Die neue Mittelklasse ist dabei sowohl in ihren Grundzügen als auch in den Details ihres Lebensstils eine globale Klasse. Sie ist nicht nur in den USA, in Deutschland, Frankreich, Schweden, Italien etc. sowie in den sich rasant modernisierenden Ländern wie China in ähnlicher Weise tonangebend, ihre kulturellen Muster erweisen sich auch über nationale Grenzen hinweg als ähnlich.*

Quelle Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten / Zum Strukturwandel der Moderne / Suhrkamp Berlin 2017 Wissenschaftl. Sonderausgabe 2019 (Zitat ab Seite 298) Anstelle der * befinden sich im Original Zahlen mit Anmerkungen und Quellenhinweisen.

(Fortsetzung folgt)

JR

Als Ergänzung und Kontrapunkt ist zu lesen: „Bürgerlichkeit als soziale und kulturelle Erscheinung“ im Wikipedia-Artikel Bürgertum. Siehe auch Mittelschicht.

Des weiteren: „Bürgerliche Musikkultur“ von Barbara Boisits.

Und vielleicht sogar – auf mich „privat“ bezogen – in diesem Blog unter dem Titel Museum und integrales Konzert hier.

Angela Hewitt und Bachs Goldberg-Variationen

Eine Jahrhundert-Einspielung

https://www.arte.tv/de/videos/100767-000-A/angela-hewitt-spielt-die-goldberg-variationen/

Noch abrufbar bis 9. Juli 2021

Hier

Über Angela Hewitt hier (Wikipedia) und hier (eigene Website)

Was mich am Werk immer schon faszinierte, ist die äußerst rational ausgearbeitete Gestalt des Ganzen und der unglaubliche Gestaltenreichtum, der sich in der Bewegung von Teil zu Teil manifestiert. Und genau so in der Wiedergabe, im Gestenreichtum, in den Klangfarben, den Spieltechniken und zuletzt in der Gestalt der Interpretin, die widerständig zu allen Moden der Moderne erscheint und durchaus nicht dem Typus des klavierspielenden Models entspricht. Und alles, was man über die quadratische und quadratisierte Binnenstruktur des Ganzen sagen könnte, dürfte man auch im gleichen Atemzug mit Verweis auf das Wohltemperierte Klavier relativieren: die späte Bachschen Tendenz, allzu gleichmäßig proportionierte Urfassungen durch Einschübe zu ergänzen und in ein labileres Gleichgewicht zu versetzen. (Siehe die schöne alte Arbeit von Christoph Bergner über die Praeludien.)

Empfehlenswert der Wikipedia-Artikel Goldberg-Variationen, deren anekdotischen Titel (19. Jhdt.) man gewiss nicht mehr los wird. Sei’s drum, Hauptsache, das wunderbare Gebilde hält uns weiter wach und lebendig. Auch der großartige Titel Clavier-Übung erinnert uns daran, dass wir – so sehr wir uns auch bemühen – nie fertig werden.

Der Gesamt-Bau des Werkes (nach Dammann)

Beginn TEIL II (Variation 16 Ouverture) bei A.H. ab 39:50

Ein unfassbares Wunderwerk der Melodik und des „harmonieverfremdenden“ Denkens: Die erste Hälfte der Variation 25 bei A.H. ab 1:00:15

Quelle Rolf Dammann das Buch über die Goldberg-Variationen:

1986

Inhalt: Goldberg-Buch + derselbe Autor über den Musikbegriff im deutschen Barock:

Ist der Ausdruck „Jahrhundert-Einspielung“ nicht übertrieben? Ja. Es fehlen noch 79 Jahre. Aber wenn man die Aufnahmen Glenn Goulds – welche auch immer – als solche bezeichnet und andere über Jahrzehnte ignoriert, darf man eine wirkliche Alternative, nach Jahren der Götzenanbetung, wohl mit entsprechenden Vorschusslorbeeren versehen. Nebenbei: ich habe immer, wenn ich auf der Suche nach Klang-Belegen für meine Analysen des Wohltemperierten Klaviers gesucht habe, mit Vorliebe solche mit Angela Hewitt ausgewählt. Ohne zu verhehlen, dass man zum Lernen mit Bach nicht unbedingt die stilistisch sichersten studieren muss. Selbst eine Computersimulation mit korrekten Notentexten könnte genügen. Anders als bei Mozart oder Beethoven.

Die neue Nähe „von fremden Ländern und Menschen“!

Serien unerhörter Klangreisen

Zugabe (1 Minute live)

Was ist eine Kamancheh? Zum ersten Kennenlernen siehe hier.

Als Robert Schumann die wunderbare Einleitung seiner „Kinderszenen“ op.15 mit dem Titel versah „Von fremden Ländern und Menschen“, hat er wohl nur ein Gefühl unbestimmter Sehnsucht gemeint, ohne die Fremdheit wirklich musikalisch darstellen zu wollen. Hier haben wir nun Gelegenheit, die andere, fremde Seite der Musik aus eigenem Herzen reden zu hören, und das kann vielleicht ganz ähnliche Gefühle auslösen. Wenn der Künstler dabei die Erkundung seines Instrumentes in den Vordergrund stellt, tut er nichts anderes, wenn wir seine Worte recht verstehen: Er spricht von den Geheimnissen der iranischen Musik, von der verzweigten Theorie des Dastgah (Modus) und den Formen der Improvisation, die sich im Daramad einer Tontraube aus wenigen Tönen manifestiert. Äußerlich betrachtet, spricht er zwar von den Techniken seines Instrumentes, alten und jetzt von ihm neu erfundenen, aber, so hebt er hervor, „es versteht sich von selbst, dass [sie] nicht an sich das Ziel des Musizierens darstellen. Sie sind […] notwendige Mittel für die Entstehung neuer musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten.“ Und am Ende findet er sie „in einer unaussprechnlichen Sehnsucht nach etwas Unbekanntem […], das dennoch dem Künstler seelisch so nah ist. Er möchte diese unbekannte Nähe berühren.“ Misagh Joolaee : Unknown Nearness.

UNKNOWN NEARNESS

IDENTIGRATION

(und – eben angekommen: dieses Foto)

Post von Hans Mauritz aus Assuan

Zu dem Namen Parviz Meshkatian, der oben in der CD „Unknown Nearness“ in Tr.5 erscheint, kommen mir unauslöschliche Erinnerungen, die sich mit dem folgenden Link hier verbinden. Und in der Wiki-Biographie von P. Meshkatian taucht ein weiterer Name auf, der mich in meine Kölner Studienzeit bei Prof. Marius Schneider und Prof. Josef Kuckertz zurückversetzt; lebendige Gespräche und die ersten Begegnungen mit lebendiger iranischer Musik im WDR (Khatereh Parvaneh, Faramars Payvar, Hossein Tehrani,1972), eine Atmosphäre der Sympathie, die bis heute nachwirkt: Mohammad Taghi Massoudieh.

und darin folgendes Daramad:

Was für eine Gelegenheit, die Liebe zur iranischen Musik nun auch von der Verpflichtung zur universitären Theorie zu lösen und in neuen, intelligenten Erscheinungsformen wirklich zu genießen! Im bloßen Hören! Wobei ich keineswegs den Gebrauch der Notenschrift kritisieren möchte, der hier im Umgang mit einer vor allem mündlich und in realer Spielpraxis überlieferten „Musik des Orients“ wichtig wird. Es ist ein dialektischer Prozess (geworden).

    *    *    *    *    *

Der Begriff „Identigration“ ist ein Kunstwort, sicher kein besonders schönes, aber die Bestandteile Identität und Integration sind heute in aller Munde und geben Stoff für härteste Diskussionen. Hier  scheinen sie versöhnt; oder sie sind es sogar. Mit den Worten des Booklets:

Alle Musiktitel machen Mehrfachidentitäten hörbar und sind von Orchestermitgliedern maßgeschneidert komponiert bzw. arrangiert für die einmalige Besetzung von Instrumenten und Musiker*innen-Persönlichkeiten. Aufgrund ihrer unterschiedlichen musikalischen Ausbildung vermitteln die Orchestermitglieder europäische, arabische und persische Klassik sowie Jazz, Folklore und zeitgenössische Musik. Damit trägt das Bridge-Kammerorchester einen eigenen Beitrag zur Erweiterung.

Das Bridge-Kammerorchester entstand 2019 als Klangkörper der transkulturellen Frankfurter Musikinitiative Bridges – Musik verbindet, die seit 2016 Musiker*innen mit und ohne Flucht- und Migrationsgeschichte zusammenbringt.

Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein, aber jedes einzelne Stück der CD erzählt vom Gelingen des Projektes. Es entstand keine leicht konsumierbare  World Music, wie sie in den 80er Jahren vielfach zusammengerührt wurde, indem man Gitarren-Akkorde untermischte und Pop-Rhythmen einbezog, und tatsächlich ist es wohl auch die Verschriftlichung, die eine musikalische Professionalität garantiert. Der hörbare Erfolg beruht nicht einfach auf einer cleveren Management-Idee. Man liest und betrachtet auch das Booklet mit Freude. Kein Wort zuviel, keine Farbe zu wenig, keine humanitäre Aufschneiderei, es geht um nichts als Musik. Und während ich bei mir ab Tr. 8 relativierende Tendenzen beschwichtigen musste (Achtung – karibisch-gefällige U-Musik), rate ich heute manchen Freunden, lieber bei Tr. 8 zu beginnen und dann erst auf Anfang zu gehen. Und bitte sie, nicht von Vierteltonmusik sprechen, das klingt fast so abschreckend wie einst Zwölftontheorie. „Die persische Vierteltonskala Chahargah“, so zu „Silk Road“ Tr.1, die „auf europäische Harmoniekonzepte von Dur- und Molltonalität“ trifft, gibt es nicht; es gibt darin einzelne Töne, deren Intonation von westlichen Skalen um etwa einen Viertelton abweicht. Und das ist von einer wunderbaren Wirkung, wenn man es weiß – und nicht für ungenau intoniert hält. Auch wenn man einen Grundton hört, dem nicht ein Leiteton vorausgeht, sondern die kleine Terz darunter, sagen wir: wie bei einem umgekehrten Kuckucksruf, aber eben nicht die „korrekte“ kleine Terz, sondern der um einen Viertelton tiefere, abweichende Ton, eine sog. neutrale Terz. Man hört es auf Anhieb in dem folgenden kleinen Lehrbeispiel, passen Sie nur auf: Sie verstehen die iranische Sprache!

Ich liebe diese Skala bzw. diesen Dastgah, seit er mir 1972 in der ersten iranischen „Nachtmusik im WDR“ so unglaublich expressiv entgegentrat, im kleinen Sendesaal des Funkhauses (später füllte ein iranisches Konzert spielend den großen Sendesaal, und dann ebenso die Kölner Philharmonie).

WDR-Karteikarte mit Kopie aus dem Buch von Ella Zonis „Classical Persian Music“ Harvard 1973.

Wie schön eröffnet dieser Dastgah auch die CD mit einem großen Thema, das zu dem Stück SILK ROAD gehört, komponiert von Pejman Jamilpanah: „Seidenstraße“; das ist also der alte Handelsweg, der für den jahrhundertelangen Austausch von Waren und Kultur zwischen Orient und Okzident steht. Hier wird am Anfang der Grundton umkreist, und der höhere Ton (von dreien) klingt ebenfalls „neutral“, es ist keine kleine Sekunde und keine große, sondern ein 3/4 -Tonschritt. Und die von mir hervorgehobene, zum Grundton aufspringende Terz ist so – kadenzierend – erst ganz am Schluss zu hören. Aber er ist als Ton natürlich fortwährend in der Skala präsent, in diese ist er ja oft genug melodisch eingebunden. Es wäre gar nicht dumm, an einem so gut gelaunten Stück auch das genaue Hören bzw. das Hören einer klaren Skala zu üben. Ausgangsmaterial einer wohlgeformten Melodie. Ich habe sie mir provisorisch notiert und wundere mich, dass sie nicht symmetrisch ist. Wahrscheinlich stimmt meine Takteinteilung nicht. Aber so kann ich synchron mitsummen und eine korrekte Intonation üben auf den Tönen d und a, die in Chahargah eben einen Viertelton tiefer intoniert werden, daher in den Vorzeichen die Striche durch den „b-Hals“.

Dann setzt der Rhythmus ein, und die Melodie wird auf verschlungenen Pfaden fortgeführt, unberechenbar, ein fragiles Miteinander, feine Kontrapunkte, und darin immer wieder diese süßen Intervalle, die eine Missdeutung in Richtung Dur oder Moll unterbinden. Ich spiele die CD selten ohne solche Stücke sofort zu wiederholen, und wenn ich mich unterwegs daran zu erinnern versuche, habe ich zuerst diese Töne und ihre besondere Farbgebung im Ohr.

Das nächste Stück, dem die CD ihren Titel verdankt, enthüllt erst ganz allmählich seinen Jazz-Hintergrund, in dem Peter Klohmann zuhaus ist. „Gleichzeitig entstehen durch die Verwendung von Fusion-Skalen und Harmonien mit uneindeutigem Geschlecht tonal-heimatlose, schwebende Klänge und eine stilistische Breite, die von Klassik über Jazz mit Einflüssen indischer und orientalischer Couleur bis zu Disco- und Funk-Sounds reicht.“ So steht es im Booklet, Werbeslang denke ich und bin vom ersten quasi improvisierten, rufartigen Flöten-Einstieg gefesselt, dann von den parallel geführten Clusterakkorden, komplexen Mixturen aller Art, Tablarhythmen, werde fortwährend sinnlich und irgendwie sinnvoll beschäftigt: im Nu sind spannende 11 Minuten vorüber. Die Neugier bleibt.

Tr. 3 erinnert auf Anhieb an den Orchesterklang der großen Aufnahmen mit Oum Kalthoum, der „eingetrübte“ Dreiklang, das folgende Streicher-Unisono, – schwierig für ungeübte westliche Hörer aus heiklen Gründen… es bedarf einiger Worte. Mit meiner Begeisterung für arabische Musik bin ich in den 60er Jahren oft auf Unverständnis gestoßen, selbst gute Freunde haben mit verlegenem Kichern reagiert. Und ich wusste warum! Aber ich konnte die Ursache nicht „weg-erklären“. Eine frühe WDR-Sendung, in der ich es versuchte, hieß „Trivialität und Finesse“. Denn meine musikalischen Freunde lachten nicht über „Fremdheit“, sondern über scheinbar „Triviales“ oder sogar Banalitäten. Z.B. über Sequenzen, das allzuleicht Vorausberechenbare (mit kleinen „Fremdheitspartikeln“ darin), die „schmalzigen“ Tonübergänge. Ich wusste, da hilft nur eins: Hören, immer wieder und noch einmal: Hören. Dann verändert sich die Musik in unseren Ohren. Ich hatte arabische Musik aufgeschrieben und dabei jede Wendung 10mal, 20mal und öfter vom Tonband abgehört. Ich vergesse nie das Lautensolo „Taksim Souba Bouzk“, – und noch keine Ahnung hatte, dass der Aufdruck bedeutete: „Vorspiel im Maqam Saba auf dem Bouzok (Zupfinstrument)“, und dass Saba mein Lieblingsmodus werden sollte, – bis ein libanesischer Musiker behauptete, das sei die Hure unter den Maqamat. In der vorliegenden Komposition kommt er auch vor, wenn ich mich nicht irre (obwohl das Stück insgesamt im „Bayati“ steht):

Und wenn die Terzparallelen in Flöte und Klarinette auftauchen, könnte ein Kind sagen: sowas  kenne ich doch aus unserm Kanon „O wie wohl ist mir am Abend“. Die Mutter stimmt zu: Nein, das kann nicht echt arabisch sein!  Als ich klein war, staunte ich auf Schulbusfahrten, wenn lauthals „Hoch auf dem gelben Wagen“ angestimmt wurde und die Mädchen es immer fertigbrachten, die Schlusszeile in Terzen hinzukriegen! Ich sage das nicht, um mich lustig zu machen. In andern Weltregionen hat diese Zweistimmigkeit eine andere Bedeutung. Und ich traue mir selbst nicht, wenn ich sage, dieses „Sama’i Bayati“ auf der CD „Identigration“ gefällt mir besser als die „authentische“ (?) Version des Syrischen Nationalorchesters, die lange vor dem furchtbaren Krieg entstand:

Und ich wünschte, ich hätte Gelegenheit, eine liebevolle Beschreibung dieser Komposition, ihrer Substanz (!), von einem syrischen Musiker zu lesen; schon das neue Arrangement erzählt einiges, z.B. dass trotz des ersten Taktes in „d-moll“ keine Harmonik im westlichen Sinn zur Kolorierung verwendet wird. Sie würde die melodische Charakteristik des Maqam Bayati zerstören:

 ©Walid Khatba

Ich liebe dieses Stück. Aber warum – bleibt mir ein Rätsel. Ich höre es mit Vorliebe zweimal hintereinander, genieße die Nuancen der verschiedenen Melodieabschnitte, samt Terzenparallelen. Ich liebe aber auch den Übergang zum nächsten, einem der berühmtesten Stücke „unseres“ Barock-Zeitalters. Ich selbst habe oft die Corelli-Variationen darüber gespielt, aber immer in dem Bewusstsein, dass die Melodie (als feierlicher, stolzer Tanz) aus Spanien stammt. Ebensogern identifiziere ich mich mit dieser neuen Version, genieße die phantasievoll angereicherten Variationen, die Rolle der orientalischen Instrumente, die Oud-Terzen, die wunderschöne Bläser-Kombination in der langsamen Variation, in der darauf folgenden das herrliche Gewimmel, das Blech, die Mandoline (?) usw.usw. – darf man das Stück so vertändeln? Gewiss doch, mehr denn je! Und vor allem das Ensemble als Ganzes in Aktion zu erleben.

An dieser Stelle sei ganz kurz erläutert, worin musikalisch gesehen des Problem einer Ost-West-Fusion liegt: Die Vielfalt der orientalischen Skalen – Maqam, Dastgah, Raga, wenn man dafür überhaupt das Wort Skala anwenden darf – findet ihren westlichen Widerpart nicht in der Dualität von Dur und Moll, sondern in deren Harmonik, die nicht von ihrer Geschichte ablösbar ist. Die entsprechenden Skalen gibt es im Orient, wenn man sie so pauschal bezeichnen darf, unter hundert anderen auch. (Samt ihren „Vierteltonabweichungen“.) Aber deren feine Abstufungen kann man mit den 3 – 4 Kadenzakkorden nach den Regeln des Generalbasszeitalters leicht zugrunderichten. Und das ist vielleicht implizit im folgenden Text mitgedacht, der nur von Skalen handelt, oder von den tonalen Mustern, die sie bilden. Harmonik oder Kontrapunktik – gegenläufige Stimmen – gibt es nur andeutungsweise, mit Vorsicht und Geschmack eingesetzt.

Termeh ist eine typische persische Webkunst mit traditionellem Bothe-Muster, das in Europa als Pasley-Muster bekannt wurde. Jamilpanah vertont die Farbenvielfalt des Temeh in der typischen Vierteltonskala Afshari und thematisiert am Ende des Stücks die Begegnung von Orient und Okzident, indem er das Stück in einer Dur-ähnlichen Skala enden lässt.

Zu den erwähnten Mustern siehe hier und hier  Zur Biographie des Komponisten/Instrumentalisten hier, über eine andere „Bridges“-Formation hier.

Ein im Westen ausgebildeter Gitarrist wie Dennis Merz hat selbstverständlich eine enge, professionelle Beziehung zur westlichen Harmonielehre und wird sie auch anwenden, wenn er Musik arrangiert. Im Fall der Bulgarischen Volksmusik gibt es bereits eine Tradition, dass sie innerhalb der Kunstmusik von bulgarischen Komponisten so eingesetzt wird, dass ihre besondere Charakteristik respektiert wird, ähnlich wie es Béla Bartók mit der ungarischen Bauernmusik gehalten hat. Der von B.B. oft behandelte und so genannte „Bulgarische Rhythmus“ im 7/8 (aus 4 + 3) ist, wie er natürlich wusste, nur einer von vielen asymmetrischen Rhythmen, die gerade in der bulgarischen Musik besonders geläufig sind, was ein kurzer Blick in den MGG-Lexikon-Artikel „Bulgarien“ von Lada Braschowanowa zeigt. Davon sollte eigentlich jeder musikalische Mensch eine gewisse Kenntnis haben. Und der Track 6 unserer CD, „Bucimis“, gibt dazu attraktiven Stoff. Man versuche einmal, das Hauptthema einzuordnen. Die Takbezeichnung ist 15/8, bestehend aus 8 + 7 Achteln, darin die 8 in 4mal 2 gruppiert, die 7 in 3 plus 4 .

Oben: Anfang der Partitur von Dennis Merz

MGG Art.Bulgarien

In dem zweiten der auf der rechten Seite gegebenen Rhythmen müsste also in die Reihe der Zweier-Gruppen nun noch eine weitere eingefügt werden, so hätten wir den 15er-Takt (statt 13). Um einen Fachbegriff zu erwähnen: man nennt diese Rythmen additiv (statt divisiv wie in klassischen Taktarten). Kleiner Tipp, dieses Thema beim bloßen Hören recht zu verstehen (Musiker*innen versuchen gern mitzuzählen): Der allererste Ton ist kein Auftakt, sondern der Taktbeginn. Man beginne das Stück so oft von Anfang, bis man es genau erfasst hat. Das ist keine private Pedanterie, es macht uns alle musikalischer, und man spürt das bereits beim bloßen Zuhören, noch besser: es physisch nachzuvollziehen.  Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem WDR-Konzertmeister Paraschkevov, der mir einen Rhythmus demonstrierte, indem er die Tanzschritte ausführte. Das gehört bei uns zum Musikunterricht der Streicher und Pianisten, sagte er, und als ich eines Tages ein Kammermusikfestival in Plovdiv besuchte, kaufte ich mir dort die täglichen Studien von André Stoyanov, die ich heute noch übe. Leider bin ich weit davon entfernt, ein Meister zu werden; ich bin allenfalls ein – Liebender. Ein Dilettant im besten Sinne des Wortes. Ich liebe diese Übungen:

Die bulgarische Tanzfolge, die Dennis Merz erarbeitet hat, ist natürlich trotzdem nicht als Etüde für ein gelehriges Publikum gedacht: sie erzählt eine Geschichte. Sie beginnt „folkloristisch“und „migriert“ im zweiten Satz in die europäische Klassik.

Später stoßen Elemente aus andern Kulturen wie Flamenco und Latin hinzu, bis letztlich alle Stile in einem Schluss-Kanon verschmelzen: Inklusion. Die bewusst gewählten Satzbezeichnungen Herkunft – Migration – Inklusion zeigen im übertragenen Sinne die Bereicherung von Kultur durch Migration.

Ein optimistisches Programm also, das vielleicht reichlich  didaktisch wirken würde, wenn es nicht so hinreißend interpretiert wäre; zudem auch eine schöne gedankliche Brücke zu dem übernächsten, lateinamerikanisch inspirierten Werk darstellt, „La Suite“ von Andrés Rosales. Allerdings lauert nach den bulgarischen Rhythmen eine ganz andere Gefahr für Leib und Seele: „Spiegelung in der Ferne“, eine melodische Vision sondergleichen, angeblich ein bekanntes mongolisches Volkslied, aber sobald man begreift, was für eine gewaltige Melodie diese Sängerin da über den ruhenden Haltetönen ausspannt, in den Himmel zeichnet, aus der gurgelnden Tiefe lockt, es ist fast nicht zu begreifen. Vielleicht ist es für mongolische Ansprüche ganz normal und seit alters vertraut, – von ganz anderer Wirkung jedoch, wenn man diesem offengelegten, kraftvoll zelebrierten „Naturpathos“ zum ersten Mal begegnet , – man braucht sich der Tränen nicht zu schämen! Es ist wirklich ein Wunder. Vielleicht irre ich mich und bin doch durch Hörerfahrungen mit Musik aus Tuva, dem winzigen Nachbarland der Mongolei vorgeprägt, zuletzt hier. Aber zum Glück ist es nicht nur ein „Intro“, es dauert, eine wunderbare 5-Minuten-Spanne, und man nimmt ebenso dankbar noch den angehängten Tanz mit dem Rhythmus der Pferdehufe entgegen…

Klicken! Lesen!

Man kann sich leicht vorstellen, dass ein solch bunt gemischtes CD-Programm auch Widerspruch erzeugt. Als würde hier auf Biegen und Brechen etwas zusammengebracht, was nicht zusammen gehört, als sei süffiges Lateinamerika die Belohnung für befremdende Asiatica. Und die allzu eiligen Versöhner – das eine wir das andere missverstehend – erwiesen sich doch als die Grobiane, die von den feinen Unterschieden nichts begreifen. Aber da macht man es sich zu einfach und sieht nicht die Arbeit, die in einem solchen Unternehmen steckt, die scheinbar heillosen Diskussionen, die vorausgegangen sind, die gescheiterten Zwischenlösungen, die Skizzen und Vorstudien, aus denen am Ende eine akribisch notierte Partitur hervorging. Und dann kommt jemand und sagt: die Notation ist das Ende aller wildwüchsigen künstlerischen Hoffnungen, die Figur des Dirigenten da vorn erübrigt den Traum einer Gemeinschaft von Individuen und autonomen Künstlern. Wissen wir denn, wie strikt die Regeln der Tradition den Einzelnen bevormunden, welche rhythmischen Freiheiten ein 15/8-Rhythmus dem bulgarischen Trommler überhaupt noch einräumt?

Es sind übrigens gerade die besonders engagiert Musikbeflissenen, die kaum je mit „echter“ Volksmusik zu tun gehabt haben und dann doch als erstes „Authentizität“ einklagen. Auch wenn man den Verdacht hegt, dass sie im Leben nicht eine halbe Stunde opfern würden, um einem bulgarischen Schäfer, der Kaval oder Gajda spielt, aufmerksam zu lauschen. Und gehört nicht die Einsamkeit, die Stille, die Schafherde, der Dorfplatz, die Kenntnis der Tanzschritte dazu? Hat Béla Bartók seine geliebten Bauernweisen etwa einem westlichen Publikum einfach so vorgepfiffen, wie er sie in aller Präzision im Gedächtnis bewahrte? Genau so, wie er sie aufgezeichnet hatte? Nein, er hat sich an den Steinway im Konzertsaal gesetzt, oder ein ganzes Orchester bemüht, um gerade die städtisch geprägten Ohren zu erreichen und zu überzeugen.

Ich habe viel über Bartók nachgedacht, nachdem ich aufgehört hatte, „von fremden Ländern und Menschen“ nur zu träumen und eines Tages sogar in die glückliche Lage kam, für den WDR in die entlegensten Dörfer Rumäniens oder Ostserbiens reisen zu müssen. Oder auch 1974 zum Frühlingsfest in Mazar-e-Sherif, dem heute vielgenannten Ort, der damals noch am Ende der Welt lag, und als ich zurückkehrte, war das für mich die schönste Volksmusik, die ich je gehört hatte, und zwar von Menschen, die mir weniger fremd erschienen als die meines westfälischen Heimatdorfes, wo die Welt noch einfach gewesen war, – nur eben ohne Musik. Bei meinen Großeltern gab es nach dem Krieg immerhin ein von Mäusen zerfressenes Harmonium und eine Fabrikgeige mit dem Zettel „Stradivarius me fecit“. Musik als Rätsel des fernen Vaters.

„Bucimis“ Letzte Seite (51) Fine 9:25 Partitur von Dennis Merz (Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis)

©Dennis Merz

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Ein Versuch zu erklären, weshalb ich in dieser Form über eine so rühmenswerte und schöne Serie von Aufnahmen schreibe, statt den Text auf genau das zu beschränken, was zur Sache gehört. Ich arbeite ja nicht für eine Schallplatten-Revue, verteile keine Noten, mache kein Ranking, würde mir nicht erlauben, den Track 8 negativ zu beurteilen, weil er mich an Operettenstil erinnert; natürlich würde es mich ärgern, wenn jemand eine afghanische Melodie ins Hip-Hop-Genre überträgt, diese Art von Fusion hat eine Null-Bedeutung. Es ist zu leicht, das eine dem andern zu überstülpen, ohne es verstanden zu haben, wenn also nur ein gewisser Wiedererkennungswert ausgenutzt wird. Es kommt auch immer drauf an, wer sich was „unter den Nagel reißt“. Und ich bin nicht prädestiniert, die Reinheit der Musikkulturen zu überwachen, weiß allerdings, dass es angreifbar ist, von einer Kultur in die andere zu switchen, als sei das ein Leichtes, es ist Mangel an Respekt. Wenn jemand den bulgarischen Rhythmus 12 12 123 so interpretiert, dass die 123-Gruppe eine Triole ergibt, so kann ich mich ohne Hochmut distanzieren. Es würde ja bloße Simplifizierung bedeuten, die auf einem Missverständnis beruht. Da hat die Aufklärung immer Vorrang. Andererseits kann ich mich auf einen gewissermaßen egozentrischen Standpunkt zurückziehen: es geht nicht um Schweigen, Abschließen und Verbieten, sondern um Öffnen, Lernen und Kommunizieren. Niemand verlangt die absolute Nachahmung jeder nur möglichen, anderen Kultur, was auch bedeuten würde, eigene Bräuche und Fertigkeiten zu eliminieren oder zurückzudrängen. Daher sage ich lieber: es geht um die Erweiterung der eigenen Musikalität, nicht um die Reduzierung. Daher rede ich von mir, statt allein von anderen Künstlern zu reden, die ich bewundere. Und hier schreibe ich eher ein Logbuch von eigenen Klangreisen, zugleich als einen Kommentar der Reisen, die von anderen real und imaginativ geleistet wurden und die ich letztlich nur indirekt nachvollziehen kann. Nochmal: es geht um Musikalität, – und wie immer und überall: um lebenslanges Lernen.

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Die in diesem umfassenden Sinne anregende und weiterführende, kluge und hochmusikalische CD „Identigration“ …

… kann man natürlich auch bestellen für 22 € (plus Versandkosten) und zwar unter folgender Mailadresse: bestellung@musikverbindet.de /  – dabei nicht vergessen: die eigene Postanschrift für Versand und Rechnung.

Und nochmals sei die anfangs erwähnte CD hervorgehoben: UNKNOWN NEARNESS s.a. hier

Meine Arbeit hat – wieder einmal – keinen Abschluss gefunden, der Mai-Anfang wäre eine günstige Gelegenheit gewesen. Der Frühling macht ernst. Aber wieder einmal gab es die fatale Kollision von Öffentlichem und Privatem, Außen und Innen, das jeder kennt, in meinem Fall quasi symbolisch angezeigt mit einem roten Auge am 1. Mai, der Begegnung mit Zakir Hussain im Internet am 2. Mai (Thema Percussion Global Celebration) und der Lektüre des Tageblattes am 3. Mai (Thema „Identitätspolitik“, es geht „um Kultur, Würde und Anerkennung“ und es ist Internationaler Tag der Pressefreiheit, aber „noch nie gab es so viel Aggression“) und um 9:05 h hatte ich meinen zweiten Impftermin in Solingen-Mitte, der Arzt dort gab Entwarnung bzgl. meines roten Auges. In einer Woche ist das vorbei. Aber morgen könnte Schüttelfrost kommen. Bis jetzt (4.Mai 9:45 h) habe ich Glück gehabt.

Tag der Pressefreiheit

Banalität des Alltags

Identität

„In der Gesellschaft tobt eine Debatte“ s.a. WAZ hier

Passend dazu: eine neue Erinnerung, die Druck macht – zweifellos, es ist Goethes „Faust“!

Aktuelles am 17.5.21 vom Preis der Deutschen Schallplattenkritik

Diese CD stand übrigens auch in der Jury „Traditionelle ethnische Musik“ zur Debatte, dort wurde letztlich – mit gutem Grund – die folgende Sammlung ausgezeichnet:

Weiteres hier – hören Sie dort z.B.

35.

oder

98.

Wie ein Lebenshirsch zu Tode kommt

Und was das mit Peter Schleuning und Bach zu tun hat

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Man höre diesen Satz aus dem Brandenburgischen Konzert Nr. 1 hier . Das Bild habe ich aus freien Stücken hinzugefügt (Vom teutschen Jäger 1749). Heutzutage ist es schwer zu verstehen, weshalb die Identifikation mit dem Opfer, das dem Lamm oder dem leidenden Jesus zum Verwechseln nahekommt, nicht unmittelbar zu dessen imaginärer Verschonung führt. Oder genügt es, sich die Auflösung des Dilemmas zu denken?? Es gibt keine Bösen wie in der Passion. Stattdessen gehen WIR „mitleidlos“ weiter mit der Vorstellungswelt JAGD, und das heißt: Höfischer Festtag, Freude, Genuss, Triumph. Man kann nur folgern, dass in jener Welt der hier abgebildete Tod (der Jammer, der Schmerz des ANDEREN) zur Vollkommenheit der „Party“ gehört. Zur Machtvollkommenheit des Fürsten. (Ein Zyniker sagte: „Es genügt nicht reich zu sein, – die andern müssen auch arm sein!“) August der Starke schoss vom Fenster aus einen Dachdecker vom Dach, um seiner Geliebten ein lustiges Spektakel zu bieten.

Peter Schleuning hat als Musiker vielleicht erstmals den Gehalt dieses Bachschen Satzes innerhalb der großen Jagdmusik problematisiert bzw. historisch „eingebettet“. Ich versuche, das auf meine Weise nachzuvollziehen.

Quelle Peter Schleuning: Johann Sebastian Bach Die Brandenburgischen Konzerte / Bärenreiter Kassel Basel etc. 2003 (Seite 44f)

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Zur Psychologie des Jagens (Eine Frau über den Moment des Todesschusses)

Plötzlich sehe ich eine erneute Bewegung. Ein Hirsch zieht diesmal auf selber Höhe, allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Ein Blick durch mein Glas, und mir ist sofort klar: Er ist es! Um nicht auch diese Gelegenheit ungenutzt an mir vorbeiziehen zu lassen, nehme ich diesmal meine Waffe auf und erkenne durchs Zielfernrohr, dass die Körpermasse eindeutig nach vorne verlagert ist und somit alle Kriterien auf einen wirklich reifen Hirsch schließen lassen. Als der Hirsch kurz verhofft, lasse ich die .30-06-Evolution fliegen und bin erstaunt, wie ruhig dieser Vorgang verläuft. Weniger beruhigend ist, dass der Hirsch nicht zeichnet und im leichten Troll davonzieht. Erlöst bin ich dann doch, als ich den Hirsch nach einer kurzen Flucht von etwa 50 Metern zusammenbrechen sehe.

https://www.jaegermagazin.de/wildarten/rotwild/der-lebenshirsch-im-eigenen-revier/

hier

Hirschwasserjagd 1748

Es begann mit dem Öffnen des Wildgeheges. Etwa 800 Hirsche, Rehe und Wildschweine rannten nun ahnungslos unter den Bögen hindurch und stürzten eine steile Böschung hinab in den durch eine Hecke verdeckten See.

Das Gewild kame durch die bey obbemeldten Castellen besonders zubereitete Schwibbögen und verschiedene wohlausgezierte Öffnungen haufenweise heraus, und wurde daselbst von einer Höhe zu 14 Schuh in das Wasser herab gesprengt, und alsbald unter währendem Schwimmen, aus dem Schirm heraus von anwesenden Hohen Herrschaften und anderen Hohen Personen geschossen.

Die Hohe Jagd-Gesellschaft fande hiebey das gewünschteste Vergnügen.Sie ergötzen Sich bald an den artigen Erfindungen und Einrichtungen dieses Jagens: bald über das herunterburzeln des Gewilds von dem darzu gemachten Absprung: bald über das ängstlich – und doch vergebliche Fliehen desselben. Die Zuschauer aber, deren von nahen und fernen Orten viele tausend gezehlet werden konnten, bemerkten solche Seltenheiten, die sie in beständiger Verwunderung unterhielten.“

Bis zum Abend erlegte die Festgesellschaft etwa 400 Tiere. Das überlebende Wild wurde wieder in die Freiheit entlassen. Den krönenden Abschluss bildete ein großartiges Festbankett im Schloß zu Ludwigsburg.

Uns ist heute gänzlich unverständlich, daß das massenhafte Abschlachten von Tieren als Vergnügen empfunden wurde. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die Menschen des Barockzeitalters ein anderes Verhältnis zur Jagd hatten. Die Jagd war kein Sport im heutigen Sinn, sondern eine wichtige Lustbarkeit des Hofes. Absolute Herrschaft wurde öffentlich demonstriert. Vorgeführt werden sollte das Beherrschen der Natur, die Entscheidungsgewalt über Leben und Tod, der Wildreichtum des Landes und das alleinige Besitzrecht an den wilden Tieren.

Quelle Herma Klar: Das große fürstliche Hirschwasserjagen im Leonberger Forst 1748 /  Höfische Jagd und bäuerliche Not https://zeitreise-bb.de/jagd-4/ hier

Macht und Triumph

Quelle Elias Canetti: Masse und Macht / Fischer Verlag Frankfurt am Main 1980,1982

Warum den Stier töten: aus Stolz?

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Suzuki: ZEN und der Moment des Satori, – Spiritualisierung des Stiertötens?

Quelle Daisetz Teitaro Suzuki: Zen und die Kultur Japans / Rowohlt Hamburg 1958

(Fortsetzung folgt)

Ich versuche, diese Notizen und Kopien vorzulegen, ehe Reinhard Goebel den zweiten Teil seines Online-Kollegs zu den Brandenburgischen Konzerten über die Bühne bringt. (7.4.21 ab 18.00 Uhr), um danach eventuell zu ergänzen, was in meinen – eher soziopsychologischen – Zusammenhang passt. Soweit ich mich erinnere, kam zum Adagio in diesem Sinn eine Bemerkung über „Hofkritik“ an der Jagd, „inhuman“, „unchristlich“. Mehr über Violino piccolo. (JR Idee: Kannte Bach Vivaldis „Jahreszeiten“, ist darin nicht auch die Solo-Violine das Abbild des fliehenden Wildes? die schöne, jedenfalls pittoreske Hatz in den Tod…)

⇐ letzte Zeilen!

Languida di fuggir mà oppressa muore

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Die schlimmsten Beispiele dafür, dass „Jagen“ (Abschießen) den Menschen (Männern?)  Spaß macht, zitiere ich nicht. Sie stehen in dem Buch SOLDATEN von Sönke Neitzel und Harald Welzer (S. Fischer Frankfurt am Main 2011).

*    *    *

Reinhard Goebel live

Eine spannende Dreistundenstrecke – vorausgesetzt, man kannte die Werke schon recht gut.

Die Notenbeispiele waren nur Sekunden sichtbar, ich saß als Jäger am Anschlag per Screenshot, um sie zur Strecke zu bringen. Die Biber-Fundstücke fand ich sensationell. Im ersten Beispiel (bei dem es Goebel um das Verhältnis Konsonanz und Dissonanz ging) hätte ich noch einen anderen Hinweis hilfreich gefunden: diese Sekundwechsel bedeuten „Hundebellen“. Ich erinnere mich nicht, was mit dem letzten Beispiel (aus BK 1 Adagio) demonstriert wurde. Der Bassgang?

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Oben: ©Goebel-Beispiele / plus JR Blick in die Partitur zum Vergleich

Nachtrag (9.4.21)

Die zweite Goebel-Online-Session vom 7.4.21 ist auf Youtube abrufbar: (das zuletzt gegebene Goebel-Beispiel + Erläuterung siehe im folgenden bei 49:48, jetzt alles o.k.!) RG plädiert dafür, den Satz als „Hofkritik“ (1721) zu verstehen. Schon damals war das Meinungsspektrum über die Jagd gespalten. Unmöglich auch, diesen (in der Intonation) unerhört schwierigen Satz als Einleitung zu einer Kantate wie „Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd“ (1713) auch nur zu denken.

Laufen und Springen (Ostern)

Wie schnell ist Freude?

Man braucht keine Begründung für Bewegungsfreude. Man realisiert sie. Und die Geschwindigkeit ist kein Nebenprodukt. Wir können sie vom Körper an die Finger delegieren. Selbst wenn wir absolut still sitzen und den schnell ablaufenden Notentext synchron mitlesen, sind wir ganz und gar in Bewegung. Es ist ein Freude, auch und gerade in einer Fuge. Mögen andere auf den Begriff „Flucht“ rekurrieren (fuga), es ist klar, dass man ebenso aus eigenen Stücken auf ein Ziel zujagen kann, wie von einem Verfolger zu höchster Eile angetrieben werden. Angst oder Vorfreude, müßig darüber abstrakt zu reflektieren: lieber ohne Angst! Tempo ist besonders schön, wenn es mühelos funktioniert, ohne überschüssige Anspannung. Bei Bachs extrem ausgedehnter Fuge in a-moll BWV 865 bringt uns der Forscher Hermann Keller in Begründungsnot: was hat ein solches Stück im Wohltemperierten Klavier zu suchen, ein leicht ungehobeltes Jugendwerk. Die beiden Fermaten auf der letzten Seite zeigen uns ja auch, was für Mühe es kostet, die einmal losgelassenen Geister wieder einzufangen. Anders hier, in G-dur, BWV 860: „Eine echte und rechte Spielfuge,“ sagt Keller, „deren Elan von ihrem reichen, vielgestaltigen Thema ausgeht, das sich wie ein Kreisel von selbst dreht (…)“.  Und wie recht Bach hatte, das im Temperament dazu passende Praeludium zu erweitern, so dass es nicht einfach läppisch-virtuos vorübersaust, sondern sich auf den Fugenbeginn zuspitzt.

Edwin Fischer 1933 hier  Friedrich Gulda 1972 hier

Oben: Kimiko Ishizaka, unten: Paul Barton

 

Notenbild oben: zuerst der endgültige B-Teil des Praeludiums; auf der nächsten Seite die zwei Zeilen bzw. die 3 Takte, die ursprünglich anstelle der Takte 14 bis Ende gestanden haben (zitiert nach Hermann Keller s.u.). Hier Praeludium und Fuge im Zusammenhang:

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Mir gefällt, was Hermann Keller zu dieser Fuge schreibt (weil man sonst irrigerweise oft glaubt, Fugen seien schwere Denkaufgaben).

Eine echte und rechte Spielfuge, deren Elan von ihrem überaus reichen, vielgestaltigen Thema ausgeht, das sich wie ein Kreisel um sich selbst dreht, dann mit zwei übermütigen Sprüngen erst die Septime, dann die None der Dominante erreicht, und wieder abrollt; eine Fuge, die aus dem Geist des Instruments erfunden wurde. Zwar verläuft die Exposition regelmäßig, auch noch die zweite Durchführung, in der das Thema samt dem Kontrapunkt auf den Kopf gestellt wird (Alt T.20, Sopran T.24, Baß T.28), von da ab aber wird die Form immer lockerer gehandhabt. [etc.]

Ein einzelstehender Baßeinsatz in der Umkehrung (T.69), leiten eine Stretta ein (T.79), aus welcher der Sopran (der eine Terz zu hoch einsetzt!) als Sieger hervorgeht. Er führt die Fuge zu ihrem triumphalen Schluß, in dem sie der ersten Fuge des W.Kl. so ähnlich ist. Sie ist Musik, lebensprühende Musik, die sich ihre Gesetze selbst gibt.

Quelle Hermann Keller: Das Wohltemperierte Klavier von J.S.Bach / Bärenreiter Kassel etc. (Seite 89)

Mit Recht betont Keller auch den Humor, der gerade dort zutage tritt, wo er das Wort Stretta gebraucht: der „einzelstehende Basseinsatz in der Umkehrung“  bezeichnet ja den Beginn der letzten Durchführung, die ihre Fortsetzung findet im Alteinsatz (T.78), der sein Thema vorzeitig beendet, weil ihm die thematisch agierenden Terzparallelen (T.80/81) das Wort abschneiden, von Sextparallelen und einem ultimativen verminderten Septimakkord überboten werden. Eine Coda wird fällig und treibt mit überströmenden Zweiunddreißigstel-Ketten in den Schlussakkord.

Da beschreibt selbst Czaczkes, der sonst immer nur recht hat, eine beinah auch für ihn humoristische Pointe:

Da plötzlich fällt (T.79) der Sopran mit dem Thema in gerader Bewegung ein, den Alt in die entgegengesetzte Richtung mit sich mitreißend, während der Baß vor Schreck sich verläuft. Alt und Sopran bilden hier den engsten Typ einer Engführung, das heißt sie liegen völlig übereinander und bringen das Thema in parallelen Terzen und Sexten. Während der Alt anfangs das Thema in der Normallage von G-dur, der Sopran in der Terzlage, jubiliert, übernimmt von der zweiten Hälfte des Taktes 80 an der Sopran die Normallage der Dominanttonart, den Alt, nach anfänglichem Sträuben, in den Untersexten mit sich führend.

Quelle Ludwig Czaczkes: Analyse der Wohltemperierten Klaviers / Form und Aufbau der Fuge bei Bach Band I / Österreichischer Bundesverlag Wien 1982 (Seite 166)

Nachtrag (8.4.21) Bei Wikipedia gibt es manchmal die Rubrik „Trivia“, und dort hinein gehört wohl die folgende Bemerkung zur Frage, warum es mir solchen Spaß macht, diese Fuge zu üben und zu spielen: da ist vor allem die Zwischenspiel-Sequenz:

Ab Takt 31: Es ist der Anapäst im Bass, der die Betonung auf die 1 verlagert und energetisch geladen innehält. Ein Tanzmoment, wunderbar! Zugleich ab Takt 34 das Aufeinanderzu- und Voneinanderweglaufen der beiden Stimmen (Hände). – Dann in Takt 47 das auffällige erstmalige Auftauchen der Zweiunddreißigstel im Bass, und wieder das Gegeneinanderlaufen der Stimmen, – zu beachten die Zweiunddreißigstel-Parallelen in T.55 (Herkunft aus der Kreisformel des Themas!), in Takt 59, in Takt 64, 75, 80, 83 und gesteigert in der ganzen Koda. Was das Motiv aussagt? Übermut, Freude.

Wenn nun jemand sagte: Müssen die beiden Sätze deshalb auch so schnell gespielt werden, wie oben erlebt? Durchaus nicht, der freudige Charakter hängt nicht am sportlichen Tempo; zum analytischen Hören taugt es aber sehr wohl.

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Soweit war ich zu Ostern und hatte noch genug Zeit, den passenden Konnex Praeludium-Fuge ausgiebig zu üben, – G-dur, das wievielte Mal in meinem Leben? Ich mache mir den Spaß, die früheren Daten zu resümieren: 4.2. bis 2.3.1989, Anfang 92, Juni 94, Nov. 2016, Mai 2017 und eben jetzt, April 2021. Was war los zwischen 1994 bis 2016??? Andere Tonarten, und notiert ist nur wirkliches Üben (nicht zögerliches Durchspielen). Diese zweibändige Gesamtausgabe von Kroll besitze ich seit 1960, als ich sie an der Garderobe der Musikhochschule Fasanenstraße vorfand, antiquarisch und gratis: ein anonymes, großzügiges Geschenk. Inzwischen zerfallen die vergilbten Blätter. Ich werde mir eine neue Ausgabe zulegen und in einer willkürlichen Reihenfolge von vorne beginnen. Es wird alles immer schneller gehen, je älter ich werde. Paradox! Zur Aufnahmeprüfung hatte ich – soweit ich weiß – die Invention in a-moll gespielt, später für eine Zwischenprüfung auch schon BWV 851 d-moll intensiv gearbeitet. Aber ich kannte schon viele aus meines Vaters Czerny-Ausgabe.

Übrigens auch das Wort „Osterlachen“ kam mir, randvoll übersättigt von dem Wort „Corona“, jetzt wieder in den Sinn. Die Krönung des Frühlingsbeginns. Auch das typische Aprilwetter tendiert zum Lächerlichen.

Auch aus Alfred Dürrs schöner Monographie seien zwei Bemerkungen nachgetragen:

War das Thema bekannt oder vorgegeben? Gehört es zur Heiterkeit des Satzes, daß „Gelehrsamkeit“ hier nicht ernst genommen wird? Oder wollte Bach im Gegenteil gerade zeigen, daß er auch widerspenstige Themen zu „zähmen“ verstand? (….)

[Am Ende, nach Aufzählung einiger Auffälligkeiten dieser Fuge:] Ähnlich wie bei der Betrachtung des Themas und seiner Veränderungen ist man auch hier versucht zu fragen, ob alle diese Feststellungen letztlich ein Ergebnis der Leichtigkeit sind, mit der Bach hier das Problem Fuge behandelt, oder ob sie etewa auf eine Vorgeschichte der Komposition deuten, die sich heute nicht mehr durchschauen läßt: Ist die Freizügigkeit in der Behandlung kompositorischer Probleme ein Zeichen jugendlichen Herantastens oder souveränen Über-dem Dingen-Stehens?

Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach / Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel – Basel – London – New York – Prag 1998 / ISBN 3-7618 1229-9 (Seite 181ff)

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Nebenbei arbeite ich noch im Blick auf Reinhard Goebels Fortsetzung „Part II – 300 Years of J.S. Bach’s Brandenburg Concertos“ – „Kirill Gerstein invites“ hosted by Kronberg Academy“ will begin in 1 day on: Date Time: Apr 7, 2021 06:00 PM Amsterdam, Berlin, Rome, Stockholm, Vienna
Ein unglaubliches Stück, für das ich mir ein Plus an Gewissheit erhoffe:; das Adagio des Brandenburgischen Konzertes Nr.1, ein herzzerreißender Klagegesang. Ich werde alles zusammenstellen, von dem ich glaube, dass es etwas zum Thema sagt, Überschrift: der sterbende Hirsch. Es handelt sich ja insgesamt um eine Jagd-Musik. Und Sie mögen es  für einen verspäteten April-Scherz halten: ich weiß, dass der sterbende Hirsch (nach Peter Schleuning) zur Metaphorik des sterbenden Christus gehört („Wie der Hirsch schreit nach dem Wasser“ Psalm 42), habe deswegen allerdings heute nicht in der Bibel nachgeschaut – vielleicht heißt es auch: „nach frischem Wasser“ – , sondern in Hemingways „Tod am Nachmittag“ gelesen. Denn Bach schrieb sein Werk nicht für die Kirche, sondern für weltliche Machthaber. Solche, die die Jagd lieben, – und das Töten der Tiere. Leider. Um so schneidender die Aussage dieses Stücks … heute.

Karfreitagsschmerz?

Horowitz-Notizen

Was war damals?

Um auf den Stand der Dinge zu kommen: ich persönlich habe mich nie brennend für diese Virtuosen interessiert, anders als meine zwei Kommilitonen, die ich dann nach einer unvermeidlichen Entfremdung mitsamt ihren Präferenzen lebenslang gemieden habe. Wie oft hatten wir vorher die Rachmaninoff-Konzerte gehört, untermalt mit den schmachtenden Bemerkungen des Freundes Elmar, steten Hinweisen auf interpretatorische Feinheiten. 15 Jahre später fühlte ich mich durch dieses Interview bestätigt, – der Meister schien mir allzu kindisch. Und nur eine Bemerkung von Zoltán Kocsis ließ mich stutzen:  seine haltlose Bewunderung für die Bassgänge, also: wie sie bei Horowitz klingen, und das schien mir aus dem Mund eines solchen Klangzauberers beachtenswert, anders als einst bei Elmar, der den typischen Klassikphrasen-Jargon pflegte.

Ab 5:46 Wanda

Rico Kaufmann Wikipedia hier

Mir ist es kürzlich folgendermaßen ergangen: Beim Gespräch in meiner Stamm- Buchhandlung wurde mir ein Buch von Lea Singer („kennen Sie doch sicher!?“) empfohlen, hat mit Musik zu tun, mit Horowitz. Das kam mir zupass, Geburtstagsgeschenk für meinen Freund, guter Tipp, und auch Milstein kommt drin vor? Das passt genau. Und ich werd’s parallel lesen, um sicher zu sein… Und dann wurde ich total verunsichert, das kann nichts sein, da versteht man ja seitenlang gar nichts. Und außerdem sind wir ja nicht schwul. Wenn ich hier auch kürzlich ein Buch erworben habe, das ein gewisses Interesse bekundet. (Bruno Gammel: ANDERS FÜHLEN). Ich muss ihm dazu einiges sagen (er ist ja kein notorischer Leser), man sollte auf Seite 32 beginnen, um sich sofort in bekanntem Gelände zu bewegen, und dann irgendwann den Anfang nachholen. Unmöglich diese Frau, ohne Vorwarnung eine Rätselgeschichte für absolute Insider aufzutischen. Ich will gefesselt werden, aber nicht durch highbrow Pseudo-Kunst. Zugegeben: ich hatte versucht, sofort einzutauchen, in Erwartung „leichter Literatur“, heute angefangen, übermorgen fertig. Jetzt empfehle ich, sorgfältig das rückwärtige Cover zu lesen. Und Rezensionen bei Perlentaucher. Oder meinetwegen aus dem Schwulen-Umfeld. Hauptsache: sympathisch und leichtfüßig. Keine Arbeit, – die sich aber nun doch nicht vermeiden lässt. Machen Sie mit? Ich musste ja auch den eigenen Widerstand überwinden. Dem Freund zuliebe.

Aus bestimmten Gründen will ich zunächst etwas im eigenen Blog nachschlagen: …über Mozarts Orgelwalze, hier ist es. Ich bitte um Geduld!

Zurück zum Buch: die NZZ Rezension hier

Und eine ausführlichere, sehr schöne Inhaltsangabe:

https://schwulenkram.wordpress.com/2019/11/03/der-klavierschueler-lea-singer/

Es hat einige Zeit gedauert, ehe bei mir der Groschen fiel (ich hätte es auch längst irgendwo gelesen haben können): Lea Singer ist identisch mit Eva Gesine Baur.

Ehrlich gesagt: die Lektüre ist etwas mühsam geblieben. Wie in Krimis, die mit ständigen Rückblenden arbeiten und so den gutwilligsten Zuschauer der Spannung berauben. Man spürt den Willen zur Kunst, der einen aber nicht in dieses Genre gelockt hat. Auch hier und da unnötig irritierende Wendungen, die nicht von der Sache her motiviert sind. Jedenfalls weniger vergnüglich als – sagen wir – Felix Krull, obwohl man sich an ihn erinnert fühlt.

(Fortsetzung folgt)

Es ist über eine Woche vergangen. Und ich notiere hier den Text, die Seite, die Zeilen, die – nach unregelmäßigen Lektürezeiten – für mich die Schlüsselstelle des Romans repräsentieren. „Der Klavierspieler“ erkennt, welche Rolle Wanda Toscanini, die Tochter des Dirigenten, als Frau für Horowitz spielt:

Zwei Tage später kam am Seefeldquai ein Brief an, den Horowitz an diesem 30.  Januar 1939 aus Lyon an mich geschrieben hatte. Drei Mal musste ich ihn lesen und konnte es nach dem dritten Mal noch immer nicht glauben, was da stand. Wie immer kein Wort über die politische Situation. Aber plötzlich ging es um Wanda und nur um Wanda.

Meine Frau weiß alles über mich. Meine Frau gibt mir absolute Freiheit, aber sie erlaubt in keinem Fall eine Verbindung. Meine Frau weiß über uns beide schon ein Jahr Bescheid, aber sie wollte es nicht sagen. Meine Frau hat deshalb gelitten. Ich liebe meine Frau tief und ernst, und ich will nicht, dass meine Frau leidet. Meine Frau will dich auch mit deiner Familie nicht sehen. Ich kann meine Frau verstehen, dein Vater ist unangenehm und arrogant gewesen. Du stehst zwischen mir und meiner Frau.

Dann kam der Schlag ins Gesicht: Du bist berechnend und kannst nichts mehr von mir haben.

Das war seine Schrift, aber das war nicht er.

Irgendetwas stimmte nicht. Der Brief endete mit dem Bekenntnis: Ich muss Dich sehen, aber es ist unmöglich. Ich fühle für Dich, was ich immer für Dich gefühlt habe. Ich bin traurig.

Mir sei übel, Magendarmverstimmung, redete ich mich am Abend heraus. Ich schloss ab, legte mich aufs Bett, nackt, nur seine dunkelblaue Lanvin-Jacke am Leib, paffte Zigaretten von seiner Marke und trank den Wodka, den er mit Rachmaninow trank.

Erst in der Müdigkeit leuchtete ein Lösungswort auf: Amerika.

Wir werden alle Amerikaner, hatte Horowitz verkündet, der Maestro, seine Frau, meine Frau, meine Tochter und ich. In drei Monaten reisen wir nach Amerika, stehen sofort unter amerikanischem Protektorat, und in drei Jahren werden wir einen amerikanischen Pass bekommen. Dieser Kontinent gehörte, was die klassische Musik anging, derzeit bereits einem einzigen Mann: Arturo Toscanini. Kein anderer konnte ihm das Wasser reichen, was Ruhm und Macht und Prominenz anging.

Ohne Toscanini würde es hart werden, mit Toscanini als Feind eine Katastrophe. Volodjas Frau nannte sich Toscanini-Horowitz. Sie wollte beide Namen haben und musste beide haben, der eine stand für das Geerbte, der andere für den aktuellen Besitz, denn sonst hatte sie nichts. Ihr Vater hatte ihr die Musik geraubt, obwohl sie laut Wally das einzige der drei Kinder war, das sich begabt zeigte. Toscanini hatte ihr Klavierspiel als schändlich bezeichnet und ihr das öffentliche Singen untersagt.

Doch wie hatte sie ihren Mann besiegt? Ich habe sie nie geliebt, hatte er allen seinen Freunden gesagt.

Vier Tage später kam die Aufklärung per Post, verfasst am 5. Februar 1939 in Paris. Wieder ging es nur um Wanda. Meine Frau findet, dass du trotz deiner Begabung keinen Horowitz [als Lehrer] brauchst, ein Zürcher X oder Y wird die genügen. Meine Frau ist ein hochanständiger Mensch mit moralischen Qualitäten. Meine Frau ist der Führer meines Lebens! Meine Frau versteht einige Seitensprünge, aber sie versteht wie jede Frau nicht, dass man ein Gefühl für einen Mann haben kann und darf. Für meine Frau ist es eine Krankheit, die man heilen soll. Meine Frau geht, wenn ich mit dir verkehre. Meine Frau hat furchbar gelitten, sie ist fast nervenkrank geworden.

Und dann der entscheidende Satz: Meine Frau wollte ohne mich nicht mehr leben.

Wanda hatte mit Suizid gedroht.

Der Krieger kennt keine Skrupel, sagte mein Großvater.

Wanda hatte gesiegt, weil sie gekämpft hatte, mit allen Mitteln.

Ich war ein Feigling. Ich hatte zu Recht verloren.

Kaufmann sank auf dem Küchenstuhl entkräftet in sich zusammen.

Donati stand auf und küsste ihn.

Quelle Lea Singer: Der Klavierschüler / dtv München 2021 ISBN 978-3-423-14793-4 (S.150f) [Es folgen noch 70 Seiten.]

Analyse, Geläufigkeit, Ekstase

Aus einer Neuen Welt (1-4-21 5.30 h)

Ich möchte (zunächst) nur Stichworte sammeln, die den Vorgang bezeichnen, umzudenken. Den Vorgang des Umdenkens zu protollieren. Also: Neues wahrzunehmen, mitzudenken, nach-zu-denken, ohne es mit Hilfe von Stichworten, Etiketten, Schubladen nur abzufertigen, abzulegen, aus dem Gesichtsfeld verschwinden zu lassen. Es solange anzuschauen, bis es seine Sprache zu verändern scheint. Ähnlich, wie ich heute um 5.35 das entfernte Solo eines Schwarzdrosselmännchens  aufgezeichnet habe, das mich seit einigen Tagen beunruhigt. Es war günstig, obwohl es in einiger Entfernung, wenn auch noch greifbarer Nachbarschaft hinter den Häusern erklang. Aber der Gründonnerstagmorgen ansonsten war still, es gab auch noch kein erleuchtetes Fenster irgendwo. Im übrigen hatte ich beim Aufwachen sofort an dieses Keyboard-Solo gedacht, das ich vor drei Tagen kennengelernt und hier zugänglich gemacht hatte. Die drei Worte des Titels schienen mir treffend die Faszination zu bezeichnen, die durch die Musik und die gefilmte Situation der musizierenden Interpreten ausgelöst worden war. Dauer 10:44

Falls es Ihnen wie mir beim ersten Einschalten ergeht (abgesehen von dem Unglück, wenn es mit einer Reklameeinspielung beginnt): ich mag den angeberischen Ton der Trompeten im Bigband-Sound nicht, – bewahren Sie Geduld, es geht zunächst um das Erlebnis des Synthesizer-Solos, danach werden auch die Trompeten anders klingen…

Kein Zufall, dass fast zur gleichen Zeit eine neue zusammenfassende Ästhetik ins Gesichtsfeld tritt, die Aufmerksamkeit fordert. („Wissen im Klang“ 2020)

https://de.wikipedia.org/wiki/Snarky_Puppy Hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Cory_Henry Hier

Dank an JMR (*1.4.66)

„Hier findest Du eine Analyse des Synthesizer-Solos (inklusive
Archivaufnahmen des Organisten im Alter von vier Jahren…)“

https://youtu.be/H5REJ1SXNDQ

Detail um 13:10

Andere Analyse (Transkription des Solos!)

In the Mix: Snarky Puppy – Lingus / Cory Henry Solo

Das Solo plus Notation:

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An einem grauen Frühlingstag

Was nicht vergehen kann

Wann habe ich all diese Bände der alten Ausgabe Bachscher Orgelwerke von Peters erworben? Diesen jedenfalls am 31.Okt.1984. Und warum höre ich gerade diesen Choral jeden Morgen und gleich anschließend – jahreszeitlich noch unpassender – „Nun komm der Heiden Heiland“? (Ostern steht vor der Tür). Aus klanglichen Gründen, Klavierklang, ja, und wegen des enigmatischen Charakters, die Orgel hätte das wahrscheinlich nicht vermocht. Seltsamerweise „Bonustracks“ – was soll das heißen? Sie waren der Kaufgrund, hier habe ich hineingehört: hier.

Ich höre den Ton a – und ein zweites Mal den Ton a – und den gleichen in der Tiefe, chromatisch aufwärts führend. Das muss ich haben. Was gibt es denn sonst noch? Schubert f-moll, wunderschön und oft gehört und auch selbst gespielt (zuletzt immer mit Konrad Burr, der leider verstorben ist), Mozart D-dur – auch, das haben schon die Kinder im Konzert gespielt, nein, das ist die andere in D-dur, die vierhändige für 1 Piano, und diese wirkt wie ein Double. Der Sache muss ich nachgehen. Aber jetzt: „Das alte Jahr vergangen ist“ – wie neu – kommt das durch Kurtágs Bearbeitung? Ich wette, kein einziger Ton ist verändert; es ist eine rein klangliche Bearbeitung, natürlich. Von dem Piano-Duo Scholtes & Janssen habe ich noch nie gehört, sehr schön, das Booklet ist spartanisch ausgestattet, im Text konzentrieren die beiden sich merkwürdigerweise auf Mozart und dann auch noch auf eine – wie mir scheint – etwas obskure Mozart-Psychologie-Literatur, ich weiß nicht, ob ich noch etwas über den Mozart-Effekt erfahren will, und offenbar immer nur anhand dieser Sonate. Das macht einer dem anderen nach; es gibt keinen musikalischen Grund, die andere (an einem Klavier) täte garantiert den gleichen Dienst, wenn man nur an ihn glaubt. Und Schubert erst recht…

Aber hier zunächst der zweite Choral, zugegeben in einer recht grau geratenen Kopie: und sein Geheimnis ist, dass er hier wie ein Kommentar zum vorhergehenden Choral klingt, zumal man die Melodie kaum dingfest machen kann; sie beginnt tatsächlich mit dem ersten Ton. Aber man empfindet das neue Motiv wie eine Abwandlung des zuletzt gehörten Schlusstaktes. Und es klingt nun wie der verhaltene Anfang einer Fantasie oder Toccata.

Zurück! Was habe ich vom bloßen Klang gesagt? Der niederländische Organist Bart Jacobs liebt das Choralvorspiel und speziell den ersten Ton auf seine Weise, – und wie er recht hat! Aber könnte ich eigentlich die Melodie auch ohne Bachs Ornamentik wiedergeben? Sie steht nicht mehr in unserem Gesangbuch der 50er Jahre. (Da ist derselbe Text mit „Vom Himmel hoch“-Melodie versehen.) Erfasse ich sie leichter In der Orgelfassung? Hier (Achtung: nach 3 Minuten das Ausschalten nicht vergessen, sonst knallt’s!)

Oder mit Erläuterungen des sympathischen Organisten Bart Jacobs. Zu beachten die Orgel in Haarlem St. Bavo von Christian Müller aus dem Jahre 1738.

Derselbe Choral mit einfacher Melodie (in der C.P.E.Bach / Kirnberger Sammlung BWV 288); sie ist tatsächlich von unglaublich einfacher, um nicht zu sagen eintöniger Struktur. Immer wieder der Zug zum Ton E (phrygisch), die Modulation zum A und zurück zum E, alternativ auch zum F, der Schluss aber merkwürdigerweise auf der Terz Gis. Mehrere Verlegenheiten? (Vielleicht gerade passend zur Grundstimmung der Traurigkeit.)

(Fortsetzung folgt)

Zu Mozart: Notentext repetieren, am besten anhand der Version Kocsis/Ránki hier.