Was das Dritte Brandenburgische in meinem Leben bedeutete, habe ich einmal beschrieben, als ich mich in einem Vortrag an den Cembalisten Fritz Neumeyer erinnerte:
Für mich begann eine neue Dimension, als ich Albert Schweitzers Bach-Buch aus der Stadtbücherei entlieh, wodurch die Kleine Chronik der Anna Magdalena Bach im Handumdrehen entthront war. Ich hörte vom Bach-Bogen, den ich glaubte eines Tages besitzen zu müssen, wenn ich die Solosonaten ordentlich spielen wollte. (Ein Mythos, den Schering und Schweitzer aufgebracht haben.) Und irgendwann hörte ich eine Aufnahme mit Emil Telmanyi, der einen sogenannten Bach-Bogen verwendete, und dachte: so möchte ich nie spielen. Dann begeisterte mich eine Aufnahme des dritten Brandenburgischen Konzertes, ganz besonders der Mittelsatz, da wusste ich noch nicht, dass es den gar nicht gibt: Bach hat ja zwischen die beiden schnellen Sätze nur eine Überleitung von zwei Akkorden geschrieben, die man – so glaubte man – zu einer kleinen Kadenz erweitern kann. Und hier hörte ich nun eine riesige Cembalo-Kadenz, hochromantisch, wie ich fand, gewaltigster Bach, dachte ich, – aber es war – Eduard Müller aus Basel (siehe hier). Jahrzehnte habe ich geglaubt, es müsse Fritz Neumeyer gewesen sein, aber aufgrund der modernen Internetrecherche kann ich mit Bestimmtheit sagen: es war die Archiv-Produktion Februar 1954, Schola Cantorum Basiliensis, Leitung August Wenzinger, und auf dem Cover stand sogar: Cembalo-Kadenz Eduard Müller, aber das besagte für mich nichts, – er war halt der Interpret. (Zu seinen Schülern gehörte übrigens Gustav Leonhardt.) Jedenfalls hörte ich zum erstenmal ein Cembalo, das mir gefiel. Vermutlich habe ich den Klang des Cembalos beim damaligen Stand unserer Wiedergabetechnik gar nicht recht beurteilen können, mir hat die ungewöhnliche Machart gefallen, der Ausbruch aus dem barocken Schema. Vielleicht das, was man später Agogik nannte. Ich habe die Aufnahme wieder aufgetrieben und werde dies Beispiel nachher noch anspielen. Wenn man rückblickend feststellen will, was eigentlich revolutionär war an der Aufführungspraxis alter Musik, wie sie seit den 30er Jahren umgesetzt wurde, war es vor allem der Klangkörper, nicht die Spielart, am auffälligsten bei den Cembali und später bei den Hammerflügeln. Das Verteufelte war: es gab ja dem Namen nach jede Menge Cembali, sogar in jedem Theater, aber nur solche der Firma Neupert, und die waren dem modernen Klavierbau angepasst. Und allgemein war man wohl der Ansicht, „der typische Cembaloklang offenbare sich vor allem in der klanglichen Differenzierung durch die verschiedenen Registrierungsmöglichkeiten“. (Gutknecht S.128). Was ein Irrtum war.
Die Partitur kannte ich noch nicht, ich begann ja erst zu sammeln, wie die folgende Titelseite zeigt; wiederum war es die Cembalo-Kadenz (des ersten Satzes) , die mich in ihrem schieren Ausmaß zum Staunen brachte, und sie stammte zweifellos von Bach selbst.
Ein weiteres Zeugnis stammt aus der Zeit um 1963, während des Schulmusikstudiums in Köln: die Frau meines Freundes Klaus Giersch hat mir ihre 1959 erworbene Partitur überlassen, damit ich die Redeteile darin kennzeichne: den Analysetext habe ich einer Vorlage entnommen, deren Quelle ich nicht mehr weiß. Hilfreich immer noch, frühzeitig bezog sich auch Goebel sich auf diese inzwischen recht bekannte barocke Formbildung bezieht, ich nahm sie ganz ernst seit Harnoncourts Buch „Musik als Klangrede“ (1983); prompt möchte ich meine Einzeichnungen zeitlich relativieren; ich fühlte mich erst auf sicherem Boden, seit ich von Jacobus Kloppers „Die Interpretation und Wiedergabe der Orgelwerke Bachs“ gelesen hatte (Frankfurt a.M.1966) . – [Am Anfang ist die Angabe: „1-8 Exordium“ verdeckt.] Es empfiehlt, die Noten mit den analytischen Bemerkungen zu der recht gemütlichen Youtube-Aufnahme mitzulesen, die um 1966 mit dem Collegium Aureum entstand, Leitung Franzjosef Maier (der mein Lehrer war, übrigens auch der von Reinhard Goebel, welcher zwei Jahrzehnte später für eine Präferenzaufnahme sorgte, die zumindest tempomäßig alles Vorherige in den Schatten stellte).
1 2 3 4 5 6 7 8 91011
2003 kam ein neuer Schub durch Peter Schleuning, der mir wichtig war durch die Monographie über die „Kunst der Fuge“ (1993). Jetzt wundert es mich, wie sein Buch über die „Brandenburgischen Konzerte“ von Unsicherheiten geprägt ist, speziell über die Semantik des Dritten. Keine 9 Musen treten auf, so bleibt manches an Bachs Schreibweise rätselhaft (3 fast identische Bass-Stimmen in der Partitur notengetreu ausgeschrieben – fürs Auge des „musischen“ Markgrafen). In der historischen Einordnung stimmt er bereits (nach Elmar Budde, Heinrich Besseler und Martin Geck !) mit Goebels Ansicht überein, dass es sich um so etwas wie einen Abgesang auf die italienische und deutsche Ensemblemusik des 17. Jahrhunderts handelt. Wobei Goebel noch weitere Namen in Betracht zieht und vor allem ein Werk, das Bach seit Jugendzeiten kennt: Canon & Gigue von Pachelbel.
P.Schleuning (2003) Goebel (2023)
Reinhard Goebels Buch wächst einem ans Herz, wo sich Gelehrsamkeit mit Begeisterung mischt. Selbst wenn man das Wort Noema noch nie gehört hat (siehe hier).
Die einzigartige Geschlossenheit des Concerto III, die sich dem Hörer insonderheit dann erschließt, wenn die Tempogleichheit [Anm.: Aus Vierteln werden punktierte Viertel. Der Schlag bleibt im Tempo gleich, die Bewegung innerhalb des Schlages ändert sich, wird schneller.] beider Sätze realisiert wird, ist letztlich die Folge der ständigen Rückbesinnung und Bezugnahme auf die überschaubare Menge der Einzelmotive des Exordiums und der Narratio und ihrer Verarbeitung in Noema, Kanon, sowie verschiedenen Arten von Divisio.
Dabei beziehen sich größere Formteile aufeinander, wie z.B. im ersten Satz das „nachgeholte“ Solo der driten Violine, welches Bach im vorderen Satzteil, wo es nach den Soli von erster Violin (Takt 47) und zweiter Violine (Takt 51) hätte erscheinen müssen/können/sollen, ausgespart hat, um uns Takte 67 augenzwinkernd mitzuteilen: „Nein. ich habe die dritte Violine nicht vergessen: Voilà!“
Einen ähnlichen Scherz hören wir im ersten Satz auch in der Confutatio Takt 78, deren aus den Hauptmotiven entwickelte Oberstimmen mit dem aus Takt 5 stammenden stufenweise gehenden Bass – eben dem Widerspruch zur ansonsten omnipräsenten Dreiklangsbrechung – unterlegt sind. Pflichtgemäß, aber in der sich anbahnenden Catastrophe kaum noch hörbar – hat man sie nicht längst vergessen? – meldet sich in Takt 86 die dritte Violine unisono mit dem Soggetto der Confutatio zu Wort, bevor ab der Mitte von Takt 87 dann die ereignisreichsten Takte des Satzes vom forte in dreimaligen Abstieg (absteigend und insofern decrescendierend) in ein piano begleitetes Solo der ersten Violin zu diffundieren beginnen.
[JR: Takt 78 siehe in der hier wiedergegebenen Partitur oben s. ab Seite 14 (Blatt 8)]
Bewundert man am ersten Satz die grandiose Erfindungsgabe und die diffizile Kleinarbeit in der Verteilung auf die drei Instrumentengruppen, so lebt der vergleichsweise ereignisarme Schluss-Satz von der generösen Zusammenfassung großer Ereignis-Felder im vor allem richtigen Tempo.
Quelle Reinhard Goebel: a.a.O. Seite 73 f , s.a. hier
Die Vorstellung vom richtigen Tempo, den beiden Akkorden statt des langsamen Satzes, von der präzisen Tempo-Relation zwischen den beiden schnellen Sätzen hatte Reinhard Goebel in seiner Aufnahme dieses Concertos für die Gesamt-CD der Brandenburgischen Konzerte 1986 in atemberaubender Weise realisiert. Und es lohnt sich auch, seine damalige Auffassung von Bach-Interpretation im Booklet nachzulesen:
Die Aufnahme von damals ist als CD dem Buch beigefügt (allerdings ohne die C-dur-Suite, bei der ich mitwirken durfte…), hier ist die alte Liste der Tracks und der Mitwirkenden:
und das CD-Cover:
Für mich gehört diese „alte“, nicht alternde Produktion ebenso wie das aktuelle Buch von Reinhard Goebel zu den Meilensteinen der Alte-Musik-Renaissance unserer Zeit. Dem unerhörten, ewig jungen Bach zweifellos angemessen.
Gleichwohl liebe ich das abschließende, irgendwie auch wieder historisch relativierende Resümee des Kapitels vom Brandenburgischen Konzert Nr. III:
Letztlich aber ist das Concerto III auch und vor allem ein Musée sentimental, Bachs später Gruß zurück ins 17. Jahrhundert und zusammen mit dem Concerto VI sein Abschied von den Klängen der Ensemblemusik seiner Kindheit und seiner Adoleszenz. Es ist der im 18. Jahrhundert nachgelieferte Zenit, das Summum opus aus der Kunst eines David Pohle, Johann Pezel, Johann Pachelbel, eines Dieterich Buxtehude und eines Heinrich Ignaz Franz Biber.
Man glaubt es nicht, wenn man das Herren-Ensemble in Perücken auf dem Gemälde betrachtet. Aber es hat keinerlei Beweiskraft. So ist der virulente Faktor Moderne nicht auszuschalten…
Und was das mit Peter Schleuning und Bach zu tun hat
. . . . .
Man höre diesen Satz aus dem Brandenburgischen Konzert Nr. 1 hier . Das Bild habe ich aus freien Stücken hinzugefügt (Vom teutschen Jäger 1749). Heutzutage ist es schwer zu verstehen, weshalb die Identifikation mit dem Opfer, das dem Lamm oder dem leidenden Jesus zum Verwechseln nahekommt, nicht unmittelbar zu dessen imaginärer Verschonung führt. Oder genügt es, sich die Auflösung des Dilemmas zu denken?? Es gibt keine Bösen wie in der Passion. Stattdessen gehen WIR „mitleidlos“ weiter mit der Vorstellungswelt JAGD, und das heißt: Höfischer Festtag, Freude, Genuss, Triumph. Man kann nur folgern, dass in jener Welt der hier abgebildete Tod (der Jammer, der Schmerz des ANDEREN) zur Vollkommenheit der „Party“ gehört. Zur Machtvollkommenheit des Fürsten. (Ein Zyniker sagte: „Es genügt nicht reich zu sein, – die andern müssen auch arm sein!“) August der Starke schoss vom Fenster aus einen Dachdecker vom Dach, um seiner Geliebten ein lustiges Spektakel zu bieten.
Peter Schleuning hat als Musiker vielleicht erstmals den Gehalt dieses Bachschen Satzes innerhalb der großen Jagdmusik problematisiert bzw. historisch „eingebettet“. Ich versuche, das auf meine Weise nachzuvollziehen.
Quelle Peter Schleuning: Johann Sebastian Bach Die Brandenburgischen Konzerte / Bärenreiter Kassel Basel etc. 2003 (Seite 44f)
* * *
Zur Psychologie des Jagens (Eine Frau über den Moment des Todesschusses)
Plötzlich sehe ich eine erneute Bewegung. Ein Hirsch zieht diesmal auf selber Höhe, allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Ein Blick durch mein Glas, und mir ist sofort klar: Er ist es! Um nicht auch diese Gelegenheit ungenutzt an mir vorbeiziehen zu lassen, nehme ich diesmal meine Waffe auf und erkenne durchs Zielfernrohr, dass die Körpermasse eindeutig nach vorne verlagert ist und somit alle Kriterien auf einen wirklich reifen Hirsch schließen lassen. Als der Hirsch kurz verhofft, lasse ich die .30-06-Evolution fliegen und bin erstaunt, wie ruhig dieser Vorgang verläuft. Weniger beruhigend ist, dass der Hirsch nicht zeichnet und im leichten Troll davonzieht. Erlöst bin ich dann doch, als ich den Hirsch nach einer kurzen Flucht von etwa 50 Metern zusammenbrechen sehe.
Es begann mit dem Öffnen des Wildgeheges. Etwa 800 Hirsche, Rehe und Wildschweine rannten nun ahnungslos unter den Bögen hindurch und stürzten eine steile Böschung hinab in den durch eine Hecke verdeckten See.
„Das Gewild kame durch die bey obbemeldten Castellen besonders zubereitete Schwibbögen und verschiedene wohlausgezierte Öffnungen haufenweise heraus, und wurde daselbst von einer Höhe zu 14 Schuh in das Wasser herab gesprengt, und alsbald unter währendem Schwimmen, aus dem Schirm heraus von anwesenden Hohen Herrschaften und anderen Hohen Personen geschossen.
Die Hohe Jagd-Gesellschaft fande hiebey das gewünschteste Vergnügen.Sie ergötzen Sich bald an den artigen Erfindungen und Einrichtungen dieses Jagens: bald über das herunterburzeln des Gewilds von dem darzu gemachten Absprung: bald über das ängstlich – und doch vergebliche Fliehen desselben. Die Zuschauer aber, deren von nahen und fernen Orten viele tausend gezehlet werden konnten, bemerkten solche Seltenheiten, die sie in beständiger Verwunderung unterhielten.“
Bis zum Abend erlegte die Festgesellschaft etwa 400 Tiere. Das überlebende Wild wurde wieder in die Freiheit entlassen. Den krönenden Abschluss bildete ein großartiges Festbankett im Schloß zu Ludwigsburg.
Uns ist heute gänzlich unverständlich, daß das massenhafte Abschlachten von Tieren als Vergnügen empfunden wurde. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die Menschen des Barockzeitalters ein anderes Verhältnis zur Jagd hatten. Die Jagd war kein Sport im heutigen Sinn, sondern eine wichtige Lustbarkeit des Hofes. Absolute Herrschaft wurde öffentlich demonstriert. Vorgeführt werden sollte das Beherrschen der Natur, die Entscheidungsgewalt über Leben und Tod, der Wildreichtum des Landes und das alleinige Besitzrecht an den wilden Tieren.
Quelle Herma Klar: Das große fürstliche Hirschwasserjagen im Leonberger Forst 1748 / Höfische Jagd und bäuerliche Not https://zeitreise-bb.de/jagd-4/ hier
Macht und Triumph
Quelle Elias Canetti: Masse und Macht / Fischer Verlag Frankfurt am Main 1980,1982
Warum den Stier töten: aus Stolz?
. . . . . . . .
Suzuki: ZEN und der Moment des Satori, – Spiritualisierung des Stiertötens?
Quelle Daisetz Teitaro Suzuki: Zen und die Kultur Japans / Rowohlt Hamburg 1958
(Fortsetzung folgt)
Ich versuche, diese Notizen und Kopien vorzulegen, ehe Reinhard Goebel den zweiten Teil seines Online-Kollegs zu den Brandenburgischen Konzerten über die Bühne bringt. (7.4.21 ab 18.00 Uhr), um danach eventuell zu ergänzen, was in meinen – eher soziopsychologischen – Zusammenhang passt. Soweit ich mich erinnere, kam zum Adagio in diesem Sinn eine Bemerkung über „Hofkritik“ an der Jagd, „inhuman“, „unchristlich“. Mehr über Violino piccolo. (JR Idee: Kannte Bach Vivaldis „Jahreszeiten“, ist darin nicht auch die Solo-Violine das Abbild des fliehenden Wildes? die schöne, jedenfalls pittoreske Hatz in den Tod…)
⇐ letzte Zeilen!
Languida di fuggir mà oppressa muore
* * *
Die schlimmsten Beispiele dafür, dass „Jagen“ (Abschießen) den Menschen (Männern?) Spaß macht, zitiere ich nicht. Sie stehen in dem Buch SOLDATEN von Sönke Neitzel und Harald Welzer (S. Fischer Frankfurt am Main 2011).
* * *
Reinhard Goebel live
Eine spannende Dreistundenstrecke – vorausgesetzt, man kannte die Werke schon recht gut.
Die Notenbeispiele waren nur Sekunden sichtbar, ich saß als Jäger am Anschlag per Screenshot, um sie zur Strecke zu bringen. Die Biber-Fundstücke fand ich sensationell. Im ersten Beispiel (bei dem es Goebel um das Verhältnis Konsonanz und Dissonanz ging) hätte ich noch einen anderen Hinweis hilfreich gefunden: diese Sekundwechsel bedeuten „Hundebellen“. Ich erinnere mich nicht, was mit dem letzten Beispiel (aus BK 1 Adagio) demonstriert wurde. Der Bassgang?
Die zweite Goebel-Online-Session vom 7.4.21 ist auf Youtube abrufbar: (das zuletzt gegebene Goebel-Beispiel + Erläuterung siehe im folgenden bei 49:48, jetzt alles o.k.!) RG plädiert dafür, den Satz als „Hofkritik“ (1721) zu verstehen. Schon damals war das Meinungsspektrum über die Jagd gespalten. Unmöglich auch, diesen (in der Intonation) unerhört schwierigen Satz als Einleitung zu einer Kantate wie „Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd“ (1713) auch nur zu denken.
Ausgerechnet dieses grundlegende Buch fehlte mir zeitlebens, obwohl ich den Begriff „stile antico“ gern verwendete und durchaus wissen konnte, wo ich das entsprechende Fachwissen erwerben würde. Allerdings glaubte ich, genug darüber erfahren zu haben, etwa beim Studium der Bachschen „Kunst der Fuge“ und der entsprechenden Sekundärliteratur; vor allem Peter Schleuning begeisterte mich. Hier eine Kostprobe:
Dann aber vor allem im späteren Kapitel Antike-Rezeption II: Stile antico und Antike
Quelle Peter Schleuning: Johann Sebastian Bachs ‚Kunst der Fuge‘ / Ideologien Entstehung Analyse / dtv Bärenreiter München Kassel etc 1998
Und schon ist man für einige Jahre versorgt, man kehrt jederzeit gern zurück, aber man vergisst auch vieles wieder. Oder Schriften, die lange im Schrank geschlummert haben, gewinnen plötzlich wieder Bedeutung, z.B. das Bändchen, in dem ich mir einige Aufsätze ausgesucht und wichtige Hinweise mit roter Farbe markiert hatte, etwa den Hinweis auf Christoph Wolffs frühe Arbeit:
Quelle siehe nächste Kopie!
Schlimmer noch: ich hatte sogar direkten Kontakt gesucht und gefunden. Wie auch sonst oft genug, sind mir dann die Aufgaben über den Kopf gewachsen. Ich hatte ja einen Hauptberuf, der eher musikethnologisch ausgerichtet und mit vielen eigenen Radiosendungen verbunden war, und ich musste üben, weil es Konzerte gab. Ein väterlicher Hinweis, der mich entgegen seiner Intention völlig entmutigte, war übrigens der, dass man heutzutage in der Forschung nicht nur am Werk arbeite, sondern am ganzen historischen Umfeld… Was ich trotzdem schaffte, habe ich 4 Jahre später im Beitrag zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Josef Kuckertz vorgelegt (siehe hier), der trotz des nicht-ethnologischen Themas eine erstaunlich wohlwollende Haltung zeigte.
Ab Seite 82 findet man den oben zitierten Beitrag von Alfred Mann „Bach und die Fuxsche Lehre / Theorie und Kompositionspraxis“.
Und in dem auf Seite 87 avisierten Gespräch findet man auch den Namen Michael Schneider, Orgel-Prof. an der Kölner Musikhochschule; Vater des Oboisten Christian Schneider, früher bei den Düsseldorfer Symphonikern, später Oboen-Prof. an der Kölner Hochschule, Sammler ethnischer Instrumente. Schöne Bibliothek, – bei ihm stehen die wichtigsten Werke von Christoph Wolff, die älteren noch aus dem Besitz des Vaters, mit fachkundigen Lesespuren (M.Schneider war in Berlin Chr. Wolffs Lehrer), wie man hier sehen kann:
Quelle Christoph Wolff: Der Stile Antico in der Musik Johann Sebastian Bachs / Studien zu Bachs Spätwerk / Franz Steiner Verlag Wiesbaden 1968 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft / Herausgegeben von Hans Heinrich Eggebrecht in Verbindung mit Heinrich Besseler, Walter Gerstenberger, Kurt von Fischer und Arnold Schmitz)
Im Vorwort wird Prof. Dr. Michael Schneider mit Dank bedacht:
Was mich heute besonders interessiert: in Kapitel IV der Abschnitt 4. Zur harmonischen Gestaltung a) Kontrapunktik und Akkordfunktion. Warum? Mir schien immer schon die Polarität zwischen Fuge und Choral für Bach zentral. So blieb auch beim Studium des Buches von Ernst Kurth eine Grundfrage: wie ist die Rolle der Harmonik in der Einstimmigkeit der Solissimo-Werke Bachs zu verstehen?
Ich notiere zunächst einiges zum stile antico (Wolff a.a.O. ab Seite 36):
Wir verstehen den stile antico bei Bach als eine Kompositionsmanier, der die charakteristischen Stilprinzipien der klassischen Vokalpolyphonie zugrunde liegen, ohne daß damit ein Aufnehmen spätbarocker Elemente und die Möglichkeit zu individueller Gestaltung ausgeschlossen sind. […]
a) Die Erscheinungsformen des stile antico im 17. und 18. Jahrhundert sind im wesentlichen durch einige Grundmerkmale geprägt, die aus dem vokalpolyphonen Stil des 16. Jahrhunderts abgeleitet werden können. Diese beziehen sich auf Taktordnung und Zeitmaß, auf rhythmische, melodische und harmonische Gestaltung, polyphone Struktur und Klangform der Musik. […] Vielmehr müssen die für den stile antico bezeichnenden und entscheidenden Merkmale herauskristallisiert werden. In ihrer musikalischen Substanz sind sie vielschichtiger und tiefergreifend als etwa die Elemente des französischen Stils (wie Ouverture, Ornamentik, Jeu inégal und anderes) oder des italienischen Stils (wie Concerto, Da.capo-Form, kantable Melodik und anderes). Sie vermögen daher auch das Gesamtbild der Komposition stärker und einheitlicher zu formen.
b) […] Wir können grundsätzlich nicht alle kompositionstechnischen Einzelheiten der vokalpolyphonen Satzweise, wie sie von der heutigen deskriptiven Musiktheorie am Werk Palestrinas systematisch herausgearbeitet wird, dem stile antico abverlangen. Weder bei Bach noch bei anderen Meistern seiner Zeit wäre dies sonderlich sinnvoll, da der Wandel gewisser allgemeiner Stilmomente vom 16. bis ins 18. Jahrhundert nicht unberücksichtigt bleiben darf.
Ich verstehe es so, dass bestimmte Freiheiten des Satzes, die sich im Lauf der Geschichte eingestellt hatten oder die von Komponisten erschlossen wurden, nicht zugunsten einer altertümlichen Strenge restituiert wurden. In Bezug auf Bach ist besonders interessant, welche alten Kompositionen er sich zur Aufführung oder zum Studium hergerichtet hat und was ihm dabei wichtig gewesen ist. Weiter bei Wolff:
d) […] Wenn wir uns hier auf die nachweisbaren Kopien lateinischer Figuralstücke (…) beschränken, reicht die Spannweite von Palestrinas Missa sine nomine (Erstdruck 1590) bis zu den beiden Sätzen Fac, ut ardeat cor meum und Amen aus Pergolesis Stabat mater (komponiert um 1737/36).
Direkter Vergleich: Palestrina hier (Credo bei 9:23) Palestrina/Bach Credo hier.
Ein entscheidender Satz zum Verhältnis zwischen der Linearität der Stimmen und den vertikal gedachten Harmonieblöcken steht im Kapitel zur „Aufgabe des Generalbasses“ (Seite 78 f). Und tatsächlich fehlt auch der Hinweis auf Ernst Kurth nicht :
Die Akkordfolge, der harmonische Aktionsrhythmus, richtet sich allein nach dem Bewegungsmaß der Vokalstimmen; die horizontal gespannte Richtung der Polyphonie erlaubt kein vertikales Zerstückeln. Hier wird die antithetische Position von Melodie als „strömender Kraft“ und der Akkordspannung als „verhaltener, beharrender Kraft“ gelockert und eindeutig mit dem Schwergewicht auf das melodisch-rhythmische Geschehen innerhalb des mehrstimmigen Satzgefüges verlagert.
In Anmerkung 85 findet man den Hinweis auf Ernst Kurth , und die beiden Seiten 80 und 81 sollte man unbedingt bei der Analyse der Bachschen Generalbassbezeichnungen zu Palestrinas Messe verinnerlicht haben:
Die von Bach bearbeitete, d.h. vor allem mit Generalbassziffern bezeichnete Palestrina-Partitur, kann man im Anhang des Buches nachlesen:
Es reizt mich, eine immer mal wieder sinnlos erscheinende Frage zu stellen, – die Frage nach dem Sinn. Vielleicht damit sie vorübergehend zum Schweigen kommt. Genauso wie die Frage nach dem Sinn des Lebens.
Im Fall Bach kann es zum Beispiel nicht der „Sinn“ eines Stückes zu sein, einen Text herauszulesen, oder einen Affekt zu benennen, oder eine Engführung der Stimmen zu erkennen. Eben hörte ich Philippe Jaroussky mit der Kantate „Ich habe genug“. Angenommen es wäre ein reines Instrumentalstück, – was wäre gewonnen, wenn ich enträtselte, dass es mir sagen will: „Ich habe genug“? Gewiss, auch in der Aria „Schlummert ein“ gefällt mir, dass ihre Überlänge, ihr Nicht-Endenwollen, wodurch sie schöner als schön wird, wirklich mit dem Schlaf (und seiner Süße) zu tun hat, sozusagen „offiziell“. Ich habe noch lange nicht genug! Ähnlich wie in „Schlafe mein Liebster, genieße die Ruh“. Langweilig vielleicht nur, wenn wir wirklich müde sind… Aber ist das der Sinn?
In dem wiederentdeckten, gestern schon zitierten Buch von Martin Geck, gibt es ein Kapitel, das heißt: Bachs künstlerischer Endzweck. Daraus möchte ich zitieren:
Bachs Lebens- und Schaffensgang steht unter dem Endzweck, das Reich der Musik in allen Richtungen zu erforschen und zu erobern – das Alte bewahrend, Neues entdeckend. Eine ähnlich absolute Entscheidung, das eigene Ingenium der Offenbarung des musikalischen Gesetzes dienstbar zu machen, hat kein anderer Komponist der abendländischen Musikgeschichte getroffen. Dies wird deutlich an dem Gegenbild des Zeitgenossen Georg Friedrich Händel, der zunächst eine Karriere als Opernkomponist anstrebt und verwirklicht, um danach – auf der Höhe seines Ruhms – in seinen Oratorien humanitäre Ideen zu verkünden: Die Dynamik dieses Lebens- und Schaffensganges ist eindrucksvoll, dient aber nicht der Erhellung des der Musik immanenten Gesetzes, sondern der Verherrlichung des Menschen. Selbst Beethoven, der durch seine Leidenschaftlichkeit, Form- und Gattungsprobleme in die letzte Konsequenz zu verfolgen, Bach am nächsten kommt, komponiert aus einem von Grund auf anderen Geist: Erfüllt Bach das Gesetz der Musik, so ringt Beethoven darum, das Gesetz, d.h. den kategorischen Imperativ Kants, durch die Musik zu erfüllen; dementsprechend führt Beethovens Spätwerk aus der Musik heraus in die Bereiche philosophischer und ethischer Spekulation, während das Spätwerk Bachs in den Kern der Musik hineinführt
Was befähigt Bach zu einem so gearteten Werk? Es ist sein musikalisches Ingenium, das ihn die Frage nach dem Gesetz der Musik in solcher Tiefe stellen und beantworten läßt. Auch seine Leipziger Kirchenmusik ist ja nicht deshalb in überzeugender Weise kirchlich, weil Bach ein frommer Christ und guter Theologe war, sondern weil er das Ingenium besaß, mit kompositorischen Mitteln aus lutherischer Theologie gute Musik zu machen.
Quelle Martin Geck: „Denn alles findet bei Bach statt“ / Erforschtes und Erfahrenes / Verlag J.B.Metzler Stuttgart und Weimar 2000 ISBN 3-476-01740-0 / Zitat Seite 54 /
Ich weiß, das Wort „Ingenium“ führt uns vielleicht auf die falsche Fährte, nämlich die der Genie-Ästhetik; es geht nicht um die Anbetung des Individuums. An anderer Stelle soll das Wort Endzweck weiter untersucht werden. Bach selbst hat es in seiner Generalbasslehre einmal so ausgedrückt: [Es solle] „wie aller Music, also auch des General-Basses Finis und End-Ursache anders nicht, als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemütes seyn; wo dieses nicht in Acht genommen wird, da ists keine eigentliche Music, sondern ein teuflisch Geplerr und Geleyer.“
Ich will anhand dreier Fugen-Analysen versuchen zu erfassen, inwiefern die betreffenden Autoren etwas über den Sinn der Sache verlauten lassen. Also werde ich das Form-Schema allein nicht gelten lassen; auch eine schlechte, „schematisch“ konstruierte Fuge könnte ein ansehnliches graphisches Schema ergeben. Ich vermute, eine Sinnaussage wird mich nur dann befriedigen, wenn ich sie überzeugend in Worten wiedergeben kann. Angenommen, eine Fuge besteht aus kontrapunktischen und rhetorischen Momenten, so besteht die Gefahr, dass ich intuitiv die rhetorischen (also dem Wort näherstehenden) höher bewerte. In Contrapunctus 1 der Bachschen „Kunst der Fuge“ etwa die pathetischen Schlusstakte, die Bach erwiesenenermaßen erst nach der Fertigstellung der (eigentlichen) Fuge angehängt hat. Die von mir ausgewählten Fugen stehen ziemlich am Anfang des Bachschen Spätwerkes (Nr. 1 und 3), die Autoren der Analysen sind Adam Adrio, Diether de la Motte, Walter Kolneder, Peter Schleuning.
Contrapunctus I Schluss
Dass überhaupt etwas gesagt werden soll, ist leicht erkennbar, wenn man die ursprüngliche, um 4 Takte kürzere Fassung der Fuge („Handschrift“ gegenüber der Druckfassung), betrachtet, die bereits in Takt 70 mit einer Pathoswendung und einer Pause für Überraschung sorgte, – um dann genau diese Wirkung noch einmal zu dehnen und zu überhöhen: im Bass durch den Orgelpunkt, im Sopran durch den expliziten Aufstieg zum hohen b, den höchsten Ton der Fuge: in Takt 70 hatte er mit dem nchfolgenden Sturz in die verminderte Septime alles zum Schweigen gebracht, um diese Geste noch einmal mit Nachdruck zu inszenieren und in den ungemein versöhnlichen Schluss zu führen.
Zu den ersten Analysen, die ich mit Eifer studiert habe, gehört die aus dem MUSIKWERK Die Fuge Heft 1 von Adam Adrio. Und ich habe nie vergessen, was mir daran imponierte: wie hier plausibel gemacht wurde, ihr Geheimnis sei, dass das Thema verloren geht und gewissermaßen wieder ans Licht treten muss. Stichworte: „Verschleierung“, „Tiefpunkt“, „zum Erlöschen gebracht werden“ – und „wieder zum Leben erweckt werden“. Mir schien akzeptabel, dass mir als Hörer aufgelastet wurde, dies als Drama zu empfinden…
60er Jahre
Erst viel später erfuhr ich (bei Kolneder), dass diese Fugen-Analyse wenig Anerkennung gefunden hat. Aber der Eindruck blieb in Erinnerung, weil überhaupt jemand wagte, mehr als eine Notentextbeschreibung und das Schema zu liefern. Allerdings erinnerte mich das Prinzip der „Verschleierung“ auch ein wenig ans Kasperletheater; es steckte zuviel Hörpsychologie bzw. psychologische Unterstellung darin: wenn etwa davon die Rede ist, dass das Thema in einer Stimme erscheint, „von der es nicht erwartet wird, und in einer Intervallordnung, die dem Hörer noch nicht bekannt ist, in Dur.“
Heute kommen mir selbst in Walter Kolneders verdienstvollem Standardwerk (Heinrichshofen’s Verlag Wilhelmshaven 1977) gelegentlich ähnliche Bedenken (aber das muss man auch wieder nicht zu eng sehen):
Die oben erwähnte Einschätzung betraf den ganzen Fugen-Band von Adrio und ist belegt im Teil IV des Kolneder-Werkes: „Kritische Chronologie“ Seite 621f (betr. das Jahr 1960) , wo neben Kolneders kritischer Anmerkung der Hinweis auf Roger Bullivant in „The Music Review“ 1964/67-71 steht. Von ihm stammt das folgende Buch:
London : Hutchinson, 1971
Auch Kolneders Beurteilung der Fugen-Analyse von Diether de la Motte (mit Carl Dahlhaus) – in dem Buch zur „Analyse“, das damals bahnbrechend erschien – konnte den Leser davor bewahren, in ziemlich leeren Worten nach einem tieferen Sinn zu forschen (ich empfand die Lektüre, die ich in den 70er Jahre für meine Pflicht hielt, letztlich als ebenso anspruchsvoll wie unerquicklich, jedenfalls soweit sie Bachs Contrapunctus III betraf):
Walter Kolneder: Die Kunst der Fuge Teil IV Seite 630
Ich widme mich also im folgenden nur noch dem Buch von Peter Schleuning, das mich seit dem Erscheinungsjahr immer wieder inspiriert, über Bach nachzudenken: Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“ / Ideologien, Entstehung, Analyse / dtv/Bärenreiter 1993.
Zunächst muss man sich (natürlich) mit dem Gedanken vertraut machen, dass es zwar (zunächst) um die eine Fuge geht, mit der das Werke beginnt, andererseits damit, dass diese Fuge am Anfang eines Zyklus steht, in dem jede Fuge etwas anderes sagt, und die Fugen ihre Eigenarten auch im Kontrast oder in Wechselwirkung entwickeln werden. (Allein die Reihenfolge ist schon ein Riesenthema. Z.B. ist unmittelbar wichtig, dass die Fuge III bei Schleuning in Kolneders Zählung – und bei Wikipedia – als Contrapunkt II behandelt wird; es ist die mit dem punktierten Rhythmus. Die Ursache soll uns hier nicht interessieren.) Mit Blick auf alle nachfolgenden Fugen ist die erste eben „als Eingangsstück eine Art ‚Bekanntmachung‘ des Themas und der Kompositionsart (…) und gibt sich mit der Absicht einer captatio benevolentiae, wie sie die Redekunst kennt, bescheiden, ordentlich und einladend.“ (Schleuning S.58)
Sehr bald wendet sich Schleuning den themenvariierenden Elementen zu, die auch im Kontrapunkt von Anfang an zu erkennen sind: die rhythmisch-melodischen Ableitungen, also eine Sache der Technik (die Sinnfrage sei bitte ignoriert, sobald es darum geht, warum und wie ein Ton überhaupt erklingt). „Ihre Herrschaft in praktisch jedem Stimmenzug – auch in Form von versteckten Themenumkehrungen – ist zwar keine Erfindung Bachs, aber durch ihn zu einem der bestimmenden Elemente der späteren deutschen Sinfonik und Klavierkunst [Achung: Formenlehre von Erwin Ratz assoziieren! s.a. hier JR] und sodann auch als Höhepunkt der Materialökonomie gewürdigt worden, etwa als ‚Minimum von Materie‘ bei einem ‚Maximum von Geist‘ oder als ‚Treue gegen das Thema in der Ausarbeitung bis zur Hartnäckigkeit gesteigert, und doch nirgends bloße Wiederholung oder sonst Monotonie‘ (J.Fr. Rochlitz 1811 und 1824 über C.P.E.Bach….).“
Schleuning in seinem Kapitel zur Fuge 1 einen Exkurs zur Zahlensymbolik ein (ab S.59), der einen bewahren kann vor sinnlosen Spekulationen, die einer wirklichen Analyse zu allererst im Wege stehen. Und er fährt fort (S.61) fort mit dem Hinweis, dass graphische Formübersichten immer den Eindruck vermitteln, die Abschnitte mit den Themenauftritten (die „Durchführungen“) seien wichtiger als die Zwischenspiele.
Dadurch geht der Blick auf das verloren, was das eigentlich Wichtige und Interessante an Musik ist, nämlich Entwicklungen, Zwischentöne und Feinheiten.
In diesem Sinne folgen Anmerkungen zur ersten Fuge, die in den thematischen Partien Elemente des Stile antico realisiert, des Palestrina-Stils: Kleinschrittigkeit, Materialbegrenzung, Rhythmusvielfalt und unperiodische Gruppenbildung. In anderen Partien aber Strukturen aufweise, die dem alten Stil fremd sind, z.B. Sequenzreihen.
Da dies nicht auf kontrapunktisches Unvermögen oder gar eine Hilflosigkeit Bachs bei der Abwesenheit des Themas zurückgeht, muss diese stilistische Differenzierung der Absicht Bachs entspringen, die Teile hörbar voneinander abzusetzen und die thematischen Partien hervorzuheben.
Zum anderen geht es um den neuen Tonartengebrauch, indem Bach nämlich der Subdominante eine neue Rolle einräumt, die sie vorher nicht hatte.
Schließlich die variable Form des Themas selbst:
Wie Bach hierbei die Themenintervalle verändert, entspricht nicht einem schulmäßig reinen kontrapunktischen Fugensatz, sondern dem Modulationsplan der Fuge und zeigt den Vorrang des harmonischen Aspektes vor der intervallischen Integrität des Themas.
Um zu sehen, was Bach wichtig ist, muss man die Neuartigkeit seiner Gedankengänge wahrnehmen. Ein Beispiel: „wie man in nur drei Takten (zweiter Sopran-Einsatz) an der Leitlinie eines ‚falschen‘ Themenzitates (Baß) von a-moll nach g-moll kommt.“ (Schleuning S.64, siehe Fuge 1 ab T. 29). Oder auch die neuartige enharmonische Umdeutung des verminderten Septakkordes, die schon im Frühwerk vorkomme und nebenbei auch bedeute, dass „mit den Regeln auch die Seele ins Wanken“ gebracht werden solle.
Dies kann auch mit einem ganzen Satz (Musikstück) ausgesagt werden, der sich in bestimmter Weise zu einem anderen Satz, der vorhergeht oder nachfolgt, verhält. Und das ist eine wichtige Frage, wenn man davon ausgeht, dass die „Kunst der Fuge“ als ein Zyklus gebaut ist und nicht als eine bloße Sammlung von mustergültigen Stücken. Andererseits: man tappt immer wieder in die Falle (weil man eben zyklische Aufführungen und Aufnahmen in Erinnerung hat), dass man ein Vorher und ein Nachher einkalkuliert, statt eines Nebeneinanders. Und wenn die Reihenfolge der Fugen sowohl I – II – III (in der Erstschrift) wie auch I – III – II (im Druck, mit entsprechend neuer Nummerierung) heißen kann, so erübrigen sich alle analytischen Bemerkungen, die auf einem chronologisch erlebten Ablauf basieren. Insofern stimmen mich auch Schleunings Ausführungen etwas skeptisch.
Wenn die Exposition der Außenfugen dieser Dreiergruppe bei der Dux-Comes-Folge ganz regelrecht sind, so trifft Bach nun in der zweiten Fuge eine einsame, befremdliche Entscheidung damit, daß er die Exposition mit der Umkehrung des Themas beginnen läßt: (S.64)
Das könnte zu der Überlegung führen, ob Bach in der Mitte der Dreiergruppe eher das Negative komponiert hat, welches im Positiven der beiden Rahmenfugen eingeschlossen und aufgehoben ist. (S.65)
Zu der dritten Fuge, die die Störungen von Fuge II durch das Thema recto und eine weitgehend normale Anlage wieder auffängt und ausgleicht, nur einige Bemerkungen: (S.67)
Die Nummer III ist nun gerade die Fuge, in der mit den (nachgetragenen) Punktierungen alla francese der Charakter des Stücks vollständig verändert erscheint, auch wenn das Thema genauso anhebt wie in Fuge I und auch sonst eine „weitgehend normale Anlage“ konstatiert werden kann. Es macht Lust auf weitere Belebungen. „Normal“ heißt ja an dieser frühen Stelle noch nicht: in lähmender Weise „formal normal“. Und wenn die problematische Fuge II – abgesehen vom „falschen“ Themenbeginn auch noch mit schmerzbeladener Chromatik angereichert – nunmehr an dritter Stelle folgt , so könnte man sie eben auch als wegweisendes Außenstück betrachten, das bereits eine Tür in Richtung Fuge IV öffnet.
Mit anderen Worten: wenn man will, kann man jede Reihenfolge rechtfertigen. Und wenn Werner Breig eine Gruppeneinteilung der Fugen vornimmt – A Einfache Fugen, B Gegenfugen, C Doppel- und Tripelfugen, D Spiegelfugen, E Quadrupelfuge -, so ist das (technisch) völlig plausibel, ebenso, dass die Gruppe A eben Contrapunctus 1 – 4 zusammenfasst. Während bei Schleuning die Fuge Nr. 4 – mit guten chronologischen Gründen – erst auf Seite 130 behandelt wird.
Der Aufsatz von Breig steht im Booklet der Aufnahme der „Kunst der Fuge“ mit Musica Antiqua Köln (1984). [Siehe auch abschließendes yutube-Video.] Dort findet man auch Reinhard Goebels Statement zur Aufführbarkeit des Werkes:
Eine Gesamtaufführung der Kunst der Fuge war von Bach weder beabsichtigt, noch im Rahmen der Konzertpraxis seiner Zeit überhaupt denkbar. Das gleiche gilt für alle diejenigen Werke, die vom Komponisten in Sechsergruppen im Dutzend oder in noch größeren Serien vorliegen, denn die Zusammenfassung gleichartiger Werke in einem Handschriftenband oder einer Druckausgabe entsprang eher praktischen Gesichtspunkten und muß daher nicht unbedingt als Hinweis auf innere Zusammengehörigkeit und somit auf zyklische Aufführbarkeit verstanden werden.
Wenn Bach also die Reihenfolge verändert und dabei DIE SCHLÜSSE BESTIMMTER FUGEN VERÄNDERT, so muss man nicht auf ein internes Problem der betreffenden Fuge schließen, das abgemildert werden soll, sagen wir: zugunsten ihrer Proportionen, sondern auf eine Maßnahme ZUGUNSTEN DER NACHFOLGENDEN FUGE, insbesondere wenn diese neuerdings eingefügt wurde. Ein Wink also, vergleichbar den vorausweisenden Abschlüssen mancher Praeludien, die das Thema der anschließenden Fuge andeuten (s.WTKII, C-dur) .
ABER: wenn es nicht zwingend nacheinander gespielt werden soll, warum liegt Bach dann beim Ende des einen Stückes daran, auf ein Charakteristikum des nächsten hinweisen? (Meine Vermutung: wenn man aus einer solchen Sammlung etwas spielt, dann niemals nur eins. Und wenn es ein Lehrwerk ist, dann studiert man ohnehin mehrere hintereinander, die gegebene Reihenfolge zumindest reflektierend.)
Peter Schleuning (S.123)
Das Vorziehen von III vor II zur neuen Folge 1, 2, 3 und die Nachkomposition von Nr. 4 ergeben eine klare Neubestimmung, die für das Verständnis der weiteren Veränderungen entscheidend sein kann: Statt Rahmensymmetrie Paarbildung von Fugengattungen (Wolff 11, 136), zwei Fugen über die Grundform, zwei über die Umkehrung des Grundthemas. Die das Problematische und Negative akzentuierenden Züge der Nr. II verbinden sich nun mit den entsprechenden und noch zu analysierenden Zügen der neuen Nr. 4, während Nr. 1 und 2 als eher einfaches, „positives“ Einleitungspaar wirken. Auch die drei nachkomponierten Schlüsse bestärken diese Paarbildung, denn diejenigen von Nr. 1 und 2 haben den Zweck, abschließend noch einmal durch je ein angefügtes Themenzoitat dessen Grundton zu verdeutlichen – deshalb haben sie auch fast die gleiche Länge von 6 bzw. 7 Takten. Und der alte Schluß von III (A-Dur), der sich ehedem zur Fuge V öffnete (Anfangston a‘), wird zu einem echten Tonika-Schluß nach D-Dur geführt – mit altertümelnder, „picardischer“ Terz in d-Moll – , wird also zum Abschluß des ersten Paares.
Dieses kleine Schleuning-Kapitel ist bis zum Ende (S.125) von großer Bedeutung. Ich merke dabei, dass sich meine Frage nach dem Sinn verschiebt in eine immer spezifischere Frage nach dem Notentext, und das ist auch gut so! Zu Seite 125 hätte ich noch eine Korrektur zu vermelden: das erste Notenbeispiel der Bachschen Handschrift steht auf dem Kopf, daher wirkt es ungewollt „lombardisch„. Man findet den Notentext im gedruckten Contrapunctus VI T. 21-23. Das zweite, korrekt gedruckte Beispiel gehört zu Ctp.II T. 55-59.
Bemerkenswert die Schwierigkeit, die sich für Kolneder angesichts des Kreismotivs in Takt 5&6 der Fuge IV stellt, das aber niemanden, der die b-moll-Fuge aus Bd.II des Wohltemperierten Klaviers studiert hat, überraschen dürfte:
Kolneder a.a.O. Bd.1 Seite 127
Schleuning löst das „Rätsel“ auf:
Bach ergänzt in Fortführung seiner in den drei ersten Fugen begonnenen „Kontrapunkt-Lehre“ die bisherigen Lernschritte mittels dieses Kontrasubjekts, indem er hier den bei Mattheson (1739) so genannten Contrapunto d’un sol passo (gleichbleibende Figur) vorführt, wie er ihn auch in den letzten Varianten der Orgel-Passacaglia und in der b-Moll-Fuge (T.67ff.) des zweiten Teils des ‚Wohltemperierten Claviers‘ anwendet (Butler 3, 299ff.).
b-moll-Fuge: Figur im Bass
Mit Recht macht Kolneder (s.129) auf eine bestimmte Durchführung in Fuge IV (Hauptthema in Umkehrung) aufmerksam, die eine neue Version des Themas einführt:
Die mit dem Baß T.62 einsetzende Durchführung gehört zum Gewaltigsten, was Bach in harmonischer Hinsicht je geschrieben hat. In all den bisherigen Gestalten des Themas war dessen Sekundschritt vom zweiten zum dritten Takt beibehalten. Die Terz an dieser Stelle, die erstmalig in T.62/63 auftritt, wirkt gegenüber der Sekund wie gewalttätig, die Tonalität wird hier aufgebrochen, die mit dem Terzsprung bewirkte Modulation innerhalb des Themas führt von C-Dur nach g-Moll, also in der Doppelsubdominantparallele. Das war innerhalb eines Fugenthemas der Bachzeit unerhört.
Ich habe es mir vor vielen Jahren in meine „Arbeitspartitur“ (Graeser, angeschafft Juli 1956, Fingersätze bei neuer „Phase“ 1964) eingetragen:
= in folgender Aufnahme ab genau 10:22 !
Da das Tempo hoch ist, sticht dieser Einsatz weniger hervor, als man vielleicht erwartet. Die Fuge beginnt bei 9:04, die wiedergegebene Partiturseite beginnt bei 10:01.
Was tun?
Man höre die Contrapuncte 1 bis 4, und zwar so oft, bis sie ohne weitere Nachfrage – Sinn machen. In der folgenden Aufnahme mit Musica Antiqua Köln unter Reinhard Goebel 0:00 bis 12:12. Durch den Wechsel der Instrumentation macht dieser 4-sätzige Ausschnitt sogar den Eindruck eines abgerundeten Werkes. Irgendwann wird der Wunsch erwachen, darüber hinauszugehen, vielleicht mit „dem Schleuning“ in der Hand…
Und nicht vergessen: es ist wichtig, jeden Eintritt des Themas zu beachten; aber am schönsten ist die Fuge oft in den sogenannten Zwischenspielen.
Vielleicht gibt es Bach-Liebhaber, die gleich auf den Schluss des Werkes vorfahren, um zu erleben, wie der Tod dem alten Bach die Feder aus der Hand genommen hat. Nein! so war es nicht!! Eher kann man sagen: Bach bereitete planmäßig seinen Ruhestand vor! Peter Schleuning ist bösartig genug darauf hinzuweisen, was der „Kunst der Fuge“ besonders abträglich ist war (und ist): Erschütterung. Siehe Seite 57. Ich glaube auch nicht, dass man bei diesen Fugen an den Weltraum und den Gang der Planeten denken sollte. Egal, was Goethe gesagt hat.
Es handelt sich vielmehr um Leben.
Unübertrefflich (auch wegen der Cembalo-Versionen!): Musica Antiqua Köln, mit Reinhard Goebel, Violine und Leitung 1984:
Ebenfalls eine sehr gute (durchhörbare und intelligente) Aufnahme (1987), bemerkenswert: die umgebaute Bratsche (für die „zu tiefen“ Stellen der zweiten Geige). Ein Freude: Das Juilliard Quartett !