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Zur Kultur- und Selbstkritik

Was ist die neue Hyperkultur?

Es ist ein langes Zitat, das ich seit ein paar Tagen glaube bewältigen zu müssen. Eine klare Analyse unserer Zeit, der Gesellschaft, oder des Teils der Gesellschaft, dem ich angehöre, und das deprimiert mich, – vorübergehend, wie ich vermute. Aber ich muss es analysieren, um es zu relativieren. Den Versuch zumindest möchte ich machen und auch irgendwie dokumentieren. Also: das psychologische Problem und die Heilungsmaßnahmen.

Andreas Reckwitz:

Wir haben schon gesehen, dass der singularistische Lebensstil der neuen Mittelklasse die gesamte Welt-Kultur aller Orte, Zeiten und sozialen Herkünfte als verfügbare Ressource für die eigenen Selbstverwirklichungswünsche behandelt. Kultur wird aus dieser Perspektive nicht – wie im traditionalistischen Kulturverständnis – innerhalb der eigenen sozialen Gruppe reproduziert, sondern hat sich in eine Ressource in Gestalt eines heterogenen Feldes von Aneignungsmöglichkeiten verwandelt. In dieser Hyperkultur kann potenziell alles zur Kultur werden, das heißt zu einem Objekt oder einer Praxis, das oder die einer ästhetischen, ethischen, narrativ-semiotischen, ludischen oder kreativ-gestaltenden Aneignung zugänglich ist. Die Elemente dieser Hyperkultur zirkulieren global und transhistorisch, daher kennt sie praktisch keine Grenzen. Die in ihr zirkulierenden Objekte und Praktiken sind einerseits unterschiedlich und singulär, andererseits befinden sie sich gerade in ihrer anerkannten Differenz im Prinzip alle auf derselben Ebene. Anders gesagt: Die Hyperkultur hat keine vorgefertigten Präferenzen, sondern macht Offerten. Diese De-jure-Gleichberechtigung kultureller Elemente bedeutet, dass klassische Grenzen des kulturell Wertvollen aufgelöst werden, insbesondere die zwischen dem Gegenwärtigen (Modernen) und dem Historischen, zwischen Hochkultur und Populärkultur sowie zwischen der eigenen und der fremden.

Die Renaissance des Historischen darf im übrigen nicht mit einem simplen Historismus verwechselt werden, denn keineswegs wird nun umgekehrt das Gegenwärtige und Moderne gegenüber einer imaginären Klassik abgewertet.* Vielmehr gilt, dass die Hyperkultur die Wertgrenze zwischen dem Gegenwärtigen und dem Historischen auflöst und durch einen unterschiedslosen Zugang zu beiden Sphären ersetzt.

Eine zweite Grenze , die hyperkulturell aufgelöst wird, ist die zwischen Hochkultur und Populärkultur. Alle empirischen Untersuchungen zeigen, dass die traditionelle Hochkultur – der klassischen Musik, der Literatur, der bildenden Kunst etc.-, wie sie für die bürgerliche Lebensführung prägend war, für die neue Akademikerklasse ihren privilegierten Status als Ausdruck des legitimen Geschmacks verloren hat. Vielmehr greift man nun vorurteilslos auch auf vormals eindeutig als populärkulturell qualifizierte Quellen zurück: Man besucht Pop-Konzerte , schaut Hollywood-Blockbuster oder begeistert sich im Fußballstadion. Richard Peterson und andere Kultursoziologen haben daraus den Schluss gezogen, dass der postmoderne Kulturkonsument zu einem „Allesfresser“ (omnivore) geworden sei.* Diese Diagnose muss jedoch präzisiert werden, denn es geht hier nicht um eine wie auch immer entstandene Geschmacksdifferenz. Erneut ist der entscheidende Punkt, dass nun potentiell alles geeignet ist, zur Entfaltung eines nach Authentizität und Selbstverwirklichung strebenden Lebensstils beizutragen. Damit können auch populärkulturelle Objekte und Ereignisse interessant und anziehend werden – unter der Bedingung, dass sie als authentisch erfahrbar sind. Auch hier gilt Analoges wie bei der ersten Grenzauflösung: Klassisch hochkulturelle und bildungsbürgerliche Objekte verlieren keineswegs ihre Relevanz, sondern erleben sogar eine Renaissance, ablesbar am Boom der Museen und Konzerthäuser seit den 1990er Jahren, die sich freilich der gleichen Authentizitätsbedingung zu unterwerfen haben. Auch die Hochkultur wird ausgesondert, wenn sie als unecht, langweilig, steif und erlebnisarm erfahren wird; und auf die Populärkultur wird verzichtet, wenn sie primär billig, kommerziell, primitiv und „aus der Retorte“ wirkt.

Die Hyperkultur löst schließlich auch die strikte Grenze zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“, zwischen Kulturkreisen, Nationen oder Regionen auf. Für den singularistischen Lebensstil gibt es keinen Grund mehr, Objekte und Praktiken der eigenen Kultur gegenüber jenen, die aus anderen Kulturen stammen, vorzuziehen. Der Grund dafür ist zunächst kein politischer oder moralischer, sondern im Selbstverwirklichungsstreben und dessen beständiger Suche nach andersartigen Erfahrungen verankert: Ein kultureller Ethnozentrismus würde schlicht eine Einschränkung jener Erlebens- und Valorisierungsmöglichkeiten bedeuten, welche die Welt-Kultur bietet. Das ehemals „Fremde“ wird so zur potenziellen Quelle der Bereicherung des Selbst, entsprechend wird „der bunte Mix“ der Kulturen in der Metropole von der neuen Mittelklasse als anregender empfunden als die öde Monokultur der alten Industriestadt. Auch hier regiert nicht das Entweder-oder, sondern das Sowohl-als-auch: Man muss sich nicht zwischen dieser oder jener Kultur entscheiden, sondern kann problemlos kulturelle Versatzstücke aus indischer Spiritualität, italienischer Früherziehung, lateinamerikanischer Bewegungskultur und deutschem Ordnungssinn miteinander kombinieren. Vor dem Hintergrund des Fremden kann dann auch wieder eine partielle Rückbesinnung stattfinden. Angesichts der Vergleichsmöglichkeiten schaut man auf das Eigene – die schwäbische Küche, die Küste der Nordsee oder Franz Schubert – mit der Brille des Fremden und findet es ungeahnt bereichernd.

Die eben angesprochene Haltung des Sowohl-als-auch, die bei allen drei Grenzauflösungsprozessen eine Rolle spielt, verweist darauf, dass das Subjekt der neuen Mittelklasse eine transhistorische und interkulturelle Switching-Kompetenz entwickelt. Es ist eben kein beliebiger „Allesfresser“, sondern in der Lage, mühelos zwischen dem Zeitgenössischen und dem Historischen, dem Populär- und dem Hochkulturellen sowie zwischen den Kulturen hin und her zu wechseln – immer auf der anspruchsvollen Suche nach dem Singulären und Authentischen. Dabei kristallisiert sich etwas heraus, was man als die kulturelle Conaisseurhaftigkeit der neuen Mittelklasse bezeichnen kann:* Man entwickelt bezogen auf die valorisierten kulturellen Objekte häufig eine ausgesprochene Kennerschaft, welche das Singularitätserleben noch intensiviert, da erst so die Komplexität des Objekts wahrnehmbar wird. Diese Connaisseurhaftigkeit, die man aus der klassischen Hochkultur (Literaturkenner) ebenso kennt wie aus Segmenten des bürgerlichen Lebensstils (Weinkenner), wird nun auf alle anderen, auch ursprünglich populärkulturellen Objekte und Aktivitäten ausgedehnt, die man in seinen Lebensstil integriert: auf Computerspiele oder die ausgefeilten Techniken des Kochens, auf Musikbands oder die Reiseziele Südfrankreichs, auf Vintage-Mobiliar, Rennräder und das Herstellen von Marmelade, auf das Werk von Gilles Deleuze oder die Geheimnisse der Sneaker-Kultur. (Seite 301)

Zusammenfassend ist das Subjekt der neuen Mittelklasse durch einen Kulturkosmopolitismus charakterisiert.* Kultur erscheint ihm als globales Reservoir, reich gefüllt mit vielfältigen Elementen, die jeweils ihre eigene Berechtigung und ihren eigenen Wert haben und potentielle Gegenstände der Aneignung durch das nach Authentizität trachtende Subjekt sind: hier gibt es keine Besitzansprüche seitens verschiedener Herkunftsgemeinschaften mehr, sondern jedes kulturelle Element ist zumindest potentiell mit jedem kombinierbar.* Der Kulturkosmopolitismus ist gewissermaßen ein Globalismus, der vom Wert der Vielfalt des Lokalen lebt. Er schätzt nicht jene globalen Objekte und Praktiken, die überall gleich sind, sondern die lokalen Besonderheiten, die authentischen Singularitäten, die jedoch global zirkulieren müssen, um überhaupt zugänglich zu sein. Und er beruht emphatisch auf Offenheit, die neben der Kreativität zum scheinbar alternativlosen Leitwert der spätmodernen Hyperkultur avanciert ist. Vorausgesetzt im Kulturkosmopolitimus ist das scheinbar selbstverständliche Gefühl des Berechtigtseins , über die Weltkultur in allen ihren Facetten zur Bereicherung des eigenen Lebensstils verfügen zu können.* Das Subjekt der neuen Mittelklasse beansprucht das Recht, sich Kulturelemente zu eigen, das heißt zu Eigenem zu machen – auch solche aus Gegenkulturen, aus der working class culture oder aus anderen Traditionen, die nicht seine eigenen sind.

Damit zieht der Kulturkosmopolitismus seine eigene Wertgrenze: gegen das abgewertete Provinzielle, dem es aus dieser Sicht an Offenheit gegenüber der Vielseitigkeit mangelt, auch an kultureller Souveränität und Kennerschaft; das Provinzielle erscheint als in geschlossenen Grenzen gefangen. Die Provinzialität hat aus der Sicht der kosmopolitischen Akademikerklasse vor allem in der Unterklasse (zumindest in der einheimischen, sesshaften Fraktion) und im „kleinbürgerlich“ scheinenden alten Mittelstand ihren sozialen Ort. Die Unterscheidung Kosmopolitismus/Provinzialismus wird so zu einem zentralen Schema des symbolischen Kampfes der Spätmoderne. Die neue Mittelklasse ist dabei sowohl in ihren Grundzügen als auch in den Details ihres Lebensstils eine globale Klasse. Sie ist nicht nur in den USA, in Deutschland, Frankreich, Schweden, Italien etc. sowie in den sich rasant modernisierenden Ländern wie China in ähnlicher Weise tonangebend, ihre kulturellen Muster erweisen sich auch über nationale Grenzen hinweg als ähnlich.*

Quelle Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten / Zum Strukturwandel der Moderne / Suhrkamp Berlin 2017 Wissenschaftl. Sonderausgabe 2019 (Zitat ab Seite 298) Anstelle der * befinden sich im Original Zahlen mit Anmerkungen und Quellenhinweisen.

(Fortsetzung folgt)

JR

Als Ergänzung und Kontrapunkt ist zu lesen: „Bürgerlichkeit als soziale und kulturelle Erscheinung“ im Wikipedia-Artikel Bürgertum. Siehe auch Mittelschicht.

Des weiteren: „Bürgerliche Musikkultur“ von Barbara Boisits.

Und vielleicht sogar – auf mich „privat“ bezogen – in diesem Blog unter dem Titel Museum und integrales Konzert hier.