Archiv der Kategorie: Alte Musik

Bach cis-moll – vorläufiges Fazit

BWV 873 (zur Analyse und zum Vortrag)

Ich bin mehrfach zu diesem Werk zurückgekehrt und möchte mich nicht allzusehr wiederholen, jedoch die Beiträge, die mir wichtig sind, schnell zur Hand haben, bevor ich weitermache. Daher die folgenden Links:

Hier 7. Juni 2016 Musikanalyse fürchten? (betr. Fuge, ansonsten Chopin)

Hier 25. April 2020 Der Schwarze Tod (betr. im letzten Teil die Fuge u. „Wer Sünde thut“)

Hier 26. April 2020 Bach am Cembalo und am Flügel (betr. die Fuge und das Präludium)

Hier 29. Juli 2018 Bachs Kontinuität (betr. ein anderes Werk BWV 888, passt analytisch)

Hier 2. Juni 2018 Ermutigung mit Bach (betr. anderes Werk BWV 890, Fugen-Form)

Heute geht es mir um das Praeludium cis-moll BWV 873, einerseits um Überlegungen zum Vortrag (nach Badura-Skoda), andererseits um die formale Gliederung (nach Alfred Dürr und Christoph Bergner)

 S.211   S.318

 S.375

Quelle Paul Badura-Skoda: Bach Interpretation / Laaber Verlag 1990

Badura-Skoda – sein Buch ist nach 30 Jahren noch ebenso empfehlenswert wie damals, zumal es nicht mechanisch verfährt, sondern zum Denken verführt – gibt kurz vorher, nachdem er ausführlich über die schwierige Frage nachgedacht hat, „ob Vorschläge lang oder kurz ausgeführt werden sollten“, den entwaffnend einfachen, aber auch gefährlichen Ratschlag:

Auf die Musik übertragen, führt diese Beobachtung zu einer einfachen Faustregel: Wenn eine Melodie auch ohne Ornamente als schön empfunden wird, dann sollen die Vorschläge, Doppelschläge, Triller etc. möglichst leicht und kurz ausgeführt werden. Nur dort, wo ein Ornament die Expressivität  steigert und sein Fehlen einen Leerraum entstehen läßt, soll es „bedeutend“, das heißt lang und betont wiedergegeben werden.

Man sollte aber keineswegs glauben, dass mit Hilfe eines solchen Buches oder gar eines Nachschlagwerkes mit einem Schlag alle Zweifel beseitigt seien. Und selbst wenn die Lösungsvorschläge von Bachs eigener Hand vorliegen, wie hier auf Seite 428, das andere cis-moll-Praeludium, das ich wirklich „seit Menschengedenken“ mit Vergnügen und Verzierungen spiele, – was tue ich denn am Anfang des zweiten Takte?

Die Imitation der linken Hand sollte durchaus pünktlich kommen, aber der Vorhalt in der rechten Hand – gleichzeitig, vor der Zeit oder sehr schnell? Nicht wahr? Ich will rechts die Töne a-gis nicht als Achtel spielen, um die falsche Parallele zur den Tönen gis-fis der linken Hand zu vermeiden. Das löst mir auch Badura-Skoda nicht, jedenfalls nicht an dieser Stelle. Und wenig weiter folgen in seinem Buch die verschiedenen Bach-Notierungen für meine dreistimmige Lieblingssinfonia BWV 791, und ich finde (vielleicht) nebenbei am Anfang von Takt 2 eine Lösung für meine Frage: ich spiele 1 Sechzehntel (!) Vorhalt vor dem Ton d, damit er schon angeschlagen ist, bevor der gleiche Ton im Bass kommt, und zwar genau zu dessen b nach der Sechzehntelpause.

Formale Gliederung des Praeludiums cis-moll (nach Dürr S.275f)

   

Formale Gliederung des Praeludiums cis-moll (nach Bergner S.124)

Zugegeben: solche Schemata sehen nicht verlockend aus. Es reizt einen nur, wenn man das Stück schon sehr gründlich geübt hat. Es wird ja immer schöner dabei, aber auch immer rätselhafter: warum diese inständige Wiederkehr des Gleichen, warum diese Unberechenbarkeit in der Wiederkehr bei gleichzeitiger Abwandlung des Gleichen, warum die Veränderung der Proportionen?

Ich greife immer wieder gern auf dieses Buch aus dem Jahr 1986 zurück, weil es ideenreich zu neuen Gedanken über Bachs Formdenken anregt, von einem Autor, der die Laufbahn des Musikwissenschaftlers letztlich vermieden hat, – um Pastor zu werden:

Quelle Christoph Bergner: Studien zur Form der Präludien des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach / Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft Hgg. Georg von Dadelsen / Hänssler-Verlag Neuhausen-Stuttgart 1986

Insbesondere das Phänomen der Abweichungen (?) von einer symmetrischen Gliederung und der Begriff der Dehnung  waren für mich besonders aufschlussreich. Ich zitiere einige Sätze aus dem Kapitel über das Praeludium B-dur, das dem über unser cis-moll-Praeludium vorausgeht (Bergner Seite 117f) .

Für den 3. und 4. Abschnitt gilt: 4 + 4 + 8. Wenngleich manche Formvorstellungen an die Wiener Klassik erinnern, denkt Bach offenbar nicht in diesen Bahnen.

Auch bei Jacobus Kloppers (1966) findet man schon solche Hinweise, die einen vor voreiligen Analogien bewahren.

Die Gliederung nach Dürr scheint auf dem Papier sehr übersichtlich und klar:  A – B – A – B – A.  Aber wenn man es spielt und mitdenken will, drängen sich andere Schwerpunkte in den Vordergrund. So kommt Bergner zu dem Schluss:

Das Stück scheint in seiner Anlage nicht proportioniert. Die Gliederung zeigt 3 Teile von 16 + 16 + 29 (+1 Schlußtakt).

Jedoch wird durch die Wiederholungen nach T. 32 eine bestimmte Struktur sichtbar.

Es tauchen Motive auf (kehren wieder), die eine andere Struktur ahnen lassen als die, die offen zutage zu liegen schien.

(Fortsetzung folgt)

Geheimnisse des Gambenspiels

CD Le Secret de Monsieur Marais (reinhören hier)

Luca Pianca / Il Suonar Parlante Orchestra / Vittorio Ghielmi

DLF-Sendung Hier

Fotos: D.R. und Z.Hanakova, Cover Foto Plainpicture/Nordic Life/Terje Rakke

Die Werk-Kommentare des Booklets, die im Original kaum leserlich sind, wurden in der folgenden Kopie vergrößert (bitte anklicken):

  

Blick in ein altes Lehrwerk, herausgegeben von Albert Erhard (München-Salzburg 1980):

    

Das letzte farbige Bild gibt die Seite des CD-Booklets wieder, auf der Beispiele der neu entdeckten und entschlüsselten Einzeichnungen zu sehen sind. Als Nr. 2 erkennt man das Thema des schnellen Teils aus dem Prélude Tr. 17, dieser Teil beginnt bei 2:24, die dritte abgebildete Zeile hört man ab 3:07; dort sollen also die folgenden Techniken realisiert sein: tapé, jetté, enflé, élevé, appuyé, mordant, was in der DLF-Sendung folgendermaßen verstanden wird:

Die Kürzel, die jetzt entziffert werden konnten, bedeuten „tapé“, „jeté“, „enflé“ und „élevé“, übersetzt „geklopft“, „geworfen“, „lauter werdend“ und „erhöht“. Jeder Ton soll also seine eigene Charakteristik bekommen.

An manchen Stellen übertreibt Marais regelrecht und notiert sechs Kürzel über einem einzigen Ton. Demnach soll er gleichzeitig „springend“, „gezogen“, „anschwellend“, „unterdrückt“, „abgeschnitten“ und „still“ gespielt werden. Wie das gehen soll, erklärt Vittorio Ghielmi im Begleitheft: Die Kürzel seien keine statischen Anweisungen, sondern Marais habe versucht, das Gambenspiel in Aktion zu beschreiben. Er meine nicht den Klang, sondern die Gesten – die dann den richtigen Ton automatisch erzeugen.

Leider kann ich Ihnen jetzt kein Video zeigen – aber man kann sich gut vorstellen, wie der Spieler den Bogen aufsetzt, ihn zieht oder springen lässt, wenn man diese Klänge hört.

Man sollte niemanden am Staunen hindern, welches ja die Mutter aller Weisheit sein soll. Aber ich kann keinen grundsätzlichen Unterschied erkennen zwischen dem, was Ghielmi an neuen Hinweisen entdeckt hat, und dem, was 1980 schon bekannt war. Beziehungsweise dem, was Marin Marais schon in den Vorworten seiner gedruckten Werke seit 1686 offengelegt hat. Es ist ja nicht unmöglich, dass in einer Musikertradition Werkstattgeheimnisse gehütet werden, die den eigenen wirtschaftlichen Erfolg sichern. Warum jedoch sollte ein Komponist technische Tricks verbergen, wenn sie zum sinnvollen Vortrag seiner Werke gehören, die er in die Welt hinausschickt? Und dass dies wiederum erst ans Licht kommt, als er längst gestorben war (1728) und die Gambe als Träger ästhetischer  Ideen mühsam verteidigt werden musste (1740). Nebenbei: diese Rolle übernahm ein Jurist (Hubert le Blanc), kein Musiker, geschweige denn einer der Söhne des alten Marin Marais.

Ich liebe den Ton der Viola da Gamba, denke allerdings als erstes an Bach, an die ergreifende Aria „Es ist vollbracht“, die an schmerzlichem Ausdruck nicht zu überbieten ist, nein, auch an einziges anderes Werk, das Konzert von Telemann, mit einem bestimmten Interpreten, ein bestimmtes Datum, Wieland Kuijken mit dem Collegium aureum im Gürzenich zu Köln, 70er Jahre, ich kannte ihn flüchtig, aber ich hatte noch nie ein solch gequältes  Mienenspiel bei einem Barocksolisten erlebt, es gab ungläubiges heimliches Kichern, bis wir begriffen, dass da ein Virtuose und Meister des Espressivo-Spiels am Werk war. Bei Telemann! In Kirchheim (Bayrisch-Schwaben) bedeutete das Alarius-Ensemble mit den Kuijken-Brüdern für mich ein kleines Damaskus-Erlebnis: so also kann Alte Musik interpretiert werden, – eine neue Welt, ein im wahrsten Sinne unerhörter Ausdruck ohne die gängigen romantischen Hilfsmittel wie Bogendruck und Vibrato. – Es wundert mich nicht, dass jemand solche Wendepunkte der Perspektive auch heute noch auferstehen lassen will, aber er dürfte verbal nicht allzu starke Worte wählen, schon die Überschrift lässt Schlimmes ahnen: EIN „STEIN VON ROSETTA“ DER FRANZÖSISCHEN MUSIK. (Zum Stein ohne Anführungsstriche hier. Was für ein Fehlgriff als Anspielung!) Und wenn dann im Text die Anführungsstriche sich mehren, frage ich mich, ob der Schreiber der Zeilen den alten Wieland Kuijken überhaupt nicht kennt? Oder ob er gar bei ihm – studiert hat… (ja, er hat).

Viele Untersuchungen zur Interpretation „Alter“ Musik, die in letzter Zeit veröffenlicht wurden, zeigen, dass die von den „Pionieren“ in dern 1970-er Jahren entwickelten Aufführungsformeln, die heute universell eingesetzt werden, den alten Notentexten nicht gerecht werden. Leider erscheint die Distanz zwischen der Musikwissenschaft und der Welt der Interpreten inzwischen unüberbrückbar zu sein. Die Klangvorstellungen ersten Musikergeneration, die sich in den 1970-er Jahren der Wiederentdeckung der europäischen Musik aus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert widmeten, war nicht ausreichend, um diese Musik expressiv umzusetzen, obwohl sie heute zum Mainstream geworden ist. Im Booklet zu einer früheren, Marais gewidmeten Einspielung schrieb ich ich ich einmal: „Da es sich um eine lang zurück liegende musikalische Rhetorik handelt, die mit der modernen unvereinbar ist, können wir annehmen, dass eine von Marin Marais selbst à la Marais eingespielte CD heutzutage wohl kaum einen Kritikerpreis erhalten oder höchstens in einer Reihe musikalischer Völkerkunde Platz finden würde.“

Wie bitte? Hat das Wort „Rhetorik“ in der Musik nicht gerade damals, „in den 1970-er Jahren“ seine Renaissance erlebt? Die „Pioniere“ lasen als erstes das folgende Buch, – das seit wann existierte? Seit 1941 !

Quelle: Hans-Heinrich Unger: Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.-18. Jahrhundert / Würzburg 1941 / Nachdruck Georg Olms Verlag 1985

Man las natürlich auch Quintilian im Original. Aber auch etwa ein solches Buch:

Quelle: Jacobus Kloppers: Die Interpretation und Wiedergabe der Orgelwerke Bachs / Frankfurt am Main 1966

Und nun kommt jemand und erklärt, dass die Rhetorik der Schlüssel jeglicher Marais-Interpretation sei… Hervorzuheben wäre in jedem Fall, dass mit „Rhetorik“ im Fall Marais etwas ganz Spezielles gemeint ist, was bei uns in die Rubrik „Deklamation und Vortrag“ fällt, also mit dem Verzierungswesen und der Artikulation zu tun hat. Neu ist allenfalls die Hervorhebung eines Teilaspekts, der Gestik, die dem Charakter der melodischen Formel (Figur) oder des Einzeltones zugute kommen soll. Andererseits auch gerade nicht neu: normalerweise gehört das zu den Themen, die im Instrumental- oder Gesangsunterricht der Hochschulen geradezu omnipräsent sind. Mit einem Fremdwort: MIMESIS. Ein Sänger z.B. müsse also nicht nur „über eine schöne Stimme und gute Intonation sowie über expressiven Ausdruck verfügen, sondern seinen Gesang auch mit Gesten und Bewegungen unterstützen (…), um die Affekte noch besser darzustellen.“ (So schon E. de Cavalieri in Rappresentatione di anima et di corpo, Rom 1600.)

Wunderbar, wenn nun gewisse Vortragshinweise des Interpreten Marais ans Licht kommen, die sich detailliert auf einzelne Töne beziehen, ja, das ist zweifellos interessant, aber auch nicht sensationell; wenn sie sich dort nun sogar doppelt einfinden und einander widersprechen, so muss man das nicht mystifizieren, als gebe es einen Trick, den Bogen zugleich springen und nicht springen zu lassen.

Sobald ich diese CD auflege, erscheint mir doch alles – trotz manchen Effekts – im Bereich des interpretatorisch Möglichen, ja – Gewohnten. Allerdings sehr, sehr gut gemacht. Trotzdem werde ich die CD beim nächsten Mal erst mit Tr. 9 (Gigue) beginnen lassen, ich finde auch die kompositorische Substanz manchmal etwas schwach. Aber das liegt an Bach, bzw. an meiner Einseitigkeit, nicht an mangelnder Kunst der Interpreten.

Ein Gutes hat die ganze Übung mir gebracht: ich habe Lust, Couperins „L’art de toucher le Clavecin“ mal ganz gründlich am Klavier durchzugehen und anhand der Bachschen h-moll-Partita zu überlegen, welche ungewöhnlichen Bogentechniken ich mal in den Doubles ausprobieren könnte.

Rückblick: Mein vielleicht allzu überhöhtes „Damaskus-Erlebnis“ 1976 im Cedernsaal von Schloss Kirchheim, wo alternierend zu den Aufnahmen des Collegium Aureum die Aufnahmen des Alarius-Ensembles stattfanden. Und dort – in dem provisorischen Technik-Abhörraum hinter der schweren Türe – haben einige von uns (Helmut Hucke, Klaus Giersch und ich) die ersten Fassungen der neuartigen „Musica Instrumentalis“ kennengelernt. Die Begeisterung war groß.

(Foto: Daniela Maria Brandt für harmonia mundi)

Und eines Tages werde ich noch einmal zu dieser neuen CD, zu „Le Secret de Monsieur Marais“ und auch der dort erwähnten Dokumenten-Forschung des Gambisten Dr. Christoph Urbanetz zurückkehren. Denn es ist nicht das Projekt „Vatermord“, welches ich witterte. Die Urheber denken bescheidener als manche Journalisten, die nun mal Schlagzeilen brauchen:

Von: „Vittorio GHIELMI“ <Vittorio.GHIELMI@xxx>
Betreff: R: Fwd: Ghielmi
Datum: 17. Juni 2020 um 12:01:15 MESZ
An: <goebel-musik@xxx>

 

My dear,

I never diminish the pioneers, on the contrary, I always say we are dwarf on their big shoulders. But I try to wake up my and next generation to go on with the same spirit of research and intelligent innovation, as these venerable musicians made in their period.

The manuscripts we are studying, with a sign on EACH note, made by Marais and his school, is a real Rosetta stone; we do not have any other example so detailed in the history of music, or not in this form, as far as I know.

I hope not to be misunderstood and hope you can explain it to your friend, to whom I send my deepest respect, as, you know, is in my style.

Abbraccio
Vittorio

Bach am Cembalo und am Flügel

Wenn ich es anders spielen will: warum?

Es geht um die Fuge in Cis-moll, Wohltemperiertes Klavier Teil II BWV 873. Ich beziehe mich auf zwei Interpretationen, die man später in diesem Blog-Artikel anklicken kann, finde es aber ratsamer, nicht vom Hören auszugehen, sondern vom Studium der Noten. Für alle Fälle sei hier trotzdem ein Beispiel mit vorangestelltem Praeludium angegeben, das aber im Verlauf der Reflexion keine Rolle spielen soll, – an dieser Stelle nur, um uns während des Lesens in die musikalische Atmosphäre hineinzuführen: hier. (Dauer 6 Minuten, danach ausklicken.)

Natürlich kann ich solche Leistungen anerkennen und bewundern, aber nachahmen will ich sie auf keinen Fall. Und zwar nicht, weil mir die Trauben zu hoch hängen (das sicher auch). Ich würde diese Musik nicht so lieben, wenn ich sie nur in bestimmten Versionen kennte, statt vom eigenen Spiel und mit Kenntnis der Noten. Wie kann ich sie da guten Gewissens anderen Leuten weiterempfehlen?!  Dabei meine ich nicht den Unterschied in der Perfektion, eine Live-Aufnahme (Robert Hill, Cembalo) hört man anders als eine lupenrein inszenierte und geschnittene Studiofassung (Nikolai Demidenko, Klavier).

Erste Voraussetzung: man muss bereit sein, ständig zu unterbrechen – wie beim Üben – und alle Abschnitte x-mal zu hören, mit zwischen den Stimmen wechselnder Fokussierung, also z.B. immer auch vom Bass her, oder von der Mittelstimme aus. Das sind wechselnde Perspektiven.

Zweite Voraussetzung: ich muss auch das, was ich selber als richtig fühle, in Zweifel ziehen können. Zwar habe ich die Schule der Alten Musik durchlaufen, aber ich argwöhne, dass ich immer „romantischer“ phrasieren möchte als diese beiden Künstler, von denen der eine als Alte-Musik-Spezialist gilt, während der andere aus der romantischen Schule des russischen Klavierspiels kommt. Der Klang des Cembalos ist wunderbar, auch intim genug, aber das Praeludium finde ich in beiden Versionen nicht wirklich innig gespielt, die unendlich (nicht-enden-wollende) süße Traurigkeit fehlt. Und die Fuge empfinde ich in jedem Fall als zu schnell, zu stramm vorwärtsgehend. Es ist ja eine Doppelfuge, also mit zwei Themen. Das erste Thema ist nicht eigentlich schön, es hat das Understatement einer Invention, es ist ein „Rundling“. Aber wohl keine Gigue, wie sie Dürr ins Spiel bringt. Wenn das zweite, chromatisch absteigende Thema nichts Schmerzliches hat, welches den behenden Rundlauf des Haupthemas abdämpft, so ist die Aussage des Stückes verfehlt. Es behandelt ja die Themen komplementär, und das chromatisch absteigende Motiv hat als Gegenpol auch noch das diatonisch zielbewusst aufsteigende, – da wird etwas ins Gleichgewicht gebracht. Die letzte Zeile, ab Takt 68, eigentlich ab Takt 66 mit 3 Sechzehnteln Auftakt, ist ein affektiv-pathetisches Resümee. Wer diesen Abschnitt als erstes übt, bis es ihn tief im Herzen ergreift, der (die) wird die ganze Fuge anders spielen: so dass der Ausklang wirklich wirkt wie die allerletzte Wiederkehr, fast wie die abschließende Phrase in der Aria „Es ist vollbracht“.

Dritte Voraussetzung (sie betrifft weniger die Interpretation und ist – anders als im Präludium – einfach zu beherzigen, nach Alfred Dürr Seite 277), man kennt den Formverlauf:

Der Gesamtaufbau der Fuge ist gut überschaubar und besteht aus sechs Durchführungen, die sich zu je drei in zwei fast gleich lange Teile gliedern:

     

Also: da haben wir mit einigen farblich abgesetzten Markierungen diese ganze Fuge zum Mitlesen. Entscheidend ist zunächst die Wahrnehmung der rot bezeichneten Durchführungen I bis VI, das Thema selbst muss (auswendig) sitzen, dann aber sollte sofort die gedankliche Registrierung dessen folgen, was mit dem Thema stufenweise passiert. (Die Zahlen beziehen sich auf den Zeitablauf  in der nachfolgenden Robert-Hill-Aufnahme, die man im externen Fenster parat halten sollte. Weiterscrollen zum Bild.)

I : (4:17) Der erste Verlauf des Themas ist noch nicht ganz abgeschlossen, wenn der zweite erfolgt; dieser aber wird dann nicht nur abgeschlossen, sondern auch noch etwas weitergeführt, ehe der dritte Einsatz erfolgt (Takt 5). Nach dessen Ende beginnt ab Takt 7 ein Zwischenspiel, in dem ein Motiv des Themas sequenzartig weitergetrieben wird. Es „zielt“ auf den Beginn der nächsten Durchführung.

II : (4:45) Hier erscheint – nach zwei Zitaten des Themas – als Kontrapunkt zum dritten (im Bass Takt 20) erstmals das chromatisch absteigende Motiv (4:53). Ist es ein zweites Thema? Handelt es sich überhaupt – wie Alfred Dürr ausdrücklich feststellt – um eine Doppelfuge? In der Tat kann man es als Thema nur bezeichnen, wenn es wirklich so behandelt wird und nicht, wenn es quasi nebenbei – als ausdrucksvoller Kontrapunkt – entsteht.

III : (5:00) das 1. Thema tritt in neuer Gestalt auf, nämlich in Umkehrung, was bedeutet: die melodische Linie wird an einer gedachten waagerechten Mittellinie gespiegelt. in dieser Form erscheint es zuerst in der Oberstimme, dann in der Mittelstimme (mit winziger Variante beim siebten Ton), dann in der Unterstimme und schließlich (als „überzähliger“ Einsatz in der Mittelstimme). Entscheidend ist jedoch das Auftreten der Chromatik im Kontrapunkt ab zweiter Hälfte des ersten Themenzitats: Takt 25, dann Takt 27 und Takt 28/29. Damit ist der Auftritt des 2. Fugenthemas wunderbar vorbereitet, – es ist selbstverständlich eine Doppelfuge!

IV : (5:22) Durchführung, die allein dem 2. (chromatischen) Thema gewidmet ist, drei Zitate, von denen das zweite – in der Mittelstimme – dem ersten „ins Wort fällt“, während das dritte nahtlos anschließt. Als Ziel dieser Durchführung entpuppt sich das Original-Zitat des 1. Themas zu Beginn der nächsten Durchführung:

V : (5:47) das 1. Thema in Originalgestalt in der Oberstimme (mit cis beginnend)  gleichzeitig mit dem 2. (chromatischen) Thema in der Unterstimme (mit Fis beginnend). Nach einem viereinhalbtaktigen Zwischenspiel folgt die Vertauschung dieser Verhältnisse: Unterstimme Originalthema (mit Cis beginnend) und gleichzeitig 2. (chromatisches) Thema (jedoch mit Cis beginnend).

VI : (6:13) eine neue Vertauschung der Verhältnisse: das 1. Thema in der Mittelstimme, gleichzeitig das 2. (chromatische) Thema in der Unterstimme, zweieinhalbtaktiges Zwischenspiel und wiederum: 1. Thema Mittelstimme, gleichzeitig das 2. (chromatische) Thema in der Oberstimme. Und unmittelbar in diesen Schluss startet ein letztes, etwas unorthodoxes Zitat des 1. Thema, und  noch unorthodoxer das 2. (chromatische) Thema, dessen Linie sich jetzt abwärts spannt über eine ganze Oktavstrecke, um dann die Leiteton-Grundtonkadenz über dem Quintfall des Basses zu vollstrecken. (Ende 6:51)

Darf man solch ein Stück zu schnell spielen? Auf keinen Fall. Wer es einmal so gut kann, sollte das nicht demonstrieren. Voreilige Musterschüler müsste man immer wieder dazu anhalten, jede Durchführung separat zu spielen und … zu erzählen, was da passiert. Es wäre zu schade, wenn da etwas verloren ginge, nur um ein Fahrtziel zu erreichen.

Der Laie mag eine solche Beschreibung für trockenes Stroh halten, aber genau so würde ich von einem Schüler erwarten, dass er die Forderung des großen Klavierpädagogen Heinrich Neuhaus erfüllt: den Verlauf der Musik in Worte zu fassen. Die kontrapunktische Technik ist kein leeres Stroh, sie ist vor allem: Substanz. Wie man an Bach selber sieht, wenn man den Worten seines Sohnes Emanuel und seines ersten Biographen Forkel Glauben schenkt. 

   .    .    .    .  .    .    .    .

Ein Blick auf die Zahl der vergangenen Jahre: (das war im Jahr nach Afghanistan, und was war in Kirchheim?) Ich habe nicht geahnt, wieviel Arbeit (und Vergnügen) noch wartete… Ich hatte für einige Zeit ein Cembalo von Reinhard Goebel hier in meinem Zimmer stehen (es war sehr eng), ein Klavier sowieso an der Schmalwand, einmal war er gemeinsam mit Robert Hill zu Besuch. Viel Diskussion über Bach.

 Bärenreiter dtv März 1975

Folgendes Video in externen Fenster HIER. Fuge ab 4:12 einstellen.

Das nächste Video bitte unter dem folgenden Info-Screenshot im Link anklicken:

Achtung: das Youtube-Video beginnt mit Reklame! Zugang im externen Fenster HIER. Fuge ab 5:33. I also ab 5:33 II ab 5:55 III ab 6:07 IV ab 6:23 V ab 6:42 VI ab 7:01 Ende 7:18.

Ein Rundling? Falsch, das Thema ist nicht monolitisch (wie etwa das der cis-Fuge in WTK I), sondern dynamisch, aktiv, aber es bezeichnet einen Kreis, unten und oben, kehrt zurück, sagt A und O. Und: es weist im Kontrapunkt der nächsten Töne darüber hinaus. Alfred Dürr hat gezeigt, wie sich aus diesem Kontrapunkt (der zur Antwort auf das Thema, also dieselbe Gestalt in der Oberstimme, erfunden ist, selbst eine andere Antwort ist, und damit aus dem Kreis heraus schreitet) das zweite Thema entwickelt:

Zugleich wurde, gerade bevor dieses Thema realisiert wird, das erwähnte „diatonisch zielbewusst aufsteigende“ Motiv eingeführt: hier sehen Sie – schlecht und recht in den Übe-Noten – die Durchführungen II und III, in denen es zeichenhaft erscheint, danach kommt es nur noch einmal explizit in Takt 31 (mit Auftakt). Und damit ist seine Rolle ausgespielt (ersetzt durch das chromatische bzw. aufgelöst im Fluss).

Nein!!! ganz ausgespielt noch nicht, schauen Sie nur Takt 44 in die Mittelstimme und im nächsten auf den Bass. (Ende der Durchführung IV, – am besten wieder im dreiteiligen Notenbeispiel weiter oben).

Noch etwas muss ich einfügen, aus dem unfehlbaren Buch von Czaczkes, dieselbe Beobachtung wie eben die von Dürr, zur allmählichen Genese des 2. Themas:

Zur Interpretation: wenn Sie die Fugen in beiden Aufnahmen mitgelesen (und geübt) haben, so werden Sie sich in dem Livemitschnitt mehr und mehr an falschen Tönen gestört haben (kein Wunder, wenn der Künstler das Mammutwerk im Konzert von A – Z spielt und dann zulässt, dass es in Einzelteilen veröffentlicht wird); in der Produktion des Klaviervirtuosen aber daran, dass er das Wunderwerk der Fuge wie ein Perpetuum mobile durchhämmert. Beide spielen die Fuge zu schnell, aber die Cembaloversion lässt wenigstens ahnen, wie schön sie sein könnte.

Mein Kriterium wäre, dass ich vieles (das meiste) von dem, was ich als „formal“ (in der Analyse) wesentlich erachte, auch in der Interpretation wahrnehmen kann. Das heißt aber nicht durch Hervorhebung, Akzentuierung, Artikulation, was den Fluss des Geschehens stören könnte, sondern vor allem und als erstes: im Tempo. Es darf nicht vorbeirauschen.

*    *    *

Eine sehr korrekte, wenn auch sprachlich holprige Kurzbeschreibung der Fuge gibt Ludwig Czaczkes (Bd.II Seite 46):

6 Durchführungen, die sich in zwei Dreiergruppen zusammenschließen, bauen diese Fuge auf. Das Hauptthema und seine Umkehrung beherrschen den I. Teil. Als Gegensatz erscheinen die variablen Vorformen des 2. Themas, die sich immer mehr und mehr der endgültigen Form des 2. Themas nähern, das schließlich mit einer eigenen Durchführung den II. Teil eröffnet, um sich als gleichberechtigte Partnerin zu entpuppen. Die beiden letzten Durchführungen vereinen dann beide Themen.

Man könnte sich daraus eine flüssige Erzählung herstellen, die einen auch beim Spiel inspiriert und sogar etwas über den Sinn der Form verrät. Vorweg: Zur Berechtigung der Frage, ob es nun eine Doppelfuge ist oder nicht, sei erwähnt, dass Czaczkes einräumt: „Riemann, Morgan, Grabner (…) und viele andere führen diese Fuge nicht als Doppelfuge.“ (Ich fühle mich ein wenig exkulpiert, da ich es auch erst spät eingesehen habe.) Czaczkes jedoch definitiv:

Diese Fuge ist, da der Einführung des 2. Themas eine eigene Durchführung zugewiesen wird, eine Doppelfuge, welche Tatsache durch die Ähnlichkeit des Baues beider Expositionen und die korrekte Stimmfolge des Themas 2 in der letzten Durchführung bestätigt wird.

Da auch die genaue Abmessung der sechs Durchführungen bei den Theoretikern strittig war, meines Erachtens verursacht u.a. durch die irrige Einschätzung der zweistimmigen Passage, – die sozusagen im Nachhinein den starken Verlauf der neuen Durchführung (III)  signalisiert, nicht etwa eine schwache Zwischenspielphase. So in den Takten 26-27. Zumal gerade dort die Chromatik in den Vordergrund tritt, die dann mit dem fugiert behandelten Thema 2 eine neue, eigene Durchführung „erzwingt“. Diesen Vorgang muss man erfassen! Ebenso (rückwirkend) die Tatsache, dass das Hauptthema für eine Weile verschwindet, nach der Wiederkehr der recte-Form ab Takte 30. Um so bedeutsamer dann die nächste Wiederkehr zu Beginn der Durchführung V in der Oberstimme MIT dem Thema 2 im Bass, in dieser Kombination erstmalig! Wichtig auch am Ende dieser Durchführung – als Signal des letzten großen Resümees (Durchführung VI ab Takt 61) – ist der Orgelpunkt auf der Dominante im Bass (Takt 59 und 60). Beim Üben sollte man diesen Ton mehrfach anschlagen, crescendieren oder sonstwas, jedenfalls die Kumulation spüren lassen, die später in der über eine Oktave absteigenden Chromatik der Oberstimme (Takt 68/69/70) ihr letztes Echo findet.

Bevor ich mich weiterhin mit dem Bau der Fuge beschäftige, möchte ich Lesern/ Hörern, die sich aus purer Neugier auch schon mit dem Praeludium befassen, bzw. einfach gern von vorn beginnen, weil die Liebe zu diesem Werk nicht mit der Fuge, sondern (natürlich) mit dem Praeludium begonnen hat, etwas Stoff zum Nachdenken geben. In der Tat ist es kein bloßes Vorspiel, sondern ein Mysterium, und zwar eines der Form, nicht nur des Ausdrucks. Man wird möglicherweise diesen formalen Aspekt unterschätzen, weil man mehrfach auffällige Neuansätze wahrnimmt, die man für Reprisen halten könnte, obwohl man sie nicht lange verfolgen kann. Es ist vielleicht ein wesentlicher Aspekt, dass die klare Gliederung sich desto mehr entzieht, je deutlicher man diese melodischen Wandlungen artikuliert. Ich habe in den Noten zunächst mal das rot markiert, was am offensichtlichsten zutage tritt (nach Alfred Dürrs Vorgaben) Die Einteilung in A (Hauptteil) und B (Episodisches). Aber wichtiger finde ich am Ende das, was nicht auf der Hand liegt. Hören Sie nur, – und beobachten Sie, was geschieht, was da weiterführt und wie bereits Gegebenes rekapituliert wird:

      

(Fortsetzung folgt)

Vorstudien zur Interpretation des Praeludiums

Die dreistimmige Sinfonie Es-dur BWV 791 (wegen der Ornamentik)

Ich habe sie geliebt, seit ich sie hinter den zweistimmigen Schwestern, den Inventionen, im selben Notenband entdeckte und im Gegensatz zu den andern dreistimmigen leicht spielbar fand. Mir schien die kleingedruckte Ossia-Stimme mit den Verzierungen nicht verbindlich. Als ich viel später genau diese von Bach mit ausgeschriebenen Ornamenten versehene Fassung zu üben versuchte, hat sich manches in mir gesträubt: genau so schlimm, wie akzeptieren zu müssen, dass die marmornen Statuen der alten Griechen in Wahrheit einmal bunt bemalt waren. Dies wäre die Fassung aus weißem Marmor:

Und dies sind verschiedene Interpretationen der von Bach mit Ornamenten versehenen Fassung. Es bleibt immer noch enorm viel Spielraum:

Orgel Pfeifen u.a.

Was mich zu Ostern bewegt

Womit es auch immer begann, ich war wieder reif für Orgel-Ästhetik (unvergessen: die Buxtehude-Aufgabe), und da stach mir trotz dunklem Untergrund der Artikel von Margareth Tumler ins Auge, hinzu kamen die letzten Begegnungen mit Christian Schneider, die Erinnerungen an seinen Vater, der Mitte der 50er Jahre die neue (mechanische) Orgel in der Bielefelder Pauluskirche einweihte, wo ich dank Kantor Eßrich mit Orgelspiel und Harmonielehre etwas vertrauter geworden war. Kirchenchor (Bach-Motetten), Konfirmation März 1955, eine nachdrückliche Phase der evangelischen Aufgeschlossenheit.

Ganz rechts im Bild mein erster Geigenlehrer Gerhard Meyer; seine Hutkrempe  befindet sich genau an meinem Fensterplatz im Erkerzimmer des Hauses, in dem wir wohnten. Von dort hatte ich einen direkten Blick hinauf zum Turm der Pauluskirche. (Das Bild weiter unten habe ich 2015 von der Straße aus aufgenommen.)

 LP etwa aus dem Jahre 1975 .    .    .    . .    .    .    .

Schöner Brauch damals, jeden Samstagabend: von den Turm-Balkons spielte ein tüchtiger Laien-Trompeter der Gemeinde in jede Himmelsrichtung eine (wöchentlich wechselnde) Choralstrophe.

  Pauluskirche heute im Netz

 Helmut Hucke & Christian Schneider 1982

Screenshot aus DVD „Die Schöpfung“ von Haydn (mit Collegium Aureum u. Schönberg-Chor)

 (Foto: Christian Schneider in Tibet 1998)

 Christians Oboenauswahl (über dem MGG)

 Tumler-Artikel in Musik & Ästhetik

Als nächstes folgt bei solchen Fokussierungen immer der Weg zum MGG-Lexikon, in dem ich immer wieder kleine Entdeckungsreisen unternehme. Auch ich könnte also ohne neuen Orgelunterricht etwas mehr über „Pfeifenwerk“ und „Dispositionen“ wissen, selbst wenn ich nur das zur Kenntnis nähme, was ich wirklich verstehe. Probieren Sie es doch auch:

   

(Dieselben Themen bei Wikipedia Pfeifenwerk und Disposition )

Wenn ich mich tatsächlich aufs neue mit der Buxtehude-Ausgabe von Harald Vogel befasse, werde ich mich sicher als erstes intensiv auf die Orgel einstellen, die er mit Hilfe der beigefügten DVD visuell und akustisch präsentiert.

Ockeghem aufs neue

Seine Lieder mit Blue Heron (Erste Schritte)

Anders als damals (hier), ist der aktuelle Anreiz, dem Phänomen Ockeghem näherzurücken, nicht eine wissenschaftliche Arbeit, sondern ein Klangerlebnis, eine reale CD, und keine heiligmäßige, strenge Missa, sondern „Songs“, die leicht überschaubar sind und inhaltlich einen menschlichen, affektiven Ansatz bieten. Ein Hemmnis bleibt, dass kein deutscher Text vorliegt und dass der Text wegen des vorgegebenen CD-Maßes so klein geschrieben ist, dass man eine Teleskopbrille brauchte, um ihn zu entziffern. Ich werde ihn in einer leicht vergrößerbaren Kopie folgen lassen. Das Youtube-Video verspricht, dass die Interpreten uns vermitteln, was an Ockeghems Kompositionen so faszinierend ist. Und auch das bloße Anhören der CD (ohne besondere Vorkenntnisse) hat seinen besonderen Reiz, es kommen nicht nur fremde Kadenzformeln vor, sondern auch scheinbar vertraute Terzparallelen. Ich empfehle, jedes einzelne Stück sofort mehrfach zu hören und die Wiederkehr des Gleichen zu vermerken, man braucht diese musikalische Orientierung, auch wenn man den Text mitliest auf strophischen Gleichlaut oder refrainartige Zeilen zu achten. Oder einfach im Video darauf zu achten, wie die Mitwirkenden ihre Liebe zu dieser Musik begründen. Alles andere, das wissenschaftliche Quellenstudium, die Aufführungspraxis u.dgl., kann uns erstmal völlig egal sein. Wir wollen etwas vom Lebensgefühl jener frühen Zeit um 1480 in uns nachbilden. So wie wir es auch bei – sagen wir – Dante Alighieri halten würden, für den wir noch mehr als 150 Jahre weiter zurückgehen würden. Es wäre zum Beispiel ganz absurd, dieser Dame preziös dreinblickenden ins Antlitz zu schauen und zu sagen: „Ich möchte sie um keinen Preis kennenlernen“.  Man erlebt es doch täglich, dass man sich vollständig irrt in der Deutung von Gesichtern, gerade in den gängigen Talkshows, wo Leute lange schweigen, ehe sie ins Gespräch gezogen werden und gewissermaßen eine Umwendung unserer Einschätzung um 180 Grad bewirken. „Sprich, damit ich dich sehe!“ hieß es bei Sokrates. Man könnte auch sagen: „Singe, damit ich weiß, wer du bist.“ Man könnte noch für sich selbst hinzufügen: „Gut zuhören, sonst verstehe ich gar nichts.“

Wer ist denn nur diese Dame?

 hier mit Text zum Bild

Lesen Sie den Text und vergrößern Sie das Bild, während Sie es lange anschauen.

 und hier mithören…

Erste Hinführung zu Ockeghem’s Songs:

Blue Heron’s Ockeghem@600 project — to perform all the works of Ockeghem over the next few years (through roughly 2020) — is explained. The video includes interviews with Project Advisor Sean Gallagher (New England Conservatory) and Music Director Scott Metcalfe and generous musical excerpts from Blue Heron’s performances of works of Johannes Ockeghem (c.1420-1497) in early 2015. Gallagher and Metcalfe explain what is captivating and brilliant about Ockeghem’s compositions.

Was haben die Vertreter des Ockeghem-Projekts (Gallagher und Metcalfe) sonst noch zu sagen? Ich habe aus Gründen der Lesbarkeit ihre Texte gescannt und vergrößert. Hier Teil 1:

Der folgende Song im externen Fenster, damit Sie beim Hören den Text mitlesen können: hier.

(Fortsetzung folgt)

Im Namen der Bach-Familie

Neue Aufnahmen, alte Inhalte

 outhere RIC

 Foto: ©Björn Kadenbach

Zum Ensemble Vox luminis, oben bei der Arbeit abgebildet, während das Booklet ansonsten dazu schweigt, deshalb: hier.

Warum gerade diese CD?

Ich möchte die Geschichte der Musik vor Bach nicht aus dem Auge verlieren. Daher die Hinwendung zu den Orgeln und Orgelwerken Buxtehudes und Scheidemanns. Und dann: gerade diese CD wurde von den Kollegen im „Preis der Deutschen Schallplattenkritik“ letztes Jahr ausgezeichnet, man konnte leicht reinhören, Grund genug sie zu kaufen.

„Kantaten“ – Heinrich Bach: Ich danke Dir Gott; Johann Michael Bach: Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ; Herr, der König freuet sich; Johann Christoph Bach: Die Furcht des Herren; Herr, wende Dich und sei mir gnädig; Es erhub sich ein Streit; Johann Sebastian Bach: Christ lag in Todesbanden BWV 4. Vox Luminis, Lionel Meunier. Ricercar RIC 401 (Note 1)

Nach den Motetten die Kantaten: Lionel Meunier und Vox Luminis haben sich dem einschlägigen Schaffen der Bach-Verwandten Heinrich, Johann Christoph und Johann Michael Bach gewidmet. Herausgekommen ist eine Einspielung mit starker Sogwirkung: akribisch und trotzdem warm timbriert, in bester Übereinstimmung von Wort und Musik und mit einer starken Präsenz der großen Emporenorgel. Sie ist aber auch interessant, weil drei Vorfahren aus dem übermächtigen Schatten des Thomaskantors geholt werden. Sebastians frühe Kantate „Christ lag in Todesbanden“ BWV 4 im Anhang zeigt, wie stark er von den Verwandten geprägt war und, wie er sich später originalisiert hat. (Für die Jury: Thomas Ahnert)

Natürlich hatte ich gehofft, noch etwas so Umwerfendes von Johann Ludwig Bach (1667-1731) zu finden, was seiner Trauermusik gliche. Die Silhouette von Arnstadt ist auf dem Cover der CD zu sehen, und in Arnstadt war es ja, wo ich Feuer gefangen hatte, das Buch von Hagedorn war entscheidend, dann der Besuch des Örtchens Wechmar, überhaupt die physische Nähe der Bach-Regionen.

Der Ablauf der Musiken

Also nur zwei Komponisten, dazu deren Vater Heinrich und – der entferntere jüngere Verwandte Johann Sebastian. (Auf der Ahnentafel – siehe hier – sind es die Nummern 6, 13, 14 und 24. Nebenbei: die Tochter von Nr. 14 wurde die erste Frau von Nr. 24)  Zur letzten Komposition „Es erhub sich ein Streit“ suche ich die entsprechende Kantate von Johann Sebastian Bach BWV 19 heraus: Hier ist sie (mit Gardiner).

Auffällig in der Version von Johann Christoph Bach: nach einer Instrumentaleinleitung bis 1:19 erklingt eine Siegesmusik, – obwohl es heißt „und siegeten nicht“. Nur die Seite der wahren Sieger gilt! „Michael und seine Engel“ in Kanonbewegung! Bei JSB steht am Anfang der Kampf. Es erinnert an „Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden“ in der Matthäuspassion, aber hier eben mit Siegestrompeten. Alles C-dur, die Beschwörung des Namens Michael, der erste Subdominant-Akkord auffällig bei 4:00. Ist es zu voreilig zu konstatieren, dass bei JSB eine Dialektik entscheidend wird, die nun auch den satanischen Widerspruch würdigt? Nicht unbedingt: die Kantate des anderen war halt für den Festtag des Erzengels Michael bestimmt… die logisch-rhetorische Abfolge der Satzteile ist ganz unterschiedlich gewichtet, wie man schon am Gebrauch der Worte „und“ im ersten und „Aber“ im zweiten Fall sieht, ebenso der Subjekte im ersten („Michael und seine Engel“) und im zweiten ( „Die rasende Schlange, der höllische Drachen“).

  2 von 4 Strophen bei Joh. Christoph Bach

J.S.Bachs Kantatenbeginn: Es erhub sich ein Streit. / Die rasende Schlange, der höllische Drache / Stürmt wider den Himmel mit wütender Rache. / Aber Michael bezwingt, / Und die Schar, die ihn umringt / Stürzt des Satans Grausamkeit.

ZITAT aus dem Booklettext von Jérôme Lejeune:

Eindeutig ist Johann Christoph unter Johann Sebastian Bachs Vorfahren sowohl im Hinblick auf die Qualität als auch auf die Originalität seiner Werke der eindrucksvollste Komponist. Muss nochmals daran erinnert werden, dass er der einzige der Vorfahren ist, über den Sebastian seine „Meinung“ sagt, indem er ihn als einen „profonden Componisten“ bezeichnete? Wahrscheinlich ist er der Vorfahre, zu dem der junge Johann Sebastian die tiefste Beziehung hatte, da Johann Christoph seinen Organistenberuf in Eisenach ausübte und seinem Cousin Johann Ambrosius, dem Vater von Johann Sebastian, sehr nahe stand. Doch handelt es sich für diesen nur um Kindheitserinnerungen, da er 1694 beim Tod seiner beiden Eltern von seinem älteren Bruder aufgenommen wurde, dessen Vornamen ebenfalls Johann Christoph war[en] und der in Ohrdruf als Organist arbeitete. Und als Johann Sebastian von seinem ersten Aufenthalt in Nordeutschland (1700-1703) zurückkam und ab August 1703 die Organistenstelle in Arnstadt innehatte, war der „profonde Componist“ eben im Monat März gestorben.

ABER: was ich dennoch kaum glauben kann, dass es derselbe Komponist ist, der auch das erschütternde Lamento geschrieben hat, das Musica Antiqua Köln (Reinhard Goebel) mit Magdalena Kožená aufgenommen hat: „Ach, daß ich Wassers genug hätte“ (2005).

Es kann nur um Liebe, Tod und Trauer gehen, denkt man unwillkürlich. Tatsächlich ist es nur die eigene Sünde, deretwegen die Tränen fließen. Man muss schon sehr in sich gehen, um zu begreifen, was in jener Zeit ein solches Gefühl bedeutete, ein Bewusstsein von Neigungen und Verhaltensweisen, die nicht wiedergutzumachen sind. Da hilft kein selbstbewusstes Aufbegehren, man hat sich gewissermaßen selbst demontiert, zerstört, die Musik ist es, die daran keinen Zweifel lässt. Ich weiß nicht, ob uns dieses Gefühl heute wirklich so fremd ist, wie der allgemeine Optimierungswahn uns glauben machen will, während ein ungeheures Artensterben stattfindet, für das wir alle verantwortlich sind.

Und die Probe aufs Exempel: es ist nicht nur die Sängerin (und die eigentliche Wiederentdeckung dieses Werkes durch Goebel), die eine solche Wirkung gezeitigt hat, sonst würden uns andere Aufnahmen desselben Stückes nicht auf so andere Weise – und doch vergleichbar – ergreifen. Trotz erheblicher Zurückhaltung in Pathos und Jammerton. Vielleicht ist es der Kirchenraum, die fahle Beleuchtung, die reduzierte erotische Ausstrahlung der Situation, die bürogerechte Kleidung des Solisten, die Statik der Mitwirkenden? Jedenfalls kommt nicht die Sichtbarkeit als wesentliches Moment der Aufführung hinzu: die Musik selbst tritt allein und gebieterisch hervor. Sie sagt: Es gibt keine Hoffnung mehr; mit Rilke zu reden: die Schönheit ist nur des Schrecklichen Anfang.

J.C. Bach ~ Lamento: Ach, dass ich Wassers gnug hätte; Christopher Lowrey, countertenor

Eine Vorbemerkung zum Hören

Ich kann nicht erwarten, dass mir jede dieser Kompositionen auf Anhieb gefällt, sie werden (eventuell) erst beim wiederholten Hören schön oder außergewöhnlich; am Anfang kann durchaus der vage Eindruck stehen: das klingt von ferne so ähnlich wie Schütz oder Monteverdi, und frühestens bei der Kantate von J.S.Bach sagt man: jawohl, so ist Musik, so muss sie sein, je nach Erfahrungsstand. Ein Verächter alter Musik, den ich einmal mit Monteverdi-Madrigalen zu bekehren versuchte, stellte sich nach wenigen Versuchen quer mit den Worten: „Ich höre nur Kadenzen“. Man hätte ihn beleidigen können, etwa mit den Worten: Du verharrst in den Vorhöfen dieser Musik, Du würdest möglicherweise erst nach einem mehrfachen und vor allem gutwilligen Hörerlebnis  durch das Hauptportal eingelassen. So hätte man sich ganz schnell den Vorwurf der Arroganz eingehandelt, während man selbst vielleicht dieses Wort für den anderen mühsam ausgeklammert hat. Bei Beethovens Fünfter würde niemand sagen: „Ich höre immer nur das eine Motiv“. Oder auf der Autobahn: „Ich will mich nicht immer nur vorwärts bewegen, ich habe einfach mehr Phantasie!“

Man könnte konventionell „halb“ hinhören, sagen wir bis Tr. 5 „Herr, wende dich und sei mir gnädig“, und dann erst wirklich beginnen. Natürlich mit dem Text vor Augen, damit eine gewisse Gliederung und Übersicht nahegelegt ist, nicht: um Einzelheiten des Textes lächerlich zu finden („meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe“). Demut ist angebracht, wenn die Ohren aufnahmefähiger werden sollen: das aber ist ihre einzig mögliche Aktivität, nicht Widerborstigkeit und Absperrung. Dafür bleibt später genügend Zeit.

Wie schön nach der harmonieseligen Einleitung, über der sich eine Solovioline gegen den Himmel abhebt, die gesungenen Einzelstimmen flexibel aufeinander reagieren, das „wende dich“ umsetzend und gemeinsam agierend, – es handelt sich durchgehend um Prosa, nicht um rythmisierte Verse, auch wenn die Musik kleinere Sinneinheiten schafft -,  der unvergessliche Einwurf des Altus: „Meine Tage sind dahin wie ein Schatten und ich verdorre wie Gras“, und wie schön läuft es immer wieder auf die verführerisch intonierte Sentenz hinaus: „Das Grab ist da“ und schließlich im Verhauchen auf die Worte „wie eine Scherbe“. Haben Sie nur Geduld, bis die Kräfte wieder wachsen, und nehmen Sie die Stelle vor 5:30 mit heimlicher Lust wahr: „Neige deine Ohren und erhöre mich“. Es folgt die lyrische Strecke des vollzogenen „Erhörens“, die dem Solobass obliegt. Die Besonderheit des Chorals am Ende wird im Booklet erwähnt: „Hier wird die Freude der Gläubigen auch durch die sehr virtuosen Stimmen der beiden Violinen ausgedrückt, die sich in brillante Verzierungen stürzen und so im Kontrast zum Tanzcharakter des ternären Chorals stehen.“ Wobei auf eine ähnliche Choralbehandlung in der Hochzeitskantate Meine Freundin du bist schön desselben Komponisten Johann Christoph Bach verwiesen wird. Ja! das trifft mich wie ein Blitz der Erleuchtung, und wie gerne versetze ich mich in die Zeit, die nur wenige Jahre zurückliegt: als ich diesen Komponisten entdeckte und mich zu einem gewaltigen Sprung in das Jahr 1679 verleiten ließ, nicht ohne intensive Nachhilfe durch das Buch von Volker Hagedorn: Hier.

Weitere Abschweifung vom Thema

George Steiner ist gestorben, und schon steht sein Todesdatum in der Wikipedia-Biographie. Und erst der Nachruf von Ulrich Greiner hat mich darauf gebracht, wieviel er mir bedeutet hat, seit ich am 1. März 1991 sein großes Buch zu lesen begonnen hatte. Was ich nicht richtig verstanden hatte: mir schien es gegen „Sekundärliteratur“ gerichtet, aber er meinte eher die journalistische Zubereitung der Kunst. Er sagte: „Der Schriftsteller, der Künstler, der Musiker sind für mich die Realität. Der Briefträger, der ihre Botschaften austrägt, das bin ich. Nie sollte man die beiden vermischen.“ (Und ich finde, auch im Journalismus gibt es solche Briefträger, ich könnte sofort Namen nennen und zitiere oft genug aus solchen „Briefen“, siehe unten, – schon wieder.)

Dann kam 2006 Bertholds Erinnerung gerade recht: die Musikalität des Denkers hat die am meisten überredende Kraft, trotz oder wegen der fortwährend mitklingenden Melancholie.

Merkwürdig: ich würde mich wahrscheinlich notgedrungen als Agnostiker bezeichnen, wenn ich eine Meinung äußern müsste, und würde doch sofort wankelmütig, wenn ich längere Zeit George Steiner läse. Anderen geht es ähnlich, der Nachruf in der ZEIT ist beeindruckend:

Warum Denken traurig macht hieß eines seiner späten Bücher (2006). Es macht traurig, weil es nie an ein Ende kommen kann, weil jedes scheinbare Ergebnis neue Fragen aufwirft. In seiner Erzählung Aschensage (ja, er hat auch Erzählungen geschrieben, leider nur wenige) streiten sich einige Juden – wie viele es sind, ist nicht leicht herauszufinden – über die alte Frage, weshalb Gott Abraham befohlen hat, den Sohn Isaak zu töten. Weil er darauf gehofft habe, Abraham würde Nein sagen, spricht der eine. Wie denn? sagt ein anderer, zu Gott Nein zu sagen, ist unmöglich. Doch, sagt nun ein Dritter, weil nämlich der Tötungsbefehl gar nicht von Gott kam, sondern vom Satan, dem Gott kurz das Wort erteilt hatte. „Das Denken ist der Tanz des Geistes“, heißt es am Ende, „der Geist tanzt, wenn er nach dem Sinn sucht, und nach dem Sinn des Sinnes.“

Quelle DIE ZEIT 6. Februar 2020 Seite 53 Nachruf Weltbürgerlicher Tänzer des Denkens George Steiner war ein freier Geist und Verteidiger der Literatur. Von Ulrich Greiner.

Scheidemanns Orgelkunst

(In Arbeit) 

Ich brauche eine Motivation, um mich ans Arbeiten zu bringen, – warum aber habe ich jetzt plötzlich alle Orgel-CDs hervorgesucht, die ich besitze? Unmittelbarer Anlass: die Buxtehude-Box mit Harald Vogel, die mich noch länger beschäftigen wird (siehe hier). Die Erinnerung daran, dass ich Ähnliches vor Jahren angefangen hatte, als ich die Präsentation alter Orgeln bei Dabringhaus & Grimm kennenlernte (2012), auch auf der Rückfahrt von Juist in Norden Station machte (beeindruckende Ludgeri-Kirche, dort war damals gerade wieder eingebrochen worden), ich hatte drei CDs des amtierenden Organisten-Ehepaares gekauft. Im Blog habe ich das irgendwie reflektiert, aber 2014 ist das System zusammengebrochen, (m)ein Desaster. Vorteil: ich muss es neu erinnern, es wird sich um so tiefer eingraben. – Ein Hauptanreiz ist für mich seltsamerweise immer etwas Didaktisches, wie in der Buxtehude-Box die DVD, auf der Harald Vogel die Orgel-Disposition im Detail erklärt (ich werde seinen Text noch notieren müssen), in der vorliegenden Scheidemann-CD der schöne, aber im Booklet mühsam zu entziffernde Text (ich werde ihn vergrößern, um ihn jederzeit gern zu repetieren); habe die Hoffnung, eines Tages den ganzen Wunderbau einer Orgel zu verstehen. Eigentliche Ursache: der wiederentdeckte Klang der alten Orgeln, das Geheimnis der rechten Stimmung. (Ich hole nach, was ich 1955, in der kurzen Zeit der Orgellektionen in Bielefeld, versäumt habe. Wichtigste Anregung – nach Albert Schweitzer und seinem Bachbuch – der Pauluskirchen-Kantor Eberhard Essrich. Was für ein Glück, an das „Treffen in Telgte“ erinnert zu werden. (In den 80er Jahren hat Werner Ehrhardt mir das Büchlein nahegelegt!)

Über Bach in der Kirche St. Katharina siehe Wikipedia hier. Eigene Erinnerung 2017:

 Fotos JR  

   

Über Wim Kloppenburg hier .

Die Orgel der Pieterskerk in Leiden:

Vorführung der Orgel Track 14 bis 30:

Siehe auch hier (Wikipedia „Liste von Orgelregistern, darin z.B. die im Text erwähnten „Quintadena“, „Terzian“ oder „Sifflet“) Prestant (Prinzipal) siehe hier.

Der von Leo van Doeselaar bei der Registervorführung gesprochene Text:

Ich werde jetzt mal die drei Prinzipal 8′ zeigen, Prinzipal 8′ vom Oberwerk #14# Prinzipal 12 vom Hauptwerk #15# Prinzipal 8, Prestant 8 aus dem Rückpositiv #16# was sehr besonders ist an dieser Orgel, ist die Möglichkeit 24 und 12 Fuß zusammen zu spielen, und das ergibt einen sehr besonderen, gravitätischen Klang #17# Zusammen mit Prinipal 8 aus dem Rückpositiv #18# und ich zeige dann jetzt das originale Blockwerk #19# zum Oberwerk, Holpijp gedackt 8 #20# zusammen mit Gemshoorn 2′ #21# eine Oktave tiefer gespielt klingt Gemshoorn wie ein Blockflörenquartett #22# und dann haben wir noch zwei besondere Zungen: Schalmei im Rückpositiv #23# und dann oben Vox humana #24# aber weil es von der Regalfamilie ist, kann man auch wunderbar Consort-Musik spielen #25# Diese Orgel hat zwei Quintadeen, zuerst mal Oberwerk und dann Rückpositiv #26# Holpijp 4′ gedackt auf Rückpositiv #27# Eine sehr schöne Kombination: 4′ Holpijp und Sifflet 1′ #28# Plenum Aufbau im Rückpositiv: Prinzipal 8′ Oktave 4′ Superoktave 2′ Mixtur scharf #29# Aufbau vom Oberwerk Plenum: Prinzipal Prestant 8′ Oktave 4′ Superoktav 2′ und dann Terzian #30#

Zum Punkt der Motivation (siehe Anfang) muss ich noch etwas hinzufügen: diese Orgelklänge sind einzigartig schön, delikat und kraftvoll, man muss sie hören lernen, in ihren feinen Qualitäten unterscheiden, nicht laienhaft undifferenziert vorüberpfeifen lassen: „so ist halt Orgelklang“ – nein, dies sind die unverwechselbaren Farbtöne, an die ich mich erinnere, auch wenn ich im Walde spazieren gehe. Ich sehne mich nach dem Raum der Kirche, der dem des Waldes, in dem die Buchfinken miteinander wetteifern, nicht ganz unähnlich ist. Wohlgemerkt, ich werde nicht fromm davon, sondern sehr aufmerksam.

Sobald ich anderen Interessenten ein echtes Studium der einzelnen Orgelstücke empfehle, – und das tue ich natürlich -, würde ich hervorheben, dass es mindesten eine Voraussetzung gibt: man muss die Choralmelodien wiedererkennen, wo auch immer sie auftauchen, man muss sie kennen und lieben gelernt haben. Jeder Bach-Freund hat sie mit seinen Passionen und Kantaten wie mit der Muttermilch aufgesogen. Ansonsten beginne man damit, die Choräle dieser CD zu notieren und aus dem evangelischen Gesangbuch zu kopieren oder abzuschreiben; das Gesangbuch braucht man, – ob man in die Kirche geht oder nicht! (Ich finde immer wieder einen Grund, einen Choral Ton für Ton zu betrachten z.B. hier.)

Und wenn der Tr. 1 der Scheidemann-CD auf Hans Leo Hasslers Motette „Verbum caro factum est“ verweist und ich kenne sie nicht, höre ich sie in irgendeiner Youtube-Fassung und präge sie mir ein. Z.B. hier. Was aber bedeutet – Tr. 2 – eine Intavolierung desselben Werkes?  Wikipedia weiß Rat: hier. Unter den dort angegebenen Weblinks findet man die folgende Arbeit, die man als pdf abrufen kann: DIE KUNST DES INTAVOLIERENS: GEBUNDENHEIT UND FREIHEIT von Johannes RING. Die Arbeit beginnt mit den Sätzen:

Es ist gut vorstellbar, wie Heinrich Scheidemann einem interessierten hanseatischen Publikum mit der kunstvollen Bearbeitung bekannter Motetten prominenter Komponisten seine musikalische Kompetenz unter Beweis stellte und die klanglichen Möglichkeiten der großen Orgel der Hamburger Hauptkirche St. Katherinen vorführte. Ähnlich muss der Englander Peter Philips in Antwerpen die wohlhabende Bürgerschaft am Virginal mit der virtuosen Bearbeitung populärer italienischer Madrigale beeindruckt haben. Als Scheidemann und Philips in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihre kunstvollen Intabulierungen erklingen ließen, schaute die Praxis des Intabulierens von ihrem letzten Höhepunkt auf eine dreihundertjährige Geschichte zurück.

Zu Tr. 4 „Kyrie summum“ siehe Wikipedia hier zu „Kyrie, fons bonitatis“, darin letzter Teil zu „Kyrie summum“.

Zu Tr. 5 vgl. John Dowland’s berühmtes Lied „Lachrimae“ hier.

Und nun die Choräle! Ich habe eben so groß getönt … vom Gesangbuch, – aber manche Choräle findet man darin einfach nicht mehr. Z.B. zu Tr. 7 „Erbarm dich mein, o Herre Gott“. Dann empfehle ich in jedem Fall als Quelle den, für den wir diesen ganzen Aufwand betreiben: Johann Sebastian Bach. In diesem Fall BWV 305, da steht auch seine Quelle drüber (Walter 1524), hier der Anfang:

Wenn Sie die vollständige Melodie bei Scheidemann verfolgen wollen: also Tr. 7, – die Melodiestimme tritt nach den ersten (absteigenden) 3 Tönen auf, merken Sie sich die „Farbe“ und folgen Sie zwanglos den sieben weiteren, gleichlangen Zeilen.

Erbarm‘ dich mein, o Herre Gott
Nach deiner gross’n Barmherzigkeit,
Wasch‘ ab, mach‘ rein mein‘ Missethat,
Ich kenn‘ mein‘ Sünd‘ und ist mir leid.
Allein ich dir gesündigt hab,
Das ist wider mich stetiglich;
Das Bös‘ vor dir nicht mag bestah’n,
Du bleibst gerecht, ob man urtheile dich.

Und wenn Sie in unserem Notenbeispiel an die Stelle des dritten Tones (g) der Melodiestimme ein gis einfügen, damit die Bitte um Erbarmen dringlicher wird – die absteigende Chromatik dementsprechend in der fünften Zeile auf gesündigt“ -, so tun Sie genau das, was Bach in seinem ungeheuerlichen Choral BWV 721 tat (Tonart einen Ganzton höher, also jetzt mit dem Gang a-ais-h nach dem ersten Melodieton):

Wer weiß, ob Bach nicht auch Scheidemanns „Fantasia in d“ (Tr. 3, Notenbeispiel Booklet Seite 14) gekannt und das Thema der Fuge als verkürztes Choral-Zitat aufgefasst hat, hier noch einmal zur Verdeutlichung:

In Scheidemanns Praeambulum in d (Tr. 9), „komponiert am 10.1.1637“, überrascht wiederum der freie Einsatz der Chromatik, inklusive einer mehrfach chromatisch auf-und absteigenden Tonleiter (ab 2:17 bis 3:30).

(Fortsetzung folgt)

Wie katholisch ist Bachs große Messe?

Was fromme Worte bewirken

Das ist Schubert, und nichts befindet sich zwischen den Worten „qui locutus est per prophetas“ und „Confiteor unum baptisma in remissionem peccatorum“. Was das heißen mag, habe ich vorgestern in der Katholischen Kirche Solingen-Ohligs rekapituliert:

Sie lesen, was da steht, drittletzte Zeile, nach „qui locutus est per prophetas“, auf der nächsten Seite das „Confiteor“; genau so stand es im Programmheft zu Bachs großer Messe, über die Kommata könnte man diskutieren – aber da gäbe es doch in jedem Fall noch einen wichtigen Satz?

„Et unam , sanctum, catholicam et apostolicam Ecclesiam“, danach erst folgt das „Confiteor“. Was ist los? der größte Protestant nach Luther, nein, größer als jener, unser einziger, heiliger, fünfter Evangelist Johann Sebastian Bach zeigt sich katholischer als Schubert, der Schöpfer des allerinbrünstigsten „Ave Maria“-Gesangs, den das Abendland kennt?

Schauen wir zur Sicherheit in Bachs Notentext: es handelt sich nicht um eine Verlegenheit, genau an dieser Stelle wird er notenselig, hier sind in dem Satz erstmalig Sechzehntel zu sehen und davon nicht wenige, der Komponist will uns noch eine Spezialbotschaft übermitteln. Ist sein Sohn nicht in Mailand katholisch geworden, und er selbst, hat er die Messe nicht mit Blick auf den katholischen Hof in Dresden fertiggestellt? Aber das hat nichts zu sagen, ich glaube, der Fall liegt anders.

„Catholicam“ ist mit „katholisch“ missverständlich übersetzt. Korrekter wäre das Wort „allgemein“, es war nicht als Anti-Epitheton gegen das Protestantische erfunden, sondern existierte lange vor Luthers Protestaktion, die eigentlich nicht die „allgemeingültige“ Kirche aufspalten, sondern bessern sollte. Das Wort hatte eher mit „holistisch“ (ganzheitlich) zu tun: „kat‘ holikós“ = das Ganze betreffend.

Bach wusste das, und die Sechzehntelfigur, die er verwendet, ist keine bloße Koloratur, sondern könnte gemäß der Lehre von den musikalischen Figuren eine „circulatio“ meinen, die genau diese „umfassende“ Bedeutung des Katholischen aufgreift: zwei Halbkreise, der eine nach oben geöffnet, der andere nach unten.

Man lese auch den Wikipedia-Artikel über das „Symbolum Nicenum“ , der gerade den Übersetzungsteil „die eine, heilige, katholische (allgemeine)[4] und apostolische Kirche mit einer besonderen Anmerkung bedenkt.

Man kann über die Worte endlos disputieren, – was kostete es doch, „filioque“ in den Text einzubauen, wie konnte man es den Arianern am unauffälligsten und am deutlichsten zeigen, was die wahrste Wahrheit ist. Ich bin glücklich, kein Theologe zu sein und mich damit nicht abgeben zu müssen. Es war am vergangenen Samstag vor der Aufführung der H-moll-Messe, in der bis auf den letzten Platz besetzten katholischen Kirche, als der Pastor eine Begrüßung sprach und zwei Sätze einmischte, die irgendwie ökumenisch klangen: schon gab es heftigen Zwischenapplaus. Ach, es sind nicht die Worte, an denen die Zukunft der Kirche mitsamt ihrer großen Kirchenmusik hängt, sondern die unwürdigen Verfehlungen des Fleisches, die alles andere unglaubwürdig machen. Bis auf die Musik.

Bach hat mit diesem Werk, das aus vielen schon fertigen Bestandteilen und deren Ergänzungen geschaffen wurde, am Ende seines Lebens eine unglaubliche integrative Leistung vollbracht. Christoph Wolff schreibt dazu in seinem Bach-Buch aus dem Jahre 2000 folgendes:

Wir wissen, daß Bach sich in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren ausführlicher mit der Messenkomposition befaßte und dabei zahlreiche Werke kopierte, aufführte und studierte, deren Repertoire von Palestrina bis zu Bachs Zeitgenossen reichte. In diesem Zusammenhang führte er etwa die sechsstimmige Missa sine nomine von Palestrina mit hinzugesetzten Cornetti, Posaunen und Basso continuo auf und die Missa sapientiae von Antonio Lotti. Kompositionsstudien mit unmittelbarer Einwirkung auf die h-moll-Messe schlossen ein das „Credo in unum Deum“ BWV 1081 (als Intonation der Messe in F-Dur von Giovanni Battista Bassani eingefügt) und eine kontrapunktisch um zwei Stimmen erweiterte Fassung des „Suscepit Israel“-Satzes BWV 1082 eines Magnificat von Antonio Caldara. In seiner ersten Fassung enthielt das Symbolum Nicenum (Credo-Teil) der h-moll-Messe lediglich acht Sätze, denn das Duett „Et in unum Dominum“ schloß ursprünglich auch den Textabschnitt „et incarnatus est…“ mit ein. Erst nachdem Bach die Arbeit an diesem Duett, wahrscheinlich sogar an der gesamten Partitur des Symbolum beendet hatte, beschloß er, die Textunterlegung des Duetts abzuändern, den „et incarnatus est…“-Abschnitt herauszulösen und für diesen liturgisch wesentlichen Text einen eigenständigen Satz zu schreiben, wie er üblicherweise in der Messentradition hervorgehoben wird. Der Gesamtaufbau entfaltete sich nun in neun Sätzen, das Symbolum erhielt eine zugespitzte Symmetrie: Bach formte die Ausgangslage von + 1 + 2 +1 + Sätzen (Chöre = Fettdruck) um in eine musikalische Architektur von 2 + 1 + 3 + 1 + Sätzen. [Seite 479]

Die Messe bietet das komplette Arsenal der Kompositionskunst in einer Breite und Tiefe, die nicht nur von theoretischem Scharfsinn zeugt, sondern auch von umfassendem Verständnis der Musikgeschichte, vor allem im Gebrauch alter und neuer Stile. Gerade wie sich die altkirchliche theologische Doktrin über die Jahrhunderte hinweg im Messetext überliefert findet, so bewahrt „Die große catholische Messe“ Bachs [Titelangabe im Nachlassverzeichnis von Carl Philipp Emanuel Bach] musikalisch-künstlerisches Credo für die Nachwelt. [Seite 481]

Quelle Christoph Wolff: Johann Sebastian Bach / S.Fischer Frankfurt am Main 2000

Keine Angst vor dem Konterfei! Dieser Herr hat weder mit Palestrina noch mit Johann Sebastian Bach zu tun. Es geht um Musik, die zu Bachs Zeit als eine sehr alte und ehrwürdige galt und trotzdem für den Gebrauch im „modernen“ Gottesdienst attraktiv klingen sollte, daher die Hinzufügung der Instrumente: cornetti & tromboni plus Generalbass. Cornetti sind aber nicht hornähnlich, es handelt sich um Zinken (Tromboni = Posaunen). Stichworte „stile antico“ und Palestrina

Dasselbe Video im externen Fenster hier (zum leichteren Hin-und Herschalten) 

Palestrinas „Missa sine nomine“ in Bachs Bearbeitung für den praktischen Gebrauch: Ab 2:26 Et Incarnatus 3:05 Crucifixus 5:35 Et in spiritum 6:47 Et unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam / 7:05 Confiteor unum baptisma“ [die Wort-Artikulation der anglikanischen Kirche (?) lässt zu wünschen übrig…]

BACH H-moll-Messe als Ganzes im Video die oben im Noten-Scan zitierte Stelle findet man bei 1:13:39 (Anfang ab 1:09:34) Extern: hier.

Das Inhaltsverzeichnis des grundlegenden Buches von Christoph Wolff aus dem Jahre 1968:

Quelle Christoph Wolff: Der Stile Antico in der Musik Johann Sebastian Bachs / Studien zu Bachs Spätwerk / Franz Steiner Verlag Wiesbaden 1968

Aus der Wiedergabe der Missa von Palestrina in Wolffs Werk (Anhang). Es handelt sich um den Anfang des „Kyrie“. Das Musik-Video oben dagegen beginnt mit dem Credo, zuerst die Intonation solistisch „Credo in unum Deum“, dann setzt der Chor fort: „patrem omnipotentem, factorem coeli et terrae, visibilium omnium et invisibilium.“ Dieses Notenbeispiel dient uns nur als Information über die Bachsche Instrumentation und den Generalbass. (Der ganze Text zum Mitlesen beim Video hier.)

Noch ein Hinweis zu Varianten des lateinischen Textes, dessen Gebrauch zuweilen fälschlich Anlass gibt, von vornherein an einen „katholischen“ Hintergrund oder Adressaten des Werkes zu glauben. Eine Seite aus dem verdienstvollen Büchlein zur H-moll-Messe von Walter Blankenburg (1974):

Quelle Walter Blankenburg: Einführung in Bachs h-moll-Messe / Bärenreiter Verlag Kassel 1974 [Seite 14]

Wir möchten das geheimnisvolle Dunkel möglichst selten beschwören. In der Aufführung der Bachschen Missa am 16. November fand ich vor allem begeisternd, wie klar, positiv und hinreißend das ganze Werk im realen (nicht abgedunkelten) Kirchenraum wirkt. Ich werde aus Elliott Gardiners Buch „Musik für die Himmelsburg“ ein paar Stellen heraussuchen, die von Bachs Humor handeln und vom hinreißenden Tanz der Engel… diese Aspekte darf man nicht vergessen. Die Musik soll Feuer aus dem Geist schlagen, sie dient nie der Erzeugung von Depression. Auch nicht das Agnus Dei. (Aber das hat Blankenburg ja auch nicht gemeint.)

Eine vielleicht interessante Diskussion über die Worte „mente cordis sui“ im Magnificat habe ich vor ein paar Jahren wiedergegeben, und zwar hier . Im ersten Moment hatte ich nun Sorge, es würde wieder alles aufs neue in Frage gestellt und vor allem: die wirklichen Fachkenner bräuchten diese Aufklärung gar nicht. Sie wissen es längst, und nur ich stelle die überflüssigen Fragen. „Gloria ejus“ oder „Gloria tua“? Wie schön wäre es, wenn hier endlich eine echt konfrontative Lösung winkte: protestantisch = „ejus“, katholisch = „tua“. Da steht es doch! Gottseidank, altissime!

Und dann steht da bei Blankenburg aber auch noch : „In dem an Festtagen gebrauchten lateinischen Sanctus hieß es allerdings auch nach der lutherischen Form ‚gloria tua‘ „. Hilfe! Ich bitte um ein neues Konzil!

Timor Dei – Die Furcht des Herrn wird mich schlimmstenfalls mein Leben lang begleiten. Sehen Sie, wie es in der ersten Schulzeit begann und Jahrzehnte später wieder hervorkroch. HIER. Aber dafür habe ich schließlich Latein gelernt, um auch dem geistlichen Leben gewachsen zu sein, und zwar lebenslang, genaugenommen, – bis ich den Geist aufgebe.

Wann ist Musik?

Schwer zu lösende Fragen

Es ist eine große Hilfe, die richtigen Fragen zu stellen und nicht die unlösbaren zu forcieren. Wenn mich die Musik selbst zum Nachdenken bringt und ich nicht nachbeten will, was ich als emphatische Aussage dazu angeboten bekomme, genügt es zunächst einmal, alles abzulehnen, was sich im Allgemeinen bewegt und in hundert konkreten Fällen nichts Triftiges sagt. Beispiel einer emphatischen Aussage: „Bachs Kunst der Fuge ist ein Mysterium“, daraus kann ich gar nichts Produktives folgern; als angemessene Reaktion bliebe nur, auf die Knie zu fallen. Auch was Schopenhauer sagt, mag für Wagner noch so viel bedeutet haben, es bleibt wolkig und würde sich erst dann bewähren können, wenn er es auch in Wagners Musik wiedererkannt hätte. Aber er bevorzugte Rossini. Eine Ästhetik, die aus der Neuen Musik kommt, kann ich nicht akzeptieren, wenn sie im Angesicht der Wiener Klassik belanglos wird; wenn sie etwa über die bewegenden Motive der Musik Mozarts oder Beethovens nichts Neues aussagen kann und auch über das alte Wissen nicht mehr differenziert verfügt. Und in einer wirklich neuen Ästhetik der Musik wäre aus meiner Sicht erst dann Vertrauen möglich, wenn darin ein Satz wie der folgende zu finden ist:

Richtet man den Blick auf Musikformen außerhalb der europäischen Tradition oder auch in die historische Vergangenheit dieser Tradition selbst, so werden Verallgemeinerungen zunehmend schwierig.

Christian Grüny sagt dies schon in der Einleitung seines Buches über „Die Kunst des Übergangs“ und fährt fort:

Die historische und interkulturelle Reflexion mag zur Folge haben, daß man die Frage insgesamt für verfehlt erklärt und sich auf die sozusagen historistische Untersuchung beschränkt, was zu bestimmten Zeitpunkten an bestimmten Orten als Musik praktiziert und verstanden wurde – eine aus philosophischer Perspektive unbefriedigende Situation. Es ist eine typisch philosophische Reaktion darauf, die Frage radikal situativ umzuformulieren: Wann ist Musik?

So zu fragen, nimmt die historische Reflexion und auch die Erfahrung der Entgrenzungsbewegungen in den Künsten des 20. Jahrhunderts gleichermaßen beim Wort und geht philosophisch dennoch aufs Ganze. Die Frage geht von einer radikalen Kontextabhängigkeit aus, zugunsten derer jede Wesensbestimmung fallengelassen werden muß. Die Antwort müßte dann letztlich lauten: Musik ist dann, wenn wir etwas als solche hören. „Wir“ kann hier Chiffre für eine gesellschaftliche Institution sein, für eine auf andere, losere Weise bestimmte Praxis oder auch für die bloße Willkür einzelner Hörer.

Mit dieser Definition bin ich vorerst ganz glücklich und lasse mich gern auf alles weitere ein. Oder bescheide mich, nunmehr alles zur Kenntnis zu nehmen, was sich für den Autor aus diesen Praeliminarien ergibt. Und seien es die alternativen Fragen: „Wie ist Musik? Auf welche Weise artikuliert sie sich? Und auf welche Weise wird etwas als Musik erfahren? So zu fragen, nimmt die Musik nicht als Vorliegendes, an das sich Wesensfragen adressieren lassen, läßt sie aber auch nicht situativ immer wieder auf dem Spiel stehen.“ (Grüny S.8f)

Quelle Christian Grüny: Kunst des Übergangs / Philosophische Konstellationen zur Musik. / Velbrück Wissenschaft / Weilerswist 2014 [farbliche Hervorhebungen: JR]

Ich belasse es dabei, nehme die in diesem Zusammenhang genannten Autoren zur Kenntnis – unter ihnen alte Bekannte: Adorno, Dahlhaus, Bergson, Susanne K. Langer, Hegel, Husserl u.a. – und versuche irgendwo anzuknüpfen, um später hierher zurückzukehren. Neu ist für mich Lydia Goehr und ihr schöner Satz: Music is marvellous, but not mysterious. Das folgende Bild kann man durch Anklicken vergrößern, das Video abrufen jedoch nur Hier .

Gesetzt ich hätte es zweimal abgehört und angeschaut: Damit hätte ich für heute genug getan und arbeite im stillen Kämmerlein weiter, bis ein neues Bedürfnis nach Verschriftlichung entsteht…

Nachtrag:

Music has no secrets, and yet its form and meaning elude our most earnest attempts to describe them.

(Roger Scruton)

Ästhetik ist aber keine angewandte Philosophie, sondern philosophisch in sich.

(Theodor W. Adorno)

Vorspiel:

… ein Stück,

das gerade kein Musikstück ist: der Tanzperformance Both sitting duet von Jonathan Burrows und Matteo Fargion. An diesem Stück kann man meines Erachtens Entscheidendes über musikalische Zusammenhänge lernen. [Seite 15]

Die Interaktion zwischen den beiden Akteuren ist als komplexes Geflecht von Parallelen, Wiederholungen, subtilen Verschiebungen, gegenseitigem Aufgreifen von Bewegungen, rhythmischen Anschlüssen und Kontrasten organisiert. Was man vorgeführt bekommt, ist höchst stimmig und in sich überzeugend, unterscheidet sich aber in mehrfacher Hinsicht fundamental von dem, was man als Tanz zu sehen gewohnt ist.  [Seite 19]

(Christian Grüny)

Hier

Siehe auch hier

Der Glocken bebendes Getön

Rachmaninow und Bach

Suzdal, Erloeser-Euthymios-Kloster: Russisch-orthodoxes Glocken-Schlagen

Das Kloster ist heute ein Museum. „Ein staatlich beauftragter Glockenspieler führt während der Museumsöffnungszeiten zu jeder vollen Stunde das traditionelle russisch-orthodoxe Glockenschlagen mit dem historischen Geläute der dortigen Glockenwand vor. Bei einem längeren Museumsbesuch kann man diese faszinierende musikalische Darbietung also mehrmals erleben. Nach vorheriger Absprache mit dem Glöckner können angemeldete Besucher das Geläute auch oben auf der Glockenwand verfolgen.“

Heute in FAZ online HIER interessantes Gespräch zwischen Jan Brachmann und dem russischen Pianisten Daniil Trifonow, der sich mit Rachmaninows Glocken-Faszination beschäftigt hat. ZITAT:

Meine Mutter kommt aus Susdal, einer der ältesten Städte in Russland. Meine Eltern waren gerade wieder da und schickten mir ein kleines Video mit dem Mittagsläuten vom Glockenturm. Das ist eine unglaubliche Polyphonie von zwanzig Glocken, die von einem einzigen Glöckner mit verschiedenen Teilen seines Körpers bedient werden.

Man muss dazu wissen, dass man beim Läuten in Russland nicht die Glocke, sondern den Klöppel bewegt. Das erlaubt das Schlagen ganz exakter rhythmischer und melodischer Muster. Die Klöppel sind durch Seile und Schnüre zu einem komplexen Spieltisch verbunden, der mit den Fingern, der Hüfte und durch Bretter als Pedale bedient wird.

Ja, Glöckner in Russland: Das ist ein schwerer Beruf. Als ich fünfzehn Jahre alt war – ich bin ja in dem Jahr geboren, als die Sowjetunion kollabierte–, fand in Moskau, wo ich studierte, eine Messe der Glockengießer statt. Dort konnte man, unter freiem Himmel, in der Mitte eines Parks, spielen und Dinge ausprobieren. Das war zwar kein Geläut von zwanzig Glocken, aber man konnte schnell verstehen, wie es funktioniert und wie es gestimmt war. Seitdem kann ich ahnen, was das für Rachmaninow bedeutet hat.

Rachmaninow war in Moskau Schüler von Stepan Smolenski, der Kurse für die alte Notenschrift des russisch-orthodoxen Kirchengesangs anbot und die erste wissenschaftliche Studie über die altrussische Glockenmusik der Kirche verfasste. Er hat verschiedene Geläut-Dispositionen in Kirchen beschrieben und die unterschiedlichen Schlagmuster des Läutens für die entsprechenden liturgischen Anlässe: das Blagowest-Läuten vor dem Gottesdienst, das Perebor-Läuten bei Beerdigungen, das Triswon-Läuten zu hohen Festtagen oder beim Abendmahl. Im ersten Satz von Rachmaninows zweitem Konzert hört man quasi die Überlagerung einer westlichen Sonatenform mit dem kondensierten Ablauf einer russisch-orthodoxen Liturgie.

Quelle Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ online  Trifonov über Rachmaninov: Das ist tiefreligiöse Musik eines Zweiflers/  Von Jan Brachmann / Aktualisiert am 15.10.2019 

Für den Hinweis auf den FAZ-Artikel danke ich Berthold Seliger.

Der Zufall will es, dass gerade heute auch in der Süddeutschen ein Artikel zu lesen ist, der die Glocken zum Thema zu haben scheint, sich aber als Buchbesprechung entpuppt: Bruno Preisendörfer: Als die Musik in Deutschland spielte. Reise in die Bachzeit, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019 / Von Kristina Maidt-Zinke. Der SZ-Autorin spart nicht mit Lob, aber etwas hat ihr wohl gefehlt (und mir würde es sicher genauso ergehen), wie sich zeigt:

Was man aber in seinem Buch vermisst, wird am Ende deutlich, wenn er über das Altus-Rezitativ „Der Glocken bebendes Getön“ in der Kantate 198, der Trauerode auf den Tod der Kurfürstin von Sachsen, schreibt: „In Bachs Vertonung… simulieren an dieser Stelle für fünfzig Sekunden die Streicher, Flöten, Oboen und Lauten das Totengeläut, dass es einem beim Hören noch heute tatsächlich durch ‚Mark und Adern‘ geht.“ Hier öffnet sich durch die Schilderung von wenigen Takten Musik, ganz kurz ein Fenster, das mehr über Bach und seine Zeit verrät, als es die detailreichste Darstellung von Lebensumständen vermag. Und der Hinweis auf „diese Stelle“ ist schon die ganze Lektüre wert.

Quelle Süddeutsche Zeitung 15.Oktober 2019 Sachbuch V2  Seite 19: Der Glocken bebendes Getön / Kundig und detailverliebt führt Bruno Preisendörfer durch die Welt Johann Sebastian Bachs / Von Kristina Maidt-Zinke.

Und vom Bericht der Journalistin entflammt suche ich den Youtube-Zugang zu diesem kleinen Rezitativ und verweile so lange wie möglich beim Gesamtwerk, ehe ich empfehle, direkt auf den Zeitpunkt 11:07 zu springen, um dieses – für den Aufwand an Malerei – vielleicht doch allzukurze Rezitativ herauszuheben und natürlich: mehrmals zu hören. (Oder lieber im externen Fenster? Hier. Den Text zum gleichzeitigen Mitlesen hier unter dem entsprechenden Kantatentitel.)

[Mitwirkende: ab 33:24]

Wenn aber Ihre Neugier noch weiter geht, – und Sie wollen mehr übers Bachs Glockenvorstellungen, seine Klangwelt in Leipzig und sogar noch eine weitere Kantate kennenlernen, dann haben Sie die Gelegenheit in diesem Blog HIER.