Wann ist Musik?

Schwer zu lösende Fragen

Es ist eine große Hilfe, die richtigen Fragen zu stellen und nicht die unlösbaren zu forcieren. Wenn mich die Musik selbst zum Nachdenken bringt und ich nicht nachbeten will, was ich als emphatische Aussage dazu angeboten bekomme, genügt es zunächst einmal, alles abzulehnen, was sich im Allgemeinen bewegt und in hundert konkreten Fällen nichts Triftiges sagt. Beispiel einer emphatischen Aussage: „Bachs Kunst der Fuge ist ein Mysterium“, daraus kann ich gar nichts Produktives folgern; als angemessene Reaktion bliebe nur, auf die Knie zu fallen. Auch was Schopenhauer sagt, mag für Wagner noch so viel bedeutet haben, es bleibt wolkig und würde sich erst dann bewähren können, wenn er es auch in Wagners Musik wiedererkannt hätte. Aber er bevorzugte Rossini. Eine Ästhetik, die aus der Neuen Musik kommt, kann ich nicht akzeptieren, wenn sie im Angesicht der Wiener Klassik belanglos wird; wenn sie etwa über die bewegenden Motive der Musik Mozarts oder Beethovens nichts Neues aussagen kann und auch über das alte Wissen nicht mehr differenziert verfügt. Und in einer wirklich neuen Ästhetik der Musik wäre aus meiner Sicht erst dann Vertrauen möglich, wenn darin ein Satz wie der folgende zu finden ist:

Richtet man den Blick auf Musikformen außerhalb der europäischen Tradition oder auch in die historische Vergangenheit dieser Tradition selbst, so werden Verallgemeinerungen zunehmend schwierig.

Christian Grüny sagt dies schon in der Einleitung seines Buches über „Die Kunst des Übergangs“ und fährt fort:

Die historische und interkulturelle Reflexion mag zur Folge haben, daß man die Frage insgesamt für verfehlt erklärt und sich auf die sozusagen historistische Untersuchung beschränkt, was zu bestimmten Zeitpunkten an bestimmten Orten als Musik praktiziert und verstanden wurde – eine aus philosophischer Perspektive unbefriedigende Situation. Es ist eine typisch philosophische Reaktion darauf, die Frage radikal situativ umzuformulieren: Wann ist Musik?

So zu fragen, nimmt die historische Reflexion und auch die Erfahrung der Entgrenzungsbewegungen in den Künsten des 20. Jahrhunderts gleichermaßen beim Wort und geht philosophisch dennoch aufs Ganze. Die Frage geht von einer radikalen Kontextabhängigkeit aus, zugunsten derer jede Wesensbestimmung fallengelassen werden muß. Die Antwort müßte dann letztlich lauten: Musik ist dann, wenn wir etwas als solche hören. „Wir“ kann hier Chiffre für eine gesellschaftliche Institution sein, für eine auf andere, losere Weise bestimmte Praxis oder auch für die bloße Willkür einzelner Hörer.

Mit dieser Definition bin ich vorerst ganz glücklich und lasse mich gern auf alles weitere ein. Oder bescheide mich, nunmehr alles zur Kenntnis zu nehmen, was sich für den Autor aus diesen Praeliminarien ergibt. Und seien es die alternativen Fragen: „Wie ist Musik? Auf welche Weise artikuliert sie sich? Und auf welche Weise wird etwas als Musik erfahren? So zu fragen, nimmt die Musik nicht als Vorliegendes, an das sich Wesensfragen adressieren lassen, läßt sie aber auch nicht situativ immer wieder auf dem Spiel stehen.“ (Grüny S.8f)

Quelle Christian Grüny: Kunst des Übergangs / Philosophische Konstellationen zur Musik. / Velbrück Wissenschaft / Weilerswist 2014 [farbliche Hervorhebungen: JR]

Ich belasse es dabei, nehme die in diesem Zusammenhang genannten Autoren zur Kenntnis – unter ihnen alte Bekannte: Adorno, Dahlhaus, Bergson, Susanne K. Langer, Hegel, Husserl u.a. – und versuche irgendwo anzuknüpfen, um später hierher zurückzukehren. Neu ist für mich Lydia Goehr und ihr schöner Satz: Music is marvellous, but not mysterious. Das folgende Bild kann man durch Anklicken vergrößern, das Video abrufen jedoch nur Hier .

Gesetzt ich hätte es zweimal abgehört und angeschaut: Damit hätte ich für heute genug getan und arbeite im stillen Kämmerlein weiter, bis ein neues Bedürfnis nach Verschriftlichung entsteht…

Nachtrag:

Music has no secrets, and yet its form and meaning elude our most earnest attempts to describe them.

(Roger Scruton)

Ästhetik ist aber keine angewandte Philosophie, sondern philosophisch in sich.

(Theodor W. Adorno)

Vorspiel:

… ein Stück,

das gerade kein Musikstück ist: der Tanzperformance Both sitting duet von Jonathan Burrows und Matteo Fargion. An diesem Stück kann man meines Erachtens Entscheidendes über musikalische Zusammenhänge lernen. [Seite 15]

Die Interaktion zwischen den beiden Akteuren ist als komplexes Geflecht von Parallelen, Wiederholungen, subtilen Verschiebungen, gegenseitigem Aufgreifen von Bewegungen, rhythmischen Anschlüssen und Kontrasten organisiert. Was man vorgeführt bekommt, ist höchst stimmig und in sich überzeugend, unterscheidet sich aber in mehrfacher Hinsicht fundamental von dem, was man als Tanz zu sehen gewohnt ist.  [Seite 19]

(Christian Grüny)

Hier

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