Das Geschenk beim Wiedersehen mit alten Freunden, ein kompakter Band von über 600 Seiten, eine Fundgrube des Wissens, ausnahmsweise kein Wort darin über Musik, aber vielleicht die bedeutendste Epoche der Domstadt, in Bildern kaum zu fassen, von Historikern ergründet und auseinandergefaltet. Mit einem Schlusskapitel über „Altkölner Malerei“.
←etwa 1 Viertel des Gesamtpanoramas
ZUM INHALT :
GREVEN VERLAG KÖLN 2019 ISBN 978-3-7743-0444-4
Im Dom zu Köln
Um eiligen Lesern weiterzuhelfen, die sich genau in diesem Moment auch einen musikgeschichtlichen Überblick verschaffen wollen, ohne bei Wikipedia auf die Suche zu gehen, füge ich zwei Seiten aus dem Lexikon MGG Sachteil Band 5 hinzu (Bärenreiter 1996) hinzu. KÖLN. Autor: Klaus Wolfgang Niemöller.
Und was es dann heute gegen 16:45 Uhr in Solingen zu sehen gab, – ich weiß nur dies: der alte Drei-Insel-Teich lag wie eh und je und doch wie neu in der Ohligser Heide.
Er starb im nächsten Jahr, seine kleine Schwester – ohnehin als Nachgeborene und durch Niedlichkeit im Vorteil, rund 90 Jahre später. Er spielte Klavier, sie wird es auch lernen, studierte das Instrument sogar später in Berlin, heiratete, blieb ohne Kinder, spielte aber Klavier bis an ihr Lebensende – und manchmal, bei bester Laune, auch das kleine Galotta-Akkordeon. Sie war meine Patentante, eine Zeit lang nannte ich sie meine „zweite Mutter“ (zum Ärger der „ersten“). Ich war ihr lebenslang verbunden. Er – ihr Bruder also und der meines Vaters – fiel im Krieg bei Dünkirchen. Ich wusste es lange Zeit nicht genauer, hatte vielmehr gedacht: irgendwo in Russland, denn von ihm blieb nichts außer ein „etwas nichtssagendes“ (JR) Tagebuch, das allzu früh endete.
um 1990
Jetzt habe ich erfahren, wie es (wahrscheinlich) wirklich war, und nebenbei auch die Wahrheit über Tante Bertha, die unverheiratete Schwester der Mutter meiner Tante, also meiner Großmutter. Diese beiden blieben für immer unzertrennlich, genauer: diese drei.
Zum „heißumkämpften Winterberg“ siehe Wikipedia hier.
1947 Nach der Flucht: Neuanfang in Misburg bei Hannover
. . . .
30 Jahre zurück: von welchem „Pfadfinder“ erhielt mein Vater (er war am 7. Dezember 1917 gerade 16 geworden) dieses Dürer-Buch? Es handelt von einer vaterländischen Figur, – und endet mit den Zeilen:
(Zum Wahrheitsgehalt: von den Italienern konnte man viel lernen – so auch Dürer – und als dieser tot war, herrschte in Deutschland der Dreißigjährige Krieg. Holbein jedoch wurde immerhin Hofmaler des englischen Königs, fiel erst in Ungnade, als er eine zur Heirat vorgesehene Frau in Dänemark zu schön gemalt hatte, so dass der König sie dann realiter nicht lieben konnte. Daher vielleicht der Spruch meiner Oma: Unter jedem Dach ein Ach.)
„Onkel Kurt“ notierte in seinen Memoiren auf Seite 109:
Wohlauf, Pfadfindersleut / Genießt das Leben heut / Im wilden Waldrevier / den richtigen Pfad / den finden wir u.s.f.
Davon später mehr. Ebenfalls zur Frage: wer schrieb diesen Bericht zur Geschichte der Familie? Er hinterließ auch Skizzen zur Topographie der Landschaft zwischen Roggow und Belgard, darüberhinaus Lagepläne und Grundrisse der Gebäude, die nebeneinanderlagen und den Familien Reichow und Rettmann gehört hatten. Im handschriftlichen Teil (der Weiterführung des gedruckt vorliegenden Teils s.u.) kommen also tatsächlich die Pfadfinder vor, allerdings (so scheint mir) gewissermaßen nachgespielt von dem erwachsenen Soldaten Kurt und seinen Kameraden!
(Fortsetzung folgt, siehe zunächst auch hier, und dort vielleicht sogar die bedenklichen letzten Zeilen)
Kurt Rettmann war es (hier mit seiner Frau Clara)
Und dies war sein Erinnerungsbuch:
→ das Original
und die Übertragung des ersten Teils von Heinz Ott ↓
. . . . .
Ich beschäftigte mich früh mit anderen Existenzen, und es ist eigentlich Zufall, dass ich mich mit diesen Menschen auch noch verwandt fühle; das ist jedenfalls nicht der Hauptgrund. In meiner frühen Gymnasialzeit hat mich das Leben zur Römerzeit interessiert – später erst recht, als wir in Rom an der Piazza Navona die „Missa Romana“ einspielten und ich zwischendurch sooft wie möglich auf dem Forum Romanum herumspazierte, um mir das alte Rom vorstellen zu können – ich glaube schon, dass der altsprachliche Unterricht in der Schule eine Rolle gespielt hat, aber sehr wichtig war auch die Erregung, die der Roman „Quo vadis“ ausgelöst hat, und nochmals – so könnte ich es datieren – als der Film in Bielefeld lief, also etwa 1954/55. Eine Serie historischer Romane folgte. Ich studierte alte römische Stadtpläne, um selber einen „realistischen“ Entwurf gestalten zu können. Das Interesse für all das erweiterte sich beständig, ich sah Schauplätze des Lebens, letztlich wollte ich also selber etwas schreiben, Schriftsteller werden. Die Märchenlandschaften der Kindheit verschwanden, auch mein erster Kinofilm. Die Wirklichkeit war berauschender und nach der bedenkenlosen Ästhetisierung hatte auch die radikale Desillusionierung etwas Begeisterndes. Wenn ich später immer wieder gern im Bannkreis meines Großvaters auf der Lohe bei Bad Oeynhausen anknüpfte, dann deshalb, weil man über ihn authentisch in eine zeitlose Vergangenheit versetzt wurde. Sein Lieblingsstoff waren zwar die Schauplätze des Ersten Weltkrieges (Frankreich!), es war vielleicht die einzige Zeit, in der ihm ein Gefühl für die Ausmaße der Welt da draußen gedämmert hatte. Aber seine Erinnerungen gingen noch weit hinter das Jahr 1900 zurück, das für mich dann den Wendepunkt zur Moderne markierte, lange bevor ich den Begriff der Moderne kannte.
Zurück zu „Onkel Kurt“, Nachname Rettmann, über dessen schriftliche Arbeit ich heute glücklich bin. Mit deren Hilfe kann ich jetzt sogar den verwandtschaftlichen Zusammenhang genau rekonstruieren, der mir selber nicht mehr klar war.
Ursprünglich stammten sie aus dem benachbarten Roggow: meine „Belgarder Oma“ Margarete (*1871) war eine geborene Paske, die Bernhard Reichow (*1871) geheiratet hat; eine ihrer Schwestern hieß Bertha (*1873), unverheiratet, eine weitere Schwester Hedwig (*1876) war verheiratet mit einem gewissen Max Rettmann (*1873). Zwei Söhne Kurt (*1895) und Willi (*1896). Hier ein Doppelblatt der von „Onkel Kurt“ angefertigten Ahnentafeln (es gibt auch ein anderes, das mit Max Rettmanns Vater (Christoph Ludwig *1821 beginnt):
Die Fotos oben sind leicht zuzuordnen: der im I. Weltkrieg gefallene Helmut Reichow im Stammbaum ganz links unten, weiter oben die Mutter Margarete (auf den Fotos in schwarz) und ihre Schwester „Tante Bertha“, sowie meine Tante Ruth im weiteren Stammbaumabschnitt, rechts, vorletzte Kolumne.
Auf der Tafel weiter nach links steht eine Gertrud Reichow, als Baby verstorben, davon war nie die Rede; darunter Helmut R., von dem nur mit gedämpfter Stimme gesprochen wurde: er erschoss sich, so hieß es, in der Silvesternacht, – warum, wurde nie verdeutlicht, ob wegen Liebeskummer oder Spielschulden (!), er galt als Omas Sorgenkind (der Vater lebte ja schon seit 5 Jahren nicht mehr). Nach dieser Notiz hier kam sogar Mord von fremder Hand in Frage, was ich für ziemlich ausgeschlossen halte. Von Gästen im Haus war keine Rede. Die Familie feierte offenbar noch, als man plötzlich den Schuss im Haus hörte.
Weiter links folgt mein Vater Artur R. (nebst meiner Mutter), dann „Onkel Hans“, der Städteplaner, und deren ältester Bruder Helmut, der im Ersten Weltkrieg gefallen ist (von ihm besitze ich – wie oben erwähnt – ein Tagebuch). Von dem früh verstorbenen Kind Günter habe ich nie gehört.
Virologe Prof. Dr. Alexander Kekulé (Halle) bei Markus Lanz 10. März 2020
HIERab 5:00 bis 13:40 / Carmen Thomas‘ Fehl-Argument / ab 15:10 „das Hauptproblem“ ab 18:00 „mathematisch gesehen“ über Droste hinaus, bis 35:10 / ab 42:10 bis 47:30 / ab 1:00:25 bis 1:05:10 Ende
„Das Tückische daran ist: die Zeit, bis ein Infizierter den nächsten infiziert, – statistisch, die Periode dieser Infektion, die ist auch ungefähr 8 Tage. Das heißt also: immer wenn wir ein Zahlenbild haben, ist es klar, dass die Zahlen, die wir hier sehen, Sie immer mal Drei nehmen müssen, weil jeder von den Infizierten, statistisch etwa zwei weitere infiziert hat. Sie können davon ausgehen, – abgesehen von der Dunkelziffer, die gar nicht getestet sind -, dass, wenn wir heute 1200 Fälle haben, dann heißt das eigentlich, wir haben statistisch gesehen 3600, dreimal soviel, und das ist ohne Dunkelziffer“. 6:14
7:07 „Inzwischen wissen wir – und das ist relativ genau inzwischen die Schätzung – dass in der Größenordnung von 0,5 Prozent sterben. 1 zu 200, wahrscheinlich werden wir in Deutschland in der Lage sein, diese Zahl noch zu drücken, weil wir ein gutes Gesundheitssystem haben. Es ist aber umgekehrt: wenn wir das wissen und auf die norditalienischen Verhältnisse anwenden, dann heißt es: wir haben in Italien, wo ja scheinbar 4 bis 5 Prozent Todeszahlen sind im Moment, Letalität, haben wir in Italien eine sehr sehr große Dunkelziffer nicht erfasster Infizierter, fast gesunder Menschen, die aber ansteckend sind. 7:43 (….) In Italien ist das eingetreten, was man eigentlich vorhersagen konnte, 8:10 es sind eben alte Menschen hauptsächlich, ich glaube, das Durchschnittsalter der in Italien Verstorbenen, wo die Zahl wohl groß ist, liegt in der Größenordnung bei 70 Jahre. (Lanz: In der ersten Welle war es sogar 81 Jahre im Schnitt. Und der Italiener stirbt im Schnitt mit 82.) Genau, und das heißt natürlich nicht, dass das sozusagen unwichtig ist, dass diese Menschen sterben, aber das heißt letztlich, wir haben ein Problem, dass alte Menschen sterben, die Vorerkrankungen haben, – ist natürlich ganz wichtig für uns in Deutschland, da das auch bedeutet, was wir machen müssen, dass wir diese Menschen schützen müssen (…), dass es in der Größenordnung bleibt, 1 : 200, da bin ich fest von überzeugt. Das heißt aber umgekehrt, wenn Sie so viele Infizierte haben, die in Norditalien eben einfach rumlaufen und das vielleicht zum Teil gar nicht wissen, dann müssen Sie davon ausgehen, dass … da kommen Sie auf das Thema Ferien und was man in Deutschland macht, und dann müssen Sie davon ausgehen, dass ganz viele Menschen, die aus dem Urlaub zurückkommen, das Virus mitbringen, weil einfach unerkannte Infektionen dort sind. 9:14
(12:04) „Es ist bei diesem Virus jetzt so, dass wir eigentlich davon ausgehen müssen, dass die Altersgruppen ziemlich gleichmäßig davon betroffen sind, so dass man fast einfach Prozentigkeiten berechnen kann. Man kann einfach überschlagen, naja, die Schulbevölkerung bis hin zu den ganz Kleinen, das sind nicht mehr als 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung je nach Ort, wo man ist, und da kann man eigentlich nicht soviel rausholen, wenn man die komplett rausnimmt, dann hat man nur 20 Prozent gewonnen, so kann man argumentieren: Es gibt andere Argumente, die sagen: (…. ) Brückenfunktionen in den sozialen Netzwerken, und dann gibt es (…) wirtschaftliche Gegenargumente, das ist also extrem schwer, da so ne einfache Antwort drauf zu geben, und deshalb bin ich sich nicht für generelle Schulschließungen, sondern ich bin für wohlüberlegte Schulschließungen, wenn sie denn sein müssen. Es gehört zum Überlegen dazu: wo ist es notwendig!?“ 13:10 / 44:38 „Das hier ist keine Influenza, das ist n Virus, den kein Mediziner in seiner Lebenszeit und auch nicht in historischen Aufzeichnungen nachvollziehen kann in seinem Verhalten als Pandemie. Wir können uns nur begrenzt auf die geschichtlichen Erfahrungen mit Influenza-Pandemien verlassen, das ist wirklich n anderes Virus, wo viele Grundparameter etwas anders sind, und dieses „Etwas-anders sein“, das bewirkt zum Teil ganz große Unterschiede. Auch jetzt zum Beispiel die Gesamtdauer des Geschehens einzuschätzen, was immer wieder gefragt wird. Es ist fast nicht möglich. Man kann sich Dinge zurechtlegen, man kann bei einfachen Feststellungen anfangen, es werden sich wahrscheinlich so 70 Prozent der Bevölkerung, von der Vorstellung ist das so jeder zweite Erwachsene, Kinder sind ja auch dabei, die werden sich infizieren müssen, (Illner: ‚Durchseuchung‘), aber die müssen sich dabei nicht auch schwer krank infizieren, da zählen auch die unbemerkt Infizierten dazu. Also wir können sagen: diejenigen, die eine Immunreaktion zeigen, egal ob sie sich schwer oder ganz milde infiziert haben. Und wie lange dauert das? Dieses Virus, da gibt es zunehmende Daten dazu, das könnte sich langsamer verbreiten als Influenza, aber so eine Influenza-Pandemie, die verläuft in einem guten Jahr, anderthalb Jahren, so dass man das auch hier denken könnte, vielleicht ist es …“ (usw.) „wenn wir jetzt Stop-Maßnahmen ergreifen, das wird nicht zum Stillstand kommen, aber vielleicht gibt uns dieser Temperatureffekt Rückenwind und wir kommen in eine relativ sanft ansteigende Kinetik da rein und könnten dann wirklich Zeit bis nach dem Sommer gewinnen, das ist sehr sehr erstrebenswert, das zu versuchen und hätten dann wirklich auch Vorbereitungszeit. So entlang dieser Linien denke ich da im Moment… “ 47:00 (Illner: „Und nochmal die Frage nach den Zahlen, denn auch das beschäftigt sehr viele Menschen in diesem Land, diese 60 bis 70 Prozent, die es treffen wird, nun auch zitiert von Angela Merkel, aber in allererster Linie auch von Ihnen, und jeden Sechsten wird es schwer treffen. Das hochgerechnet hat Herr Prof. Wiehler [Lothar Wiehler] noch der Chef des RKI, des Robert-Koch-Institutes, der sagt, wenn es auch nur jeder Siebte oder Achte wäre, wären auch das noch unglaubliche Zahlen. Oder glauben Sie, dass die Schwersterkrankungen eben … in einem geringer definierten Bereich stattfinden?“ 47:27) „Das ist auch ganz schwer zu sagen. Erstmal die Frage: was ist überhaupt schwer…“
Ich breche ab.
Merkwürdig: es überzeugt mich heute alles weniger als gestern in der Live-Sendung. Vielleicht lag es an der Vertrauen schaffenden Wirkung der anderen Teilnehmer? Ich weiß es nicht.
Der Blick aus dem Fenster Freitag 13.03.2020 19:58 Uhr. Oder soll ich ihn bearbeiten?
Also zurück zu Kekulé und weiter dort (siehe oben). Oder auch zur heutigen Sendung , am 13. März 2020 um 19.20 Uhr im ZDF Spezial (hier), in der die Gesundheitsministerin von Rheinland-Pfalz zu den Schulschließungen Stellung nahm (13:01):
„Das Virus ist neu, die Erkenntnisse erweitern sich von Tag zu Tag. Beispielsweise hat gestern noch der führende Virologe in Deutschland Professor Drosten gesagt: Wir brauchen keine flächendeckenden Schulschließungen in Deutschland, weil es nur sinnvoll ist, wenn akut Fälle da sind, und dann geschlossen wird. (Moderator: Die Lage hat sich jetzt so verändert…) Die Lage – in der Tat: die Lage hat sich von gestern Morgen auf gestern Abend nochmal deutlich verändert, und wir wollen die Zeit nutzen, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Deswegen werden die Schulschließungen durchgeführt. Es geht nicht darum, die Kinder vorrangig zu schützen, sondern es geht hier darum, wirklich die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Das ist das Ziel der Schulschließung und der Kitaschließung. (14:01)
ZDF Spezial Screenshot
* * *
Da mir die Sendungen in der Praxis nicht unbedingt weiterhelfen, gebe ich die Empfehlungen weiter, die mich zu gleicher Zeit von der Organisation Campact erreichen (die zugehörigen Anmerkungen findet man nur im Original):
Hallo Jan Reichow,
dies ist eine ungewöhnliche Mail von uns – denn die Zeiten erfordern ungewöhnliche und drastische Schritte. Gemeinsam wenden wir uns sonst zumeist an die Politik. Doch mit der Corona-Krise ist jetzt auch jede*r von uns ganz persönlich gefragt. Es gibt 2,3 Millionen Campact-Unterstützer*innen – wenn wir gemeinsam solidarisch handeln, können wir helfen, die schlimmsten Auswirkungen der Krise zu verhindern.
In italienischen Krankenhäusern zeigen sich derzeit die grausamen Folgen des Coronavirus: Ärzt*innen und Pflegekräfte können nicht mehr allen Erkrankten helfen, sondern müssen abwägen, wer behandelt wird. Die Kapazitäten genügen nicht, um alte oder schwerkranke Menschen zu betreuen. Besonders lebensrettende Beatmungsgeräte fehlen. „Diese Personen haben statistisch gesehen keine Chancen, das kritische Stadium der Infektion zu überleben. Diese Personen werden bereits als tot angesehen“, so drastisch beschreibt es ein italienischer Intensivmediziner.[1]
Solche Situationen drohen auch in Deutschland – wenn wir nicht schnell handeln. Die letzten Tage und Stunden zeigen: Das Virus breitet sich in Deutschland ebenso rapide aus wie in Italien.[2] Doch wir haben noch die Chance, es zu verlangsamen. Im Vergleich zu Italien haben wir einen Vorteil von einigen Tagen oder Wochen.[3] Den müssen wir jetzt nutzen: indem wir die Ausbreitung des Virus bremsen, damit unser Gesundheitssystem nicht zusammenbricht. So haben auch alle Schwachen in unserer Gesellschaft – ältere, einsame, arme Menschen – eine Chance auf eine Behandlung, die Leben rettet.
Damit das gelingt, müssen Politik und Behörden handeln. Aber auch jede*r Einzelne ist gefragt. Denn wir alle können das Virus verbreiten, auch wenn wir selbst keine Symptome zeigen. Daher unsere dringende Bitte an Sie:
Bitte bleiben Sie zu Hause, wann immer es Ihnen möglich ist. Vermeiden Sie Reisen, Termine und Treffen. Gehen Sie nicht in die Kneipe oder zum Sport und arbeiten Sie – wenn das bei Ihrer Arbeit möglich ist – von zu Hause. So schützen Sie sich selbst, aber vor allem helfen Sie, das Virus zu bremsen. Das rät das Robert-Koch-Institut[4], denn diese Schritte waren in anderen Ländern besonders wirkungsvoll.[5] Eine „soziale Distanzierung” ist weder Panik noch Egoismus – sie ist ein Akt der Solidarität mit denjenigen, die durch das Virus in Lebensgefahr geraten.
Bitte unterstützen Sie durch das Virus besonders bedrohte Personen. Ältere oder bereits durch Krankheiten geschwächte Menschen müssen sich vor Ansteckung schützen.[6] Sie sind nun auf unsere Hilfe angewiesen. Fragen Sie Bekannte, Freund*innen und Nachbar*innen, die zu diesem Kreis gehören, ob Sie beim Einkauf oder anderen Besorgungen helfen können.
Bitte teilen Sie diese Informationen. Je mehr Menschen sie erhalten, desto größer ist die Chance, den Kollaps unseres Gesundheitssystems zu verhindern. Die kommenden Tage entscheiden: Geht die Ansteckungsrate steil nach oben oder flacht die Kurve in Deutschland ab? Deswegen bitten wir Sie: Leiten Sie diese Mail jetzt an Ihre Bekannten weiter oder teilen Sie den Aufruf in den sozialen Medien.Um die schlimmsten Folgen der Corona-Krise zu verhindern, zählt vor allem eines: Es muss jetzt schnell gehen. Derzeit verbreitet sich das Virus bei uns exponentiell. Etwa alle drei Tage verdoppelt sich die Anzahl der Infektionen. Geht es in diesem Tempo weiter, wären in einem Monat bereits eine Million Menschen infiziert.Die Tageszeitung „taz“ hat vorgerechnet, was dies für unser Gesundheitssystem bedeuten würde: Mindestens 50.000 Menschen müssten in diesem Fall auf Intensivstationen behandelt werden – Plätze gibt es aber in ganz Deutschland nur 28.000. Und die sind zu großen Teilen bereits mit anderen schwerkranken Menschen belegt.Gelingt es uns, das derzeitige Tempo der Corona-Ausbreitung zu halbieren, gäbe es in einem Monat nicht eine Million Infizierte – sondern 32.000. Ärzt*innen, Pfleger*innen und Krankenhäuser könnten die Krise bewältigen.Je weiter das Virus jedoch verbreitet ist, desto schwieriger wird es, die Anzahl der neuen Infektionen zu reduzieren. Daher unsere eindringliche Bitte: Lassen Sie uns die kostbare Zeit nutzen und gemeinsam Alles tun, um das Virus zu bremsen.Wir hoffen auf Ihre Unterstützung.Mit herzlichem Dank
Luise Neumann-Cosel, Teamleiterin Kampagnen
Christoph Bautz, Campact-Geschäftsführer(JR: was ist Campact? s. hier)
* * *
Es wird jetzt täglich und Wochen, Monate lang so weitergehen, täglich müssen wir diese gespickten Orangen sehen, und täglich wird uns erklärt, was ein exponentieller Anstieg bedeutet. Heute Morgen auf dem Weg zum Bahnhof wieder im DLF (Studio 9 zu Gast Ferdos Forudistan), – Moderator Flemming: „Menschen können exponentielles Wachstum schwer verstehen“ – Sie erinnern sich? der Seerosenteich, – täglich verdoppelt sich die Anzahl der Blätter, allmählich – so scheint es – bis zur Hälfte, und dann: mit einem Schlag ist er voll. Oder die versprochenen Reiskörner auf dem Schachbrett, die den Kalifen zum armen Mann machen, 1-2-4-8-16 … Und dann, sobald wir die Zahl haben, dürfen wir sie wegen der Inkubationszeit mit drei multiplizieren (s.o. Kekulé)… Im Iran 13.000 Infizierte, 6000 Tote! – – – Was tun? Rückzug ins Private? Da liegt die Zeitung, die ich – Autoradio hörend – vom Bahnhof geholt habe, und lese auf Seite 3 Die kommenden Tage „Das ist eine unbekannte Herausforderung“: Über Angela Merkel, die Corona-Pandemie und eine Woche mit exponentiell steigender Dramatik…
Und im Feuilleton der lesenswerte Ungarn-Artikel „Generalangriff“ von Alex Rühle über das „Nationale Verdummungsprogramm: Bei der gezielten Schwächung der liberalen Demokratie in Ungarn ist jetzt die Kultur dran.“ Und Corona? Moment: auch hier, ganz am Ende:
Corona ist mittlerweile auch in Budapest angekommen. Die Regierung sagt, das Ausland sei schuld. Das Virus gleiche der Migration, beide wollen in das ungarische Leben eindringen. Aber Schulen, nein, die muss man nicht schließen. Klingt nach Donald Trump. Der ist aber auch eines der Vorbilder von Orbáns Vorbildern.
Das Corona-Virus geht auch an die geistige Substanz: die Kultur (keine Konzerte mehr, keine Buchmesse usw.) Erst recht, wenn es ihr schon schlecht geht, wie in Ungarn. Aber auch der demokratisch eingeübte Pluralismus verzettelt sich und produziert eine Menge irritierender Gerüchte. Was bedeutet es für uns, wenn gesagt wird, dass China die Krise schnellstens in den Griff bekommen hat? Und wie wird sich Trump herausreden? (Europa ist schuld, außer England.) „In sozialen Netzwerken verbreiten sich derzeit massenhaft Falschmeldungen und Gerüchte über die Corona-Pandemie. Insbesondere über Messenger-Dienste wie WhatsApp und Telegram werden Tausende Nachrichten mit irreführenden oder schlicht falschen Behauptungen weitergeleitet.“ Ein paar Hinweise im Fakten-Check der ARD hier.
NEU (zu Fake News)
Am 16. März schickte mir ein Freund das Video, das ebenfalls massenhaft kursierte, wie ich las. Aber eine stichhaltige Widerlegung war gar nicht einfach zu finden. Ein Musterbeispiel: die Fake-News-Konsumenten sind selten einfach nur dumm. Und in den 2 Tagen der bloßen Schwächung verbreiteter richtiger Einsichten können massenhaft reale Infektionen weitergereicht werden. Heute – am 18. März – steht es in der Morgenzeitung:
Aber nicht klar genug: der größte Teil des Artikels besteht aus der inhaltlichen Referierung des Wodarg-Videos. Das könnte zu der Einschätzung verführen, dass doch was dran ist. Die entscheidenden Sätze stehen wenig gewichtig in der Mitte:
Dieses Muster macht Verschwörungstheorien nahezu wasserdicht: Wer ihnen widerspricht, gehört selbst zu den Verschwörern. Den Fakt, dass das aktuelle Corona-Virus sich besonders leicht verbreitet und gleichzeitig zehn Mal so häufig zu schweren Verläufen führt, wie eine Grippe, verschweigt Wodarg. Und warum die ganze Welt mit allen ihren reichen Konzernen …. es hinnehmen sollte … wird auch nicht klar.
Das ist nicht klar genug, wenn die weiteren Hinweise nur noch als emotional überzogene Pauschalurteile aufgefasst werden könnten: also etwa die Tatsache, dass Gesundheitsminister Lauterbach die Thesen Wodargs als „eine echte Räuberpistole“ bezeichnet usw., – zumal ja schon vorher der Satzteil wie eine Grippe versehentlich abschwächend wirkt und eigentlich heißen müsste: im Gegensatz zu einer Grippe. Oder dass der ausbleibende Widerstand der reichen Konzerne als ein Argument für die Korrektheit der Maßnahmen von Regierungsseite genommen wird. Diese sind korrekt aus wirklich stichhaltigen Gründen, als da wären …. (bitte schön! Platz für Journalisten!!!)
Dazu gehört auch das Aufweisen falscher Signale, – wenn zum Beispiel im Kommentar derselben Zeitung, aus der ich zitiere, die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit gerechtfertigt werden, um letztlich einen großartigen Ausweg für notorische Missversteher zu eröffnen:
Jetzt also doch die finstere Erziehungsphrase: Wer nicht hören will, muss fühlen. Was Familien noch bleibt, sind Parks, Felder, Wälder und der Rhein – solange nicht Gruppen-Picknicks oder gemeinsame Schnitzeljagden am Ende doch eine Ausgangssperre provozieren.
Bleibt zu hoffen, dass man am Rhein keine Bekannten trifft und auch Großfamilien einen Mindestabstand wahren.
Web-Corona-Info weltweit hier und die dort gezeigte Weltkarte direkt (mit leichter Zeitverzögerung) hier
* * *
ZITAT
Was wir erleben ist keine Abschaffung der Demokratie oder der EU. Es ist kein chinesisches Geheimkomplott, keine Verschwörung, die uns versklaven soll. Es ist nicht der Versuch, uns alle zu seelenlosen Robotern zu machen, die keinerlei Freude mehr empfinden, nie wieder Musik erleben, nie wieder tanzen, lachen und feiern wollen.
Was wir erleben ist schlicht und einfach eines: eine Naturkatastrophe.
Die kann keiner vorhersehen, keiner will sie, keiner kann sie steuern. Man kann sie sich auch nicht wegwünschen, in dem man so tut, als gäbe es sie nicht. Niemand käme auf den Gedanken, auf einem aktiven Vulkan kurz vor dem Ausbruch herumzutanzen und sich in Sicherheit zu wiegen, die Anzahl der (mit Verlaub) Idioten, die aber nun immer noch von einer „kleine Grippe“ reden und die Konsequenzen nicht begreifen oder begreifen wollen, ist aber immer noch erschreckend hoch. Und genauso wenig wie ein Hurrikan danach fragt, ob er gerade das Haus eines armen Fabrikarbeiters oder eines berühmten zeitgenössischen Komponisten verwüstet, fragt auch dieses Virus nicht danach, ob es nun den einen oder anderen Berufsstand besonders betrifft, denn am Ende betrifft es uns alle.
Quelle der immer lesenswerte Blog von Moritz Eggert (heute in NMZ Newsletter) hier
Heute, am 18. März 2020, hat die Bundeskanzlerin im Fernsehen gesprochen. Inzwischen wird es wohl jede(r) gesehen und gehört haben. Ich finde auch bemerkenswert, was der Bonner Oberbürgermeister Ashok Sridharan ins Netz gestellt hat:
* * *
Glaubwürdig oder nicht?
Ich komme zurück auf das oben angesprochen Wodarg-Video, zu dem es eine Analyse der Organisation „Mimikama“ gibt. (Über die Identität des Autor Ralf Nowotny – Name unter dem Porträt der Dame – weiß ich so wenig, dass ich nur verlinke, was ich über die Organisation finde, für die er arbeitet: HIER )
https://www.mimikama.at/allgemein/die-ansichten-des-dr-wolfang-wodarg-coronavirus-massnahmen-uebertrieben/ HIER
Weiteres über Irrtümer, Halbwahrheiten, Fake News (Ibuprofen u.dgl.) bei Markus Lanz 19.03.20 (ZDF), sehr überzeugend die Virologin Melanie Brinkmann: HIERab 1:04:04 (bis 18. April 2020)
Am 19.03.2020 morgens (größer geht’s nimmer, ich beende jetzt diesen Blog-Artikel)
ZITAT
Seit dieser Woche ist auch Deutschland im Ausnahmezustand. Niemand kann genau sagen, wie die Krankheit sich weiter ausbreitet, wie lange sie dauert und was auf allen Ebenen die Folgen sein werden. (…) Aber wir alle haben es in der Hand, die Corona-Krise am Ende auch zu einem Akt der Menschlichkeit zu machen, den unserer komischen Gattung schon keiner mehr zugetraut hätte.
Quelle Giovanni di Lorenzo / Leitartikel DIE ZEIT : „Die Welt steht still / In der Not kehren die Menschen das Beste und das Schlechteste hervor. Und doch gibt es eine berührende Gemeinschaft.“
Übrigens: Man kann auch einen ganz anderen Ton anschlagen. Und damit komme ich wirklich zum letzten Mal auf den oben erwähnten und vielleicht allzu moderat behandelten Herrn Wodarg zurück (viel zu viel der Ehre), es geht auch so: Hier
6. April 2020 Ein bedenklicher, zu bedenkender juristischer Nachtrag HIER Titel:
Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der Corona-Pandemie von Oliver Lepsius (Info über den Autor hier und bei Wikipedia hier)
* * *
11. April 2020 Gibt es Neuigkeiten zu Corona? Meinungen – oder Fakten?
Lesen Sie doch diese detaillierte Stellungnahme aus der Schweiz: Hier Ich finde: man sollte sich die Zeit nehmen… (JR privat, Dank an JMR)
* * *
11. April 2020 ein unglaubliches Interview zu Coronazeiten: Alexander Kluge
Screenshot (Link zum Durchklicken und Lesen nur in der vorigen Zeile!)
Screenshot (zum „Anlesen“ vergrößern)
23. April 2020 ZDF Markus Lanz Beachtenswerte Ausführungen zur aktuellen Lage (von Karl Lauterbach ab etwa 1:00) in den ersten 10 Minuten der Sendung (Kretschmar kann man sich sparen).
Soweit Harald Lesch und gleich anschließend bei Markus Lanz geht es um die neuesten Forschungsarbeiten und die entsprechenden Warnungen bei Markus Lanz mit Karl Lauterbach:
Hier – Gibt es andere Möglichkeiten, sich zu schützen? Wenn Sie nicht einfach nur die Schlagzeiten über Tim Mälzer nachvollziehen wollen, sondern das was Karl Lauterbach in aller Radikalität zu den in Aussicht genommenen Lockerungen meint, so beginnen Sie gleich bei 45:00 (besonders wichtig ab 53:00 Alternative in Skandinavien? „Schweden ist völlig verantwortungslos!„).
Aus der Anfangszeit in Greifswald (um 1943) habe ich ein Püppchen aufbewahrt: es befand sich lebenslang in einem durchsichtigen Plastikkästchen – wie Schneewittchen im gläsernen Sarg – und gab mir immer wieder Rätsel auf:
Eine Radio-Sendung am 16. Dezember 1959 im III. Programm NDR (Autor: Hans Otte): „Das imaginäre Konzert“. Die ganze Mitschrift (auch zur vorhergehenden Literatur-Sendung) folgt später in diesem Blog. Für mich ein kleines Zeit-Dokument.
Mit diesen Kladden meinte ich es ernst. Einige Zeit vorher gab es die Jugendbücher „Das Neue Universum“ und „Durch die weite Welt“, das eine für mich, das andere für meinen Bruder; wir stritten uns über die Vorzüge des einen gegenüber dem anderen. Seit früher Kindheit aber gab es eine zweite Art von Bibel, das REALIENBUCH. Meine Oma gebrauchte sogar, ohne den Fehler zu bemerken, für das Wort Regal ein anderes und sagte: „Hol dir doch das Buch da aus dem Real!“ Es wurde ganz allmählich meins, und sobald ich einen Stempel mit beweglichen Lettern besaß, setzte ich meine Initialen hinein:
1947 1999 2001
Ich habe diese Bücher gar nicht planmäßig studiert, eher ironisiert, aber sie haben mich durch ihr Outfit fasziniert. Sie demonstrierten mir überzeugend den Wert der Bibliothek hinter mir und um mich herum. Diese existiert ja und erweitert sich womöglich zur letztendlichen Selbstfindung. Genau so die Bilder des Museums: vor allem die Idee des Imaginären Museums, die ich André Malraux verdanke. Vielleicht irrtümlich.
André Malraux (1947) 1961
John Berger 1974
Was hier noch fehlt, ist die Aufnahme einer Schulfunksendung etwa 1959, in der ein Japaner (in seinem besonderen Deutsch) aus seiner Kindheit erzählte, dabei immer wieder in voller Stärke das Gagaku-Stück „Etenraku“ anspielte, das mich restlos begeisterte. Später war es die Protokollierung einer Radiosendung 1960/61, die Musik „aller Zeiten“ präsentierte (aber nicht aus aller Welt), vielleicht von Hans Otte… (habe ich eben eingefügt, richtiges Datum 16.Dez.1959)
Quelle NZZ 2.9.2014 „Das totale Museum für daheim“ Bernhard Dotzler über Walter Grasskamp über „André Malraux und das imaginäre Museum“ (2014).
Soweit auch die heute fast auf der Hand liegende Kritik. Ich spare mir einen distanzierenden Text zu alldem und füge hinzu: Anfang der 60er Jahre gehörte noch unbedingt hinein: C.G.Jung „Gesammelte Werke“, Sri Aurobindo „Der integrale Yoga“, Simone de Beauvoir und Alfred C. Kinsey. Alles zielte auf Vollständigkeit oder Vervollständigung. Es ging ums Ganze. Es begann halt so ähnlich, und am Ende stand in aller Bescheidenheit der Text von Wilhelm (nicht Alexander) von Humboldt über mentale Weltaneignung:
Wer, wenn er stirbt, sich sagen kann: ‚Ich habe soviel Welt, als ich konnte, erfasst und in meine Menschheit verwandelt‘ – der hat sein Ziel erreicht.‚
Zitiert aus dem nach wie vor lesenswerten Buch von Rüdiger Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? (Fischer Taschenbuch 2004)
Ich vergaß zu erwähnen, welchen Eindruck in den 60er Jahren Robert Musil und Marcel Proust in meinem allezeit formbaren Gemüt hinterließen. Und als ich gerade eben den Schreibtisch verließ, um im Schlafzimmer meine fünf oder sechs Morgenübungen zu machen, fiel mir ein schmales Buch ins Auge, das ich heute Nacht an dieser Stelle aufgeschlagen liegen ließ (ich lüge nicht!!!!), weil es perfekt die Situation der Fake-Welt beschreibt, für deren schamlosen Gebrauch sich selbst die Satiriker Joko und Klaas (Heufer-Umlauf) gerade in der Morgenzeitung entschuldigen mussten (nur weil sie ertappt wurden):
Die Lüge ist die Signatur dieser Welt. Sie durchdringt die zwischenmenschlichen Beziehungen jeder Art, die Gesellschaft, die Liebe, die Freundschaft, die Motive des Handelns, ja noch die Vorstellung der Individuen von sich selbst. Wo die Lüge zur universalen Herrschaft gelangt, verfälscht sie nicht nur jedes Ich und jedes Du bis zur Unkenntlichkeit, sondern wird, so paradox es scheinen mag, zum Instrument der Wahrheitsfindung. „Diese Lüge“ – so schreibt Proust – „gehört zu den einzigen Dingen auf dieser Welt, die uns Ausblicke auf Neues und Unbekanntes zu eröffnen, unsere schlafenden Sinne für die Betrachtung von Welten zu erwecken vermögen, die wir sonst nie gekannt hätten.“ Proust hat diese Möglichkeit an vielen Stellen in seinem Roman konkretisiert. Die Lebenslüge schließt die Lüge sich selbst gegenüber, das Nicht-wahr-nehmen-Wollen des Todes und die zur erbärmlichen Mitleidlosigkeit führende Furcht vor der Besinnung über die eigene Existenz mit ein. Viermal – leitmotivisch – hat Proust das Thema von der Ignorierung des Todes eines engen Freundes oder nahen Verwandten verwendet. Der Duc de Guermantes verleugnet den Tod des Vetters, die Duchesse ignoriert die tödliche Krankheit Swanns, die Verdurins verbannen zweimal jede Erinnerung an verstorbene Freunde aus ihrem Kreis. Die Ursache dieses Verhaltens […].
Quelle Erich Köhler / Angelika Corbineau-Hoffmann: Marcel Proust / Erich Schmidt Verlag Berlin 1994 (Seite 33)
Aus dem oben schon zitierten Globalisierungsbuch von Safranski möchte ich noch ein erhellendes Zitat folgen lassen, das sozusagen Humboldt durch Goethe ergänzt:
Goethe, der genau wußte, was für die Bildung eines Individuums erforderlich ist, schreibt in ‚Wilhelm Meisters Wanderjahren‘: Der Mensch ist zu einer beschränkten Lage geboren; einfache, nahe, bestimmte Ziele vermag er einzusehen und er gewöhnt sich, die Mittel zu benutzen, die ihm gleich zur Hand sind; sobald er aber ins Weite kommt, weiß er weder, was er will, noch was er soll, und es ist ganz einerlei, ob er durch die Menge der Gegenstände zerstreut oder ob er durch die Höhe und Würde derselben außer sich gesetzt werde. Es ist immer sein Unglück, wenn er veranlaßt wird, nach etwas zu streben, mit dem er sich durch eine regelmäßige Selbsttätigkeit nicht verbinden kann.
Goethe hat, wie so oft, auch hier das Richtige getroffen. Es gibt eine Reichweite unserer Sinne und eine Reichweite des vom Einzelnen verantwortbaren Handelns, einen Sinnenkreis und einen Handlungskreis. Reize, so kann man mit großer Vereinfachung sagen, müssen irgendwie abgeführt werden. Ursprünglich in der Form der Handlungs-Reaktion. Handlung ist die entsprechende Antwort auf einen Reiz. Deshalb sind auch der Sinnenkreis, worin wir Reize empfangen, und der Handlungskreis, in dem sie abgeführt werden, ursprünglich miteinander koordiniert. Aber eben nicht gut genug koordiniert. Auch hierbei sind wir Halbfabrikate. Wir müssen nämlich selbst ein Filtersystem entwickeln, das Reize, auf die man gar nicht angemessen reagieren kann oder auch nicht zu reagieren braucht, wegfiltert. Unsere Sinne sind vielleicht zu offen. Unser diesbezügliches Immunsystem ist nicht ausreichend. Auch das gehört zur Arbeit an unserer zweiten Natur: die Entwicklung eines kulturellen Filter- und Immunsystems.
Mit der globalen Informationsgemeinschaft der Medien aber haben wir diese Aufgabe auf sträfliche Weise vernachlässigt. Denn die globale Informationsgemeinschaft bedeutet in diesem Zusammenhang: daß die Menge der Reize und Informationen den möglichen Handlungskreis dramatisch überschreitet. Der durch Medienprothesen künstlich erweiterte Sinnenkreis hat sich vollkommen vom Handlungskreis losgelöst. Man kann handelnd nicht mehr angemessen darauf reagieren, also die Erregung in Handlung umsetzen und abführen. Während einerseits die individuellen Handlungsmöglichkeiten schwinden, steigert andererseits die unerbittliche Logik des Medienmarktes mit seinen Informations- und Bilderströmen die Zufuhr von Erregungen. Das muß so sein, weil ja die Anbieter von Erregung um die knappe Ressource ‚Aufmerksamkeit‘ beim Publikum konkurrieren. Dieses aber, inzwischen an Sensationen gewöhnt und danach süchtig, verlangt nach einer höheren, jedenfalls neuen Dosis von Erregung. Statt Handlungsabfuhr: Erregungszufuhr.
Quelle s.o. Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? (a.a.O. Seite 77 ff)
Es wird schon schwer, dieses Zitat mit dem zusammenzudenken, das Marcel Proust betraf. Und obendrein liest es sich am Ende schon wie Andreas Reckwitz. Siehe hier.
Man kann sich wohl nicht anders dazu verhalten als: die Widersprüche vorüberziehen zu lassen, ohne zu versuchen sie aufzulösen oder mit einem Schwerthieb zerschlagen.
Ein ARTE-Konzert sondergleichen – noch abrufbar bis 29.03.2020
bitte anklicken und auch die kleinen Bilder rechts zur Kenntnis nehmen. Es bleibt interessant ! Zur Originalsendung jedoch nur über den folgenden Link:
Ich habe es zum zweiten Mal gehört und gesehen / siehe die Reaktion damals hier im Blog. Jetzt haben wir die Sendung aufgezeichnet, um sie auch nach dem 29. März nicht mehr zu verlieren, und betrachten sie immer aufs neue: Arabische Musik als große Kunst. Man braucht die reale Länge, den Ernst der Aufführung, auch das Erlebnis der allmählichen Abflachung, es gibt keinen unüberwindlichen Graben zwischen hohem Ernst und spielerischer Leichtigkeit, bis hin zu den Dabke-Rhythmen und den Bändern der Terzparallelen am Schluss.
Um an die damaligen Analysen anzuknüpfen und zugleich den fachlichen Anspruch zu dämpfen, würde ich heute sagen: es genügt, mit großer Ruhe dem Verlauf der Melodie-Entwicklung zu folgen und zu versuchen die tonalen Bereiche liebzugewinnen, keinen (!) Ton für unsauber zu halten, es handelt sich gerade um die wunderbarsten Eigenarten des arabischen Tonsystems. Im dritten Teil des Abends werden nur die Skalen verwendet, die „zufällig“ der Dur- oder Mollskala der westlichen Musik entsprechen, auch weiß man natürlich wie eine gefällige, fassliche Melodik dem westlichen Verständnis entgegenkommt, und es ist kein Zufall, dass es dann ein wenig nach Balkan klingt (die „mazedonischen“ Terzen). In den großen Gesängen des Abends , z.B. „Al-Atlal“ nach Oum Kalthoum, genügt es empathisch mitzuerleben, wie der Schwerpunkt sich allmählich verlagert, vom Grundtonbereich aufwärts, welche Tonfiguren bevorzugt werden, wie die Ornamente wirken. Als würden mit ihrer Hilfe erst die Farben der Töne, ihre Charakteristik erzeugt. Manches ist nicht anders als bei Beethoven: bestimmte Entwicklungen, obwohl durch kompositorische Skizze und etwa durch Oum Kalthoums kongeniale Interpretation für immer minutiös festgelegt, erscheinen diese Tongebilde so frei und großartig, als würden sie erst heute, wie am ersten Tag der Schöpfung, erfunden und in den ahnungslosen akustischen Raum gezeichnet. Ahnungslos? Viele Menschen im Publikum könnten mitsingen, zumindest die Orchester-Refrains, sehr eigenartige Melodien des Komponisten Riad Al Sunbati. ( JR)
Pressetext:
91 Min. Länge / Nächste Ausstrahlung am Dienstag, 24. März um 05:00 (!)
Fairuz, Umm Kulthum, Leila Murad, Warda al Djazairan, Asmahan, Mayada Alhenawy – die Namen dieser Diven lassen die Herzen in der arabischen Welt höherschlagen. Im Westen sind diese in ihrer Heimat durchweg berühmten Künstlerinnen dagegen kaum bekannt. Drei junge arabische Sängerinnen interpretieren die Lieder ihrer großen Vorbilder in einem außergewöhnlichen Konzert.
Göttinen, Diven, Idole, Mythen – Seit den 1940er Jahren hat die arabische Welt zahlreiche Frauenstimmen hervorgebracht, die die Herzen von Männern, Frauen und Kindern haben höherschlagen lassen. Ob Umm Kulthum oder Leila Mourad aus Ägypten, Warda al Jazairia aus Algerien, Fairuz aus dem Libanon, Mayada El Hennaway aus Syrien oder die syrisch-ägyptische Diva Asmahan: Die Grandes Dames arabischer Populärmusik haben ganze Kulturkreise fasziniert. Zugleich verkörperten sie die Aufbruchsstimmung eines sich modernisierenden Volkes. Doch bis heute sind die orientalischen Diven und ihre Stücke in Europa kaum bekannt. Um dem entgegenzuwirken, veranstaltete die Pariser Philharmonie im Zuge der Ausstellung „Al Musiqa“ des Musée de la musique, die vom 6. April bis 19. August 2018 stattfand, zwei Wochenenden, die ganz im Zeichen arabischer Musik standen. Dazu lud sie am 12. Mai 2018 drei Sängerinnen dazu ein, im großen Saal die schönsten Stücke der arabischen Legenden neu zu interpretieren: Die libanesische Sängerin und Musikwissenschaftlerin Abeer Nehme, die im religiösen Register ebenso bewandert ist wie im populären, Dalal Abu Amneh aus Palästina, die seit ihrem sechzehnten Lebensjahr von ihren Musikerkollegen gefeiert wird, und Mai Faruk, eine der schönsten Stimmen Ägyptens. Begleitet wurden die drei Sängerinnen vom Orchestre du monde arabe unter der Leitung des palästinensischen Dirigenten Ramzi Aburedwan. Die Lieder handeln von Liebe, Poesie und vom Leben der arabischen Frauen.
Regie : Olivier Simonnet
Mit :
Abeer Nehme (3) 01:02:30 bis 01:09:00 bis 01:21:39 / danach alle drei
Die Kulturmaschine fordert die Enthierarchisierung der Kulturformate. Während die klassische Moderne eine klare Hierarchie zwischen Hochkultur und Massen- beziehungsweise Populärkultur sowie öffentlicher und privater Kultur sah und kultivierte, bauen sich diese Hierarchien in der digitalen Welt der Spätmoderne ab. Sämtliche Kulturelemente sind nun auf die gleiche Weise zugänglich und unterliegen den selben Mechanismen der Aufmerksamkeits- und Valorisierungsmärkte. In der digitalen Welt befinden sich die Kulturformate alle auf einer Ebene, die hochgradig plural ist; nur wenige Klicks führen die Rezipienten aka [also known as] User von ihren privaten Urlaubsfotos zu Klassikern der Filmgeschichte, von den Nachrichten ihrer Freundezum Bericht vom Parteitag, vom Porno zu Shakespeares The Tempest oder Innenansichten der Suiten eines Pariser Nobelhotels.
Anmerkung 35
Die formale Gleichheit der Kulturelemente geht mit ihrer Entkontextualisierung einher. Klassische Kulturhierarchien wurden auch über die eindeutige Differenzierung stabilisiert: Bücher in der Bibliothek, Nachrichten im Fernsehen, klassische Musik im Konzerthaus, private Mitteilungen im Brief oder am Telefon. Nun sind jedoch alle diese heterogenen Kulturformate über den „gleichen Kanal“ zugänglich.
Zugleich konkurrieren diese Kulturformate gewissermaßen objektiv auf der gleichen Ebene miteinander: Es findet ein Wettbewerb um Sichtbarkeit und Anerkennung statt, konkretisiert in der Anzahl der Klicks und der Verlinkungen, der Likes und der Rangfolge, den die Suchmaschinen ihnen zuordnen. In diesem Wettbewerb stehen die Urlaubsfotos ebenso wie die Shakespeare-Sonette, das Hotel, der Parteitag oder der Tweet in gleicher Weise. Enthierarchisierung heißt natürlich nicht, dass alles gleich viel wert wäre, im Gegenteil: Mit Blick auf ihr Aufmerksamkeitsprestige sowie ihre valorisierte Qualität unterscheiden sich die Kulturformate drastisch voneinander. Den wenigen äußerst sichtbaren Elementen steht die große Masse der nahezu unsichtbaren gegenüber. Wie in der Ökonomie der Singularitäten herrscht auch im Internet eine ausgeprägte Sichtbarkeitsasymmetrie; und beide Asymmetrien, die ökonomische und die medientechnologische, verzahnen sich miteinander.
Quelle Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten / Zum Strukturwandel der Moderne / Suhrkamp Verlag Berlin 2017 (Seite 240f)
Wo bleibt der Wille zur Bildung durch Bücher?
Eine Merkwürdigkeit: dass diese ganze Diskussion, die um die letzte Jahrhundertwende stattfand, vergessen ist. (Über Dietrich Schwanitz hier).
Zur Bildung gehört meines Erachtens nicht nur das Lernen (und das heißt eben nicht einfach: der einzelne Mensch vor dem Computer), sondern auch das Gespräch, die Diskussion, – nicht die konfrontative, in der die Teilnehmer letztlich nur die jeweils eigene Position ausbauen und verstärken, sondern die konstruktive, einander ergänzende, durchaus latent competitive Unterhaltung mit einer anderen Person (oder mehreren, ich glaube, nicht mehr als um einen kleinen Tisch passen). Die Runde bei Markus Lanz (eine zur Kamera hin aufgebrochene!) ist etwas anders, weil der Moderator Sonderrechte genießt, die im Gespräch schwer erträglich wären. Trotzdem ist es möglich, dank seines persönlichen Geschicks und seiner Fähigkeit zuzuhören. Vielleicht eher nach dem Muster der Precht-Sendung, in der durchaus drei oder vier kommunizierende Teilnehmer denkbar wären, die sich unterhalten.
Screenshots ZDF-Sendung
Gesprächstext ausschnittweise
Lanz ab 32:42
So hängt alles mit allem zusammen, und es ist auch klug, die Argumente auszutauschen. Harald Lesch ist bei uns, der ein interessantes Buch mitgebracht hat, eigentlich ist es eher son Streitgespräch, und eigentlich ist es, so hab ich das gelesen, eher die Aufforderung, ein Herzensthema von Ihnen, nämlich Bildung, und die Frage, wie schauen wir auf Wissen, mal wirklich auf den Kopf zu stellen. Was läuft denn, wenn wir ne kleine Analyse mal machen, was läuft denn (..) wenn Sie mal versuch müssten, die fünf wichtigsten Punkte kurz ma skizzieren, – Was läuft grundlegend und prinzipiell nicht gut in unserem Bildungssystem, Ihrer Meinung nach?
33:25 LESCH Also ich glaube, dass insgesamt zu wenig in Zusammenhängen unterrichtet wird. Also wir haben zuviel Schubladen und zu wenig Motivation für alle diejenigen, die alle diejenigen, die irgendwo unterrichtet werden: Warum soll ich mich mit einem bestimmten Thema überhaupt auseinandersetzen? Und dadurch, dass die Fächer so stark voneinander getrennt sind, anstatt sie wirklich zusammenzuziehen, und anhand von einem Phänomen, einem bestimmten Thema sollten möglichst viele Schulfächer sollten daran arbeiten, Klimawandel wäre zum Beispiel son wunderbares Thema, wo man zeigen kann, da sind nicht nur die Naturwissenschaften, sondern natürlich auch Literatur, wie gehen Menschen in den Ländern mit den Gefahren eines verwandelten Klimas um? Was bedeutete das, wenn (Geschichte!) genau, Geschichte natürlich, das Anthropozän als Begriff, der Dirk [Steffens] was ja neulich hier und hat das erzählt, durch den Menschen, ich benutze gern das Wort Kapitalozän, nicht wahr, das Erdzeitalter, das durchs Geld geprägt ist, aber das hats noch nicht so weit gebracht (ML Sie kriegen heute wieder Ärger nach dieser Sendung, Herr Lesch, aber das kriegen wir schon hin. HL ja das ist schon o.k.)
Der Hauptpunkt ist einfach, dass durch diese Klassifikation in einzelne Fächer in unserm Kopf etwas entsteht, das gar nicht der Welt entspricht. Der Welt entspricht nämlich etwas ganz anderes, dass wir nämlich über grundlegende Fähigkeiten verfügen müssen, wie wir uns mit ihr auseinandersetzen müssen. Und ein wichtige davon, die im Abendland sich entwickelt hat, ist eben: zu schreiben, zu lesen und zu rechnen. 34:55 Das heißt: wir können etwas quantisieren, (zu Juli Zeh, die lacht) nicht quantisieren, Pardon, wir haben vorhin über Dekurenz (???) gesprochen, also wir können etwas quantitativ erfassen, in Zahlen nämlich, – Mathematik spielt für uns ne wichtige Rolle: in allen Lebensbereichen ist es wichtig, die Relationen einschätzen zu können, aber wir müssen auch mit Texten umgehen können, also wir müssen den Text lesen können, verstehen können, interpretieren können, also wir müssen auch verstehen, was zwischen den Zeilen steht, und wir müssen natürlich auch selber Texte produzieren können, und diese drei wesentlichen Fähigkeiten im Zusammenhang gebracht mit dieser unglaublichen Informationsmenge, die uns ja heute über die verschiedenen Medien zur Verfügung stehen, das macht heute einen gebildeten Menschen aus 35:33 und dafür sind die Schulen in Deutschland einfach nicht gemacht… ML mal ganz so ganz holzschnittartig runtergebrochen, wer geht da so mit fünf, sechs Jahre in so ne Schule herein, und wer kommt am Ende raus? HL Also das ist interessant, ich glaube, man sollte n Film drehen, so die erste Woche in so ner ersten Klasse, die sind noch total begeistert, das ist so ne Freude, denen zuzugucken usw. – natürlich gibt’s auch den einen oder anderen, der sagt: hm, hier geh ich nicht mehr hin. Aber dann, merkt man… und wenn man jedes Jahr so ein Video von der Klasse machen würde, wie die Lust etwas zu lernen systematisch in die Knie geht (Lauterbach nickt), und dann kommt die Phase, wo vor allem bei Jungen hier vorne (zeigt auf die Stirn) steht: „under construction“, ja? das ist die Pubertät – „Baustelle!“
– da müsste man etwas tun in der Schule, was in Deutschland viel zu wenig gemacht wird – man muss sie tatsächlich dann in den Wettbewerb schicken, Theater spielen, Musik machen, Sport, Kunst, Werken, woran sich eine Person ausprobieren kann, und dann später – weil Sie vorhin gesagt haben, mit der Pubertät hört die Mathematik auf – um später dann wieder einzusetzen – o.k. jetzt bist du so weit, dass du auch mit Abstrakterem, mit abstrakteren Begriffen und Themen auseinandersetzen kannst, alles woran sich eine Person ausprobieren kann und dann später – weil Sie gesagt haben, in der Pubertät hört die Mathematik auf – und dann später wieder einzusetzen und dann zu sagen: o.k., jetzt bist du so weit, dass du dich auch mit abstrakteren Begriffen, mit abstrakteren Themen auseinandersetzen kannst, – dazwischen muss Schule die Gelegenheit geben, dass Persönlichkeiten entstehen, die an ihrer … an ihrer Findung ihrer Identität viel intensiver beteiligt sind, als das momentan der Fall ist. Wir sind einfach zu viele (Beifall) zu viele Kinder, also: das Leben vieler Jugendlicher findet nur zweidimensional statt, also entweder auf dem digitalen Diktator in der Hand oder auf dem Flachbildschirm, auf dem irgendwelche Spiele gespielt werden. Aber das Dreidimensionale, das Leben, das riecht, das anders klingt, wo es dreckig ist, wo irgendwas passiert, was einem möglicherweise nicht gefällt, und wo vor allem die Auseinandersetzung da ist, – bei Aristoteles ist es im Grunde so schön definiert: Der Mensch ist das Tier, das mit andern Menschen zusammenlebt, das zoon politikon, dieses Zusammensein, das ist natürlich der große… der große Punkt, wo man Schule viel stärker machen muss, und das ist auch der Gegenstand unseres Buches, „Wie Bildung gelingen könnte“, hat natürlich damit zu tun, wie diejenigen sich fühlen könnten, die in der Schule sich Tag für Tag treffen, nämlich die, die unterrichten, und die, die unterrichtet werden. 37:46 Exakt“ ML Wenn wir nun zunächst mal den Blick auf die richten, die unterrichtet werden. Eh … Sie plädieren für die Waldorfisierung der Schule (ja), sagen auch, es könnte mal n bisschen gemütlicher zugehen (na klar), sollte n bisschen mehr Raum geben … auf diese Nachricht habe ich 15 Jahre gewartet (HL lacht laut) und habe sie nicht … und Mathe abschaffen in der Pubertät, und morgens um 9 erst anfangen (aber unbedingt!)… Unbedingt??? Einmal kurz: warum? HL der Biorhythmus der meisten Menschen ist tatsächlich so, vor allem der Kinder ist tatsächlich so, dass ab 9 Uhr ist der Organismus ganz anders wach, aufmerksam und in der Lage, auch für längere Zeit ja dann recht heftig zu arbeiten, diese erste Stunde in der Schule ist für viele Kinder einfach (Geste der Müdigkeit) schwierig. ML Steht da nicht die Sorge, dass man so das Leben einfach verschiebt, also dass das eine große Zeitverschiebung wird, HL Aber man sieht es ja in Spanien, in Frankreich, in Italien, überall fängt die Schule später an Karl Lauterbach es gibt ja auch medizinische Hinweise da drauf, dass … es gibt also Studien darüber, wie der Biorhythmus funktioniert, mindestens die Hälfte der Menschen hat genetisch einprogrammiert, dass über Jahrtausende und Jahrtausende, insgesamt über 30.000 Jahre hat sich das entwickelt, also für die Hälfte der Menschheit ist der Biorhythmus so entwickelt, dass man vor 9 Uhr überhaupt die volle Denkfähigkeit noch nicht hat, leider für mich auch so und … (Lachen und Beifall) ML Also der perfekte Schultag, wie sieht der dann aus? 39:28 (….) Sechsjähriger in die Grundschule, dann lernt der erstmal Lesen und Schreiben, Rechnen wichtig, Sie sagen es, mit der Hand schreiben HL Mit der Hand schreiben ist ne ganz wichtige Sache (weil?) ist für unser Gehirn extrem wichtig, also diese Verbindung zwischen Hand und Kopf, ist über die Handschrift eine ganz wichtige Sache, die zur Vernetzung dieses jungen Kopfes sehr stark beitragen. Der nächste Punkt ist die Frage, mit welcher Geschwindigkeit eigentlich die Inhalte präsentiert werden, und Kinder mögen nichts mehr als zu spielen, also sollte man ihnen zum Beispiel Mathematik – Mathematik – Kopfrechnenwettbewerbe als dieses schnelle — Einmaleins zackzackzack das ist inzwischen aus der Schule fast verschwunden, es gibt ja fast niemanden mehr, der richtig mit dem Kopf rechnen kann, man weiß es … ich weiß nicht, wann der Taschenrechner seine Tür in die Schule gefunden hat, aber damit war klar: muss ich nicht mehr wissen, und heutzutage geht es ja noch viel weiter, weil: das muss ich nicht mehr wissen ist selbst gesellschaftsfähig geworden weil, man kuckt einfach so automatisch bei der Suchmaschine, deren Name nicht genannt werden muss, bei irgendeinem Lexikon, deren Name auch nicht genannt werden muss, und dann weiß man’s und dann hat mans auch schon wieder vergessen. Aber diese grundlegende Fähigkeit, das was ich eben meinte mit diesen drei Dimensionen Schreiben, Lesen und Rechnen, die spielerisch und mit etwas – was an den Musikschulen zum Beispiel das Thema ist (ML Fokussierung!), nämlich: Üben – Üben – Üben – einfach immer, aber diese Übung macht natürlich nur dann Sinn, wenn die Motivation an erster Stelle steht, also: was kann man damit machen? Ich hab mit Gudrun Mebs n kleines Büchlein geschrieben, das hieß „Mit Mathe kann man immer rechnen“, da gehen Kids mit einem Proff, also mit einem Professor, los und ziehen durch die Welt und kucken, wo gibt es überall Mathematik und wo muss man und die sind bei einem Schreiner und der erklärt ihnen, ohne Mathematik kann ich keinen Tisch bauen, kann keinen Stuhl bauen, und sie gehen in den Supermarkt , das kostet so viel und das kostet so viel, aber das ist ja viel teurer usw. und sie gehn auch in ne Bank und wollen dann aber sehen, dass der Bankmitarbeiter im Kopf rechen kann und dass er nicht alles auf seiner Kassenmaschine – also es ist großartig, so, was ich damit sagen will, die Möglichkeit, die Fähigkeit derer, die da unterrichten, auch mal wahrzunehmen, ich meine, wir bilde Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland aus, in allen möglichen fachlichen Inhalten, aber ihnen die Gelegenheiten, die Gestaltungsspielräume zu geben, mit dem Inhalt in der Schule wirklich zur Persönlichkeitsbildung beizutragen, die schlagen wir wieder kaputt, weil wir sie, weil wir diese Schulsysteme so stark beschleunigt haben 42:10 so stark verdichten, von den ganzen Inhalten her, die da präsentiert werden, dass die armen Leutchen, die da unterrichten da, „du ich kann nichts… du, ich würd ja gerne, ich hab gar keine Zeit, am Ende einer Schullaufbahn stehen irgendwelche Zentralprüfungen, ich kann keine Rücksicht darauf nehmen, dass ich bei jedem einzelnen mit verschiedenen Tempi eigentlich arbeiten muss.“ ML Menschen haben unterschiedliche Geschwindigkeiten… HL Es gibt ja auch ne Reihe von Schulen in Deutschland, die das schon machen, es gibt in Jenaplan-Schulen zum Beispiel, die Waldorfschulen sind – da will ich gar nicht auf den anthroposophischen Hintergrund ko…“ ML Die Waldorfisierung der Schulen, – erklären Sie das mal… Was ist damit gemeint? 42:44 HL Es geht darum tatsächlich zunächst einmal für lange Zeit ganz darauf zu verzichten, Kinder zu beurteilen in irgendwelche Zahlen; denen erstmal die Gelegenheit zu geben, irgendwelche grundlegenden Fähigkeiten, also meine großen Drei, dass die die alle erstmal können. Das ist das allerwichtigste. Die müssen richtig schreiben, lesen und rechnen können. Und dann kann man allmählich tatsächlich beginnen, über Wettbewerbssituationen, die man in der Schule ja ständig schaffen kann, tatsächlich sowas zu machen wie Tabellen und Ranking, aber es geht vor allem darum, dass allmählich zu tun und zu sehen, wie Kinder sich entwickeln, diese große Neugier, dieser Enthusiasmus, den man in dem ersten Video in der Grundschule im ersten Schuljahr noch sieht, das ist der eigentliche Schatz, den diese Kinder mitbringen. 43:31 Wenn wir denn in der Schule kaputtmachen, dann (…)
49:49 ML Infrastruktur, öffentlicher Nahverkehr, alles wichtig, keine Frage, aber, Herr Lesch, ich hab Ihr Buch – es ist ja kein wirklich dickes Buch – aber ein sehr interessantes, sehr inspirierendes Buch – schon als etwas anderes verstanden, da geht es schon auch um n bisschen mehr. Es geht auch um die Frage, wie schaffen wir es, kreative, neugierige menschen da rauszukriegen am Ende, die auch in der Lage sind, sich z.B. zu konzentrieren, das ist etwas was mir immer wieder auffällt, wie erleben Sie das , als Professor, wie erleben Sie das bei Ihren Studenten, ich hab neulich ne Untersuchung gelesen, wir waren im Jahre 2000 im Schnitt noch in der Lage, uns 12 Sekunden noch auf eine Sache zu konzentrieren, mittlerweise sind wir bei 8 und Goldfische sind bei 9, das ist ja keine wirklich gute Nachricht… ML Ja, ich unterrichte gern im Aquarium, (Lachen) also es ist in der Tat so, und da hat man natürlich als Hochschullehrer hat man ja, so wie alle Lehrer diese irre Situation, jedes Jahr kommen wieder Menschen aus dem gleichen Alter, man hat so im Laufe der Jahrzehnte dann so ne Erfahrung, man sieht natürlich, also ich hab – da bin ich mit vielen völlig einig – wir erleben eine Reduktion der Aufmerksamkeitsspanne. (Ist so, nicht?) Ist ganz klar, ist ganz klar, und zwar unter anderem mit dem Hinweis: ich muss das in der Vorlesung ja gar nicht so… weil, das kann ich mir ja alles nochmal ankucken, weil: es gibt das Skript digital, es gibt alles mögliche digital, und wenn ich es digital hab, dann habe ichs ja auch alles schon hier oben irgendwie drin. Gut, ich muss noch dran arbeiten, aber das sind Details. Das mach ich so irgendwie nebenher, das kann man auch im Stehen machen, (Handy-Gesten, Lachen ) die Aussicht, man könne ja alles, wenn man nur wolle, dann könne man ja, verursacht Aufmerksamkeitsprobleme, weil man dann braucht man sich ja jetzt nicht zu konzentrieren, weil da gibts vielleicht ganz andere Dinge, auch schon wieder irgendwelche Informationen, also Ruhe zu haben, sich zum Beispiel einem Text zuzuwenden und den laut vorzulesen, also für alle anderen im Saal mal laut vorzulesen, was man da ….. an Deutschlands …. Universitäten … das ist schon interessant. Ne? 51:58 Einen Text so vorzulesen, dass alle gut zuhören und auch vor allen Dingen am Ende nicht nur eine Inhaltsangabe zu machen, sondern eine Zusammenfassung, wo der oder diejenige, die das dann präsentiert hat, auch tatsächlich mal sagen, wie haben sie denn den text verstanden und was ist ihre Position dazu. Das ist z.B. ne Sache, die mir auffällt, und das andere, was mir auch auffällt, ist: die fast flächendeckende Unfähigkeit, über das Theme oder über das Fach, das man studiert, zu sprechen. Im Sinne von: warum mach ich das? und was fasziniert mich daran eigentlich? Als was ist der Grund gewesen, weshalb ich warum habe ich angefangen Physik zu studieren, und was mach ich denn jetzt so grade? Es gibt nach wie vor diese Top 10 Prozent, die können das, aber ein erheblicher Teil der Studierenden hat überhaupt… also ist gar nicht in der Lage … ich bin jetzt grade mitten in der Prüfungsphase, also, und ich mache mündliche Prüfungen in Physik, das ist für viele Studenten … hnnnyyh… 52:56
Dieser Text gehört zur hier vorgestellten Aufnahme des Ensembles Resonanz, an dieser Stelle nur wiedergegeben, damit er leichter lesbar ist (für ältere Herrschaften und die ganz junge, eilige Leserschaft).
Zuerst die Kleinigkeit: sie steht im Anhang eines instruktiven CD-Booklets von Florence Badol-Bertrand. Und da ich eigentlich auf die Doppel-CD der großen Drei hinweisen möchte, in der dieser Text mit der Überschrift „Hin zur Katharsis“ sich befindet, lichte ich ihn gleich im Original ab:
Ich war verblüfft, dass die Formel auch in der Sinfonie stecken soll, die ich am frühesten von allen Mozart-Sinfonien im Notentext studiert habe: in der „großen g-moll“. Selbst als wir sie Jahrzehnte später für die deutsche harmonia mundi aufgenommen haben, ist mir entgangen, dass die Formel, die man sofort der großen in C-dur zuordnet, hier ebenfalls real zu hören ist, wenn auch minimal verrätselt. Ich kennzeichne sie jetzt in rot, die bis dato unentdeckt gebliebene.
Die Pionier-Zeit des Collegium Aureum mit Franzjosef Maier seit 1965 (parallel zum Concentus Musicus Wien unter Nikolaus Harnoncourt). Ich erinnere mich allerdings gut, dass wir (dem Flegelalter noch nicht ganz entwachsen) das Thema zuweilen heimlich verunstaltet haben, während die anderen Streicher begannen, – indem wir an den hinteren Pulten leise spottend mitsangen: „Ich kann das nicht sauber, ich kann das nicht sauber“.
Ich habe die G-moll-Sinfonie als LP nicht mehr zur Hand, aber ich glaube, mit der „Linzer“ 1980 hat unsere Serie der Sinfonien überhaupt angefangen:
Zur neuen Aufnahme der Mozart-Sinfonien durch das Ensemble Resonanz
Was mich überrascht und begeistert, ist die Flexibilität im Tempo. Der Mut zur Besinnung, oder die Zeit stillstehen zu lassen, beklommen zu verweilen, nur für den Bruchteil eines Momentes, ohne dass jemand sagen könnte: das Stück fällt auseinander. Ganz auffällig und großartig am Ende der Durchführung der G-moll-Sinfonie, das Festfressen des Getriebes, die Rückkehr zum Haupttempo. Die „Anteilnahme“, die dann wiederum dem zweiten (chromatischen) Thema gilt, – nur ein Beispiel, man merkt es erst, wenn man den Fokus darauf richtet. Es ist wie beim Streichquartett, so organisch (auch das Nicht-Organische) -, dass es einem erst auffällt, wenn man – einfältig genug – am Lautsprecher mitspielen will. Es lebt wirklich, es ist keine Vorführung neuer Lesarten. Natürlich: so schnell habe ich den letzten Satz noch nie gehört, aber wenn es nach dem ersten Abschnitt minimal verhaltener wird und dann wieder zum „Original-Tempo“ zurückführt, die leicht extra gesetzten Akkordakzente, – nie entsteht der Eindruck, dass es wackelt. Es ist eine völlig einleuchtende Verzweiflungsrhetorik (gibt es so etwas?). Fast „absurd“ die scheinbar atonal in den Raum gesetzten Schläge zu Beginn der Durchführung, sozusagen außerhalb jedes metronomischen Zeitflusses. Das ist doch nicht mehr Mozart? Doch, genau das!
Harnoncourt über die Trias der drei Sinfonien: „Das ist ein Großwerk, das auch in drei Stücken [hintereinander] gespielt werden kann!“ (Vimeo 2014 735):
ZITAT Website des Ensembles Resonanz zu K.551 Jupiter hier
Im Mittelteil [des Menuetto] – dem Trio – lässt der Komponist schon mal einen Blick auf den Finalsatz erhaschen. Eine Vorform des 1. Themas des letzten Satzes blitzt auf – darüber hinaus ist es eine musikalische Signatur wie die Tonfolge b-a-c-h bei Bach. Mozart verwendet das Thema in zwölf weiteren Werken. Es beginnt mit der berühmten Viertonfolge c-d-f-e. Sie gehört zum Urbestand der Kontrapunktlehre und dient Mozart als markante Kernzelle seines genialen fugenhaften Werkens, die diesen Satz durchzieht und in der Coda mit der Verarbeitung von fünf unabhängigen Themen geradezu unerhört endet. Das eigentlich Wunderliche daran: Dass Mozart die Strenge und Konzentration mit Anmut und Leichtigkeit durchbricht. Nicht versöhnend, sondern parallel bestehend, ständig weiter fließend. Der Satz endet strahlend. Ein Fest des Lebens mit all seinen Facetten. Perfekt in Balance trotz unüberschaubarer Gleichzeitigkeit der Dinge. Die goldene Mitte, der Nabel der Welt. Das Finale der C-Dur-Sinfonie ist ein prächtiges Beispiel dafür, wie kunstvoll Mozart Kunstfertigkeit verbergen konnte. Das Schwere wird bei Mozart leicht, das Alte neu, das Strenge witzig, der Schalk ehrlich. (Text: Maria Gnann)
Das, was mich jetzt überrascht, ist doch nicht ganz neu; ich hätte es leicht in meiner Mozart-Literatur finden können. So in der Taschen-Partitur mit Analyse von Manfred Wagner:
Auf der nächsten Seite weitere Hinweise wie diesen:
Quelle Mozart Sinfonie C-dur KV 551 „Jupitersinfonie“ Einführung und Analyse von Manfred Wagner / Taschen-Partitur mit Erläuterung / Goldmann Schott Mainz 1979
Neu ist wahrscheinlich nur Harnoncourts Idee, die drei Sinfonien als ein Tryptichon zu sehen (und hören zu wollen: so vor allem durch René Jacobs), man vergisst das nie: vom Schlussakkord der Es-dur- nahtlos in den Anfang der g-moll-Sinfonie, zumal diese ja gar kein richtiges Thema habe…. (siehe hier „H. probt Mozart„). Die motivischen Zusammenhänge zumindest in der Jupiter-Sinfonie hat man schon seit Simon Sechter ständig nachgewiesen. Ich hätte es wissen können seit der Lektüre der Schriften von Johann Nepomuk David, der mir allerdings bei Bach viel zu weit ging: schließlich kann man fast alle nur möglichen Themen auf Tonleiterausschnitte und somit auf nahe Verwandtschaften reduzieren. (So auch der Versuch Helga Thönes, in Bachs Ciaccona lauter Choral-Zitate aneinandergereiht zu hören.)
. . . .
Quelle Johann Nepomuk David: Die Jupiter-Symphonie / Eine Studie über die thematisch-melodischen Zusammenhänge / Vandenhoeck & Rupprecht Göttingen 1953
Nochmals und noch neuer in großartiger Einheit: (Die großen drei) MOZART SYMPHONIES 2020 unter der Leitung von Riccardo Minasi.
Als ich kürzlich in der Wochenzeitung DIE ZEIT auf eine HEGEL gewidmete Doppelseite stieß, wunderte ich mich, eine Frau zu erleben, die sich mit dem zentralen Paradigma „Herr und Knecht“ abgab, ohne ein paar Worte darüber zu verlieren, dass dieses Narrativ auch mit dem Gespann Herrin und Zofe funktionieren würde. Aber daran habe ich gemerkt, dass sie es ernst meinte, obwohl sie überhaupt nicht von diesem Gespann spricht, gleich ob männlich oder weiblichen Geschlechts. Denkbar wäre ja auch eine männlich/weiblich-Konstruktion, genannt Ehe. Kurz und gut, hier könnte sich die Chance bieten, Zugang zu Hegel zu bekommen und einmal sagen zu können, es sind Frauen, die mir in puncto Hegel weitergeholfen haben, ohne einen hochfahrenden Ton anzuschlagen. Und ein Wunder geschieht: Ich verstehe jeden Satz! Fast möchte ich sagen: als ob ich es selbst so hätte sagen können. Aber es war nun einmal jemand anders, eine andere.
Sie sagte:
Mit Hegels Hilfe möchte ich zeigen, wie wir Sozialität und Gewaltlosigkeit als Potenziale der heutigen Zeit verstehen können, die uns möglicherweise in die Lage versetzen, auch andere Potenziale zu bejahen, die unsere historische Gegenwart bereithält.
Die Phänomenologie des Geistes beginnt mit der sogenannten „sinnlichen Gewissheit“, denn Hegel will die Erfahrung des Lesens mit dem einsetzen lassen, was scheinbar am unzweifelhaftesten ist – mit der sinnlichen Wahrnehmung. Die von den Sinnen gelieferten Gewissheiten erweisen sich zwar als unzureichendes Fundament der Erkenntnis, aber als ebenso unerlässlich für jede zukünftige Form des Wissens. In dem Maße, wie der Text voranschreitet und unsere Erfahrung des Lesens zu dem Ort wird, an dem jedes Argument zugleich entfaltet und demonstriert wird, entdecken wir, dass es eine Unnachgiebigkeit der sinnlichen Welt gibt, die sich ebenso wenig überwinden lässt, wie sich die Beharrlichkeit und Unnachgiebigkeit des Körpers in Hegels frühen theologischen Schriften überwinden ließ, es sei denn in Form von Selbstzerstörung und Tod.
In der Phänomenologie gewinnt der Tod eine zentralere Stellung im Verhältnis von Herr und Knecht, in dem zwei beseelte, lebendige und bewusste Gestalten ihrer Ähnlichkeit innewerden. Diese Anerkennung des eigenen Selbst als eines anderen oder des anderen als des Eigenen wird zum Ausgangspunkt dessen, was man Selbstbewusstsein nennt. Das heißt nichts anderes, als dass Selbsterkenntnis, verstanden als ein Zustand, in dem man sich selbst zum Gegenstand des Wissens macht (und wir sollten im Sinne Hegels hinzufügen: zu einem lebendigen Gegenstand des Wissens), gesellschaftlich ist. Selbstbewusstsein ist niemals vollkommen einsam; es ist abhängig von einer anderen Verleiblichung des Bewusstseins, was bedeutet, dass ich nur als soziales Wesen beginnen kann, über mich selbst nachzudenken. Es ist die Begegnung, die Selbstbewusstsein artikuliert, weshalb das Selbstbewusstsein per definitionem gesellschaftlich ist.
Anmerkung zum Absatz vorher: man könnte meinen, im vorletzten Satz liege ein Druckfehler vor (weil er auch auf „gesellschaftlich ist“ endet), – nein, verkürzt lautet er: Das heißt nichts anderes, als dass Selbsterkenntnis, verstanden als ein Zustand, in dem man sich selbst zum Gegenstand des Wissens macht (…), gesellschaftlich ist.
Merkwürdigerweise höre ich einstweilen gar nichts weiter über das Gespann „Herr und Knecht“ – vielleicht genügt es zum Verständnis des Problems, dass es ZWEI sind, – der Eine und der Andre? Ich zitiere aus einem anderen Text:
Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) braucht die Ausbildung des Selbstbewusstseins notwendig die Anerkennung durch ein anderes Selbstbewusstsein. In seiner „Phänomenologie des Geistes“ stellt er diesen Gedanken vor. Das Selbstbewusstsein ist dialektisch – es besteht aus zwei entgegengesetzten Komponenten: dem Herrn und dem Knecht. Der Herr ist dabei „für sich“, er genügt sich selbst und will diesen Zustand um jeden Preis erhalten. Der Knecht hingegen begehrt die Gegenstände der Sinnenwelt (zu denen der Herr keinen Zugang hat), weil er nicht körperlich arbeiten muss) und lebt in Furcht vor dem eigenen Tod. Vereinfacht könnte man sagen, der Herr steht für das absolute, der Knecht für das partielle, abhängige Selbst. Beide brauchen sich gegenseitig, da ihnen ohne den anderen etwas fehlt. Hegel beschreibt die Beziehung von Herr und Knecht als Prozess, stellenweise sogar als Kampf, in dem sich das Selbstbewusstsein in gegenseitiger Anerkennung der beiden Parteien formt.
Was in Bezug auf die Bildung des Selbstbewusstseins noch sehr abstrakt klingt, wird anschaulicher, wenn man es auf die zwischenmenschliche Ebene überträgt. Wie Johann Gottlieb Fichte (1762-1840) darlegt, muss der Einzelne seinen Totalanspruch aufgeben, um in ein soziales Miteinander zu treten.
Nach einer kurzen Erfahrung der Wut und Enteignung scheint in der Begegnung aber leider der Entschluss zu fallen, den anderen zu zerstören. Und es gibt eigentlich nicht die Möglichkeit, zu sagen, dass der eine beschließt, den anderen zu zerstören, während der andere beschließt, sich zu verteidigen. Was mit dem einen geschieht, geschieht auch mit dem anderen. In diesem Augenblick befinden sich die beiden Subjekte in einem Kampf auf Leben und Tod, denn sie sind schockiert, auf ein anderes leibhaftiges Bewusstsein zu treffen, und müssen dieses andere zerstören, um das zurückzugewinnen, was Hegel „Selbstgewissheit“ nennt. Es stellt sich aber heraus: Wenn das andere zerstört werden kann, so kann dies auch dem einen widerfahren. Ihre Leben sind in diesem Sinne miteinander verflochten; die Strategie der Zerstörung bedroht unweigerlich beide. Anerkennung selbst ist immer eine gegenseitige und somit Kennzeichen einer sozialen Beziehung. Mein Leben ist nie allein mein Leben, weil mein Leben a) zu Lebensprozessen gehört, die mich übersteigen und erhalten, und b) zu anderen Leben gehört, gewissermaßen zu all den anderen beseelten und bewussten Gestalten.
Wenn ich das Leben eines anderen zerstöre, zerstöre ich, kurz gesagt, mein eigenes, was nicht heißen soll, ich sei der einzige Akteur des Geschehens. Es heißt vielmehr, dass ich als Lebewesen keine Möglichkeit habe, mich vollständig von anderen Lebewesen zu individuieren. Diese Idee eines lebendigen Gefährten ist ein mögliches Argument für Gewaltfreiheit, das sich Hegels Text entnehmen lässt, auch wenn Hegel selbst diese Argumentationslinie nicht verfolgt.
Nachtrag zur Orientierung: rote Farbe = Judith Butler / blaue Farbe: Thomas Vašek / grüne Farbe (folgt — genaue Quellenangabe erst gegen Ende)
Nur wer den anderen als gleichwertiges, selbstständiges Individuum anerkennt, wird bereits sein, sich moralisch zu verhalten. Somit ist die gegenseitige Anerkennung, die wir heute vielleicht eher als Respekt vor der Integrität des anderen beschreiben würden, die gesellschaftliche Basis, auf der Rechte, Gesetze und Normen entstehen können. Zwischen uns selbst und dem anderen vollzieht sich ein Wechselspiel. Wir können unser Gegenüber darum anerkennen und respektvoll behandeln, weil wir uns selbst in ihm erkennen und auch er uns als Person anerkennt. Ohne den anderen, den Gegenspieler bleibt uns also auch ein Teil von uns selbst verborgen.
Das Subjekt der Phänomenologie des Geistes weiß nicht von vornherein, dass es ein soziales Wesen ist, doch diese Erkenntnis stellt sich infolge des Kampfes auf Leben und Tod ein. Tatsächlich ist es die Abkehr von der Gewalt, durch die das gesellschaftliche Band zum ersten Mal in Erscheinung tritt. Gewalt taucht als konkrete Möglichkeit auf, doch die Erkenntnis, dass Gewalt nicht funktionieren wird, begründet den Sinn des ethischen Gebotes, einen Weg zu finden, wie ich mich selbst und den anderen, ungeachtet des Konfliktes zwischen uns, am Leben lassen kann. In dem Moment, in dem die Zerstörung des anderen als Möglichkeit ausgeschlossen ist, erkenne ich, dass ich an diesen anderen gebunden bin und dass mein Leben irgendwie mit seinem Leben verquickt ist. So wie ich Hegel lese, ist diese Erkenntnis, dass ich an den anderen gebunden bin, a) eine Einsicht in die physische Abhängigkeit voneinander und b) eine wechselseitige ethische Pflicht.
Die beiden Subjekte, die einander begegnen, verändern einander nicht nur wechselseitig, sie entstehen auch aus dem jeweils anderen. Mit anderen Worten: Wenn wir uns fragen, wie ein Subjekt wird, dann sehen wir, dass sich jedes Subjekt aus einer Abhängigkeit heraus entwickelt, aus einem anhaltenden Kampf um Differenzierung. Man kann nicht von Anfang an auf eigenen Beinen stehen; man kann nicht ohne die Hilfe anderer existieren, sicher auch nicht ohne das soziale und ökonomische Netzwerk, auf das die Pflegeperson baut. Jedes Subjekt entwickelt sich zu einem eigenständigen denkenden und sprechenden Wesen kraft einer Formation, die unauflösbar mit Abhängigkeit verbunden ist. Manchmal besitzt diese Abhängigkeit durchaus lustvolle Qualität, doch manchmal ist sie psychisch nicht zu ertragen. Abhängigkeit steckt also voller Ambivalenz.
Mit Axel Honneth und anderen Hegelianern bin ich der Überzeugung, dass wir die Art von Wesen sind, die Anerkennung begehren und durch sie zu einem Selbstverständnis finden. Doch was uns über die erste Szene potenziellen und gegenseitigen Mords hinausgelangen lässt, ist nicht nur die Erkenntnis, dass der andere mir gleicht und mir gleichgestellt ist, dass ihm auf dieselbe Weise Achtung gebührt wie mir. Wenn wir uns als soziale Wesen verstehen lernen, erkennen wir auch, dass wir schon längst auf diejenigen bezogen sind, mit denen wir die Modalitäten der Anerkennung aushandeln, und dass diese Bezüglichkeit jeden von uns definiert. Wir gehören schon vor dem Akt der Anerkennung zueinander – auch wenn es in der von Hegel beschriebenen Szene so aussieht, als stünden sich hier uneingeschränkt erwachsene Individuen gegenüber, die im Laufe einer seltsamen Reise ganz zufällig über eine weitere lebendige Form gestolpert wären.
Der ethische Imperativ, nicht zu töten, erwächst aus der Erkenntnis, dass das, was dem anderen widerfährt, auch mir widerfahren kann. Das soziale Band zwischen uns beruht auf dieser gegenseitigen Anerkennung unserer lebendigen Abhängigkeit. Natürlich sind Abhängigkeit und Unabhängigkeit nicht immer schöne Erfahrungen. Die Abhängigkeit des Arbeiters von einem Brotherrn, der seine Menschlichkeit nicht anerkennt, ist letztlich nicht hinnehmbar. Bei Hegel zeichnet sich hier eine psychoanalytische Einsicht ab, dass Abhängigkeit sowohl notwendig als auch zuzeiten unerträglich ist. Für Freud ist es das Baby, das sich von denen abzugrenzen versucht, auf die es angewiesen ist, obwohl die Abgrenzung nie vollständig gelingt. Mit Freud glaube ich nicht, dass Aggression gänzlich zum Verschwinden gebracht werden kann.
Ich unterbreche, um mein früheres Scheitern an Hegel in Erinnerung zu bringen: hier . Und fahre nachher fort mit einem dritten (oder vierten) Autor (einer Autorin vielleicht?). Wenn Sie fragen: kann man diese Einsichten denn nicht in klare einfache Worte fassen? Solche, die man mit gutem Willen und „gesundem Menschenverstand“ begreifen kann? Wie man einen Stuhl, eine Pflanze, ein Instrument – mit Händen begreift. Natürlich kann man nicht verlangen, dass sich im Gehirn, das unsere Gedanken bildet, – ja, unsere Spekulationen ermöglicht -, sich ein Korrelat unserer Hände befindet. Aber… Ich gebe zwei Buchseiten wieder, die mich überzeugt haben, dass „Spekulation“ in der Philosophie eine andere Sache ist:
… Aufgabe nichts vorhanden als das Wissen, im allgemeinen die Synthese des Subjektiven und Objektiven, oder das absolute Denken.
Vieles von dem, was mir Schwierigkeiten bereitet, ist übrigens bewundernswert dargestellt in Sahra Wagenknechts Buch „Vom Kopf auf die Füße? Zur Hegelkritik des jungen Marx“ (1996), ich ziehe es immer wieder zu Rate:
Gegenstand der „Phänomenologie“ ist [also] nicht die natürliche oder gesellschaftliche Geschichte im allgemeinen, sondern Die Geschichte des menschlichen Bewusstseins in seiner Auseinandersetzung mit der natürlichen und gesellschaftlichen Außenwelt. Die „Phänomenologie“ ist die universelle Darstellung der verschiedenen erkenntnistheoretischen Einstellungen als jeweils spezifische Versuche, die Realität gedanklich zu bewältigen und das Verhältnis des menschlichen Denkens zu ihr zu bestimmen; sie weist die all diesen Versuchen immanente Dialektik und Widersprüchlichkeit nach, die sie schließlich zur Selbstaufhebung und zum Übergang in die nächsthöhere Bewusstseinsform führen. Und sie deckt die den verschiedenen erkenntnistheoretischen Haltungen impliziten Ontologien auf, d.h. die in jeder Bestimmung des menschlichen Denkens zum Sein untrennbar enthaltene Bestimmung des Seins selbst. Jede Veränderung der Bewusstseinsform zieht daher – für das Bewusstsein, nicht an sich! – eine Veränderung des Gegenstandes des Bewusstseins – nach sich. Beide Seiten – Bewusstsein und Gegenstand – Erkenntnistheorie und Ontologie – bilden insofern von Beginn an eine Einheit; sie unterliegen einer gemeinsamen dialektischen Entwicklung, in deren Resultat – im absoluten Wissen – sich ihre vorausgesetzte Unabhängigkeit voneinander schließlich auch explizit aufhebt. (Seite 32f)
[Hegel:] „Das Selbstbewusstsein ist zunächst einfaches Fürsichsein, sichselbstgleich durch das Ausschließen aller anderen aus sich; sein Wesen und absoluter Gegenstand ist ihm Ich; und es ist in dieser Unmittelbarkeit oder in diesem Sein seines Fürsichseins Einzelnes…“ Die Gegenstände der Außenwelt ebenso wie die der anderen Selbstbewusstseine haben für das einzelne Selbstbewusstsein keine Selbständigkeit und Wahrheit; es ist auf ihre Vernichtung gerichtet. Bezogen auf die Naturdinge verhält es sich so als Begierde. Bezogen auf die anderen Individuen geht es zunächst auf deren Tod, sodann auf ihre Unterwerfung. Im Verhältnis von Herr und Knecht treten die zwei Momente, die das Selbstbewusstsein als einzelnes notwendig an sich hat – Fürsichsein und Sein-für-Anderes -, als zwei Gestalten des Bewusstseins auseinander. Im Prozess der Arbeit erfährt das knechtische Bewusstsein allerdings den Gegenstand gleichermaßen als selbständigen wie auch als rational erkenn- und somit beherrschbaren; durch Einschub des Mittels im Arbeitsprozess wird die Begierde gehemmt; die Auseinandersetzung mit der Außenwelt erhält gegenständliche Form und damit ein Bleiben, das sich über die Befriedigung der unmittelbaren Begierde hinaus erhält; der schlechthin unendliche Progress des organischen Seins, das in seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt immer wieder beim gleichen Ausgangspunkt beginnt und daher nie über das einzelne Lebewesen als unmittelbar einzelnes hinauskommt, verwandelt sich damit in den konkreten Prozess fortschreitender Natureinsicht und -bewältigung. In den Produkten seiner Arbeit findet das arbeitende Bewusstsein sich selbst wieder; es kommt zur Anschauung des selbständigen Seins als seiner selbst, bzw. seiner selbst im Anderen. [Seite 41]
Ich vermute, dass es bei jedem neuen Versuch, Hegel zu verstehen, genau so geht wie mir hier bei dieser Abschreibearbeit: Man braucht immer wieder neue Überredungskünste um einzusehen, dass man so lange bei „Präliminarien“ stehen bleiben muss, ehe das Denken überhaupt beginnt, bei den „Prämissen“. Denn man weigert sich unterschwellig einzusehen, dass die Gegenstände des Denkens nicht einfach „zuhanden“ sind. Und so glaubt man, wenn man sich immer wieder dieser Arbeit unterzieht, dass man wieder einmal „stecken geblieben“ ist. Aber genau dies ist die Bewegungsart des allmählichen Verstehens. Sie geschieht nicht umsonst!
Die Aufhebung des Gegensatzes von Bewusstsein und Gegenstand und die Ableitung der wissenschaftlichen Methode vollzieht sich in der Hegelschen „Phänomenologie“ über mehrere Hauptschritte, die im folgenden skizziert werden sollen. Das, worauf es Hegel ankommt, wird bereits im ersten Abschnitt – „A. Das Bewusstsein“ – sehr deutlich. (Nebenbei bemerkt, enthält dieses Kapitel eine bis heute unübertroffene Widerlegung der Prämissen sämtlicher empiristischer und positivistischer Philosophien, deren Selbstanspruch, jenseits von Materialismus und Idealismus zu stehen und schlechthin objektiv zu sein, Hegel überzeugend ad absurdum führt.) [Seite 51]
Eine wesentliche Erläuterung dessen, was Hegel im Zusammenhang des spekulativen Satzes den „Gegenstoß“ nennt, finden wir in seiner Lehre von der bestimmten Negation, von der von vornherein festzuhalten ist, daß auch sie nur auf dem spekulativen Niveau plausibel ist. Ihr Grundgedanke ist, daß wenn etwas die Negation von etwas Anderem ist, es selbst durch das bestimmt wird, was es negiert, denn als Negation des Anderen ist es selbst Negation des Anderen. Daraus ergibt sich bei Hegel der berühmte Mehrfachsinn von „Aufheben“: In der Negation i.S. von „vernichtet“ und „bewahrt“, und eine dritte Bedeutung kommt hinzu, wenn man Hegels These hinzufügt, daß durch die bestimmte Negation das Negierte und das Negierende zu einer höheren, konkreten, genauer bestimmten Einheit hinaufgehoben werden. Bei alltäglichen Beispielen macht das alles freilich wenig Sinn: Wie könnte man behaupten, der Mörder von J. F. Kennedy sei als dessen Negation nun selber auch irgendwie Kennedy, und Kennedy und sein Mörder lebten nun in einer höheren, konkreteren Gestalt weiter. Bei spekulativen Sätzen, die die Totalität betreffen, ist das aber ganz anders; hier ist die Negation eine Teilbestimmung der Antinomie oder des Widerspruchs, der sich nach Hegel notwendig ergibt, wenn der Verstand versucht, die Totalität zu denken. Erst hier gilt, „daß das Negative ebensosehr positiv ist oder daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besonderen Inhalts, oder daß eine solche Negation nicht alle Negation, sondern die Negation der bestimmten Sache, die sich auflöst, somit bestimmte Negation ist; daß also im Resultate wesentlich das enthalten ist, woraus es resultiert“ (5,49).
Dies kann man unmöglich im alltäglich Sinn verstanden haben, hier wird der Sprung notwendig, ohne den es nicht weitergeht, in das Hegelsche Original (und wieder zurück in die Deutungen).
Hier folgt ein Sprung in meiner Kopie gemäß der obigen Anmerkung S. 68, die sich auf S. 81 bezieht:
Quellen
DIE ZEIT online „Phänomenologie des Geistes„:Warum jetzt Hegel lesen? Dieser Denker der Moderne ist hilfreich. Auch er lebte am Ende einer Epoche. Wie wir. Ein Gastbeitrag von Judith Butler12. Februar 2020, 16:52 Uhr Editiert am 18. Februar 2020, 14:48 Uhr DIE ZEIT Nr. 8/2020
Thomas Vašek: Philosophie! die 101 wichtigsten Fragen THEIS HOHE LUFT WBG Darmstadt 2017 / Seite 146 Anerkennung Wozu brauchen wir den andern?
Sahra Wagenknecht: Vom Kopf auf die Füße? Zur Hegelkritik des jungen Marx / Aurora-Verlag Berlin1996 Seite 32, 41 und 51
Herbert Schnädelbach: Georg Wilhelm Friedrich Hegel / zur Einführung / Junius Verlag Hamburg 1999 (2007) Seite 24 f
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes / Herausgegeben von Georg Lasson / Zweite Auflage / Der Philosophischen Bibliothek Band 114 Leipzig 1921 / Verlag von Felix Meiner
Nachfrage Und was war nun das Anliegen des Artikels von Judith Butler in der ZEIT vom 12. Februar 2020? Folgen Sie dem Link HIER.