Archiv für den Monat: November 2017

Gewogen und zu leicht befunden

Was wiegt denn schon ein falscher Ton bei Bach?

Ach! Unermesslich viel, wenn er in einem so vollkommenen Notengebilde steckt. Er raubt einem den Schlaf. Unmöglich, dass es sich nur um die Verletzung einer alten Gewohnheit handelt. Andererseits: Die Gewalt des Faktischen in einem gedruckten Text… (Es geht in Takt 10 um den zweiten Ton im Bass: DIS oder nicht vielmehr – EIS?)

Bach WTC Fis Prael falsches DIS

Zudem bin ich ein gebranntes Kind: bei dem Versuch, eine große Geigerin (siehe hier) zu überzeugen, dass Bach selbst ein Vorzeichen in den „Urtext“ einzutragen vergessen hat, bin ich einfach „aufgelaufen“. Sie hält den falschen Ton für eine Frage des künstlerischen Ermessens. Und das wirkt nach, als Enttäuschung, als Widerhaken im Fleisch – nicht als Verletzung der Eitelkeit, sondern der Logik. Wer bin ich denn, dass ich protestiere wie ein Hund, der den Mond anbellt?

Also bitte keine Rechthaberei, wenn es um Bachs Notentext geht, – aber erst recht keine Duckmäuserei. Es darf kein Druckfehler stehenbleiben in Heiligen Texten wie den „Sei Solo“ oder dem Wohltemperierten Clavier von Bach, auch nicht von Gottes eigner Hand.

Ich war gestern zu Besuch in Bonn, und da der Flügel dort, verglichen mit meinem alten „Schimmel“, ein Klangwunder ist, übe ich das vertraute Praeludium in Fis – zudem aus anderen (neueren)  Noten – wie ein fremdgewordenes, „neues“ Stück. Und stolpere genau über die oben abgebildete Stelle, aber erst nach dem achten oder neunten Durchspielen. Der Oktavengleichklang – das Dis in der linken Hand, nachschlagend zum gleichen Ton in der rechten – erscheint mir allzu schwach in einem ansonsten sehr starken Bass-Verlauf, es muss eine Vorhaltwirkung hinein. Oder ist es bloße Gewohnheit, die mich das empfinden lässt? Herrührend aus meinen alten Noten, der Kroll-Ausgabe, die mir immer durchaus zuverlässig erschien. Ich muss das zuhaus überprüfen. Da sitze ich nun. Und finde zuerst in der Studien-Partitur aus Budapest – genau die gleiche (falsche?) Schreibweise, Selbstzweifel beginnen:

Bach WTC I Fis-dur

Und nun die Überraschung: in meinen Übe-Noten, der alten Kroll-Ausgabe, steht es wirklich so, wie ich es mir wünsche… Guter Instinkt oder bloße Gewohnheit?

Bach WTC Fis Kroll

Meine Kopie des Bachschen Urtextes stammt aus den 80er Jahren, wer weiß, wie genau man damals überhaupt kopieren konnte … (Ausrede… denn:) die Kopie ist gerade an der fraglichen Stelle (oben rechts, letzter Takt der Zeile) im Bass nur zu gut lesbar:

Bach WTC Fis Faksimile Fis-dur-Praeludium Faksimile ab Takt 7

Aber doch vielleicht nicht lesbar genug… sieht man nicht um das Dis herum den Hauch eines Kreises, – eines Korrekturzeichens gar? Da kann nur Leipzig oder Berlin helfen. Oder soll ich es zuerst mit einer genauen musikalischen Analyse versuchen, gewissermaßen einer Abschätzung der Wahrscheinlichkeit. Und wie kam Kroll überhaupt dazu, die Stelle anders als andere zu lesen? Wer ist überhaupt dieser Kroll? Nur mein Riemann-Lexikon (10. Auflage Alfred Einstein Berlin 1922), ererbt von meinem Vater, gibt eine Auskunft („lobende Anerkennung“):

Kroll bei Riemann

Um es kurz zu machen: Ich habe nicht herausgefunden, wo Kroll den Ton gelesen hat, der mir jetzt so zu schaffen macht. In den alten Handschriften, die ich bisher in den wunderbaren Digitalisaten des Bach-Archivs durchgesehen habe, ist nicht eine einzige, die den von mir gewohnten und gewünschten Ton in Takt 10 rechtfertigen könnte; hier eine Auswahl:

Bach Quelle a ab Takt 7, 2.HälfteBach Quelle b ab Takt 7Bach Quelle c ab Takt 9Bach Quelle d ab Takt 8, 2.Hälfte

Jetzt habe ich nur noch den Wunsch zu klären, weshalb ich partout dem Ton Eis anstelle des Dis den Vorzug geben wollte und auf welchem Wege ich jetzt mit dem wahren Text Frieden schließen kann – außer durch blinde Unterwerfung.

*  *  *

Um ein wenig in die Praxis zu tauchen: die Pianisten, die ich gehört habe, – Gulda, Koroliov, Schiff -, spielen alle das „Handschrift“- Dis, während das „Kroll“-Eis bei renommierten Cembalisten wie Ton Koopman und Gustav Leonhardt zu finden ist. Ich befinde mich also nicht in schlechter Gesellschaft, staune aber, dass der inkriminierte Ton beim bloßen Hören weniger störend ins Ohr fällt als beim Selberspielen oder beim Durchhören der Einzelakkordfolgen. Auffällig dagegen, dass nach den verschiedenen Klavieren Ton Koopmans Cembalo „unsauber“ klingt. Wahrscheinlich aufgrund der originalen Temperierung. Fis-dur als Tonart ist gewollt heiklen Charakters, wobei allerdings zu bedenken ist, dass Bach hier vielleicht ein Ur-Praeludium in F-dur fortgeschrieben hat…

Was mich eigentlich stört an der Dis-Fassung? (Siehe nochmals das Notenbeispiel ganz oben, Takt 10.) Gewogen und zu leicht befunden! Das Dis, der 2. Ton im Bass, schlägt dem Dis, dem dritten Ton der Oberstimme, hinterher. Der 3. Ton im Bass, ein Cisis, schlägt dem zweimal gehörten Cisis der Oberstimme hinterher. Also: eine (kaum noch) latente Oktavparallele, jedenfalls ein Hauch von Schwäche. Während das Eis als 2. Ton im Bass das Dis der Oberstimme zur Dissonanz macht, die in das Cisis aufgelöst werden will; dieses bleibt dann in dem gebrochenen Akkord aufwärts gegenwärtig, zumal es im Basston Cisis und Fortgang  zum Ais (Gegenbewegung zur Oberstimme) bewahrt und gesteigert wird (als Basis eines Dominantseptimakkords). So dass die Entspannung in der Grundkadenz des Taktes 11 von perfekter Wirkung ist!

NB: Das Doppelkreuz (Cisis) gab es in der Bach-Zeit noch nicht: da das Vorzeichen für Cis ohnehin in die Gruppe der Vorzeichen am Anfang der Zeile eingeschlossen ist, wird es durch ein direkt vor die Note gesetztes Kreuz noch einmal erhöht, – so verstanden ist ein Zeichen für Doppelkreuz eben nicht unbedingt nötig.

Wegen der komplexen Bearbeitungsgeschichte des Stückes lasse ich hier eine Seite aus dem Buch von Alfred Dürr folgen, das ich ohnehin jedem Clavieristen wärmstens empfehlen kann. In diesem Fall gibt es auch Einblick in eine typische Urtext-Problematik und ist sprachlich nicht unbedingt leichte Kost:

Dürr Praeludium in Fis

Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter 1998 ISBN 3-7618-1229-9

Ich lasse es bei dieser imperfekten Auflösung. Das Leben geht weiter. Und ich gestehe: in Zukunft spiele ich den Takt 10 manchmal so, dass ich das tiefe Eis einem höheren Eis als Vorschlag vorangehen lasse und dann in Oktaven weiterspiele (Eis – Dis – Cisis – Ais), auch den ganzen Takt 11, und erst ab Takt 12 wieder original. Ich mache die Schwäche zur Stärke! Und wenn Sie dann aus symmetrischen Gründen auch den Bass der beiden Schlusstakte in Oktaven spielen wollen: ich weiß von nichts…

Das absolute Solo

Telemann 36 + 12 Fantasias neu

Ich finde, kein Instrument für sich allein klingt einsamer und rührender als die beseelte Blockflöte, während ich aus Kinderzeiten noch ihren unsäglich dürftigen Klang im Ohr zu haben glaube. Zweifellos habe ich so angefangen und dabei begonnen, von einer Geige zu träumen, die ich später auch bekam: eine gut lackierte, nach Kolophonium duftende, ganz kleine Geige. (Mein Opa, der die ersten Klangerzeugungsversuche miterleben durfte, urteilte: Wie eine Katze, der man auf den Schwanz tritt. Über die Blockflöte hat er nichts gesagt. Vielleicht erinnerte sie ihn an sein altes, von Mäusen angenagtes Harmonium, da gab es immerhin einen Registerknopf, auf dem stand: Vox humana.) Und die ersten Violinstücke, die mich wirklich begeisterten, kamen ein zwei Jahre später: die Sonatinen von Telemann. (S.a. hier) Aber die wahre Stunde der Blockflöte, treffender Flauto dolce genannt, schlägt erst dem, der Bachs Actus tragicus gehört hat. Und dies lebenslang. Und ich bin sicher nicht der einzige, der diese Sonatina auch in seiner letzten Stunde hören möchte. (Musik hier).

Adornos spöttisches Wort „Sie sagen Bach und meinen Telemann“ (Kritik des Musikanten 1957) wird heute niemand wiederholen, der Bachs Solissimo-Werke für Geige, Cello und – Flöte wirklich kennt. Und nicht nur die „Chaconne“. Georg Philipp Telemann ist auch unter diesem Aspekt ein bewundernswertes Genie. Man muss ihn nur hören! Und zwar so wie hier und heute!

Telemann Fantasias CD Cover bitte anklicken

Telemann Sato *  *  * Website Shunske Sato hier

Coolen Fantasias CD *  *  * Website Saskia Coolen hier

Zipperling Fantasias CD *  *  * s.a. Camerata Köln hier

In alle Einzeltitel der 3 CDs reinhören (über Saturn) reinhören hier

Eine schöne Erfahrung übrigens: eine Trio-Sonate ohne Continuo (Cembalo) zu hören, mit den „nackten“ Solisten, die man nach all den Solissimo-Stücken jetzt unwillkürlich als drei Individuen hört, nicht so sehr als Teil eines mächtigen Klangkontinuums.

Themenwechsel

ZDF Aspekte Oberlinger Screenshot Screenshot JR ZDF 27. Okt. 2017

Dorothee Oberlinger in der ZDF-Sendung Aspekte HIER ab 35:42

Oberlinger Telemann  * * *  Website Oberlinger hierOberlinger Cover Inhalt *  *  *  CD 2013 Hineinhören hier

Dorothee Oberlinger über die Telemann-Fantasien (Booklettext)

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Text ©Dorothee Oberlinger (Wiedergabe hier mit freundlicher Erlaubnis) Foto: Johannes Ritter

Übrigens würde ich empfehlen, die Fantasien ganz dicht an diesem schönen und informativen Booklet-Text entlang zu hören. Man nimmt einfach wesentlich mehr wahr, als wenn man die CD auflegt und sich – mit etwas anderem beschäftigt! Eine banale Ermahnung vielleicht, aber angesichts des grassierenden Hörverhaltens vielleicht auch nicht ganz überflüssig. Der Lautstärke-Rahmen ist deutlich reduziert (verglichen mit anderen Kammermusikwerken), die Musik stört nicht, sie stört zu wenig, anders als, sagen wir, eine Klaviersonate von Beethoven, die uns – wenn wir sie auf Hörbarkeit der leisesten Passagen einstellen -, im Fortissimo vom Stuhl haut. Auch wenn Sie fließend Noten lesen können, würden Sie es bei Telemann (oder „Alter Musik“ überhaupt) nicht mit einem flüchtigen Blick erfassen, was darin vor sich geht: Sie sehen in Fantasia 1 einen gehaltenen Ton und eine gleichmäßige Kette schneller Notenwerte, die Tempobezeichnung Vivace sagt auch nicht expressis verbis, ob es im Laufe der ersten Seite irgendwelche Charakterveränderungen gibt. Aber hören Sie nur, was in der Wiedergabe geschieht. Mit Recht! (Und davon hatte man zu Adornos Lebzeiten noch keinen blassen Schimmer: diese Musik lebt!)

Telemann Fantasia I aus: Fantasia 1

Aus dem Text von Dorothee Oberlinger (Notenbeispiele + Ergänzung JR):

Die erste Fantasie eröffnet die Sammlung z.B. mit einem offenen A-Dur, zu dessen Wirkung Quantz 1752 schreibt: „(…) um so wohl den Affect der Liebe, Zärtlichkeit, Schmeicheley, Traurigkeit, auch wohl, wenn der Componist ein Stück darnach einzurichten weis, eine wütende Gemüthsbewegung, als die Verwegenheit, Raserey, und Verzweiflung, desto lebhafter auszudrücken: wozu gewisse Tonarten, als: E moll, C moll, F moll, Es dur, H moll, A dur, und E dur, ein Vieles beytragen können.“ 

Tatsächlich: Gleich in die erste Fantasie hat Telemann Affekte wie Liebe, Zärtlichkeit, Schmeichelei und Traurigkeit, aber auch Verwegenheit, Raserei und Verzweiflung hineingelegt. So als hätte er mit der ersten Fantasie eine Art Überschrift komponieren wollen, die besagt: Und seht, so ist das Leben … . Und wenn eine Art „Ramage“ [Gezwitscher] mit der Imitation eines Vogelschlags die Sammlung beschließt, wird es arkadisch versöhnlich. Dann ist es, als sänge die Nachtigall an Orpheus Grab.

Telemann Fantasia XIIaus: Fantasia 12

Nach dem Kommentar zur zweiten Fantasia:

Telemann wählt für viele der 12 Fantasien die im Spätbarock gebräuchliche Form der Kirchen- oder Kammersonate, die er dann frei auslegt. So ist z.B. die zweite Fantasie in der viersätzigen Form einer Sonata da chiesa geschrieben. Sie beginnt mit einem ernsthaften Grave, dessen Sechzehntelakkordbrechungen wie „Ausbruchsversuche“ aus einer aussichtslosen Situation wirken. Nach einem fugierten Vivace, dessen eingeworfene widerborstige Oktavsprünge wieder die Ordnung zu zerstören drohen, folgt ein cantables eher empfindsam-galantes Adagio, [schließlich ein Allegro,] zu dem man sich einen imaginären repetierenden Trommelbass „dazuhört“. Dieser Satz ähnelt übrigens auffällig dem 3. Satz der Oboensonate in a-Moll TWV 41:a3 aus Telemanns getreuem „Music-Meister“.

Telemann Oboensonate in a Oboensonate TWV 41:a3

Am Ende steht eine als „Allegro“ bezeichnete Bourée anglaise im 2/4-Takt, vom flüchtigen Charakter her ähnlich der beschließenden Bour[r]ée in J.S. Bachs solo pour la flûte traversière. Auch nutzt Telemann die später gebräuchliche, von Satz zu Satz schneller werdende dreisätzige Stretta-Form der Sonate, wie wir sie z.B. in C.P.E. Bachs Solosonate in a-Moll Wq 132 für Flöte antreffen.

Korrektur zu Adorno (JR)

Der oben aus dem Gedächtnis zitierte Ausspruch Adornos „Sie sagen Bach und meinen Telemann“ steht nicht in seiner „Kritik des Musikanten“, sondern in seiner früheren Schrift „Bach gegen seine Liebhaber verteidigt“ (1951). Im Zusammenhang lautet das Zitat folgendermaßen:

Sie sagen Bach, meinen Telemann und sind heimlich eines Sinnes mit jener Regression des musikalischen Bewußtseins, die ohnehin unter dem Druck der Kulturindustrie droht.

Quellen Theodor W. Adorno: Prismen / Kulturkritik und Gesellschaft / dtv 1963 (Seite 145) innerhalb aus des Essays „Bach gegen seine Liebhaber verteidigt“, geschrieben 1951 für ‚Merkur‘.

Aus der „Kritik des Musikanten“ hätte ich aber auch noch ein schönes Zitat:

Man braucht nur den zugleich nüchternen und läppischen Klang einer Blockflöte zu hören und dann den einer wirklichen: die Blockflöte ist der schmählichste Tod des erneut stets sterbenden Pan. (Seite 78)

Aus „Zur Musikpädagogik“:

Man kann sich gut vorstellen, daß heute Violin- oder Klavierschüler neidischen Blicks nach den Kameraden mit der Blockflöte oder der Ziehharmonika schielen. Ihnen wäre an Beispielen zu demonstrieren, was mit den primitiven Instrumenten sich nicht darstellen läßt, und wozu es der Geige, des Klaviers, des Cellos bedarf. (…)

Gerade der Fanatismus, mit dem die Adepten von Blockflöte und Harmonika an ihre Werkzeuge sich klammern, ist reaktiv, Ausdruck von Trotz, der vom Ich bereits angekurbelte Wille, das höher Entwickelte, das ihnen offen wäre und von dessen Existenz sie unbewußt recht wohl wissen, sich abzuschneiden: „Ich will ja gar kein Mensch sein.“ (Seite 114)

Quelle Theodor W. Adorno: Dissonanzen / Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1957

Für meine Geschichte war Adorno („Philosophie der Neuen Musik“) von eminenter Bedeutung, was mich nicht hinderte, sein Strawinsky-Verdikt zu ignorieren, seine Haltung zu „exterritorialen“ Kulturen, zum Jazz sowie zur „Musik auf Originalinstrumenten“ indiskutabel zu finden. Man muss ihm zugutehalten, dass die Entdeckungen im Bereich der „historisch informierten Musikpraxis“ sich erst nach seinem Tod (1969) als wirklich bahnbrechend erwiesen. – Übrigens: NIE habe ich in meiner frühen Schulzeit neidischen Blicks nach den Kameraden mit Blockflöte oder Ziehharmonika geschielt. Aber die mit Gitarrenkasten waren – nach heutigen Begriffen – „cooler“ als ich. (JR)

Mit Polonaise in Telemanns lebendige Gegenwart

Dorothee Oberlinger  HIER 

Spohr üben!

Hören und sehen, aber auch verstehen

Louis Spohr, Leben und Werk bei Wikipedia hier

„Das Kind zeigte früh sein musikalisches Talent, so dass es schon im fünften Lebensjahr gelegentlich in den musikalischen Abendunterhaltungen der Familie mit seiner Mutter Duette singen konnte.“ Wiki

Was das Notenbild auf Anhieb zeigt, ist die absolute Gleichbehandlung der beiden Spieler. Dieses Prinzip wird von Anfang bis Ende und in allen Sätzen gleichermaßen durchgehalten. Kein Lehrer-Schüler-Verhältnis, sondern partnerschaftlich gedacht, was das Zusammenspiel von A -Z erfreulich macht. Wobei das Wort „partnerschaftlich“ auch in die Irre leiten kann, als gehe es um biederste Hausmusik: Aspekte von Widerstreit, Überbietung, Wettbewerb gehören dazu, weil es eben zwei Spieler sind. Man denke an spielende Katzen, vielleicht sogar – mit einer gewissen Selbstironie – an junge Tigerkatzen… Man sollte übrigens hemmungslos Bilder zur Selbstsuggestion benutzen, die für Außenstehende absurd scheinen: es geht sie nichts an.

Spohr op 39 Detail Viol I Spohr op 39 Detail Viol II

VIOLINO PRIMO                                                        VIOLINO SECONDO

(Für Probe 9. November) Fortsetzung folgt…

Etwa so (zur Form-Übersicht), die Zeitangaben beziehen sich aufs Video:

Exposition 0:00 Hauptthema

1:12 Zweites Thema F-dur bis 1:49

1:49 Schlussphase (freies Spiel der Kräfte)

2:27 Abgesang (Ausklang) bis 2:57

Wiederholung ab 2:59 bis 5:57

Durchführung (25 sec) unmittelbar übergehend in

6:24 Reprise (doppeltes Tempo? wo ansetzen? 6:32 f-moll, g-moll, 6:34 d-moll, Sprung in kapriziöse tr-Stelle) das ist der Clou: die im Bereich des Hauptthemas verkürzte Reprise entsteht unvermerkt aus dessen Verarbeitung.

6:57 Zweites Thema D-dur bis 7:35

7:35 Schlussphase

8:14 Abgesang (Ausklang) ab 8:44 erweitert durch Wdhlg., rit. und accel.

Ende 9:10

Die Besonderheit der Zweistimmigkeit / „Zweigeigigkeit“… vollkommener Ausgleich, dabei so beweglich und in beiden Stimme durchgearbeitet, dass keinesfalls ein Bass fehlt.

*  *  *

Rein technisch gibt es keine Schwierigkeiten, sobald man die Noten in den Fingern und die Sechzehntel-Stricharten gut im Bogen hat. Aber dann kommen plötzlich Takte, die (im Tempo!) ans Unspielbare grenzen, – vielleicht auch nur, wenn die Finger nicht mehr ganz jung sind: man muss es üben, als wenn man mit diesen Stellen ins Probespiel eines Spitzenorchesters gehen will:

Spohr schwer a 1.Zeile, 2.Takt / 2.Zeile, 2.Takt ZEITLUPE!

Spohr schwer b 2.Zeile, 2.Takt + 5.Takt 20mal wiederholt!

Man könnte ein minutiöses Protokoll für jeden Finger, jedes Fingergelenk erstellen, man tut es unwillkürlich im Kopf (real aufschreiben kompliziert nur die Sache psychologisch). Man nehme nur die ersten beiden Sechzehntelterzen im letzten Beispiel (vor Buchstabe H): der 4. Finger will im Sprung aus der 1. Lage getroffen sein, er ist Oberstimme, jedoch vom Bogen her auf der tieferen Saite (A-Saite) erzeugt, er muss so rund oder „spitz“ aufgesetzt sein, dass er keinesfalls die leere E-Saite behelligt. Auf dieser muss dann jedoch – für die nachfolgende Terz fis/a – der erste Finger sehr steil aufgesetzt werden, was vielleicht (altersbedingt) einen Extra-Impuls verlangt, der allerdings sehr präzise erfolgen muss, nicht pauschal die folgenden Griffe beeinträchtigen darf, da hier wiederum der vierte Finger mit seinem g sehr eng an das fis des dritten Fingers gesetzt werden muss. Wobei wiederum die Terz über diesem g mit einem „steilen“ 2. Finger gegriffen wird, dessen Nagel – nebenbei – so kurz sein muss, dass er beim Aufsetzen nicht die Saite berührt.  Zudem muss die Grifffolge so eingeübt werden, dass sie genau so im schnellen Tempo funktionieren wird, nicht nur im Übetempo. Also keine unnützen Mikroverschiebungen üben, es muss ja in einem einzigen „Blitzgriff“ gelingen.

Dies also wäre ein knappes Protokoll für drei Sechzehntel. Ein langer Schreib- und Leseprozess, – nach dem Übeprozess ein winziges, jederzeit abrufbares x in Gehirnschrift… Es macht Spaß, sich selbst bei diesem Prozess und dem späteren Abrufen zu beobachten, so, als sei man ein anderer.

Ich schreibe das nicht nur; ich weiß wovon ich rede. Es muss ja nicht alles leicht gehen (wie bei den oben erwähnten Tigerkatzen). Es sollte nur so aussehen und sich so anfühlen.

Mystisches Hören?

Nichts für Zweifler

HÖREN Farmer Zitat

Quelle Musikgeschichte in Bildern Band III: Musik des Mittelalters und der Renaissance / Lieferung 2 / Henry George Farmer: ISLAM VEB Deutscher Verlag für Musik Leipzig / ohne Jahr (JR Juni 1967 nach der Orient-Tournee + Wechsel der Studienrichtung). Zitat aus Einleitung Seite 8.

Ich habe in frühen WDR-Sendungen häufig daraus zitiert (z.B. ab „Wir Europäer“), um anzudeuten, dass orientalische Musik eines besonderen Hörens bedarf. Eine gute Ermahnung zweifellos, aber zugleich eine, die zu einer völlig falschen Hörerwartung führen kann (indem sie den Verstand auszuschalten sucht). Das wusste ich auch damals schon, aber ich dachte, es kann nicht schaden darauf hinzuweisen, dass man fremder Musik keinesfalls mit einem Spontan-Urteil begegnen sollte. Im Grunde habe ich vor allem an Geduld, Gewöhnung und Wiederholung (Übung) geglaubt. Mit anderen Worten: an kulturelle Prägung. Nicht mystische Einweihung oder Erleuchtung. Und erst recht keine Trunkenheit. Aber was nur soll denn das sein (im gedruckten Zitat): Musik per se ???

Was fällt Ihnen zu dem Thema ein – innerhalb unserer Kultur? Vielleicht das berühmte Miserere von Gregorio Allegri.

Eine Zwischenfrage also: macht Sie das folgende Video (samt Audio-Anteil) frömmer … oder musikalischer? Oder beides? Oder beides nicht?

Stichworte:

Suggestion des Raumes und des Lichtes (Vorstoß in höchste Höhen, räumliche Entsprechungen, Koordinaten), mittleres Predigerparlando, Wiederholungen, Erfahrungen des Christentums, Hoch und Tief, Irdische und Himmlische Musik, Ek-stase, Bachs „Musik für die Himmelsburg“… Mozarts, Mendelssohns frühe Begegnung mit dem Miserere von Allegri, Entzauberung = Entschlüsselung der Harmoniefortschreitungen. Mysterium der Geheimhaltung.

Kürzlich erhielt ich eine Mail von Peter Pannke , in der sich der Indien- und Sufi-Kenner kritisch zu einem Blogartikel äußerte und zur Erläuterung ein Gespräch beifügte, das Hinweise zum Musikhören enthält. Zu meiner Überraschung begegnete ich hier auch dem Mystiker wieder, den ich aus  Henry George Farmer’s oben wiedergegebenem Islam-Text kannte: Al-Hujwiri.

ZITAT

Wie weit ist es den außerhalb der Sufi-Tradition Lebenden und mit ihren Inhalten nur wenig oder gar nicht Vertrauten überhaupt möglich, diese Musik und Gesänge „richtig“ hören?

PANNKE: Es geht immer um kulturelle Muster, Hörgewohnheiten und Hörerziehung. Je mehr man durch ständiges Hören mit einer Musik vertraut wird, desto mehr kann man entschlüsseln. Ich habe häufig indische oder pakistanische Musiker zu Gast und gehe mit denen auch in die Philharmonie oder zu Pop-Konzerten und bin jedesmal überrascht, was sie dabei wahrnehmen oder wie sie das entschlüsseln. Es gibt eine Ebene von Hören, die kulturell und lernbedingt ist. Aber gleichzeitig besteht noch eine andere Ebene. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass es innerhalb jeder Kultur Menschen gibt, die einen spontanen Zugang haben zu dieser Musik und sie entschlüsseln können, also die kalligrafische Bewegung der Töne in einem dreidimensionalen Raum wahrnehmen. Anderen gelingt das nicht. Sie hören nur eine Monotonie. Dieser Unterschied ist nicht kulturell bedingt, sondern hängt vom Einzelnen ab.

Als Europäer sollte man in Erwägung ziehen, dass es Formen der Vermittlung von Traditionen, von Wissen, von Erkenntnis gibt, die anders sind, als die ihm vertrauten und die eben durch das Hören funktionieren. Wenn mir in Europa jemand eine Geschichte erzählt, stelle ich dabei einen qualitativen Unterschied fest zu dem Empfinden, wenn mir in Pakistan ein Musiker eine Geschichte erzählt, die er wirklich glaubt und die er auch so erzählt, als ob er sie selbst erlebt hätte und in der er lebt und die deshalb eine andere Form von Energie vermittelt. Man spürt das existenzielle Interesse. Die Kommunikation ist in der pakistanischen Kultur, wo Literatur immer als etwas Klingendes betrachtet wird, viel mehr auditiv als in unserer. So ist es zum Beispiel bei uns kaum mehr üblich, Gedichte zu lernen und zu rezitieren. Aber indem wir diese Fähigkeit nicht mehr entwickeln, verlieren wir auch einen gewissen kulturellen Zugang. In Pakistan sind die Texte von Shah Latif ein lebendiges Gut, das die Menschen jederzeit abrufbar haben.

Würden Sie sagen, dass das Hören in der östlichen Kultur generell einen höheren Stellenwert besitzt als in der westlichen?

PANNKE: Es war für mich eine sehr interessante Erfahrung, mich mit dem Phänomen des Hörens und der Einsicht, wie man durch Hören zu Erkenntnis kommt, innerhalb der islamischen Kultur auseinanderzusetzen. Ich machte dabei eine ganz ungewöhnliche Entdeckung. Ali al-Hujwiri, der Stadtheilige von Lahore, dem ein gigantischer Schrein gewidmet ist, den jährlich Millionen Besucher aufsuchen, schrieb ein Buch mit dem Titel „Kashf-al-Mahjub“. Dieses Buch wird in der Literatur häufig zitiert, weil Hujwiri darin viele Details erläutert wie etwa die Bedeutung der Flicken auf dem Derwischgewand und Ähnliches. Unter anderem wird Hujwiri mit der Aussage zitiert, dass es keine Etymologie für das Wort Sufismus gibt. Schlägt man nämlich irgendein Buch über den Sufismus auf, kommt man bereits nach wenigen Seiten an eine Stelle, wo es heißt, Suf bedeute Wolle, das verweise auf das Gewand der Asketen und daher stamme der Begriff Sufismus. Diese Erklärung existierte bereits im 12. Jahrhundert und Hujwiri kritisiert diesen etymologischen Ansatz. Seiner Darstellung zufolge liegt der Ursprung des Begriffs vielmehr auf klanglichem Gebiet. Entscheidend ist also die Klangzusammenstellung des Wortes Suf und nicht seine Bedeutung.

Diese Aussage weckte mein Interesse und so ließ ich mir das Buch über Fernleihe kommen. Es gibt in Deutschland nur ein einziges Exemplar, eine Übersetzung von Nickelsen, die 1923 erschien. Als ich das Buch in Händen hatte, stellte ich fest, dass es vor mir noch niemand gelesen hatte. Die Seiten waren nicht einmal aufgeschnitten. Ich stellte aber auch fest, dass es eines der faszinierendsten Bücher ist, die ich je gelesen habe. Die ursprüngliche Fassung ist in Persisch geschrieben, in einer sehr verschlüsselten Sprache mit vielen Bedeutungsebenen. Offensichtlich geht es um die Vermittlung eines Codes innerhalb eines Ordens. Im Schlusskapitel setzt Hujwiri sich mit dem Erlebnis des Hörens auseinander. Er erörtert das gemeinsame Hören von Tönen als spirituelles Erlebnis der Sufi-Zusammenkunft. Aus dem Indischen kenne ich die ungeheuer komplexe Philosophie über die Entstehung von Gedanken und Sprache durch Hören. Aber ich wusste nicht, dass es eine Entsprechung im islamischen Bereich gibt. Genau wie die Inder klassifiziert Hujwiri das Hören als höchste Sinneserfahrung. Sein Buch ist für mich ein zentraler Text der Menschheitsgeschichte, der eigentlich in jedem philosophischen Seminar gelesen werden sollte. Aber leider kennt ihn niemand.

Quelle privat, ©Peter Pannke

*  * *

Als ich dieses Interview las, schien es mir zunächst wie eine Bestätigung meiner schlichten These von der kulturellen Prägung des Hörens. Um so mehr interessierte es mich, als es dann in eine andere, subjektiv orientierte Richtung weiterging:

 Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass es innerhalb jeder Kultur Menschen gibt, die einen spontanen Zugang haben zu dieser Musik und sie entschlüsseln können, also die kalligrafische Bewegung der Töne in einem dreidimensionalen Raum wahrnehmen. Anderen gelingt das nicht. Sie hören nur eine Monotonie. Dieser Unterschied ist nicht kulturell bedingt, sondern hängt vom Einzelnen ab.

Um welche Musik es sich handelt, wird nicht weiter spezifiziert. Die interkulturellen Begegnungen finden in der Philharmonie statt, oder (!) es sind Popkonzerte. Handelt es sich „in der Philharmonie“ um differenzierte Werke der klassischen westlichen Geschichte? Ein Sinfonie-Konzert zum Beispiel? Auf der einen Seite indische (oder pakistanische) Musiker, die keine Erfahrung mit dem Hören westlicher Klassik haben, auf der anderen Seite – ein typisches Werk dieser Tradition, nehme ich an – sagen wir: die vierte Sinfonie von Brahms, und schon möchte ich schwören: es gibt keinen spontanen Zugang, keine „Entschlüsselung“ durch den fremden Rezipienten. Unmöglich. Könnte es sich nicht um eine allzu euphemistisch projizierte Deutung von Seiten des „Versuchsleiters“ handeln? Zumal schon etwas wolkig von einer kalligrafische[n] Bewegung der Töne in einem dreidimensionalen Raum statt von einem komplexen Musikwerk die Rede ist. Man verzeihe mir, wenn ich gerade von einem erfahrenen Wanderer zwischen den Welten detailliertere Beschreibungen seiner Erfahrungen und Beobachtungen erhoffe.

Im Fall eines Popkonzertes könnte man die Äußerungen, sofern sie sprachlich eindeutig sind, wahrscheinlich positiver einordnen: da gibt es vom Gestischen über den Rhythmus bis zu formal auffälligen Momenten der Musik (Refrains) zahlreiche überkulturell identifizierbare und deutbare Eigenheiten. Zumal die harmonischen Eigenarten der Popmusik – verglichen mit Klassik – zumeist klischeehafter in Erscheinung treten und selten bedeutungstragend sind.

Über das Hören jedoch, das Hudjwiri in seinem Buch offenbar zum Thema macht, kann ich mir kein Urteil erlauben. Ich würde zumindest unterscheiden wollen, ob es sich um Einzeltöne als akustische Erscheinung (von außen) handelt oder ob man sie selbst hervorbringt, vielleicht sogar mit eigenen Körperbewegungen verbindet. Wiederum anders läge der Fall, wenn (s.o.) „das gemeinsame Hören von Tönen als spirituelles Erlebnis der Sufi-Zusammenkunft“ gemeint ist. Daran ist vermutlich fast alles in langen Jahren eingeübt und aufeinander abgestimmt!

Das Hören im westlichen Konzertsaal, in einer gleichgestimmten (?) Gemeinschaft, ist ja ebenfalls eine mit den gesellschaftlichen Konventionen eingeübte Erfahrung, aber wiederum eine andere als etwa das einsame (?) Musikhören mit Kopfhörern, zuhaus in einem stillen Zimmer, nicht unbedingt „völlig losgelöst“, aber vielleicht im verschärften Elitebewusstsein, – wie auch der Eremit. Und all dies ist vorgeprägt durch Erziehung, fremde Einwirkung, durch erworbene oder durch teilweise bzw. weitgehend selbstgesteuerte, ja: erarbeitete Rahmenbedingungen.

So auch die ebenfalls westliche Hörweise, die im nachfolgenden Zeitungsartikel (heute, 6. November) zum Ausdruck kommt. Sie hat mit einer restriktiven Popmusik-Sozialisierung zu tun – die klassischen Erfahrungen fehlen, trotz der studienbedingten Fähigkeit, sie zu etikettieren, – was ich schon aus Fairnessgründen unkommentiert lassen möchte. Hat also wiederum mit einem Gemeinschaftsgefühl zu tun, mit dem jugendlichen Bewusstsein, einer Neuen Welt anzugehören und die klassische Welt mit einem sterilen Akademismus gleichzusetzen, also: auszuschließen. Verständlich die nicht weiter reflektierte Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen, „in der tobenden Menge eines Rockkonzerts“ abzugehen. Es geht überall ums Leben.

Rheinische Post Klassik bzw Gegw a

Bachs Chaconne als Capricio

Bitte nicht aufführen!

Kürzlich erinnerte ich mich an eine kleine Arbeit, die mitsamt meinem ganzen Blog der ersten Jahre (bis 2014) verloren gegangen ist. Aber wenigstens das gescannte Material ist noch irgendwo gespeichert, und dazu gehört diese Kurzfassung der Bachschen „Ciaconna“ in meiner Abschrift. Und das „Original“, das jetzt als erstes folgt, steht in meiner Notensammlung, ein Faksimile der Handschrift von Pietro Nardini, der daraus eins seiner (?) 60 Caprici gemacht hat. Ich habe den Notenband, eine solide gebundene Kopie, vor vielen Jahren von Reinhard Goebel geschenkt bekommen. In meiner Abschrift ist kenntlich gemacht, inwiefern Nardini sich auf Bach bezieht; er hat den Namen nicht drübergeschrieben, auch auf das eigentliche Thema verzichtet; vielleicht war ihm klar, dass es sich um eine böse Verstümmelung der Vorlage handelt. Ob es ihm trotzdem gelang, auch hier seine hohe praktische Kunst zu beweisen, von der u.a. Friedrich Daniel Schubart berichtete? „…die Zärtlichkeit seines Vortrags läßt sich unmöglich beschreiben: jedes Comma scheint eine Liebeserklärung zu seyn. Man hat eiskalte Fürsten und Hofdamen weinen gesehen, wenn er ein Adagio spielte“…

Nardini Nardini-Original

Abschrift Jan Reichow (etwa 2013)

Bach-Nardini 1a

Bach-Nardini 2a

Bach-Nardini 3a

Im 1. Band der Geschichte des Violinspiels von Andreas Moser (verbessert und ergänzt durch Hans-Joachim Nösselt) Verlag Schneider Tutzing 1966 findet sich ein interessanter Hinweis auf die Bach-Kenntnis Nardinis und auch auf diese Caprici, in Anmerkung 295 sogar ein Hinweis auf die Teilveröffentlichung durch Andreas Moser 1925 in Berlin, selbst auf das Manuskript, das in der Staatsbibliothek Berlin-West vorliege, Mus.ms. 15861, – und es ist das gleiche, das mir hier in Kopie zur Verfügung steht. Aber kein Wort zu diesem kuriosen Capricio trotz des offensichtlichen Bach-Bezuges. Sollte es den Autoren dank des Un-Bachischen Anfangs gar nicht aufgefallen sein? Dann hätte sich Nardinis Täuschungsmanöver (?) doch gelohnt, so schmerzlich auch der Verzicht auf das gewaltige Thema gewesen sein muss.

Nardini Moser 1   Nardini Moser 2

Überraschung:

Nardini Moser Ausgabe Screenshot 2017-11-04 Nardini Screenshot 2017-11-04

ZITAT aus der VORBEMERKUNG: „Auch daß einmal eine kurze Paraphrase von Bachs Ciacona mit unterläuft, erklärt sich aus Nardinis vieljähriger Konzertmeisterttätigkeit in Deutschland wie von selbst.“

* * *

Eine wunderbare Ergänzung von Peter Wollny:  Hinweis auf die Äußerung von C. P. E. Bach (Brief an Forkel, Ende 1774): „Einer der größten Geiger sagte mir einmahl, daß er nichts vollkommneres, um ein guter Geiger zu werden, gesehen hätte u. nichts beßeres den Lehrbegierigen anrathen könnte, als obengenannte Violinsoli ohne Baß.“

Zitat MGG (2004) Nardini (Christine Siegert): „Nach langjähriger Unterrichts- und Konzerttätigkeit, die ihn 1760 nach Wien und Dresden führte, wurde Nardini 1763 zunächst Kammervirtuose, dann Konzertmeister am Stuttgarter Hof während der Periode der musiktheatralischen Experimente von N. Jomelli und J.G. Noverte. Er hielt sich kurz in Braunschweig auf und kehrte 1766 in seine Heimatstadt [Florenz] zurück.“

Übrigens schrieb Moser in seiner Vorbemerkung (s.o.) von „vieljähriger Konzertmeistertätigkeit in Deutschland“, nicht nur „vierjähriger“, wie jetzt zu vermuten wäre…

Erst 1768 zog C.Ph.E. Bach von Berlin nach Hamburg; es wäre 1760 für ihn nicht undenkbar gewesen, Nardini in Dresden zu treffen.

*  *  *

Dank an Reinhard Goebel für das Geschenk von einst. 

NACHTRAG 11.03.2018

Aus der gleichen Quelle (RG) kam im Dezember vergangenen Jahres die folgende Kopie, die nun wirklich Weiteres zu denken gibt:

Stamitz Bach 1 Stamitz 2

Sehr schön geschrieben, – aber von wem? Das Titelblatt der Sammlung folgt hier:

Stamitz Titelblatt Stamitz Signatur

Mallarmé in Musik

Ein Gedicht lesen und hören

Dieser Artikel dient aktuell der Vorbereitung auf ein Konzert mit Christian Gerhaher am 15. November 2017 in der Tonhalle Düsseldorf.

Mallarmé Soupir

Quelle Stephane Mallarmé: Sämtliche Gedichte / Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1984 (Verlag Lambert Schneider Heidelberg) Übersetzung: Carl Fischer.

Das folgende Youtube-Beispiel beginnt mit „Soupir“! Falls extern gewünscht, s.u.!

Obiges Video im externen Fenster (zum Mitlesen der Musik unten): HIER

Debussy Soupir a

Soupir

Mon âme vers ton front où rêve, ô calme sœur,
Un automne jonché de taches de rousseur
Et vers le ciel errant de ton œil angélique
Monte, comme dans un jardin mélancolique,
Fidèle, un blanc jet d’eau soupire vers l’Azur!
– Vers l’Azur attendri d’Octobre pâle et pur
Qui mire aux grands bassins sa langueur infinie
Et laisse, sur l’eau morte où la fauve agonie
Des feuilles erre au vent et creuse un froid sillon,
10 Se traîner le soleil jaune d’un long rayon.

Debussy Soupir b   Debussy Soupir c

Dasselbe Gedicht in der Vertonung durch Maurice Ravel (1913):

Seufzer

Mon âme vers ton front où rêve, ô calme sœur,
Un automne jonché de taches de rousseur
Et vers le ciel errant de ton œil angélique
Monte, comme dans un jardin mélancolique,
Fidèle, un blanc jet d’eau soupire vers l’Azur!
– Vers l’Azur attendri d’Octobre pâle et pur
Qui mire aux grands bassins sa langueur infinie
Et laisse, sur l’eau morte où la fauve agonie
Des feuilles erre au vent et creuse un froid sillon,
Se traîner le soleil jaune d’un long rayon

Zu Deiner Stirn, o stille Schwester, wo verträumt
ein Herbst bestreut mit roten Sommerflecken säumt,
und hin zum Himmel Deiner Engelsaugen hebt
sich schweifend meine Seele, wie ein Strahl aufschwebt
weiß im schwermütigen Park zum Blau, Seufzer der Treue!
– zur zartern, des Oktobers blasser reiner Bläue,
die endlos Schmachten aus dem großen Becken scheint
und auf dem stehnden Wasser, wo vom Wind vereint
todfalbe Blätter eine kalte Furche schneiden,
der gelben Sonne Strahl lang schleppen läßt im Scheiden.

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/gedichte-8032/7 (hier) Übersetzung: Richard von Schaukal / Verlag Karl Alber Freiburg im Breisgau

*  *  *

Die youtube-Aufnahme mit Sandrine Piau (s.o.) weiterlaufen lassen, ab 2:55 folgt:

Placet futile

Placet futile

Belanglose Bittschrift

Princesse! à jalouser le destin d’une Hébé
Qui poind sur cette tasse au baiser de vos lèvres,
J’use mes feux mais n’ai rang discret que d’abbé
Et ne figurerai même nu sur le Sèvres.

Fürstin! Das Schicksal einer Hebe zu beneiden,
die zu der Lippen Kuß auf dieser Tasse steigt,
verbrauch ich meine Glut, doch ist mein Rang bescheiden,
nackt selbst wird ein Abbé auf Sèvres nicht gezeigt.

Comme je ne suis pas ton bichon embarbé,
Ni la pastille ni du rouge, ni jeux mièvres
Et que sur moi je sais ton regard clos tombé,
Blonde dont les coiffeurs divins sont des orfèvres!

Ich kann mich nicht in deinen bärtigen Schoßhund kleiden,
und weil auch Naschwerk, Schminke, Spieltand von mir schweigt,
doch deine Blicke mich geschloßnen Lids nicht meiden,
Du Blonde, der ein Gott als Goldhaarschmied sich neigt:

Nommez nous… toi de qui tant de ris framboisés
Se joignent en troupeau d’agneaux apprivoisés
Chez tous broutant les vœux et bêlant aux délires,

Laß mich… von der so zahlreich himbeerfarbnes Lachen,
zu zahmer Lämmer Trupp vereint, bei allen grast,
in Wünschen weidend, blökend, wann Begierde rast,

Nommez nous… pour qu’Amour ailé d’un éventail
M’y peigne flûte aux doigts endormant ce bercail,
Princesse, nommez nous berger de vos sourires.

laß mich… daß Amor ihn auf seine Fächerschwinge
mal‘, wie er Flöte fingernd es zum Schlafen bringe,
Fürstin, laß mich dein Lächeln als sein Hirt bewachen!

Quelle wie oben / oder hier Übersetzung: Richard von Schaukal / Verlag Karl Alber Freiburg im Breisgau

*  *  *

Französische Perspektive

Ein Blick auf das Sprachvermögen

Ich stelle mir vor, ich hätte kürzlich an einen Freund geschrieben, z.B. an den, der damals mein Interesse an der französischen Sprache beflügelt hat, nachdem er in Freiburg bei Hugo Friedrich zu studieren begonnen hatte, ich (zwei Jahre jünger und noch vor dem Abitur) ihn besuchen und zu einer der Vorlesungen begleiten durfte. Sagen wir so:

Seit 14 Tagen bin ich nun hier [sagen wir: in Concarneau oder – auf Texel], und wenn auch nicht von ausgelassener Fröhlichkeit, so komme ich doch ein wenig zur Ruhe. […] Ich bin weder Christ noch Stoiker. Bald werde ich XX. In diesem Alter fängt man sein Leben nicht neu an, ändert man seine Gewohnheiten nicht. Die Zukunft hat mir nichts Gutes zu bieten, und die Vergangenheit frisst mich auf, und ich denke an die verflossenen Tage und an die Menschen, die nicht wiederkommen. Ein Zeichen von Alter und Verfall.

Liebe Leserin, lieber Leser: setzen Sie doch in diesen Brief bei XX Ihr eigenes Alter ein. Könnten Sie ihn geschrieben haben? Und stellen Sie sich vor, dass Sie an einem bedeutenden Kunstwerk arbeiten, von dessen Endzustand Sie jedoch noch wenig wissen. Wie fühlen Sie sich?

Ich bin leider noch nicht alt genug, also außerstande, mir das vorzustellen. Andererseits kann ich nicht beschwören, dass ich jetzt ganz ehrlich bin. (Sie sollen nachdenken, nicht ich!) Ich habe – trotz bester Vorsätze und Anregungen – nicht einmal ordentlich Französisch gelernt. Ich kann es einigermaßen lesen („La musique arabe“), auch praktisch fehlerfrei vor-lesen (Vortrag im Goethe-Institut Algier 19xx), – aber nicht frei sprechen. Gern füge ich hinzu: auch Latein und Griechisch kann ich nicht mehr gut,  und auch früher nicht besonders, würde aber den Namen Menander ähnlich vertraut finden wie den des Mannes, der den obigen Brieftext geschrieben hat.

Und wer war es?

Abu Simbel

Abu Simbel in Ober-Ägypten. Mein Freund, von dem zu Anfang die Rede war, lebt dort, wenn nicht gerade in der Schweiz oder in der Toskana, was keineswegs bedeutet: auf großem Fuße. (Sie müssen nur seinen Namen in das Suchfenster oben rechts eingeben: z.B. „Scheich Hans“.) Auf großem Fuß so wenig wie dieser Mann, der immerhin auf dem Haupt des Ramses steht oder sitzt (falls Sie ihn erkennen):

Gustav Flaubert. In dem oben zitierten Brief, der vom 3. Oktober 1875 stammt, hieß es tatsächlich: „Bald werde ich 54“, – und wenn es uns heute unfassbar scheint, dass man in diesem Alter nichts mehr von der Zukunft erwartet, so muss man doch zur Kenntnis nehmen, dass er recht hatte: er hatte keine 5 Jahre mehr vor sich. Und war im Begriff, sein kleinstes und vielleicht bedeutendstes Werk in Angriff zu nehmen.

Ich rekapituliere gerade dieses Werk, an dem ich in jungen Jahren gestrandet bin. Nicht aus Nostalgie, denn romantisch war es nicht, das eigene Ungenügen zu fühlen und nicht begründen zu können. Ich wollte Zugang zu einer fabelhaften Sprachform finden und ärgerte mich zunehmend am Inhalt, durchaus wahrnehmend, dass gerade diese Texte sich nicht im Ablauf der Geschichten erschöpfen. Besonders unausstehlich die Sage von Sankt Julianus dem Gastfreien, nichts als eine besonders detaillierte christliche Heiligenlegende.

Flaubert 1962 Die Suggestion der Übersichtlichkeit 1962

Flaubert Notiz Die Liste und die Essenz

Ich weiß nicht mehr, welche Bedeutung ich meiner eigenen Notiz auf dem hinteren Deckblatt beimaß, ob es sich vielleicht um eine abschließende Distanzierung handelte: „Flaubert hat allen Dingen gegenüber die gleiche wissenschaftliche Haltung. Dramatische Wendungen (Ereignisse) habe keine suggestiven Entsprechungen im Stil. Sie werden eher abgekühlt, auf Einheitstemperatur gebracht.“ Dann der Hinweis auf den Maler Leibl. Mein Hauptmanko war damals, – in einer Zeit, als es noch kein Internet gab -, dass ich nicht genug über Flaubert wusste, mich sowieso in erster Linie für Proust interessierte, und das Einfachste und Wichtigste unterließ, nämlich das Nachwort zu lesen. Ich wollte an das Original heran, an die Sprache. Und so wurde alles zu schwer, ohne dass ich recht wusste warum. (Und vor allem: ich hatte nicht die Zeit, mir Zeit zu lassen. Im Vordergrund ging es nur um Musik und die ganz normale emotionale Unordnung.) Das Nachwort, das ich heute so schätze – weil eine Rezension der neuen Übersetzung der „Trois Contes“ deren Nachwort und die Hinzufügung des ausgewählten Briefwechsels rühmt – stammte von Walter Boehlich, der – was ich nicht wusste – bei Ernst Robert Curtius studiert hat, von dem ich immerhin schon grundlegende Bücher besaß, z.B. „Französischer Geist im Zwanzigsten Jahrhundert“. Kurz und gut: dies Nachwort mache ich mir heute erst zueigen – 55 Jahre später -, während ich gleichzeitig den neuen Band studiere, die Übersetzung von Elisabeth Edl (ohne den französischen Originaltext, – den ich aber gleichzeitig auf dem Bildschirm vor mir habe).

Flaubert neu Edl-Übersetzung Hanser 2017

***

Aus dem Nachwort von Boehlich, das ich damals offenbar gar nicht gelesen habe, – meine jugendliche Beschränktheit! – zitiere ich jetzt, was ich bei verspätetem Nachsitzen unterstrichen habe:

(…) Man weiß, unter welchen Mühen er arbeitet, mit welcher Sorgfalt er sein Material sammelt, wie oft er streicht, aufgibt, verändert. (…)

„Bis dahin werde ich mich daran begeben, die Legende des Heiligen Julian zu schreiben, nur um mich etwas zu beschäftigen, um zu sehen, ob ich noch einen Satz machen kann, woran ich zweifle…“ [Oktober 1875]

Unleugbar hat die religiöse Thematik eine Rolle dabei gespielt. Nie sonst hat sich Flaubert Fragen des Glaubens so unkritisch genähert; und doch war er nicht gläubig. Aber er war fähig, den Glauben zu schildern, fähig, an der Beruhigung teilzuhaben, der [sic!] von ihm ausgehen kann. (…)

Aber es geht ihm diesmal keineswegs um Religion, schon gar nicht um Erbauung, sondern um Geschichte, um den Punkt, an dem Rom, das Judentum und das Christentum zusammenstoßen, auf der Burg des Herodes Antipas, während eines einzigen Tages. (…) Die Beruhigung schwindet, die Angst, in die Salammbô-Manier zu verfallen, erwacht, die Technik des Stils droht, über das Mitzuteilende zu siegen. (…)

Man hat beobachtet, daß die kleinsten Einheiten bei Flaubert die vollkommensten sind, daß die Komposition des Untergeordneten der Komposition des Übergeordneten regelmäßig überlegen ist. Der Satz ist ehern, der Abschnitt unauflöslich, das Kapitel kunstvoll zusammengeschlossen – das Ganze aber zerfließt leicht. Dieser Gefahr ist Flaubert bei den kurzen, überschaubaren Erzählungen entgangen. jede für sich ist eine Einheit, wie sie gemeinsam wieder eine Einheit bilden, jede für sich ist dreigeteilt, wie sie gemeinsam eine Dreieinigkeit bilden. Das Grundelement des Flaubertschen Stils ist die Triade; wir wissen das seit 40 Jahren. [Durch wen?] Die Gesetze dieses Kunstmittels sind genau erforscht und analysiert worden, und es hat sich gezeigt, daß Flauberts Triade weit eher eine Triade der Variation als eine solche der Analogie ist. Ihre Glieder sind unterschieden durch Länge, durch Tempus, durch Syntax oder auch nur durch Rhythmisierung. In der einfachsten Form sieht das etwa so aus: „Sie trafen sich im Dunkel der Höfe, hinter einer Mauer, unter einem einsamen Baum.“ Oder in dreifacher Variation: „Er ging voran in der Glut der Sonne, unter dem Regen, durch den Sturm, trank das Wasser der Quellen aus seiner Hand, aß im Laufen wilde Äpfel, ruhte sich, wenn er müde war, unter einer Eiche aus; und kehrte mitten in der Nacht zurück, bedeckt von Blut und Schmutz, mit Dornen in den Haaren und den Geruch wilder Tiere verströmend.“ (…)

Immer wieder begegnet man dieser triadischen Gliederung. Dreiteilig ist die Geschichte von Herodias, dreiteilig auch die Legende von Julian, und die fünf Teile von Felicité können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei dem ersten und letzten, die sich schon durch ihren Umfang von den anderen unterscheiden, nur um Einleitung und Abschluß handelt, die die generelle Dreiteiligkeit nicht zerstören.

Flaubert hat dieses Stilprinzip, dem wir im Kleinen in jedem seiner Werke, im Großen vor allem in der ‚Madame Bovary‘ begegnen, nicht erfunden, aber vor ihm hat es die französische Literatur in dieser Vollkommenheit nicht gekannt. Nach ihm ist es in die Weltliteratur eingegangen und hat dreißig Jahre später eine direkte und große Folge gehabt, die am Beginn unserer Moderne steh und diese recht eigentlich eingeleitet hat: die ‚Three Lives‘ der Gertrude Stein.

Quelle Nachwort (Walter Boehlich) zu: Flaubert Trois Contes Drei Erzählungen Fischer Bücherei EC 44 Dezember 1961 (Flaubert-Übersetzung: Ernst Hardt 1904 bzw. 1912, 1913).

Soweit die Rekapitulation der eigenen Versäumnisse, – hatte ich gedacht und finde weitere in dem Buch von Hugo Friedrich, das ich mir bald darauf (11. Nov. 1963) zulegte: Drei Klassiker des französischen Romans / Stendhal – Balzac – Flaubert. Und gerade im Flaubert-Teil fehlt jegliche Lesespur, stattdessen jede Menge roter Unterstreichungen im Balzac, von dem ich nie Buch gelesen habe.

Es hat tiefere Gründe, wenn Flaubert vom modernen zum orientalisch-historischen Thema wechselt. Der Anstoß zu dieser Wahl geht gewiß von seiner Faszinierung durch Exotisches aus, – dafür gibt es hinreichend Belege in der Korrespondenz. Aber erlaubt hat er sich die Verwertung des exotischen Bildes darum, weil in diesem alle Gegenwartssensation ausgetilgt ist, und weil hier der Haß auf die aktuelle Welt schweigt, der den in dieser disziplinierten Kunst gesuchten Akt der Entselbstung und Reinigung erschwert. Das erstrebte Erlöschen des Autors vor dem Gegenstand, das Heraustreten des reinen Seins ist hier in der Tat vollkommener, feierlicher und unheimlicher verwirklicht als in den anderen Romanen. (S.127)

Die in der Sehweise des Fatalismus begründete Technik der unkausalen Situationsabfolge erfordert eine besondere Füllung der Romane mit Tatsachen und Ereignissen, mittels derer der Ablauf vergegenwärtigt wird. Daher die außerordentliche Arbeit Flauberts an der Stoffbeschaffung, die Besessenheit, im „exakten“ Material die Massen zu gewinnen, die das pausenlose , immer neue, vorübertragende Dahinströmen darstellen. (…) Die Stoff-, Szenen- und Situationsanhäufung hat etwas Betäubendes; es gehört zu den bezeichnendsten Wirkungen der Flaubertschen Romane, daß man von ihnen benommen wird wie von einem Narkotikum, – eine Wirkung, die durchaus zur Wirkung des Schicksalsablaufs auf die Gestalten der Romane stimmt. Denn diese Vielzahl ist keine freudige Fülle wie bei Balzac, sondern sie ist die Variation des bloß Erscheinenden, hinter dem die Leere und Geschehnislosigkeit gähnt, die Wiederholung der ewig gleichen Unfruchtbarkeit alles Menschlichen. (S.146 f)

Quelle Hugo Friedrich: Drei Klassiker des französischen Romans / Stendhal – Balzac – Flaubert / Vittorio Klostermann Frankfurt a.M. 1961

(Fortsetzung folgt)