Die griechische Statue

Der Interpret spricht über den Interpreten

ZITAT

Im fünfzehnten der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, nachdem uns gerade versichert wurde, dass das freie ästhetische Spiel Begründer einer neuen Lebenskunst wäre, stellt uns Schiller imaginär vor eine griechische Statue, die als die [N.N.] bekannt ist. Die Göttin, sagt er uns, ist in sich selbst eingeschlossen, untätig, frei von jeder Sorge und jedem Zweck. Weder befiehlt sie, noch widersteht sie. Wir verstehen, dass diese „Abwesenheit von Widerstand“ der Göttin den Widerstand der Statue bestimmt, ihre Äußerlichkeit in Bezug auf die normalen Formen der sinnlichen Erfahrung bestimmt. Weil sie nichts will, weil sie außerhalb der Welt des befehlenden Denkens und Willens steht, weil sie alles in allem „unmenschlich“ ist, deswegen ist die Statue frei und präfiguriert eine Menschheit, die wie sie von den unterdrückenden Bindungen des Willens befreit ist. Weil sie stumm ist, weil sie nicht zu uns spricht und sich nicht für unsere Menschheit interessiert, kann die Statue „dem Ohr der Zukunft“ das Versprechen einer neuen Menschheit „anvertrauen“. Das Paradox des Widerstands ohne Widerstand äußert sich also in seiner ganzen Reinheit. Der Widerstand des Kunstwerks, welches die Göttin darstellt, die nicht widersteht, ruft ein kommendes Volk an. Aber er ruft es in dem Maße an, indem das Werk in seiner Distanz, seiner Entfernung von jedem menschlichen Willen beharrt. Der Widerstand der Statue verspricht den Menschen, die, gleich ihr, aufhörten zu widerstehen, die aufhörten ihr Leid und ihre Klagen zu übersetzen, eine Zukunft.

Quelle Jacques Rancière: Ist Kunst widerständig? Merve Verlag Berlin 2008 (Seite 22 f)

Ich lese mit großer Zustimmung und glaube, die Statue vor meinem inneren Auge zu haben. Ich sehe die Göttin in lässiger Haltung dasitzen, mit seitlich ruhenden Armen, sehe die fließenden Falten ihres Gewandes, ihren Blick – an mir vorbei – auf den Horizont gerichtet.

Alles passt. Aber mein Bild ist falsch. Warum?

(Fortsetzung folgt, ich werde zunächst bei Schiller nachlesen…, dann das von mir eingefügte Kürzel N.N. durch den wahren Namen ersetzen.) Bei Schiller nachlesen? Bitte! (Gutenberg, Spiegel-Texte.)

Und so finde ich die Stelle in meiner wohlfeilen Ausgabe aus dem Jahr 1954, vom Schulgebrauch gezeichnet:

Schiller Juno Ludivisi

Ist es nun eine Statue? Ist es ein „Antlitz“ oder „die ganze Gestalt“? Oder wäre das ganz gleichgültig? Eine „Statue“ ist eine frei stehende Plastik, die einen Menschen oder ein Tier in ganzer Gestalt darstellt, sagt der Duden. Bei der Juno Ludovisi aber handelt es sich nun mal um einen Kopf. Ändert sich dadurch die Argumentation? Siehe auch bei Wikipedia hier, insbesondere dort, wo es Schillers Freund Goethe betrifft.

Und plötzlich spüre ich einen Keim des Misstrauens: was hat es eigentlich mit dem Wort „Menschheit“ auf sich? Ist das denn nicht die Gesamtheit aller Menschen? Aber was soll dann die Differenzierung „unsere Menschheit“? Ist es die der Gegenwart unserer Zeit – im Gegensatz zu der der alten Griechen? Oder geht es darum, dass „unserer Menschheit“ in diesem Fall eine Gottheit gegenübersteht? Ist es das richtige Wort? Was sagt denn der Franzose, wenn er „Menschheit“ unterscheiden möchte von „Menschlichkeit“ oder „Menschentum“? Immer nur „humanité“?

Es ist auch von einer neuen Menschheit, einem kommenden Volk die Rede…

Soll ich abbrechen? Weiterlesen und abwarten, welche Konnotation sich im Gesamttext herausbildet? Das französische Original besorgen? (Ich habe weitergelesen, kursiv gelesen bis zum Schluss.)

Was mich stört: dass der Autor sich unentwegt auf der Ebene der Abstraktion bewegt, die sinnlichen Einzelheiten – wie eben diese „Statue“ – sind nur als Begriffe vorhanden. Wie Meinungsplaketten. Dass er andererseits eine eigene Nomenklatur benutzt, die man nur versteht, wenn man nicht nur ihn, sondern auch die von ihm bevorzugten Autoren kennt (Deleuze, Lyotard, Baudrillard). Er zitiert Voltaire, mehrfach, aber nur mit einem einzigen Satz: „Der Mensch von Geschmack hat andere Augen, andere Ohren, einen anderen Takt als der grobe Mensch.“ Dazu keinen Thorsten Veblen, keinen Nietzsche. Man hat den Verdacht, dass er auch nur den einen Brief von Schiller kennt; erst im Gespräch mit dem Herausgeber wird von diesem die Quelle in „Sämtliche Werke“ angegeben, die Rancière sicherlich nicht benutzt. Es ist ihm egal, ob er vom widerständigen Stein der Pyramiden oder vom Marmor der Statue spricht, die in Wahrheit eine Büste bzw. ein Haupt (mit Hals) ist.

Er benutzt Kennmarken, keine sinnlich angeschauten oder vergegenwärtigten „Rüschen am Kleide“ (Benjamin), – so scheint mir. Mag er auch vom „Käfer im Zimmer Gregor Samsas“ sprechen oder vom Künstler „mit den geröteten Augen“.

Juno bei Goethe

JUNO bei Goethe Quelle: Wikimedia (Ausschnitt)