Nachts am Schreibtisch

Visionen? Nein, Bilder! Und Bilder im Bild!

An der Glastür des Arbeitszimmers: Bilder von Jürgen Giersch (über dem japanischen Farbholzschnitt) das Aquarell „Pferderennen an der Nordsee“ und „Dolomiten: Hütte am Langkofel“.

Siehe auch HIER und weiter.

Oder eine Musik, die ich höre, ohne sie physisch hören zu müssen. Also vor dem inneren Ohr. Man kann auch Bilder dabei betrachten (sie verändert sich). Im externen Fenster. Oder indem man den Musikern, der Musikerin, den Gesichtern, den Bögen, den Fingern bei der intensiven Arbeit, bei dem bloßen Spiel zusieht.

MUSIK

Oder: Eine andere Welt? (Extern.)

Ausführende: Martynas Levickis – accordion, director Mikroorkéstra Chamber Ensemble | St. Catherine’s Church Vilnius 04.01.2019

Jenufa neu!

Die neue ZEIT

da steht es: Seite 48 „Scheiße, was für eine Sackgasse“, nein, ich meine gegen Schluss: „Was in und zwischen ihnen [den Hauptpersonen der „Jenufa“] vorgeht und in dieser Intensität nur die Oper vermitteln kann, das ist eigentlich auch nur in der Oper zu verkraften, als gemeinsames Erleben und Erlebnis. Das teilen sich nun zwar die Künstler (jederzeit on demand abrufbar), wir aber bleiben in unserer asymmetrischen Einsamkeit allein.“

Quelle DIE ZEIT 18. Februar 2021 »Scheiße, was für eine Sackgasse« Zwischen dem „Freischütz“ in München und „Jenufa“ in Berlin: Der Versuch, sich ganz allein zwei Opernpremieren im Livestream anzugucken / Von Volker Hagedorn

Im Livestream? „on demand“? Ja! bis 15. März.

https://www.3sat.de/kultur/musik/jenufa-oper-in-drei-akten-102.html HIER

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Weiteres? Freischütz München HIER (bis 17. März 2021 11.55 Uhr)

Bach von Takt zu Takt

Aber: wo bleibt die Form?

Zu den Einzeichnungen: das Notenexemplar wurde ursprünglich von einer Cellistin gespielt, jetzt übe ich es auf der Bratsche, daher die entsprechenden (farbigen) Fingersätze. Nur beim Üben glaube ich es zu verstehen, und zwar anders als es in der Analyse avisiert ist, die ich seit August 1969 kenne. Sie bezieht sich wohlgemerkt auf die Courante, während ich mich zunächst auf die Allemande konzentrieren will. (Mit dem Prélude habe ich mich schon früher beschäftigt, siehe hier.)

Quelle Diether de la Motte

Über die Courante und nachfolgende Sätze

Quelle Hans Vogt: Johann Sebastian Bachs Kammermusik / Reclam Stuttgart 1981, Seite 191 f

(dies ist nur ein Anfang, der mich verpflichten soll…)

Zunächst herausgegriffen ein Kadenzphänomen:

dasselbe leicht melodisiert:

Vorweg also nur dieses kleine Beispiel, G-dur – G7 – C-dur – D-dur – G-dur, es dient einer oberflächlichen Rückerinnerung an ein Phänomen der klassischen Kadenz, die aber schon viel früher erfunden wurde: um deutlicher ihren Zweck zu erfüllen, über die Dominante zur Tonika zurückzukehren, nimmt sie einen kleinen Umweg, – sie geht nicht einfach über die Subdominante (IV), sondern stärkt diese, indem die vorhergehende Tonika mit Hilfe einer kleinen Septime in einen Dominantseptakkord verwandelt wird (Zwischendominante), der „verschärft“ zur Subdominante strebt, auf die dann die „echte“ Dominante (eventuell ebenfalls ergänzt zum Dominantseptakkord) zwingend folgen kann. – Bei Mozart kennt man das, wenn ein Gedanke gegen Ende des Satzes „abschiednehmend“ wiederkehrt, so im Mittelsatz der „Sonata facile“, wo allerdings auch noch der Ton F mit dem kühneren (tonartfremden) F-dur-Akkord bedacht wird, der vielleicht sogar noch die Chromatik des nächsten Taktes aufrührt.

Für eine Nebenbemerkung ist meine Beschreibung etwas lang geraten; wer es gut versteht, wird sich nicht ärgern. Eigentlich wäre auch, bevor ich fortfahre, noch eine Bemerkung zum „Neapolitaner“ fällig, der in Bachs Allemande in Takt 22 (zu a-moll) auftaucht, ebenfalls in der Courante in Takt 25 (zu e-moll). Aber zunächst ist Zeit, das vorher beschriebene Phänomen dingfest zu machen: wo Bach also einen schon eingeführten Leiteton wieder zurücknimmt, um ihn nachher doch wieder und zwar richtig zu etablieren. Z.B. in der Allemande –  Cis in Takt 10, C in Takt 11 und 12, Cis in Takt 13, C in Takt 14, Cis in Takt 15 und 16. Inkonsequent, nicht wahr? (Im Gegenteil: folgerichtig!)

Mir hilft es, wenn ich die Entfaltung der Bachschen Melodik, auch innerhalb eines scheinbar vorgegebenen Schemas, ganz ähnlich zu erfassen suche wie in einem arabischen Taqsim oder einem indischen Alap. Ausgehend von einem klaren tonalen Zentrum, lasse ich mich von jedem einzelnen Schritt überzeugen, durchwandere peripherisch angelegte Nachbarbereiche und spüre, wie sich ein Netz bildet, ein stetig wachsendes Kraftfeld, das den einzelnen sinnlichen Momenten eine übergreifende Bedeutung zu verleihen scheint.

Der Anfang ist ein deutlicher Impetus, das Auftaktsechzehntel mit nachfolgendem Grund-Akkord, dessen Anziehungskraft jeweils unterschwellig verstärkt wird, indem ein Anklang regelmäßig wiederkehrt: Takt 4, Takt 9 und Takt 15. Auch wenn das Tor nach D-dur geöffnet wurde, und die erste Hälfte des Satzes wiederholt wird, wieder mit den eingestreuten Zeichen Takt 4, Takt 9 und Takt 15. Und nach einer Weile dann aufs neue in der zweiten Hälfte des Satzes, – Vorankündigung in der Mitte des Taktes 29 und die Erfüllung bei der Ankunft im Takt 32, wo dieser G-dur-Akkord, auseinandergezogen über zwei Oktaven, den ganzen Takt füllt, nach dem Muster des D-dur-Taktes 16.

Unvergessen, wie schon vor Ende des ersten Teils der Horizont des ganzen tonalen Geländes ins Bewusstsein gerückt wird: mit der langen, den gesamten Raum aufwärts durchmessenden Linie des Taktes 13 und der allmählichen, zunächst auf die Wiederholung gerichteten Auflösung der Spannung. Doppelstrich. Später im zweiten Teil: die Emphase der hohen Töne ab Takt 25, die Sequenzenkette von Takt 26 bis 29, die einrahmenden Dominantseptakkorde mit G-Bordun am Anfang der Takte 25 und 29, die fast gewaltsame Sequenzenkette ab Mitte Takt 29 bis Mitte Takt 31.

Noch einmal von vorn: Was sind die Details dieser unaufhaltsamen Wanderfahrt?

Am Anfang war die Harmonie des Tones G, der einen Dreiklang in sich birgt, G-H-D, bzw. arpeggiert in der Reihenfolge G-D-H, so dass der letzte Ton durch den Auftakt und die Alleinstellung eine Initiative zugewiesen bekommt; es ist die Quelle, aus dem sich alles, was an melodischem Fluss entsteht, erklären lassen wird. Der Anfangsimpuls betrifft also die Terz.

Da werden nun als erstes die nächsten Verwandten erscheinen, unter denen das nahgelegene G sich dank des weiter nachtönenden tiefen Basstones anbietet, und so wird es durch Umspielung einbezogen. Und da auch das D sozusagen noch in der Luft liegt, bildet es den Anfang einer in Gegenrichtung verlaufenden Linie, die erst eine Oktave höher einen logischen Wendepunkt sieht, das hohe D. Ein abfallender Dreiklang D-H-G folgt, samt einer Schleife, die auf das erste Motiv nach dem Anfangsakkord antwortet und eine (fast) neue Fortspinnung nach demselben Muster präsentiert: E – D – C – H. Dieser letzte Ton wird zum Anfang einer aufsteigenden Linie, die jener in Takt 1 nachgebildet ist, jedoch einen Ton tiefer (auf dem C) landet und wiederum die gleiche Schleife anhängt, die sich auf den ersten Urheber der Bewegung in Takt 1 bezieht: A – G – Fis – G, jedoch auch noch eine unscheinbare Variante der Fortspinnung anhängt, um dann aus dem Tonleitermodus auszubrechen durch den Sprung abwärts zum A. Dieser Ton signalisiert zum ersten Mal einen Basiswechsel, indem er dem Basston des Anfangsakkordes G ein A entgegensetzt, dem wiederum Töne folgen, die unschwer als Bestandteile eines Dominantseptakkordes zu erkennen sind, schöne Konsequenz: sie lösen sich fast scherzhaft leichtfüßig in die Zweiergruppen des absteigenden Tonika-Dreiklangs Takt 4 auf. Deren G-Charakteristik findet zwei Takte später eine singuläre, wundersame Bestätigung in ihrem Moll-Echo auf E. Und eine neue Ära hebt an…

Unterbrechung: Takt 4, Takt 6 – wie wäre es, die üblichen Taktmengen auf ihre „formbildenden Tendenzen“ abzuklopfen? Ich erinnere mich an das rätselhaft-schöne Buch, das Berthold mir zum Geburtstag geschenkt hat und das mich weiter begleiten wird. Und höre Musik. (Allemande ab 2:10).

Eberhard Feltz

Pieter Wispelwey Im folgenden Video direjt auf die Allemande gehen, ab 2:10

Oder Sie wählen zunächst das folgende Video:

Wir dagegen, als nicht nur hörende, sondern auch allzeit studierende Menschen, werden mit einiger Sicherheit nicht bereit sein, eine solche Interpretation als einzig mögliche anzusehen: Einstweilen befinden wir uns immer noch in Takt 6, wo wir zunächst den motivischen Neu-Ansatz wahrgenommen haben, der deutlich das neue Zentrum E markiert. Er kommt nicht unvorbereitet, ja letzlich stammt er aus dem primären Impuls:

Es ist leicht gesagt: E-moll gehört halt in die Nähe von G-dur, und das Dis in Takt 5 war das sicherste Signal, dass es in diese Richtung geht, und es wird ja geflissentlich in Takt 6 („parallel“ zu Takt 4) bestätigt. Aber ich möchte lieber melodisch als harmonisch argumentieren. Wir befinden uns also ab Takt 6 auf dem gesicherten Boden von E und seinen nächsthöheren Nachbarn im Raum der kleinen Terz.

Die Dauerpräsenz dieser Töne entgeht einem leicht, weil das eingestreute Cis die Aufmerksamkeit auf sich zieht, zumal es vorläufig zu – keinem Ergebnis führt. Natürlich liegt das hohe D in der Luft, aber es kommt nicht; wir werden auf das Fis am Taktanfang 8 gelenkt, das zudem einen Praller erhält; ein hier direkt im Terzabstand nachfolgendes, unbetontes D bietet keinen Ersatz für den vorenthaltenen Zielton, wesentlicher ist seine beiläufige Funktion innerhalb der neuen Startfigur, die das Motiv aus Mitte Takt 6 aufgreift bzw. abwandelt und weiterführt, zunächst jedoch das „erfolglose“ Cis zurücknimmt: am Ende des Taktes 8 haben wir ein C, das tatsächlich zurück will. Aber wohin? Wir sehen doch schon am Ende des nächsten Taktes wieder das Cis winken, nachdem der Akkord des Taktes 1 beschworen wurde, und selbst der Anfang des Taktes 10, der das Cis als Fanal des Kommenden verwendet, hält das tiefe G in Hörweite, da sind unsere Orientierungsmarken allenthalben sichtbar aufgestellt. In die Höhe wie in die Tiefe weisend.  Dieser Vorgang ist so wichtig, dass wir ihn en passant ab Mitte Takt 6 überfliegen wollen. Es geht taktweise in figuralen Seqenzen aufwärts von E nach Fis, G, A (Takt 8), nach H (Takt 9), Cis, D, E (Takt 10), und dann abwärts in figuralen Sequenzen von Fis, E, D, C ! (Takt 11), weiter nach H, A, G, Fis (Takt 13) und E (Takt 13), ab hier lang durchgezogene  Aufwärtslinie über 2 ½ Oktaven mit Cis ! im A7 und (Takt 14) einem mittleren D incl. C ! im D7, dann Grundakkord G wie allererster Takt hier in Takt 15 und die abschließende Kadenz D-dur im großen Zick-Zack-Kurs (Takt 15 und 16). DOPPELSTRICH // WIEDERHOLUNG.

Ist dieser Text als Verbalisierung der musikalischen Vorgänge erträglich? Er soll nicht bilderreich und schön sein, sondern nachhelfen, die Tonabläufe bewusster nachzuvollziehen oder (wenn man sie nur innerlich hört) klarer zu vergegenwärtigen. Und nichts für Zufall oder gar Verlegenheit zu halten.

Zum Beispiel: dass der zweite Teil mit einer leeren Quinte beginnt (die Terz wird sofort nachgeliefert), versteht sich von selbst, denn der vorausgehende Takt war zutiefst dreiklangsgesättigt. Aus dem ersten Teil haben wir auch das Wechselspiel zwischen C und Cis in Erinnerung, und so begegnet uns das C nach dem D-dur-Schluss als alte Bekannte. Am Ende des Taktes. Neu ist, dass in diesem Zusammenhang – am Ende des nächsten Taktes – wiederum als alterierter Ton das F auftaucht, und zwar mit dem Ziel des nächsten Taktbeginns: E – C , dem wiederum der übernächste Taktbeginn Gis – E nachgebildet ist, was jeweils durch tr-Zeichen markiert ist. Vielleicht ist dadurch die Erwartung geweckt, alsbald einen dritten, ähnlichen Vorgang zu erleben, stattdessen „enttäuscht“ uns zu Anfang des folgenden Taktes 21 ein Hochton, den wir bereits für  erledigt gehalten haben, das hohe D, das wir aus den letzen Vierergruppen der Takte 18 und 19 im Ohr haben. Eine zweite „Enttäuschung“ folgt, denn das mit tr-Zeichen hervorgehobene Gis in der Mitte des Taktes 21 ist dem Taktanfang 20 „zu“ ähnlich, – es sei denn, damit wäre eine Überbietung verbunden, und in der Tat: die Auflösung zu Anfang des Taktes 22 im A-moll-Akkord überwältigt das Ohr als Akkord, der dem G.dur-Akkord des allerersten Taktes ähnlich ist und doch eine völlig neue Qualität realisiert. Das wird 2 Takte lang gefeiert und durch den Einsatz des „Neapolitaners“ in der Kadenz verherrlicht. Wir haben den Ort der größten Grundtonart-Ferne erreicht! Und dessen Wiedergewinnung ist ein hymnischer Vorgang, der nicht weniger als 5 Takte währt, von Takt 24 bis zur Mitte des Taktes 29, wo sich genau der oft erwähnte Akkord befindet, mit dem die Allemande begonnen hat. Grund genug, eine großartige Kadenz anzuhängen, in der die Modulationstöne Cis, F, C, Fis eine pathetische Geste signalisieren, die in der Grundton-Protuberanz des Schlusstaktes ihr Ziel findet, als sei es schon immer dagewesen.

Bevor ich fortfahre, könnte man sich anhand von Wikipedia intensiver mit dem „Neapolitaner“ befassen, lesen Sie bitte hier, – das erste Beispiel steht sogar in der gleichen Tonart wie in Bachs Allemande, Takt 22. Es ist ja die harmonische Wendung, die am ehesten inhaltliche Assoziationen weckt. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn es dem bedeutungsvollen Vortrag zugute kommt. Wie überhaupt unsere ganze verbale Interpretation kein anderes Ziel hat als ein sprechendes, in keinem Punkt gleichgültiges Klangergebnis. Und es wäre durchaus angebracht, dem Musiker Hans Vogt, der oft gute Hinweise gibt, in diesem Fall heftig zu widersprechen:

Es folgt eine Allemande, die durch Ebenmaß der Proportionen besticht; alles barocke Ausufern, das gelegentlich Bachs Allemanden kennzeichnet, ist zurückgenommen. Gleiches gilt für die Courante; unbekümmert, gerade präsentiert sich ihr Haupteinfall. Beide Sätze, Allemande und Courante, können solcher Klarheit wegen ziemlich scharf im Tempo gespielt werden.

Quelle Hans Vogt: Johann Sebastian Bachs Kammermusik / Reclam Stuttgart 1981, Seite 191 f

Gleichheit aller Menschen?

Geht doch gar nicht, weil’s nicht stimmt!

So antwortet der Stammtisch. Jeder Mensch ist anders (sieht man doch), und der Philosoph und Naturwissenschaftler Leibniz hat sogar behauptet: kein Blatt am Baum gleiche dem andern.

Oder reden wir nur von Chancengleichheit, als einer Forderung? Jeder Mensch, ungeachtet all der unterschiedlichen Gebrechen oder Begabungen, soll die gleichen Rechte haben wie jeder andere. Man spricht nicht mehr von Rassen, aber das gültige Wort „Kulturen“ ist  wertfrei.

Oder – wenn es um das Individuum geht, reden wir nur von seiner Würde (bitteschön!) oder seinem Recht auf Anerkennung (na klar, du bist ein feiner Kerl, sagt Horst Lichter nach kurzem Augenschein).

Im Ernst, wie kann man darüber reden, ohne sich vorsichtshalber drüber lustig zu machen? Gibt es einen verpflichtenden Diskurs, ein Grundbuch der gegenseitigen Hochschätzung?

Hier ist es:

Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung / suhrkamp taschenbuch wissenschaft / Frankfurt am Main 2009 / ausgehend von der amerikanischen Originalausgabe mit dem Titel Multiculturalism and »The Politics of Recognition« / Princeton University Press 1992

ZITAT

So ist uns der Diskurs der Anerkennung in doppelter Weise geläufig geworden: erstens in der Sphäre der persönlichen Beziehungen, wo wir die Ausbildung von Identität und Selbst als einen Prozess begreifen, der sich in einem fortdauernden Dialog und Kampf mit signifikanten Anderen vollzieht; zweitens in der öffentlichen Sphäre, wo die Politik der gleichheitlichen Anerkennung eine zunehmend wichtigere Rolle spielt. Bestimmte feministische Theorien haben die Verbindungen zwischen diesen beiden Sphären zu erschließen versucht. (Seite 24)

*    *    *

(Seite 29)

Die zwei politischen Konzeptionen, die beide auf der Idee der Gleichachtung beruhen, geraten nun miteinander in Konflikt.

Einerseits fordert das Prinzip der Gleichachtung ein »differenzblindes« Verhalten. Die Auffassung, dass alle Menschen gleich zu achten seien, konzentriert sich vor allem auf das, was bei allen gleich ist.

Andererseits sollen wir das Besondere anerkennen und sogar fördern. Die erste Konzeption wirft der zweiten vor, sie verstoße gegen den Grundsatz der Nicht-Diskriminierung. Die zweite wirft der ersten vor, sie negiere die Identität, indem sie den Menschen eine homogene, ihnen nicht gemäße Form aufzwinge. Das wäre schon schlimm genug, wenn diese Form neutral wäre – und nicht die Form von jemand Bestimmtem. Aber die Beschwerde geht meist noch weiter. Es wird behauptet, der angeblich neutrale Komplex »differenz-blinder« Prinzipien, der von der Politik der allgemeinen Menschenwürde verfochten wird, spiegele in Wirklichkeit eine ganz bestimmte hegemonialer Kultur. Allein die minoritären oder unterdrückten Kulturen würden gezwungen, eine ihnen fremde Form zu übernehmen. Folglich sei die angeblich faire, »differenz-blinde« Gesellschaft nicht nur unmenschlich (weil sie Identitäre unterdrückt), sondern auch auf eine subtile, ihr selbst nicht bewusste Weise in hohem Grade diskriminierend. [Anmerkung 19: in diesem Band Seite 84, in meiner Abschrift als Kopie angehängt]

Der zuletzt genannte Einwand ist der härteste und bestürzendste von allen. Der Liberalismus der allgemeinen Menschenwürde muss offenbar voraussetzen, dass es einige universelle, »differenz-blinde« Prinzipien gibt. Auch wenn wir sie möglicherweise noch nicht definiert haben, bleibt dieses Projekt aktuell und wichtig. Es mögen unterschiedliche Theorien entwickelt und diskutiert werden – und es sind eine ganze Anzahl solcher Theorien in neuerer Zeit vorgeschlagen worden – aber sie alle sind sich einig in der Annahme, dass eine dieser Theorien die richtige sei.

Der Vorwurf, den die Politik der Differenz in ihrer radikalsten Version erhebt, lautet, dass die »blinden« Liberalismen selbst Spiegelungen ganz bestimmter, besonderer Kulturen sind. Und besorgniserregend ist dabei vor allem der Gedanke, dass diese Befangenheit nicht bloß eine kontingente Schwäche aller bisher vorgeschlagenen Theorien ist, dass vielmehr die Idee des Liberalismus selbst bereits ein Widerspruch in sich ist, ein Partikularismus unter der Maske des Universellen.

[Beleg zur eben erwähnten Anmerkung 19:]

Autor: Steven C. Rockefeller

(dies ist nur ein Anfang, der mich verpflichten soll…)

Vorgemerkt (aktuell)

A propos Irish Fiddle, Dürer, Mozart

IRLAND-Filme abrufbar bis 11-02-2021

https://www.3sat.de/dokumentation/reise/irlands-kuesten-1-5-100.html

Dublin und der Osten

https://www.3sat.de/dokumentation/reise/irlands-kuesten-2-5-100.html

Die Irische Riviera

https://www.3sat.de/dokumentation/reise/irlands-kuesten-3-5-100.html

Der wilde Westen / Cliffs of Moher [doch weiterhin abrufbar: hier]

https://www.3sat.de/dokumentation/reise/irlands-kuesten-4-5-100.html

Der stürmische Nordwesten *** [doch noch abrufbar: hier]

https://www.3sat.de/dokumentation/reise/irlands-kuesten-5-5-100.html

Belfast und der Norden

*** ab 8:38 Donegal Fiddler Vincent Campbell bis 12:50 mehr über ihn (†) hier

Anderes Beispiel: John Doherty  Wie John Doherty 1965  „The Broken Pledge and The Repeal of the Union“ spielte:  HIER !

Die Geschichte von „The Black Mare of Fanad“ – zuerst verschriftlich:

Quelle: The Northern Fiddler von Allen Feldman & Eamonn O’Doherty

Die obige Geschichte in Wort und Ton, John Doherty erzählt und spielt „The Black Mare of Fanad“ – https://www.youtube.com/watch?v=ujjcW-kiMBo hier

In „The Hare and the Hounds“ demonstriert John Doherty 1971 seine programmatisch eingesetzten Fiddle Techniken hier. Nie wäre ich darauf gekommen, das Schriftbild war mir ein Rätsel, ich kannte ja die Transkription seit langem aus „The Northern Fiddler“: ohne das Bellen des Hundes, das Entwischen und Hakenschlagen des Hasen zu erkennen. Ein Stück Programmmusik. Heute – nach fast 4 Jahrzehnten – wird also das Buch um eine neue Dimension erweitert: durch die Youtube-„Realität“.

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Allerhand Erinnerungen werden wach: sehen Sie hier http://s128739886.online.de/ist-es-tommy-potts/ und hier http://s128739886.online.de/the-sailors-bonnet/ .

Übrigens war ich dabei, als Allan Feldman, der Autor von „The Northern Fiddler“, bei unserer Aufnahmereise 1983 in Miltown Malbay, im Haus des Festival-Organisators dem „Papst“ der irischen Musikforschung vorgestellt wurde, Brendan Breathnach, und von diesem herutergeputzt wurde. Seine Buch sie gezeichnet von einer Verfälschung der Folk-Geschichte, und der andere verteidigte sich schwach, er hatte keine Chance. Ich weiß nicht mehr genau, was der Gegenstand der Konfrontation war, vielleicht latent politisch (rechts gegen links), aber ich glaube, ein wesentlicher Punkt war, dass B.B. sich darüber aufregte, dass Feldman sozusagen einen Nachruf auf die alte Volksmusik geschrieben habe, während er, der alte Mann, sie als unvergänglich sehen wollte.

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https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/albrecht-duerer-superstar-100.html

Albrecht Dürer – Superstar hier verfügbar bis 2029

Ein willkommener Vorwand, um mich an meine Rasenstücke zu erinnern: Hier.

Wer ist das?

Nicht Melanchthon, natürlich auch kein Selbstbildnis, siehe hier.

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Mozart – ein hervorragend gemachter Konzert-Film:

Mozart schreibt… Cara sorella mia! – Briefe und Musik

Szene die Interpreten

Weiteres zu Prof. Leisinger finden Sie hier (die dort behandelte Costa-Violine begegnet auch im Verlauf dieses Films!)

https://www.3sat.de/kultur/musik/cara-sorella-mia-102.html

HIER verfügbar bis 13.02.2021

Dies ist der zuerst vorgelesene Brief (Nachschrift zum Brief des Vaters) 14. April 1770,

… und hier die vorangehenden Briefseiten des Vaters Leopold (mit der Geschichte um das Miserere von Allegri):

Wenn Sie nur wenig Zeit haben (???), hören Sie wenigstens den Schluss ab 1:08:46, ich finde, das ist sensationell gespielt. Und es ist sensationell komponiert (1788!). KV 526 (lesen!)

Hermann Abert nannte den Satz „the super-virtuoso Rondo of Mozart’s Sonatas“. Gleichzeitig ist er ein ununterbrochener kontrapunktischer Schlagabtausch der Instrumente.“ (Villa musica)

Aber Vorsicht! wenn Sie im Film erst dort beginnen, betrügen Sie sich ganz nebenbei um die bezauberndsten Texte: die Mozart-Briefe, so wie sie von Adele Neuhauser gelesen werden; ein Tatort ist nichts gegen diese charmante Sprechkunst.

Es erinnert mich an ein frühes Buch von Ortheil, entdeckt in den 80er Jahren; seine Interpretation habe ich nie vergessen. Mozarts Briefe als Sprachkunstwerke. Die Erinnerung an diese eindringliche, sensible Interpretation hatte mich viele Jahre später bewegt, mir die 7 Bände der Gesamtausgabe zuzulegen, – nicht der Werke Ortheils, sondern der Mozart-Briefe.

… es hätte der Beginn des Mozart-Lesens werden können: ohne die Erinnerung an dieses Buch hätte ich die Brieflesung mit Adele Neuhauser gestern nicht so ernst genommen (ich erinnere mich an eine erfolgreiche Bielefelder Klavierpädagogin, die bei der Erwähnung der Mozartschen Briefe nie vergaß, sich vor Entsetzen zu schütteln. Das war eine verbreitete Haltung. Natürlich genoss die junge Musikergeneration längst seine verbalen Emanationen, insbesondere die Bäsle-Briefe – aber noch ohne sie als speziellen Ausdruck derselben Kreativität zu werten, die man in seiner Musik wahrnimmt.)

Angesichts dieses Buchanfangs ist es interessant nachzulesen, was Hannah Schmidt in der ZEIT über das Instrument des Jahres 2021 schreibt … indem sie auf Mozart verweist und seinen Brief aus dem Jahr 1777 zitiert (hier).

Aber man kann fast beliebige Seiten aus Ortheils sensiblen Brief-Analysen auswählen um zu begreifen, wie Mozart zu verstehen ist, in seiner Suche nach einer anderen Ausruckswelt; das habe ich nirgendwo sonst so gefunden wie hier. Eine Erklärung, was in ihm vorgegangen ist, was für ein Reifungsprozess, als er wenige Jahre nach den sicherlich schönen Violinkonzerten die Sinfonia Concertante für Violine und Bratsche schreiben konnte (1779), ein so unbegreiflich tiefes und menschlich, kommunikativ erschütterndes Werk.

Zum Vergleich mit der oben hervorgehobenen Version an dieser Stelle noch das große „Nebenwerk“ aus der Zeit des Don Giovanni 1788, also KV 526 und zwar mit Noten (Szeryng/Haebler / Finale ab 17:42) HIER

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Über Radikalisierung (Spiegel-TV Attila H.)

https://www.spiegel.de/panorama/leute/attila-hildmann-spiegel-tv-ueber-den-absturz-des-fernsehkochs-a-a939bb37-84d8-45dc-8d24-75f720af39ab

HIER

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Übrigens:

Die Probleme des Lockdowns sind längst bekannt!

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Ein Sprichwort zum Abschied

(aus dem „Streiflicht“ der Süddeutschen Zeitung am 11. Februar 2021 Seite 1)

Fliegen, sagte der junge Pinguin, ist eine reaktionäre, diskriminierende Unart alter weißer Albatrosse.

Das Bild der Welt

Das Buch der Natur und mein Mikrokosmos

Vorbemerkung für „Fremdleser“: Ausgangspunkt für mich war ein neues Buch von Hans Blumenberg, das nicht leicht zu lesen ist. Man überlegt also ganz pragmatisch: lohnt sich die Arbeit, der Zeitaufwand, es gibt noch so vieles … (Vorläufig: Antwort ja, unbedingt, aber ich lese nicht von Seite 9 – 409, sondern springe vom Anfangskapitel in solche, die mich unmittelbarer interessieren, also z.B. Leibniz wegen Bach-Zeit Kap.X). Mein Rat an Zaungäste: nach Belieben auszublenden, was nur für mich von Bedeutung ist oder sein soll. Ich erweitere den Motivationskreis, indem ich mich an Geertz erinnere, der mich in früheren Jahren fasziniert hat, in den 90ern etwa, ansetzend bei „Dichte Beschreibung“ und dem Hahnenkampf auf Bali. Wie immer verbunden mit der Frühzeit der eigenen Interessenerweiterung, in den letzten Schuljahren. Daher beginne ich mit dem Buch von Mersmann, aber nicht inhaltlich, sondern mit dessen Widmung: sie suggeriert, dass meine „Rolle in der Gesellschaft“ damals nicht nur ein Hirngespinst war, sondern früh ein gewisse Bestätigung von außen erfuhr (ohne auch nur im geringsten politisch motiviert zu sein). Ich wollte größere Zusammenhänge „beherrschen“.  Der Titel-Zusatz „in der abendländischen Kultur“ war entscheidend. (Das Buch hatte ich mir aussuchen dürfen!) Man lebt ja nicht freiwillig so isoliert wie heute – nach einem Jahr Corona und der Gewissheit, dass diese Zeit noch andauern wird. Was half damals wie jetzt? Lesen, Denken und Musikhören.

1958 -1960

Und wenn ich noch einmal 10 oder 12 Jahre zurückgehe, so sehe ich, wie der Blick aufs große Ganze zuerst angeregt wurde (abgesehen von Grimms Märchen und Heldensagen und nicht zuletzt vom alltäglichen Blick aus dem Wohnzimmerfenster meiner Großeltern auf die Porta Westfalica):

Ende der 40er Jahre

In meinem vorletzten Bielefelder Schuljahr begann ich vor einer Langeoog-Fahrt eine neue Privat-Kladde, die meine Interessen erweiternd begleiten sollte, was durch die Inhaltsangabe am Ende bestätigt wurde. Fast alles daraus ist mir bis heute in Erinnerung, hat mich also ein Leben lang begleitet. Es gab auch andere Kladden (z.B.Thema Musik).

.     .     .     .     . .     .     .     .     . 15 Jahre später Und 5 Jahrzehnte zu spät

Vielleicht sollte ich heutzutage lieber dem Verschwinden einer Illusion nachgehen, indem ich einigen roten Fäden folge, die das Labyrinth immerhin zu strukturieren scheinen.

An Ariadnes Stelle sehe ich Hans Blumenberg, der den Terminus „absolute Metapher“ verwendet, wo andere vom „Weltbild“ sprechen oder etwas unbedarft von der „Mutter Natur“. Franz Josef Wetz schreibt in seiner Monographie über Blumenberg, er habe den Terminus eingeführt zur Kennzeichnung jener sprachlichen Bilder,

die semantische Gehalte umfassen, welche sich der Ausdruckskraft der begrifflichen und objektivierenden Sprache von Philosophie und Wissenschaft entziehen. Ihm zufolge gibt es eine Dimension des unbegrifflich Metaphorischen, die sich nicht ins begrifflich Logische übersetzen läßt.

Worum handelt es sich dabei? Über die Bedeutung absoluter Metaphern gibt nach Blumenberg vor allem ihre Funktion näheren Aufschluß. Allgemein diebnen absolute Metaphern der Beantwortung höchster und unabweislicher Fragen, die sich jeder wissenschaftlichen Klärung entziehen: »Absolute Metaphern beantworten jene vermeintlich naiven, prinzipiell unbeantwortbaren Fragen, deren Relevanz ganz einfach darin liegt, daß sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellte vorfinden.«  (PM, 19) Blumenberg unterteilt diese Fragen in theoretische Totalitätsfragen und pragmatische Orientierungsfragen. Absolute Metaphern haben demnach eine »theoretische« (PM, 62) und zugleich eine »pragmatische« (ebd.) Aufgabe. Ihre theoretische Funktion besteht im Aufschließen von Totalhorizonten. Absolute Metaphern »geben einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität« (PM 20). Sie lassen ein Bild von der Totalität der Wirklichkeit entstehen. Zu solchen Welt-Bildern zählen die Vorstellungen von der Wirklichkeit als Polis, Lebewesen, Theater oder Uhrwerk. Diese und ähnliche Metaphern beanspruchen nicht, einzelne Sachverhalte der Wirklichkeit darzustellen, sondern die Totalität der Welt selbst zu vergegenwärtigen. Selbstredend genügen sie nicht dem Anspruch des strengen Denkens, und dennoch müssen sie ihm genug sein, wenn nicht auf eine Vorstellung vom Ganzen verzichtet werden soll. So bieten uns vertraute sprachliche Bilder eine Anschauung von der unbegrifflichen Totalität der Wirklichkeit, an deren Stelle sie treten. Zwar haben Metaphern – wie als „Restbestände“ – auch als „Grundbestände“ die Funktion eines bloßen „Ersatzes“; aber mit dem wesentlichen Unterschied, daß letztere für etwas stehen, das sich weder in Begriffe überführen noch durch Begriffe angemessen erfassen läßt: die Wirklichkeit im Ganzen.

Nun veranschaulichen absolute Metaphern aber nicht bloß die ungegenständliche Totalität der Welt, sie fungieren darüber hinaus als Orientierungsmuster. Zum Gehalt absoluter Metaphern gehören Wertungen, die bestimmte »Haltungen, Erwartungen, Tärigkeiten und Untätigkeiten, Sehnsüchte und Enttäuschungen, Interessen und Gleichgültigkeiten« (PM, 20) freisetzen. Absolute Metaphern sind sonach auch Ausdrucksformen von »Grundhaltungen und Verhaltungen« (PM, 62). Sie repräsentieren und orientieren zugleich.

Quelle Franz Josef Wetz : Hans Blumenberg / zur Einführung. Junius Verlag Hamburg 2004 / Seite 20f [Die Signatur PM verweist auf das Buch „Paradigmen zu einer Metaphorologie“, Bonn 1960]

Was macht mir Probleme?

Ich war mit der Vorstellung erwachsen geworden (Adorno: Philosophie der Neuen Musik 1958): „Das Ganze ist das Unwahre“, und es bedurfte eines speziellen philosophischen Zuspruchs, die Wirklichkeit (insgesamt) oder gar „die Totalität der Welt“ noch ins Auge zu fassen. Die Welt splitterte sich allenthalben auf, lauter starke Impulse, aus Musik wurden Musikkulturen, aus allen Richtungen kamen wichtige Botschaften, der Begriff „Weltmusik“ tauchte bei Stockhausen auf, eine individuelle Suggestion, wer festen Boden unter den Füßen brauchte, konzentrierte sich doch immer wieder und immer noch auf das Einzelne, auf ein Werk, ein „opus perfectum et absolutum“. Und über der Einleitung des oben genannten Adorno-Buches stand das strenge Hegel-Wort:

Denn in der Kunst haben wir es mit keinem bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk, sondern … mit einer Entfaltung der Wahrheit zu tun.

Aber was ist Wahrheit?

Ich weiß nicht, ob es nun Zufall war, dass ich das Wort „Entfaltung“ wählte, als es beim Gegenstand meiner Dissertation um das Gegenteil einer Opus-Musik ging, ein Melodiemodell der arabischen Musik. Diese Musik ist eine andere Welt, aber zweifellos eine Welt, und zwar eine, in der man sich entfalten und bewegen konnte; zumindest gedankliche Wegzehrung kam von Leuten wie Feyerabend oder Watzlawick. Die eine Welt ist demnach so wirklich wie die andere.

Der Sprung in die Ethnologie (Clifford Geertz)

ZITAT Gottovik

Für die Untersuchung der Symbolsysteme einer fremden Kultur schlägt Geertz nun ein Verfahren vor, das er als ,,das beständige dialektische Lavieren zwischen kleinsten lokalspezifischen Details und umfassendsten Strukturen“ bezeichnet. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang explizit auf Wilhelm Dilthey und den hermeneutischen Zirkel, dem zufolge das Ganze aus der Perspektive seiner Teile und vice versa zu betrachten sei. Auf diese Weise gelangt Geertz schließlich zu der These, dass das Verstehen fremder Kulturen prinzipiell mit dem Lesen eines Gedichtes, d.h. der Interpretation eines Textes verglichen werden könne, gilt doch auch hier die gleiche Zirkelstruktur des Verstehens: Die Teile entfalten ihre Bedeutung erst in der Beziehung zum Ganzen, während das Ganze stets mehr ist als die Summe seiner Teile. Geertz versucht demnach, mit der Hinwendung zur Texthermeneutik dem Verstehensbegriff der interpretativen Anthropologie eine erkenntnistheoretische Grundlage zu geben.

Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass die Text- und Lese-Metapher in allen drei genannten Essays von zentraler Bedeutung ist. So zum Beispiel auch in Deep Play, wo Geertz folgendes ausführt: ,,Die Kultur eines Volkes besteht aus einem Ensemble von Texten, die ihrerseits wieder Ensembles sind, und der Ethnologe bemüht sich, sie über die Schultern derjenigen, für die sie eigentlich gedacht sind, zu lesen.“ [Anm.20] In diesem Sinne versucht auch Geertz,die Bedeutung des Hahnenkampfes über die Schultern der Balinesen zu erfassen, d.h. ,aus der Perspektive der Einheimischen‘ zu verstehen; dafür ist es notwendig, den Hahnenkampf in eine aufschlußreiche Beziehung zu anderen Symbolsystemen der balinesischen Kultur zu setzen. Die von Geertz erhobene Forderung, die balinesische Kultur im Medium ihrer Tänze, Schattenspiele, Bildhauerkunst, Mädchen (!) oder Hahnenkämpfezu betrachten und diese wie Texte im Hinblick auf ihre Bedeutung zu lesen, [Anm.21] setzt einen erweiterten Textbegriff voraus. In diesem Zusammenhang wird nun der dritte hier zur Debatte stehende Essay mit dem Titel Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture relevant. [Anm.22]  Auch dort findet sich die Lese- und Textmetapher, wenn es etwa heißt: Ethnographie betreiben gleicht dem Versuch, ein Manuskript zu lesen (im Sinne von ,eine Lesart entwickeln‘), das […] aber nicht in konventionellen Lautzeichen,sondern in vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist. [Anm. 23]

Quelle Volker Gottowik: Clifford Geertz und der Verstehensbegriff der interpretativen Anthropologie / in: Hans-Martin Gerlach, Andreas Hütig, Oliver Immel (Hrsg.): Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität. Peter Lang, Sonderdruck 2004, S. 155–167. [Dieser ganze Text online hier.]

Ein kleines Missverständnis wäre zu klären: denn darauf beruht offenbar das Ausrufezeichen hinter dem Wort „Mädchen“ im hier zitierten Text. Der Satz beginnt mit den Worten „Die von Geertz erhobene Forderung“, – dieser aber erhebt gerade nicht diese Forderung, sondern er bezieht sich dabei kritisch auf die übliche Akzentuierung in der Reiseliteratur, leicht ersichtlich, wenn man den Kontext genauer untersucht (siehe im folgenden Scan rechts unten, rot gekennzeichnet: wenn man Bali nicht nur…) :

Quelle Clifford Geertz: Dichte Beschreibung / Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme / Suhrkamp Frankfurt am Main 1987

Und zurück in unsere Welt…

Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt (Inhalt)

Blumenbergs Kapitel im Buch der Lesbarkeit

I (Rothacker)

II (Cassirer)

III Bibel Augustinus Dante

IV Griechen

V Augustinus Aquino

VI Nikolaus von Cues Bonaventura,

VII Galilei, Campanella

VIII Bacon Bruno Descartes Borelli Spinoza

IX Gracián Schopenhauer Ernst Robert Curtius

X Leibniz

XI Berkeley

XII Diderot Vico Herder

XIII Böttiger Brockes Reimarus Kant Hamann Humboldt

XIV Lichtenberg

XV Goethe

XVI Novalis Gebrüder Schlegel Goethe

XVII Friedrich Schlegel Novalis

XVIII Alexander von Humboldt

XIX Novalis Lichtenberg Flaubert Mallarmé Valéry Benjamin

XX Schopenhauer

XXI Freud C.G.Jung Abraham

XXII Schrödinger Planck Chargaff Miescher Ankel Markl Monod

(Fortsetzung folgt)

 

Unfassbar hässlich

Aber: wie genial ist eigentlich ein Nacktmull?

Was lehrt er uns?

Screenshot eines Artikels, den Sie hier finden. Da gibt es nichts zu befürchten, im Gegenteil. (Bild: picture-alliance/Zentralbild/Wolfgang Thieme)

Mehr über das süße Tierchen bei Wikipedia: hier. Darin der interessante Satz:

Zur Verständigung untereinander benutzen die Tiere bis zu 18 verschiedene Laute, die teilweise an Vogelzwitschern erinnern.

Und auch dieser:

Aufgrund seiner von vielen Menschen subjektiv empfundenen Hässlichkeit hat der Nacktmull auch schon Eingang in die Populärkultur gefunden.

Ich gebe den Satz wieder – auch wegen des darin enthaltenen Links zum Begriff der Hässlichkeit, der mich schon mehrfach angezogen hat: etwa hier oder auch hier.

Und jetzt ist der rechte Augenblick gekommen zu verraten, wie ich überhaupt auf den Nacktmulch und seine besondere Begabung komme, es ist nicht die Suche nach dem Hässlichen schlechthin: schuld ist wieder mal ein schöner Artikel aus dem Ressort Naturwissenschaft der Süddeutschen Zeitung; die Sachen faszinieren mich oft mehr als die Musikthemen, was an den Autor*innen liegen mag. In diesem Fall wieder Tina Baier, und ihr aktueller Beitrag ist neben vielen anderen hier nachzulesen. Einige Sätze habe ich von dort kopiert und zitiert. (Aber die echte Zeitung aus Papier habe ich für bares Geld erworben, der Beweis folgt auf dem Fuße.)

ZITAT

Kleine Nacktmulle lernen den spezifischen Dialekt ihrer Kolonie wahrscheinlich, indem sie den erwachsenen Tieren zuhören und ihre Laute nachahmen. Das lässt unter anderem ein Experiment vermuten, bei dem die Wissenschaftler zwei Nacktmull-Zwillinge, deren Mutter gestorben war, aus ihrer ursprünglichen Kolonie entfernten und in jeweils eine andere setzten. Innerhalb weniger Monate hatten beide den Dialekt ihrer neuen Kolonie gelernt. Allerdings nicht ganz akzentfrei, was nach Ansicht der Wissenschaftler daran liegen könnte, dass sie zu Beginn ihres Lebens zunächst angefangen hatten, einen anderen Dialekt zu lernen.

Anders als bei den meisten anderen Säugetieren sind die Lautäußerungen von Nacktmullen also nicht genetisch festgelegt, sondern hoch variabel. Diese Erkenntnis stützt die Theorie, wonach es einen Zusammenhang zwischen einem Leben in einer komplexen Gemeinschaft und der Entstehung einer ausgeklügelten Sprache gibt. Das gilt nicht nur für Nacktmulle, sondern wäre auch eine Erklärung für die Entstehung der komplexen Sprache des Menschen.

Quelle Süddeutsche Zeitung 1. Februar 2021 Seite 13

Liebe Leserinnen und Leser, wenn ich eins im Leben gelernt habe, dann dies: dass man mit Ambivalenzen leben lernen muss. Fanden Sie den kleinen Nacktmull tatsächlich süß oder haben Sie mir die Wortwahl übel genommen? Bitte bleiben Sie nicht bei diesem Eindruck stehen, ich verdiene jede Aufmerksamkeit. Und für mich selbst war es erfreulich, unter dem Link zum Wort „Hässlichkeit“ einer alten Bekannten wiederzubegegnen. Ich erinnerte mich an die schöne Zeit, als ich mich in Südtirol mit der einschlägigen Kunstgeschichte befasste (siehe hier http://s128739886.online.de/st-katharina) und den Namen Maultasch, der mir dort schon öfter vorgekommen war, sinnreich ikonographisch hergeleitet sah, so dass ich mir eine naseweise schriftliche Bemerkung nicht verkneifen konnte. Auch der bekannte Name „Kusstatscher“ kam mir in den Sinn. Alles im Bereich der Normalität. „Aber, Herrschaften, es kommt immer auf den Zusammenhang an,“ sagte einst mein Deutschlehrer, „man nennt das Kontextualität.“ Er ahnte nicht, dass im Kontext „hässlich“ ein Nacktmull abgebildet sein könnte. Dies ist die Wahrheit einer seriösen Kunstgeschichte:

Quelle Walter Pippke, Ida Leinberger: Südtirol / Landschaft und Kunst einer Gebirgsregion unter dem Einfluss nord- und südeuropäischer Traditionen  / DUMONT KUNST Reiseführer / Ostfildern 3., aktualisierte Auflage 2006

Handelt es sich denn wirklich um ein Portrait und nicht um eine Satire? Darf man sich über solche armen Menschen lustig machen? Dürfen verdiente Politiker*innen karikiert werden? Natürlich, natürlich, sagt jeder, die Satire darf alles. Aber wie kann man die Wahrheit der Darstellung oder die Bosheit der Satire nachprüfen, wenn Jahrhunderte vergangen sind?

Bei Wikipedia lese ich die folgende Bildlegende:

Die hässliche Herzogin (Gemälde von Massys 1525) Quentin Massys National Gallery, London Es wurde wahrscheinlich gedacht, um alte Frauen zu persiflieren, die fälschlicherweise versuchen ihre Jugend wieder zu beleben, und nicht als Porträt einer bestimmten Person. Gegenstück zu Portrait of an old man, by Quinten Matsys

Es gibt auch die Möglichkeit, das Paradox der Hässlichkeit zu verinnerlichen, siehe hier.

Daher beende ich diesen Blogbeitrag, der an sich ein naturwissenschaftliches Phänomen zum Aspekt „Lautäußerungen“ betraf, mit einer speziellen Ausformung der Menschengestalt. Auch Leonardo hat sich mit solchen Prägungen befasst, für meinen Geschmack ist selbst seine „Mona Lisa“ kein Muster der Schönheit. Und lächelt sie nicht ein bisschen süffisant? Da sieht man doch die aufrechte Fürstin Maultasch mit anderen Augen.

Zwei drei Fragen der Zeit

Beethovens Metronom und das Tempo der Pandemie

Vorweg sei gesagt: es hat wirklich nichts miteinander zu tun. Ähnlichkeit besteht nur in der Logik der Alternativen. Zunächst die Frage: Irrte sich Beethoven oder ging sein Metronom zu schnell?

Apollinische Prüfung

In der neuen ZEIT berichtet Christine Lemke-Matwey über die unerwartete Auflösung des Problems: Beethoven hat falsch abgelesen, als er die Metronomzahlen seiner Werke nachträglich in die Noten schrieb. Er nahm die Zahl an der oberen Kante des auf- oder abwärts verschiebbaren Pendelgewichts, auf meinem Foto wäre es M.M. 60, aus Beethovens Sicht aber wäre korrekt die Zahl an der unteren Kante gewesen: M.M. 88 … nein, umgekehrt, denn dies ist ja die schnellere Variante. Oder? Man beklagt sich ja gern über die allzu hohen Zahlen der Beethovenschen Tempoangaben. Aber jetzt weiß ich selber nicht mehr, wie ich ablesen soll. Was schreibt denn Christine Lemke-Matwey?

Eine junge spanische Mathematikerin und ihr Kollege (beide ausübende Musiker) wollen das Rätsel nun gelöst haben. Beethoven, so das Ergebnis ihrer streng wissenschaftlichen Studie, habe das Metronom falsch herum abgelesen. Nämlich nicht, wie es sich gehört, oberhalb des kleinen verschiebbaren dreieckigen Gewichts am Pendel und seiner Zahlenleiste, sondern unterhalb des Gewichts; nicht am Schenkel des Dreieckchens, sondern an dessen Spitze.

Ja, gewiss, aber wie gehört es sich? Beim Apoll, ich sehe da oben kein Dreieck, sondern ein gleichschenkliges Trapez, das man allerdings nach unten hin (gedanklich) leicht zu einem Dreieck ergänzen könnte. Und wenn ich es lieber dort ablese, wo zwar keine Spitze ist, jedoch der schmalere Schenkel, wäre ich immerhin Beethoven etwas ähnlicher als manch einer vermutet hätte.  Andererseits: es könnte ja auch umgekehrt hängen, zum Beispiel wie beim folgenden Metronom:

Wikipedia

Immerhin: die Differenz zwischen oben oder unten abgelesen entspricht in etwa der Differenz zwischen den in der Praxis als „normal“ empfundenen Tempi und den strikt an den Beethovenschen Metronomzahlen orientierten. Abgesehen vom Satzbau: so einfach kann das Leben sein ! Ich kann mir gut vorstellen, dass Beethoven hier die längere waagerechte Kante für die maßgebliche gehalten hat, unter der man also ablesen sollte. Aber wie ist es nun wirklich??? Bei uns zuhaus, – welche Kante gilt? Wir sollten M.M. 60 einstellen (oben oder unten) und mit dem Sekundenzeiger unserer Uhr vergleichen. Wo oder bei welcher Einstellung stimmt die Frequenz überein? Dann wissen wir auch, welche Kante die richtige ist. Und müssen uns wegen wahnwitziger Metronomzahlen nicht die Kante geben.

Quelle DIE ZEIT 28. Januar 2021 Seite 43 Beethoven wollte gar nicht so schnell Ein großes Rätsel der Musikgeschichte ist gelöst. Von Christine Lemke-Matwey s.a. hier

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Zu anderen Beethoven-Rätseln, z.B. seinen Krankheiten, gibt es dies neue Buch, das mir physisch vorliegt; dessen hätte es gar nicht bedurft, denn man kann es vollständig digital abrufen. Es beruht auf einem Beethoven-Symposion, das unter folgendem Link dokumentiert wurde:  Hier

Darin der ebenso fesselnde wie abstoßende Forschungsbericht von Christian P. Strassburg: Kapitel 5 (ab Seite 80) über „Beethoven: die Auswirkungen der internistischen Erkrankungen auf seine Kompositionen“. Zu dieser möglichen Wechselwirkung zwischen Krankheit und Werk insbesondere ab Seite 89 ff.

Ausgiebige Seitenblicke auf Schubert und Smetana, man erinnert sich unwillkürlich an die oft genug peinliche Behandlung des Spätwerks Schumanns, wo plötzlich alles unter Verdacht steht. Und man wird gewahr, auf wie tönernen Füßen die eigene Ästhetik steht. Es wirkt wie eine Flucht nach vorne, dass man im gleichen Zug die Kunst der Geisteskranken nobilitiert hat (vgl. hier) .

ZITAT

Beethoven selber beschreibt, dass er von dem Ertrage seiner geistigen Leistung abhängig sei. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass die chronische Lebererkrankung mit den oben geschilderten Konsequenzen auch einen Einfluss auf die kompositorische  Schaffenskraft, aber auch die Art der Komposition gehabt hat. Die Musik Ludwig van Beethovens ist gekennzeichnet durch oft jähe Kontraste der Lautstärke, durch Ausbrüche, Perseverationen (…) und abrupte Wechsel der melodischen Linien oder des Metrums. All dieses kann schlicht der Einsatz von kompositorischen Mitteln eines genialen Geistes sein, es besteht aber die Möglichkeit, dass diese Genialität durch die hepatische Enzephalopathie beeinflusst worden ist. Anhand von Schriftproben und Verhaltensbeschreibungen von Ludwig van Beethoven erscheinen jedenfalls diese Diagnose und ein Einfluss auf die späten Kompositionen des Meisters sehr wahrscheinlich.

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Zur Logik der Pandemie Von Herfried Münkler

Was unterscheidet Covid-19 von den Epidemien der zurückliegenden Jahre, bei denen man durch Verhaltensänderungen die Infektion zuverlässig vermeiden konnte?

Das ist bei Corona nur sehr eingeschränkt der Fall. Der virale Angriff ist nicht auf die Leichtsinnigen und Rücksichtslosen beschränkt, sondern nutzt diese, um auf die vielen anderen überzuspringen. Die Egalität des Angriffs macht eine Egalität des Abwehrverhaltens erforderlich. Also müssen alle mitmachen. Falls nicht, scheitert die liberale Ordnung mit ihren starken Einschränkungen staatlicher Handlungsmacht an der Unvernunft einer Minderheit – auch darum, weil dann die vielen Vorsichtigen und Rüclsichtsvollen für einen Staat optieren, der alle, die dem entgegenhandeln, unter seine Kontrolle bringt. Sie setzen dann auf die „chinesische Lösung“.

Quelle DIE ZEIT 28. Januar 2021 Seite 8 Abschied von der Arroganz  China steht beim Kampf gegen das Virus besser da als der Westen. Was wir tun können, um trotzdem im Systemvergleich zu bestehen. Von Herfried Münkler

Vorher im Text der Systemvergleich, ausgehend von dem interessanten Politikparadox, »was … wesentlich ein Paradox der Politik in Demokratien ist«:

Wenn die gegen eine Gefahr eingeleiteten Maßnahmen sich als wirksam erwiesen haben, breitet sich anschließend die Vorstellung aus, die Darstellung der Gefahr sei übertrieben und die getroffenen Gegenmaßnahmen seien unnötig gewesen. Die dafür verantwortlichen Politiker stehen dann als sie Dummen da. Da sie dieses Image scheuen, reagieren sie, wenn schnelles präventives Handeln angezeigt wäre, notorisch zögerlich. Es gilt das Motto: Wer zu früh handelt, den bestraft der Wähler.

Es kam hinzu, dass in Regionen, in denen die Infektionszahlen während der ersten Welle niedrig waren, sich Immunitätsvorstellungen ausbreiteten, die zu Nachlässigkeit führten – dementsprechend schossen in Sachsen und Thüringen die Infektionszahlen in der zweiten Welle prompt nach oben. Das war keine ostdeutsche Spezialität, sondern betraf ganz Mitteleuropa, das von der ersten Welle weniger betroffen war als Süd- und Westeuropa. Es war auch kein mitteleuropäischer Sonderfall, wie jetzt das Beispiel Irland zeigt. Es handelt sich um ein Lernen in die falsche Richtung, bei dem selbstzufriedene Überzeugtheit von der eigenen Sonderstellung unmittelbar ins Verhängnis führte.

Ist schön, macht aber viel Arbeit

Die Menge der Literatur

SZ 23.Dez.2020

Die Zeitung hatte ich mir aufgehoben, das Bild (Peter Cornelius 1859) erinnerte mich an die alten Heldensagen oder an die Wagner-Illustrationen des „Opera Book“, das wohl in einem der Care-Pakete nach dem Krieg enthalten war und damals mit größter Andacht betrachtet wurde. Jetzt war ich hinuntergewandert in mein Übezimmer und hatte diese Zeitungsseite zu Füßen des Regals der vergessenen oder kaum gebrauchten Büchern gelegt, z.B. zu dem vollständig – Band für Band – ab den 80er Jahren erworbenen Meyers Lexikon, daneben die irrsinnig detaillierten Bände zur Geschichte der Deutschen Literatur, die mich so entsetzlich gelangweilt haben. Wollte ich Enzyklopädist werden? Und jetzt habe ich sie plötzlich wieder am Bein und muss mich irgendwie dazu verhalten.

De Boor/Newald angeschafft 27.04.1964

Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen: der Überdruss hatte zwar auch mit der Offenlegung der Nazizeit des Protagonisten de Boor zu tun gehabt. Aber später, als der schiere Wissensstoff des Nachfolgers Hans Rupprich sehr hilfreich gewesen wäre, stand mir das fulminante Büchlein von Heinz Schlaffer im Wege: „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“ (dtv München 2003). Oder kam es mir eher zu Hilfe?

Quelle Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur / dtv München 2003/2008 /  ISBN 978-3-423-34022-9

Dieses Buch ist unbedingt empfehlenswert. Bei mir hat es jetzt erst dazu geführt, dass ich auch den Rupprich-Band „Von späten Mittelalter bis zum Barock“ fast vollständig durchgeblättert habe, mich hier und da festlesend, insbesondere um festzustellen, was eigentlich an dieser Literatur überhaupt deutsch war und was lateinisch. Was es mit dem damaligen Übersetzungseifer auf sich hatte, mit den schulischen Bindungen und Ambitionen des Humanismus. Ganz besonders hat mich die Entstehung und Bedeutung des Gesangbuches interessiert, und – anschließend an meine Choral-Artikel hier und hier – die Qualität der deutschen Verse seit Luther. Zitat Seite 255: „Das evangelische Kirchenlied neben und nach Luther weist eine umfangreiche Produktion auf. Der persönliche Gehalt ist fast immer gering. Die Texte sind zumeist lehrhaft, aber trotz viel Nüchternem und Schematischem finden sich auch volkstümliche und ergreifende Lieder; dogmatische Streitigkeiten bleiben nicht ganz ausgeschaltet.“

Die Dürftigkeit z.B. des Meistergesangs.Zitat Seite 265: „Der Meistergesang war eine kunstpflegerische Nebenbeschäftigung von Handwerkern. Seine zunftbürgerliche Gebundenheit, die gesellschaftliche und ideologische Begrenztheit seiner Mitglieder, die Enge der Teilnehmerkreise hielten ihn zunehmend außerhalb des lebendigen geistigen und literarischen Lebens der Zeit.“

Erstaunlich, in welchem Maße wir z.B. die große Zeit des italienischen Sonetts verschlafen haben, während wir in lateinischen Lehrgedichten herumwerkelten.

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Tatsächlich findet man die tieferen Spuren lyrischer Anstrengung erst nach 1570, der Grenze dieses Buches. Heinz Schlaffer geht darauf ein (Seite 50f):

Erst die geistliche Dichtung des 17. Jahrhunderts findet, indem sie sich der mystischen Unterströmung des Mittelalters erinnert, zu ruhigeren Tönen und zu Themen, die der Poesie angemessen sind. Dieser Richtung gehören die Werke an, die noch im folgenden Jahrhundert wieder aufgegriffen wurden: die Lieder Friedrich von Spees, Paul Flemings und Paul Gerhardts, die Sinnsprüche des Angelus Silesius, die Schriften Jakob Böhmes. Die spätere Übertragung religiöser in weltliche Mpotive ist bereits bei diesen Begründern einer eigentümlich deutschen Lyrik vorbereitet.

Und während man das obige Inhaltsverzeichnis studiert, klingen die abschließenden Sätze des schmalen Buches von Heinz Schlaffer nach und sind wohl von bleibendem Wert:

In den letzten Jahrzehnten sind mehrere Literaturschichten erschienen oder noch im Erscheinen begriffen; sie sind im Durchschnitt auf zehn Bände veranschlagt. In derselben Zeit, die es brauchte, sie zu lesen, ließe sich bereits ein Gutteil der wichtigen literarischen Werke selbst lesen. Die kurze Geschichte der deutschen Literatur ist so kurz, daß dem Leser Zeit bleibt, sich wieder der deutschen Literatur zuzuwenden, der dieses Buch sein Dasein verdankt.

Und seit wir nicht mehr deutsche Literatur auf lateinisch lesen oder produzieren müssen, dürfen wir doch getrost fremdsprachige Literatur in guten Übersetzungen lesen. Ich schweige von der frühen Lektüre der meisten Novellen C.F. Meyers, die nunmal alle greifbar waren, und betrachte dankbar die Phalanx der Werke Tolstojs und Dostojewskys, die ich in meiner Schulzeit verschlungen habe, auch aktiv herangeschafft habe: kann das nach 50 Jahren noch als wirklich auch innerlich angeeignete Lektüre gelten?

Wie wäre es denn, statt vieles zu lesen, intensiver zu lesen und – nicht zu vergessen – zu wiederholen, was man längst gelesen hat? Man ist immer ein anderer, wie oft auch man in denselben Fluss eintaucht.

Was suchte ich denn? Das Wort „dargestellte Wirklichkeit“ trifft es; „vorweggenommene Lebenserfahrung“ wäre auch ein gutes Wort, es war kein „rein“ literarisches Interesse. Gibt es das überhaupt? Gab es denn ein „rein“ musikalisches Interesse? Ich erinnere mich, dass ich zumindest „Gustav Adolfs Page“ mit stark erotischem Anteil wahrgenommen oder aufgeladen habe.

Ansonsten würde ich behaupten, dass die Schule des Lesens – wenn ich es so anspruchsvoll bezeichnen darf – immer auch ein Schule des Lebens war. Und es ist kein Zufall, dass ich jetzt diesen Aspekt herauskehre, wenn ich rückblickend die Rolle der russischen Literatur für mich betone, dann die französische mit der Hauptfigur Marcel Proust und die deutsch-österreichische in Gestalt von Robert Musil. Und schließlich hatte ich das Buch der Bücher entdeckt (1969), in dem ich jeweils – trotz aller Begeisterung für diese Art von Sprachwissenschaft – steckenblieb und zu dem ich gleichwohl alle paar Jahre zurückzukehren hoffte: MIMESIS / Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Siehe hier oder hier oder hier oder hier.

und bevor ich mich aufs neue auf die Reise ins Innere dieses Buches begeben, lese ich einen erhellenden Beitrag zu seinem 50jährigen Jubiläum begeben: aus der Feder des Romanisten Hans-Jörg Neuschäfer (FAZ 13.9.1996): HIER Titel: Dichter des Irdischen Schule des Lesens: Erich Auerbachs „Mimesis“ wird fünfzig.

(Fortetzung folgt)