Archiv der Kategorie: Psychologie

Anlässlich der Han-Lektüre

„Topologie der Gewalt“

Es gibt Schwierigkeiten, die eine philosophische Lektüre behindern, nur weil man die Möglichkeiten des Internets nicht nutzt. Manch einem erscheint es vielleicht anachronistisch, sich mit einem Buch vor den Computer zu setzen, mir durchaus nicht.

Wie soll ich denn das Wissen kompensieren, das Byung-Chul Han offenbar voraussetzt? Vielleicht auch nur, weil es ihm durch die Arbeit an seinem Thema derartig geläufig geworden ist. Und es finden sich zwar allerhand Anmerkungen, die dem wissenschaftlichen Anspruch genügen, aber keine Ermunterungen, die der unorthodoxen Selbsthilfe bei gedanklicher Arbeit zugute kämen. Das Gegenteil durchaus:

Auch die neuen Medien und Kommunikationstechniken verdünnen das Sein zum Anderen. Die virtuelle Welt ist arm an Andersheit und deren Widerständlichkeit. In den virtuellen Räumen kann sich das Ich praktisch ohne das ‚Realitätsprinzip‘ bewegen, das ein Prinzip des Anderen und des Widerstandes wäre. In den imaginären Räumen der Virtualität begegnet das narzisstische Ich vor allem sich selbst. Die Virtualisierung und die Digitalisierung bringen das Reale immer mehr zum Verschwinden, das sich vor allem durch seine Widerständlichkeit bemerkbar macht. Das Reale ist ein Halt in seiner doppelten Bedeutung. Es bewirkt nicht nur Unterbrechung oder Widerstand, sondern auch Halt und Rückhalt.

Quelle Byung-Chul Han: Topologie der Gewalt / Verlag Matthes und Seitz Berlin 2011 (Seite 45f)

Das ist schön und belehrend, verstärkt mich allerdings in einem Widerstand, der mir bei der Lektüre des Buches hinderlich ist, so reizvoll widerständig und wenig zielführend er sich auch anfühlt. Ich muss einen schnellen Begriff finden für bestimmte Grundgedanken und deren Urheber, die für Hans Gedankengänge eine wesentliche Rolle spielen. (Daher die schrittweise nachgetragenen Klicks, die eine Information ermöglichen, wie oberflächlich auch immer.)

Das wären im ersten Teil, Kapitel 2 René Girard, Kapitel 3 Sigmund Freud, Richard Sennett und Alain Ehrenberg, Kapitel 4 Carl Schmitt, Walter Benjamin und Giorgio Agamben.

Im zweiten Teil, Kapitel 1 Galtung, Bourdieu und Žižek, deren Vornamen – wie auch sonst – wir nicht erfahren, Kapitel 2 Foucault und wiederum Agamben. Kapitel 3 Baudrillard, Kapitel 5 Lévinas und Serres, Kapitel 6 Deleuze und Hegel, Kapitel 7 Hardt und Negri, Kapitel 8 Agamben und sein „Homo sacer“ mit einer ausführlichen, kleingedruckten Erläuterung.

Schon Seite 14 begegne ich dem „Muselmann“, mit dem ich nichts anfangen kann, es sei denn in Erinnerung an einen blöden Kanon oder ich schaue ins Internet. Oder ich springe zufällig in den Schluss des Buches (Seite 167), wo zu lesen ist:

Die Muselmänner sind die total entkräfteten, ausgemergelten und apathisch gewordenen Lagerhäftlinge.

Allerdings habe ich mich gerade kundig gemacht, nämlich unter dem Stichwort https://de.wikipedia.org/wiki/Muselmann_%28KZ%29, also hier. Wie auch zu all den Namen, sofern sie mir nicht ganz geläufig waren, und genau das werde ich jetzt oben nachtragen. Mir scheint unterdessen, dass Han weitestgehend Agamben folgt, insbesondere dessen Homo – sacer – Projekt, in dem auch die meisten von jenem genannten Namen auftauchen. (Dazu siehe auch hier – homo sacer – sowie hier – Zwölftafelgesetz der Römer – und schließlich, noch einmal auf Agamben bezogen, hier.)

Und was die islamistische Gewalt betrifft, die uns gerade in Paris erschüttert hat, sollte man sie nicht mit der verwechseln, die den „Muselmännern“ angetan worden ist.

Gewalt in der Gestalt des Terrors, der uns vor allem sinnlos erscheint, weil er nicht unmittelbar zu einer Ausweitung von Macht auf der einen Seite führt, sondern nur zu einem Bewusstsein der Ohnmacht auf der anderen Seite, ist offenbar nicht Gegenstand dieses Buches. Ein einziges Mal wird das Thema berührt, das im Augenblick zur gründlicheren Erarbeitung des Phänomens führen könnte, auf Seite 155 f:

Nach dem Untergang des Kommunismus hat der Kapitalismus kein Außen mehr, das ihn ernsthaft gefährden würde. Selbst der islamische Terrorismus ist keine Manifestation eines ebenbürtigen Machtlagers, das das kapitalistische System wirklich bedrohen würde. Es kann ihn sogar absorbieren und in systemische Energien umwandeln, die es stabilisieren. Denkbar wäre allein eine Implosion des Systems durch dessen Überhitzung und Übersteuerung.

Nähe der Gewalt

Über einige Chill-Effekte und den Ernst der Lage

Barrabam

Ich möchte einige stark „emotionalisierte“ Situationen durchspielen, die ich selbst erfahren habe, von denen ich aber nicht weiß, ob ich ihre Wiederkehr wünsche oder eher fürchte. Sie sind mit einer Art Schrecken verbunden, der zwar nicht wirklich zu meiner Gefährdung führte, mir allerdings bedrohlich nahe kam. Bis hin zu einer „allzu primitiven“ Begeisterung.

1) Barrabam-Schrei aus Matthäus-Passion von Bach (Wut s.o.)

2) Die Folter-Szene in Puccinis „Tosca“ (Tenorschrei: Verismo)

3) Jede Wiederkehr des Leidens-Themas im Adagio der zweiten Schumann-Sinfonie

4) Bach „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ (sanftes, unerbittliches Gleichmaß)

5) Wagner Lohengrin Vorspiel (allmähliches Anwachsen des Stromes bis Beckenschlag)

6) Wagner Siegfrieds Schmiedelied (Sieg: Vibrato-Wucht auf dem Ton F s.u.)

7) Strauss Elektra (steigende Spannung bis Wiedererkennung „Orest!!!“)

8) Mahler „Ich hab‘ ein glühend Messer“ (Niederlage: „O weh!“)

9) Anfang des Klarinetten-Quintetts von Brahms (Terzentrost & Farbwechsel)

Mime Siegfried Vibrato

Die Anregung zu dieser Liste (die um viele Punkte erweitert werden könnte, zumal aus der nicht-klassischen und aus der nicht-westlichen Musik) gab das lapidare Forschungsergebnis, das die Forscher Altenmüller und Kopiez (2012) mitteilen:

Das einzige Merkmal, das in unseren Experimenten als eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Entstehung einer Chill-Reaktion gefunden wurde, war ein unerwarteter Bruch  in der musikalischen Struktur oder, in der Terminologie von David Huron, eine Nichterfüllung von Erwartungen.

Ich würde hinzufügen: … oder in der hinausgeschobenen bzw. verspäteten Erfüllung von Erwartungen; [also doch ein nicht gerade unerwarteter Bruch? siehe Lohengrin].

1) Wenn man diesem Turba-Schrei zum erstenmal begegnet (bei mir etwa 1955), trifft er einen unvorbereitet, zumal die Erzählung sich etwas hinzieht: Pilatus hat die entscheidende Frage längst gestellt, Barrabam oder Jesum? Aber zunächst kommt noch „Pilati Weib“ mit ihrem Traum zu Wort, dann wieder die Hohenpriester und die Ältesten, dann noch einmal die Frage des Pilatus und die irreführende Formulierung des Evangelisten „Sie sprachen“ und in der nächsten Sekunde – statt eines Sprechens – dieser gewaltige Schrei, den der Herausgeber Kretzschmar mit einem fortefortissimo bezeichnet hat, ein verminderter Septakkord, der völlig aus der Tonart fällt. Es ist wie ein Angriff. Das Ungeheuerliche kommt erst im Nachhinein zu Bewusstsein, – als Jugendlicher setzt man die Grammophon-Nadel gern noch mehrfach zurück, bereits mit Gänsehaut, um nun andere dran teilhaben zu lassen, und rät beschwichtigend: „Wartet nur ab…“

Frage: Handelt es sich wirklich um eine musikalische Wirkung – oder um eine regietechnische Überrumpelung? (Anders als im Fall des unfassbar wilden Chores „Sind Blitze, sind Donner“, vor dem man ebenfalls längere Zeit stillgestellt wird durch das Duett „So ist mein Jesus nun gefangen“, – in Alarmbereitschaft versetzt immerhin nach dem ersten Einwurf des fassungslosen Chors der Gläubigen „Lasst ihn, haltet, bindet nicht!“).

2) Wie geschmacklos, diese Folterszene im 2. Akt, – Cavaradossis „echte“ Schreie aus dem Hinterzimmer, Toscas Verrat und die Frage des Gefolterten: „Hast du geschwiegen?“ Man will es nicht ertragen und auch – als notwendigen Ausweis der Realität nicht missen. Ist es so? Dürfte ich die Nadel noch einmal zurücksetzen (gab es da nicht diesen Trauermarsch?) oder vor den Worten des Verrats („Im Brunnen … dort im Garten“), diese 4 Akkorde überprüfen (sind das etwa die Tagesschau-Akkorde?) – oder willst du Sadist nur noch einmal die Schreie hören? Ich kann die Gänsehaut nicht leugnen… Für mich ist der Höhepunkt der Anfang (!) des 3. Aktes, der Nachthimmel, die Herdenglocken, die sich in der Ferne verlieren, das Lied des Hirten mit der Knabenstimme: „Io de‘ sospiri te ne rimanno tanto“ – „Ach soviel Seufzer sind Qualen meinem Herzen“. Dann die Morgenglocken!

Ein bloßer Bruch in der musikalischen Struktur?

3) Zitiert Schumann Bach? So dass ich sofort weiß, wie ernst das ist, dieses Leidensmotiv aus der Triosonate des „Musikalischen Opfers“? Aber dann der Rhythmus eines Schreittanzes im Untergrund (ich denke an Ravels Pavane, die mir ebenfalls eine Gänsehaut abfordert), das Unerbittliche in graziöser Verkleidung. Madame La Mort. (Eos erwähnte den Aufmarsch des Chores bei Sanchez-Verdú am Anfang des Jerusalem-Programms in Mannheim…) Hören! Die Wirkung der Klarinette bei 2’57. In diesem Fall spielt aber die Steigerung bei jeder Wiederkehr des Themas eine große Rolle: auch die Wirkung der Triller! Tränen sind geradezu unvermeidlich. Im Konzert würde ich dieses Stück meiden oder eine Rechenaufgabe dabei lösen.

4) Die sanften, gleichmäßig fließenden Sechzehntel sind es – gerade dieses Gleichmaß, ohne Bruch in der Struktur, ist entscheidend, die dadurch bedingte Verlangsamung der Melodie, das Heraustreten von Einzel-Intervallen und Kurz-Motiven, der Bedeutungszuwachs jedes einzelnen Harmonieganges, der Wechsel der Ebenen, die Wiederholung in der Tiefe, Intensivierung durch „Gewichtigkeit“. Choral-Melodien wirken bei Bach eigentlich immer als Momente der Wahrheit, besonders aber im Anfangschor der Matthäuspassion – dank der Knabenstimmen. Aber auch in vielen Werken, wo in Einzel-Zitaten ein Cantus Firmus auftaucht, dessen Melodie mit dem musikalischen Material der beteiligten Instrumente ansonsten weniger zu tun hat, sondern „unbeirrt“ auftaucht. Im vorliegenden Fall müsste ich dagegen die Wirkung der Chorals zeilenweise beschreiben, mit dem Höhepunkt ab Takt 9,  mit As-dur-Kadenz – dann aber im Bass As – E – F – also Wendung in Richtung F-moll, statt dieses Akkords aber dann der Trugschluss Des-Dur, die Wendung über Es-dur nach C-moll  und der Aufstieg der Melodie über die Töne Es – As – As – B – B – C:  das alles ist letztlich so unbeschreiblich, als müsse gerade eine Geschichte von Leben und Tod ohne Worte erzählt werden. Vom Text weiß man nur „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ – nur diese leiseste Anrufung bleibt, in der letzten Stunde, – nur darum kann es sich handeln, um diesen Bruch… (Merkwürdigerweise gefällt mir keine der Aufnahmen, die auf youtube zu finden sind; gerade nicht die von Anna Gourari, wo mit romantischen Fotos auf die Tube gedrückt wird. Es muss sensibel, aber quasi ungerührt gestaltet werden. Mit Noten kann man das Stück bei Claudius Tanski studieren, aber hier ist es womöglich zu langsam, zu drückend, es gibt zu viele kleine Verzögerungen. Der unabänderliche Gang der Dinge ist Hintergrund unserer Erschütterung durch die melodisch-harmonischen Einzelmomente.Vielleicht handelt es sich bei den Sechzehnteln aber auch um den roten Faden (der Liebe), der sich durch alle Dunkelheiten der Harmoniewechsel zieht? Aber das ist schon eine Deutungsphantasie…

5) Lohengrin-Vorspiel – „Heilig“ sagt schon der erste Harmoniewechsel in höchster Höhe, kirchentonal ist der Wechsel zwischen Tonika und VI. Stufe und zurück, „funktionslos“. Das Heilige (oder das Leben?) ist ein tendenziell unendlicher Strom.  HIER (Anfangsbeifall bis 0:40) Vorausahnung des Höhepunkts beginnt bei 5:33 = Crescendo-Beginn, es lässt nicht nach … 1. Beckenschlag bei 5:57, 2. Beckenschlag (schon im Abschwellen) bei 6:22 Rückkehr zum Anfang abgeschlossen bei 8:22

Die Chill-Wirkung, die ich aus den 50er Jahren in Erinnerung habe (als ich außer dem Vorspiel immer noch „Elsas Traum“ mit Begeisterung hörte – auch hier übrigens im Anfang die verminderte Quart, vgl. Bach/Schumann), bleibt jetzt aus, vielleicht auf Grund der dürftigen Klangqualität der alten youtube-Aufnahme.

6) Merkwürdigerweise gibt es den Chill der Freude selten, die Freude selbst dagegen immer wieder, – wieviel von Bach könnte ich benennen! Die Brandenburgischen Konzerte, Kantaten wie „Unser Mund sein voll Lachens“ oder die entsprechende Suite. Und ich muss mir nur den Anfang der Italienischen Sinfonie von Mendelssohn vorstellen, um leichten Herzens zu sein. Aber diese verrückte, überhebliche Freude an der eigenen Kraft, das brachiale Gefühl, der Welt gewachsen zu sein, ja, übermütig auf den Tisch zu schlagen, einen begeisterten Veitstanz aufzuführen, das stellt sich doch selten ein: kein Triumph mit wirklich gutem Gewissen! Aber hier mit den Hammerschlägen des Schmiedeliedes, das keine Hindernisse der Rücksicht kennt, da entsteht unwillkürlich ein glucksendes Lachen, dessen man im Nachhinein nicht froh ist. Ach dieser bösartige Giftzwerg Mime, der dem strahlenden Helden die tödliche Suppe köchelt, soll er mir etwa leid tun? Stimmgewalt… Wird er nicht rein stimmlich hinweggefegt, in jenen Takten, wo er mit seinen quäkenden Tönen keift: „lachen muss mir der Lohn!“ und Siegfried denselben Ton, das hohe F auf „Lohn“, in seinem „Hoho!“  überbietet und für einen Moment mit einem Fortissimo-Vibrato ins Uferlose treibt? Da kann man nur wie ein törichter Fußballfan aufspringen und mitgröhlen. Herrlich heldische Atavismen.

Unvergleichlich in dieser einen Aufnahme, wie so vieles in Soltis Jahrhundert-Ring aus dem Jahre 1962. Siehe HIER, der Wechsel des hohen F von Mime zu Siegfried (Gerhard Stolze, Wolfgang Windgassen) siehe ab (kurz nach) 1:18:05.

Sympathie für „die blonde Bestie“? Nur wenn man ihn für einen Halbstarken hält, der das Fürchten (und Fühlen) noch lernen wird. Am Ende vorstellbar als ein aufrechter Staatsbürger? Lächerlich. Von Sympathie spreche ich nicht, sondern von blinden Chill-Reaktionen.

Ich denke aber lieber an Freudekundgebungen wie die der Figaro- oder der Carmen-Ouvertüre.

7) In „Elektra“ ist es mehr die Situation als die Musik, obwohl gerade diese mit dem „Orest!“-Schrei der Elektra alle Dämme brechen lässt und einen riesigen Schwall der Motive und Emotionen entlädt. Die Wirkung hat essentiell mit der Ratlosigkeit vorher zu tun, mit dem Aufbau der Erwartung des wissenden Publikums, jede neue Frage erhöht die Spannung: „Wer bist denn du?“ bis „Wer bist du denn? Ich fürchte mich.“ Orest (sanft): „Die Hunde auf dem Hof erkennen mich, und meine Schwester nicht?“ Elektra (aufschreiend): „Orest!“

Es ist eine archaische Szene: die Angst vor dem Unbekannten und die Aufdeckung, die Wiedererkennung. (Die genannten Hunde sind durch Menschen vertreten…)

Elektra 1 Screenshot 2015-11-05 11.39.34 Elektra 2 Screenshot 2015-11-05 11.39.50

Nach diesem Schrei könnte statt der Orchestermusik anhaltendes Maschinengetöse zu hören sein, die Gänsehaut ist unvermeidlich. (Screenshots etwa bei 1:15:10 aus der BelAir-DVD mit Evelyn Herlitzius, Orchestre de Paris, Esa-Pekka Salonen, Patrice Chéreau.) Wiedererkennungsszenen, blitzartige Durchblick-Erlebnisse tun unvermeidlich Wirkung, ob Kitsch, ob Kunst. Bei Karl May und Rosemarie Pilcher ebenso wie bei Richard Strauss. Am Ende der Schiller-Ballade „Die Bürgschaft“:  hier ist es der Erweis einer Freundschaft bis zum Tode. Und es muss sichtbar sein, wie auf einer Bühne: „Und Erstaunen ergreifet das Volk umher, / In den Armen liegen sich beide / Und weinen vor Schmerzen und Freude. / Da sieht man kein Auge tränenleer, / Und zum Könige bringt man die Wundermär, /  Der fühlt ein menschliches Rühren, /  Lässt schnell vor den Thron sie führen.“ Die im Hintergrund lauernde Gewalt löst sich auf in plakative Harmonie.

8) Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“, es geht um die früheste Aufnahme mit Dietrich Fischer-Dieskau und Furtwängler mit dem Philharmonia Orchestra (1952). Das, was mich beim ersten Mal ins Herz traf: der hohe Ton auf dem zweiten „Messer“: „Ich hab‘ ein glühend Messer, ein Messer in meiner Brust, oh weh, das schneid‘ so tief!“ Man höre genau diesen Anfang auf youtube: hier hat er die Wildheit des Ausdrucks noch kaum abgemildert wie in späteren Aufnahmen, und dennoch ist es kein roh-naturalistischer Ausbruch. Was für ein Übergang auch später, nach der ruhigeren Phase, wo die Erinnerung an „ihr silbern Lachen“ wieder umschlagen will in Raserei und die „O weh, o weh“-Klage  in den ungeheuer, verzweifelt zusammenfassenden Satz übergeht: „Ich wollt‘ ich läg auf der schwarzen Bahr, könnt‘ nimmer, nimmer die Augen aufmachen“, dieser Vokal „a“ in „aufmachen“,  – wen es da nicht von oben bis unten überläuft, der höre den nächsten Satz und beginne wieder von vorn… Ich behaupte, Fischer-Dieskau hat es nie wieder so erschütternd getroffen wie hier (ab 9’00). (Vielleicht weil ich damals auch noch ziemlich jung war???)

Der Wehe-Ruf der absteigenden kleinen Sekunde, der sich wiederum häufig in der Nähe der kleinen Sext aufwärts findet (wie auch hier bei „Ich wollt’…“, dem Beginn des Abstiegs, der wiederum sein Ziel hat in der kleinen Sekunde: „aufmachen“), gehört offenbar zum biologischen Stamm der Ur-Motive des Menschen. Ein Trennungsruf, der die kommunikative Verbindung meint. Also ein Stimmfühlungsruf, wie er dem Menschen seit frühen Zeiten vom Schrei des Bussards und dem Ruf des Gimpels vertraut ist. Der Neurowissenschaftler Jaak Panksepp bezieht sich bei seiner Untersuchung des Chill-Effekts mit einer gewissen Einseitigkeit auf dieses Phänomen:

Ein Sonderfall der akustisch ausgelösten Chill-Reaktion scheint bei mütterlichen Trennungsrufen einiger Affenarten aufzutreten. Diese Rufe führen bei den abgelegten Affenbabys zum Aufstellen der Haare. Jaak Panksepp argumentiert, dass Gefühle des Verlustes und der sozialen Kälte so durch die mütterlichen Laute gelindert werden können. Seiner Meinung nach könnte dies erklären, warum beim Menschen häufig Chill-Reaktionen bei trauriger oder sehnsuchtsvoller Musik auftreten. Kritisch anzumerken ist, dass bislang keine systematische Untersuchung dieser Chill-Reaktion bei Primaten durchgeführt wurde. Auch wenn Panksepps These häufig zitiert wird, haftet ihr somit etwas Anekdotisches an.

Quelle Eckart Altenmüller und Reinhard Kopiez: Starke Emotionen und Gänsehaut beim Musikhören: Evolutionäre und musikpsychologische Aspekte. In: 16. Multidisziplinäres Kolloqium der GEERS-STIFUNG 2012 Band 19 (Seite 59)

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Die eben zitierte Artikel war das Movens für den vorliegenden Blog-Beitrag, der eigentlich nur als Stoffsammlung gedacht war, bevor er ausuferte, ohne zu einem Ende zu führen. Da das Thema untergründig und auf Nebenschauplätzen weiterwuchert, kam gestern – amazongesteuert – das Buch von Byung-Chul Han, bei dessen Lektüre ich an Musik denken werde. Auch hier ist Anekdotisches nicht auszuschließen.

Han Gewalt a  Han Gewalt b

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In welchem Maß die hier hervorgehobene Überschreitung des künstlerisch gebändigten Ausdrucks in Richtung „Schrei“ zum Allgemeinplatz geworden ist, kann man im Journalismus oft genug aufzeigen (ich will es auch gar nicht kritisieren), z.B. hier:

Eines der markantesten Beispiel seiner [Ferenc Fricsays] Interpretationskunst findet sich im „Fidelio“, wo auf Pizarros (Fischer-Dieskau) „Er sterbe“ ein einzigartig dramatischer Prozess in Gang gesetzt wird, der in Leonie Rysaneks Aufschrei „Töt‘ erst sein Weib!“ seine erste Entladung findet. Ein Schrei, der die Grenzen dessen erreicht, was Musik überhaupt ausdrücken kann. Kurz darauf ertönt, mit einem harmonischen Trugschluss die Botschaft aus einer anderen Welt versinnbildlichend, das ausgedehnte Sostenuto des Trompetensignals, das jeden jagenden Puls schlagartig verstummen lässt. Eine solch radikale Spannung zwischen Bewegung und gefühltem Stillstand ist bezeichend für Fricsays geballtes, kontrastbetontes Musisieren.

Quelle FONO FORUM November 2015 Seite 64 f Wider die Politur Im August 2014 wäre der Dirigent Ferenc Fricsay 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass hat sein ehemaliger Labelpartner im Jahresabstand zwei Boxen mit Einspielungen vorgelegt. Von Christoph Vratz.

Stuttgart 3

Machtgefälle im Alltag

Wir hatten ein Gespräch über Schule und Drogen geführt, beim Flammkuchen im Biergarten, hinter dem Damm, auf dem ein Fuß- und Fahrradweg mit Blick auf den Neckar verläuft. Rückweg. Es wird etwas eng, wenn man dort oben zu zweit mit Hund entlangspaziert, die Fußgänger müssen fortwährend zurück- oder vorausschauen, um den Fahrrädern auszuweichen; und man muss ganz am Rande stehenbleiben, wenn man den Blick in den trägen Fluss senken möchte.

In einiger Entfernung kommt uns eine buntscheckige Dreiergruppe entgegen, Punker, einer mit unglaublich dünnen Beinen trägt einen schlaffen Rucksack, in der Mitte eine rothaarige Frau, -hat sie eine allzugroße Spange in der Lippe? Sie sehen alle drei morbide aus, vielleicht drogenkrank, ausgerechnet. Als eine Fahrradklingel schrillt, drängen sie sich zur Seite und stehen etwas enger, der Fahrradfahrer aber schlägt, als sei er in Sturzgefahr, mit der rechten Hand gegen den Rucksack, er forciert, berührt möglicherweise auch den Rücken des jungen Mannes mit dem Lenker, man hört den dumpfen Kontakt, und schon ist der Kraftprotz vorbei. Die Fassungslosen schreien hinterher und schütteln die Fäustchen, Frauenstimme: „du blödes Arsch!“ oder so ähnlich.

Wir sind schon ein Stück hinter den Beteiligten, beim Zurückschauen sehe ich den Fahrradfahrer in etwa 50 m Entfernung, er hat sein Rad quer über die schmale Straße geworfen, ist bereits zu Fuß in unserer Richtung unterwegs, drohend aufgerichtet schreit er: „Hat da jemand ein Problem!!??“

Will er die drei nur einschüchtern? Ich weiß nicht, wie sie reagieren, beim nächsten Zurückschauen hat er jedenfalls sein Vorhaben aufgegeben und sich wieder dem Fahrrad zugewandt, vielleicht muss er die Fahrbahn für andere freimachen, ich habe es nicht mitbekommen.

Kurz danach sind wir an dem schrägen Abgang, in Richtung Kurviertel Bad Cannstatt.

Ganz allmählich schwenkt meine Einschätzung der Szene um: natürlich bedeuteten nicht die Punker eine Gefahr (sie irritierten nur, so lange ich ihnen entgegensah), sondern dieser Radfahrer; er gehörte zu denen, die mit dem Wort „Kuckstu!?“ schon übergangslos zuschlagen.

Eine Szene zwischen Machtanmaßung und scheinbar rechtsfreiem Raum. Mich beunruhigte die Vorstellung, dass ich eine bestimmte, eine andere Rolle hätte übernehmen müssen.

Zum Beispiel hätte ich, als der Radfahrer sich, offenbar gewaltbereit, anschickte zurückzukommen, ebenfalls die paar Schritte zurückgehen und mich neben die Punker stellen können: die bloße Anwesenheit einer vierten Person, die sich durch Kleidung und Alter vollkommen unterschied, hätte der Gruppe ein ganz anderes Image gegeben: einen imaginären (bürgerlichen) Machtzuwachs.

Sobald ich es so sehe, muss ich wieder an das Reclam-Büchlein denken, das ich für etwaige Wartezeiten in der Jackentasche trage: Ich habe es kürzlich wieder konsultiert, als ich die Indienfilme gesehen habe: rechtsfreie Räume in einer Demokratie?

ZITAT

Die Macht wird bald mit Freiheit, bald mit dem Zwang in Verbindung gebracht. Für die einen beruht die Macht auf dem gemeinsamen Handeln. Für die anderen steht sie mit dem Kampf in Beziehung. Die einen grenzen die Macht von der Gewalt scharf ab. Für die anderen ist die Gewalt nichts anderes als eine intensivierte Form der Macht. Die Macht wird bald mit dem Recht, bald mit der Willkür assoziiert.

Dies ist für Byung-Chul Han die Ausgangslage im Vorwort, – eine theoretische Konfusion. Dann beginnt er seine hochinteressanten Ausführungen mit der ersten Definition, wenn der eine (Ego) gegen den Anderen (Alter) steht:

Unter Macht versteht man gewöhnlich die folgende Kausalrelation: Die Macht von Ego ist die Ursache, die bei Alter gegen dessen Willen ein bestimmtes Verhalten bewirkt. Sie befähigt Ego dazu, seine Entscheidungen, ohne auf Alter Rücksicht nehmen zu müssen, durchzusetzen. So beschränkt Egos Macht Alters Freiheit. Alter erleidet den Willen Egos als etwas ihm Fremdes. Diese gewöhnliche Vorstellung von der Macht wird deren Komplexität nicht gerecht. Das Geschehen der Macht erschöpft sich nicht in dem Versuch, Widerstand zu brechen oder Gehorsam zu erzwingen. Die Macht muß nicht die Form eines Zwanges annehmen. Daß sich überhaupt ein gegenläufiger Wille bildet und dem Machthaber entgegenschlägt, zeugt gerade von der der Schwäche seiner Macht. Je mächtiger die Macht ist, desto stiller wirkt sie. Wo sie eigens auf sich hinweisen muß, ist sie bereits geschwächt.

Quelle Byung-Chul Han: Was ist Macht? Reclam Stuttgart 2005 (Seite 7 und 9)

In etwas einfacherer Form finde ich diesen definitorischen Ansatz in der Formel von Mallory, Segal-Horn & Lovitt: demnach sei Macht

die Fähigkeit von A, B dazu zu bringen etwas zu tun, was er ansonsten nicht getan hätte. – ] the ability of A to get B to do something they would otherwise not have done.

Natürlich löst sich dieser Gedankengang sofort von meinem simplen Fall, der mit Ohnmacht und angemaßter Macht zu tun hat. Im Fall einer Eskalation steht sofort die Möglichkeit bereit, die Polizei zu Hilfe zu rufen, also eine Macht über allen Beteiligten wirkungsvoll ins Spiel einzuführen.

Interessant scheint mir, dem Unterschied zwischen Macht(ausübung) und Gewalt nachzugehen. Es gibt eine Theorie des Dreiecks der Gewalt mit den Faktoren Täter, Opfer und Zeuge, deren Definition von Gewalt naturgemäß – nämlich abhängig von der jeweiligen Perspektive – unterschiedlich ausfällt. Siehe in dem Artikel „Ethnologische Theorien zur Gewalt“ (hier): David Riches. Auch Veena Das, die „im Sinne von Franco Basaglias Konzept der peace time crimes (…) die Gewalt nicht als Unterbrechung des Normalzustandes, sondern vielmehr als Implikation des Gewöhnlichen“ ansieht.

Siehe auch im Basaglia-Artikel den Abschnitt „Geisteskrankheit ohne Geist“, womit sich eine aufschlussreiche Verbindung zu Wölfli/Aperghis ergibt.

KAMASUTRA als Kopf-Problem

INDIEN-Filme auf arte – noch bis 14. Juli !!!

Man sollte diese Filme nicht versäumen, wenn man sich für die heutige Situation in der indischen Gesellschaft interessiert. Es reicht nicht, irgendwie davon gehört zu haben, dass einzelne Vergewaltigungen spektakulär diskutiert wurden und dass die Lage der Frauen in dieser höchst differenzierten Kultur, der angeblich größten Demokratie der Welt, offenbar desolat ist. Nach einem früheren Beitrag habe ich mir die Notwendigkeit einer indischen Aufklärung, eine Aufklärung in und über Indien – anlässlich des BBC-Films India’s Daughter – zum Thema gemacht, nämlich hier. Es ist unverändert akut geblieben und geht nicht nur Indien an, zumal wenn man der festen Überzeugung ist, dass gerade die indische Kultur (nicht nur die klassische indische Musik oder die neue Literatur der Inder im Ausland) eine große Bedeutung für den Rest der Welt hat. Sie ist paradigmatisch.

Der Film „Sex: Tabu im Lande des Kamasutra“ war gestern abend auf ARTE zu sehen und kann jetzt noch bis nächsten Dienstag übers Internet abgerufen werden. Hier folgt ein Pressetext, in dem das Wort „Tollereien“ befremdet, die französische Version sagt es eindeutig: Récemment, un des plus célèbres éditorialistes indien débutait son article ainsi : „Comment nous avons tué le Kamasoutra“. Effectivement, le pays qui, le premier, a répertorié nos positions sexuelles, se trouve aujourd’hui en panne d’imagination. Der Originaltitel des Filmes lautet: „Sexe, mensonges et frustrations“. Ein Film von David Muntaner und Damien Pasinetti.

ZITAT (Pressetext arte)

Vor kurzem eröffnete einer der berühmtesten indischen Journalisten einen Artikel mit dem Satz: „Wie wir das Kamasutra zu Grabe trugen.“ Es stimmt: Ausgerechnet dem Land, das seine Tollereien als erstes zu Papier brachte, mangelt es heute beträchtlich an Fantasie. Vieles, was mit Sex zu tun hat, ist inzwischen sogar tabu. Während Indien wächst, sich entwickelt und modernisiert, bleibt es auf diesem Gebiet erschreckend altmodisch. Und die konservative Welt, in der die jungen Inder aufwachsen, kontrastiert lebhaft mit den Bildern, die ihnen über Internet, Kino und Werbeindustrie vermittelt werden. Besonders schlimm steht es um das Frauenbild: Westliche Frauen gelten seit langem als freizügig und frivol, doch auch die indische Frau ist in neueren Bollywoodstreifen und indischen Medien meist kaum mehr als ein reines Sexobjekt.

Die Diskrepanz zwischen einer fast mittelalterlich anmutenden Realität und den Frauenfantasien der Medien sorgt bei indischen Männern für große Frustration. In der Dokumentation beleuchten Ärzte, Journalisten und Soziologen sowie Vertreter der indischen Sexbranche die schwierige Beziehung der indischen Männer zu den Frauen.

Hinweis im Vorfeld: Dieser Film ist nicht für Jugendliche unter 18 geeignet.

http://www.arte.tv/guide/de/051049-000/sex-tabu-im-land-des-kamasutra#arte-header HIER 

Was gab es bisher? Einer der neuen Aufklärer Indiens schien Sudhir Kakar mit Frau Katharina zu sein; dies ist die erste Hälfte der Inhaltsangabe des gemeinsamen Buches, das vor fast 10 Jahren erschien:

Kakar Inhalt

Sudhir & Katharina Kakar: DIE INDER Porträt einer Gesellschaft / Verlag C.H.Beck München 2006

Zu Ergänzung lese man das Interview mit Katharina Kakar im Deutschlandfunk hier.

Schon vor 30 oder 40  Jahren gab es einzelne Hinweise auf den problematischen und widersprüchlichen Hintergrund, z.B. in  dem schönen Indien-Buch von Gisela Bonn, – aber es ist auch typisch, dass der eigentlich alarmierende Satz doch spirituell so eingehüllt ist, dass man ihn kaum zur Kenntnis nahm:

Gisela Bonn Khajuraho

Eine Seite vorher ist von der tantrischen Lehre die Rede: demnach wohne das höchste Wissen, die erhabenste Weisheit – Pradschna – im weiblichen Organ, das männliche Prinzip aber sitze im Kopf, im Verstand. Erst beides vereint ergebe das Ganze, die Harmonie. Merkwürdig, wie es nun weitergeht:

Die Yab-Yum-Vorstellung beruht auf dem Glauben, die Frau sei das aktive Prinzip, die Lebenskraft, die sie dem schlafenden männlichen Prinzip, durch ihre Umarmung einflößt. Das Yab-Yum, das Bild der Umarmung, kann man auch verstehen, wenn man den Mann als Prinzip des Weges sieht, auf dem das weibliche als ein transzendentes Ziel einherzieht.

(Fortsetzung siehe oben im abgebildeten Text, und da steht seltsam erratisch ein Satz, als sei die Humanisierung des Geschlechterverhälnisses im Prinzip schon verwirklicht: )

Das Yab-Yum (…) humanisiert eine Religion, die für ihre Verachtung der Frau, für die vollkommene Negierung der Welt bekannt war.

Quelle  Gisela Bonn / Giselher Wirsing: INDIEN und der Subkontinent / Reiseführer / Horst Erdmann Verlag Tübingen Basel 1973 ISBN 3 7711 0160 3 (Seite 63)

Man erinnere sich an diesen Satz, wenn man in dem oben annoncierten Film die indischen „Touristen“ sieht, die ihre gewagten Tempel-Skulpturen fotografieren, als kämen sie aus einer anderen Welt. Ihre eigene (moralische) Welt aber ist die des britischen Puritanismus geblieben, die ihnen als koloniales Erbe hinterlassen wurde. Die Konfrontation mit der westlichen Welt ist zweifach: zeitgenössisch und anachronistisch.

Weitere Filme zum Thema Indien auf ARTE:

Indien – Gewalt im Lande Gandhis

Ein Land voller Pracht. Ein Land voller Ungerechtigkeit. Weltweit das unmenschlichste aller Systeme: Kasten, wie im Mittelalter. Ein Land der Moderne: Atommacht, Global Player, Hightec Jongleur, Raumfahrtprogramm zum Mars. „Den Mars zu erreichen ist eine Sache, 500 Millionen Menschen ohne Toiletten eine andere. Außer man schießt diese 500 Millionen hoch zum Mars.“ (Villoo Patell, Managerin)

ab 9:00 über „Dorfgerichte“ (die jenseits der offiziellen Rechtsordnung wirken)

bei 15:25 der Satz: „Die Kaste  ist das Zentrum der indischen Demokratie, zusammengehalten von viel Gewalt.“ (Arundhati Roy)

 HIER http://www.arte.tv/guide/de/050500-000/indien-gewalt-im-lande-gandhis / Ein Film von Lourdes Picareta (2015) / Länge 53 Minuten

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INDIEN – Land mit Zukunft (zugleich ein fabelhafter Streifzug durch die Geschichte seit 1947)

HIER http://www.arte.tv/guide/de/045935-000/indien-land-mit-zukunft / Ein Film von Laurent Jaoui (2012) / Länge 95 Minuten

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Ich rufe mir einige Sätze in Erinnerung, die ich mir Anfang der 90er Jahre aus einem fesselnden Indien-Roman des FAZ-Korrespondenten Thomas Ross notiert habe; da heißt es über den Protagonisten:

In Indien sah er eine Metapher unserer Welt, das war es, was ihn vor allem hinzog. „Indien ist noch Magma, noch nicht erkaltet und erstarrt wie Europa“, sagte er, „Indien ist ein brodelnder, blasenwerfender Kessel, und niemand weiß, ob er eines Tages überkochen wird. Steht die Menschheit heute nicht vor der Notwendigkeit, auf einem geschrumpften Erdball miteinander auszukommen? Und nirgendwo auf Erden haben verschiedene Religionen, Sprachgemeinschaften, Rassen und Kulturen in einem Land solcher Größenordnung und durch so lange Zeitläufe hindurch miteinander zu leben versucht wie in Indien. Indien ist ein einzigartiges Experiment der Menschheit“, sagte er, „und wenn dieses Experiment des Miteinanderlebens scheitert, dann scheitert die Menschheit.“

Quelle Thomas Ross: Der Tod des heiligen Baumes. Bericht aus dem innersten Indien. Carl Hanser Verlag München Wien 1991 / ISBN 3-446-16186-4

Ich bin mir nicht sicher, was ich heute – fast 25 Jahre danach – und einen Tag nach dem Resümee dieser Indien-Filme über das einzigartige Experiment der Menschheit denken soll. Hätte ich im Augenblick die Ruhe, würde ich eine der großen Raga-Interpretationen von Kala Ramnath hören, vielleicht den Frühlings-Raga, den sie in Bielefeld mit Abhijit Banerjee gespielt hat…

Und alles wäre gut.

Was es noch nie gegeben hat

Zweisprachiger Aufruf in DIE ZEIT /  Gesang des US-Präsidenten

ZEIT Titelseite HELLAS

AMAZING GRACE

Noch einmal in voller Länge Hier / Zu erinnern auch in diesem Blog hier

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ZITAT 1

Es stimmt ja, dass Griechenland drei große Ungerechtigkeiten kennt: die Ungerechtigkeit zwischen Armen und Reichen. Zwischen denen, die Staatsjobs haben, und den Arbeitslosen. Zwischen dem griechischen Volk und der scheinbar übermächtigen Troika. Es stimmt auch, dass die Troika immense Fehler gemacht hat und bei Ihnen [den Griechen, JR] mit einer Arroganz aufgetreten ist, die ihrem Anliegen geschadet hat. Aber bei allem Respekt vor Ihrer Regierung: Aus unserer, zugegeben etwas entfernteren Sicht wirkte es so, als hätten Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis versucht, mit einem Paukenschlag die gesamte wirtschaftspolitische Richtung Europas zu drehen. Dazu fehlte ihnen die Kraft – und die demokratische Legitimation.

Dabei hat sich während der langen Verhandlungen in Brüssel durchaus etwas getan. Es ist das Verdienst von Tsipras, dass auch die EU klüger geworden ist; dass viele Regierungschefs inzwischen bereit sind, die Krisenpolitik zu verändern. (…)

Quelle DIE ZEIT 2. Juli 2015 Seite 1 Bleibt bei uns! Liebe Griechen! Jetzt entscheiden Sie über die Zukunft Ihres Landes. Aber es geht um noch viel mehr / Ihr Marc Brost  (Brost)

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ZITAT 2

Der angeblich mächtigste Mann der Welt beginnt zu singen, nachdem er erklärt hat, nun habe es genug Worte über die Rassenfrage gegeben: Allein diese gewagte Umformung der Macht in ästhetische Erfahrung würde genügen, um zu erklären, warum die Öffentlichkeit durch diese Trauerfeier plötzlich zu beben schien. Die Hilflosigkeit der Politik, das Spiel mit der Menschenfischerei, die Überwältigung durch Musik, all das lag in der Luft: Wie könnte Gesang fehlenden Polizeischutz und die Üblichkeit rassistischer Gewalt übertönen?

Es war indes nicht irgendein christlicher Lobgesang, den Obama anstimmte, um Politik, Theologie und Kunst durch ein gefälliges Heilssonderangebot zu versöhnen. Es war vielmehr jenes Lied aus der Gründerzeit der Vereinigten Staaten, veröffentlicht 1779, [… man lese an Ort und Stelle nach… ich breche zugunsten eines anderen Zitates aus demselben Artikel ab:]

Aber wer zu singen beginnt, redet ja nicht auf andere Weise nur weiter, sondern er singt. Worte allein bringen Menschen nicht als leibseelische Wesen zum Klingen. Wer singt, wechselt die Sphäre. Mit diesem Lied, das die Tiefe der politischen Geschichte öffnet und das zugleich jeder kennt, das jedem offensteht, kann vernehmbar werden, was sonst nicht zu hören wäre: dass sich Schmerz in Klang umwandeln lässt, dass eine Gemeinschaft sich erst im Klang aller Stimmen wahrnehmen, vergewissern und fortan ihrer selbst erinnern kann. Die Sehnsucht, sich mit Liedern musikalisch aus der politischen Sphäre zu entfernen und sie erst so neu herbeizusingen, war in Charleston zu hören: als das uralte Lied der Hoffnung auf Anerkennung der Gleichheit.

Quelle DIE ZEIT 2. Juli 2015 Seite 42 Wie Hoffnung klingt / Jetzt hat es jeder gehört: Barack Obama ist durch ein Lied der Präsident aller Amerikaner geworden / Von Elisabeth von Thadden

Für mich ist die Frage, ob jemand das Wort „Kitsch“ auszusprechen wagt, mit dem man oft genug gute Musik zu Boden streckt. Die Autorin ist so mutig, – auf die Gefahr hin, dass sich die Trauerfeier in ein paar Wochen als Theater erweist – an die Kraft der Musik zu glauben und dies zu bekennen.

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Nachwort zu Griechenland

Wenn man nun schon die ZEIT hat: nicht nur den Leitartikel „Bleibt bei uns!“ lesen, sondern unbedingt auch – als Gegengift gewissermaßen – im Feuilleton Seite 41 Slavoj Žižek: Was ist jetzt noch links? In dieser Woche erleben wir einen Kampf um die demokratische Leitkultur. Es geht nicht um die Griechen. Es geht um uns alle! – (Zu Žižek siehe hier.)

ZITAT zu Schulden und Schuld

Die Schuldenanbieter und – verwalter beschuldigen die verschuldeten Länder, sich nicht schuldig genug zu fühlen – sie werfen ihnen vor, sich unschuldig zu fühlen. Ihr Drängen entspricht genau dem, was die Psychoanalyse als Über-Ich bezeichnet: Wie Freud klar gesehen hat, ist es das Paradox des Über-Ichs, dass wir uns umso schuldiger fühlen, je mehr wir uns seinen Forderungen beugen. Wie bei einem grausamen Lehrer, der seinen Schülern unmögliche Aufgaben stellt und dann sadistisch frohlockt, wenn er ihre Panik sieht. Wenn man einem Schuldner Geld leiht, besteht das wahre Ziel nicht darin, den Kredit mit Gewinn zurückgezahlt zu bekommen, sondern in der unbegrenzten Verstetigung der Schuld, die den Schuldner in permanenter Abhängigkeit und Unterordnung hält, jedenfalls die meisten Schuldner, denn es gibt Schuldner und Schuldner.

Nicht nur Griechenland, sondern auch die Vereinigten Staaten werden nicht einmal theoretisch in der Lage sein, ihre Schulden zu bezahlen, wie inzwischen öffentlich anerkannt wird. Es gibt mithin Schuldner, die ihre Gläubiger erpressen können, weil sie zu groß sind, als dass man sie scheitern lassen könnte (Großbanken), Schuldner, die die Bedingungen ihrer Schuldentilgung kontrollieren können (die US-Regierung), und schließlich Schuldner, die man herumschubsen und demütigen kann (Griechenland).

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Und in diesem Fall orientiere ich mich auch an dem, was die Partei DIE LINKE dazu sagt, da der Eindruck entstanden ist, dass die Medien uns einseitig im Sinne der politischen Machthaber und der sogenannten „Institutionen“ informieren: daher sei diese ergänzende Lektüre empfohlen – und sei es zum Aufregen: Hier

Zum Begriff der AUSTERITÄT (oder zum Sparen um jeden Preis): Hier.

Von der Angst zur Höflichkeit

Timor Dei

Heute kam ich am Gymnasium Schwertstraße vorbei, hörte die typischen Pausengeräusche aus dem Innern, fragte mich, ob in Solingen wohl schon an den Schulen das rufende Sprechen eingeübt wird, ein Schreien fast; mir erschien es seit je als eine ortsgebundene Taktik, auch bei kleinen Meinungsverschiedenheiten sofort den ganzen Luftraum zu besetzen, noch ehe man an den Austausch von Argumenten gehen kann. Die Frage ist, ob sich eine weitgehend höfliche Auseinandersetzung unter Jugendlichen überhaupt durchsetzen ließe (höflich durchsetzen?), ehe nicht die Grundregeln der Logik und des Sprachverständnisses erlernt und als solche (an)erkannt wurden. „Bauchgefühl“ und „emotionaler Einsatz“ stehen gesellschaftlich hoch im Kurs. Während ich noch überlegte und meine gestrige Zeitungslektüre zu rekapitulieren suchte, hatte ich schon das Smartphone gezückt und den ehernen Schuleingang fotografiert:

Spruch Schwertstraße fern

Es ging mir um den Spruch, der mich wiederum an den Spruch am gelben Gemäuer meines alten Gymnasiums in Bielefeld erinnerte; ich habe ihn schon früher einmal beschworen: nämlich hier. DEO ET LITERIS, – in genau dieser Schreibweise, die unter Altsprachlern noch elegant problematisiert werden konnte. Und immerhin waren es ja zwei Bereiche, die durch das „Et“ nicht nur verbunden, sondern auch sichtbar getrennt wurden. Und hier? Gibt es hier überhaupt noch Latein, so dass man klären könnte, wie es zur Furcht Gottes kommen konnte, ob das Wort mehr mit Ehrfurcht oder mit Angst zu tun hat, in jedem Fall aber als Furcht vor Gott verstanden werden muss, was bei gottesfürchtigen Kindern natürlich außer Zweifel steht. Und sicher geht es nicht darum, den TIMOR DEI nach dem Vorbild des heiligen Augustinus (oder Kierkegaards?) unter dem Doppelaspekt von Furcht und Angst zu betrachten. Aber ist es nicht ein Schlag ins Gesicht der Philosophie, dass eine solche „Emotion“ von vornherein als der Weisheit Anfang  apostrophiert und gewissermaßen petrifiziert wird? Warum eine solch massive, freiheitsberaubende Vorgabe?!

Spruch Schwertstraße nah

Die erwähnte Zeitungslektüre betraf eine der zahllosen „Gewissensfragen“, die niemand so brillant behandeln kann wie ein gewisser Dr. Dr. Rainer Erlinger im Magazin der Süddeutschen. Diesmal ging es um ein – sagen wir – Übermaß an Höflichkeit, überraschend war mir nur, dass wir es täglich anwenden, etwa wenn ich frage: „Darf ich um das Salz bitten?“ Ich erwarte natürlich nicht, dass der andere mit „ja“ antwortet und weiterfrühstückt, als sei nichts gewesen. Er soll handeln, als hätte ich gesagt: „Bitte, gib mir das Salz!“ Es soll aber so scheinen, als ließe ich ihm eine Alternative, es geht schließlich um die Freiheit des Menschen.

Ich erlebte einmal die Situation, dass ich, vergeblich nach einem Stift suchend, mein Gegenüber fragte: „Haben Sie vielleicht einen Stift?“, und er antwortete ausgesucht höflich: „Darf es auch ein Rotstift sein?“, was ich bejahte, worauf die Entgegnung kam, „tut mir leid, hab ich auch nicht!“ Das hatte er schon vorher gewusst, er war jedoch ein Spaßvogel. Davon ist jetzt nicht die Rede. Auch nicht von der sprichwörtlichen japanischen Höflichkeit, die dem, der etwa nach dem Weg zum Bahnhof fragt und in eine Richtung weist, um keinen Preis eine Korrektur zumuten mag: „Ja, das ist richtig, aber noch besser wäre es, Sie gingen diesen Weg …“ und dabei verschämt in die Gegenrichtung weist. Ob es heute noch genau so ist, kann ich nicht sagen: Im Jahre 1973 beschrieb Dietrich Krusche in seinem Buch „Japan – Konkrete Fremde / Eine Kritik der Modalitäten europäischer Erfahrung von Fremde“ das Phänomen der japanischen Ritualisierung der Höflichkeiten auf den Seiten 75 bis 85. Zitat zur Auskunft, wie denn das Wetter sei: „Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich sagen, die Sonne scheint.“

Heute gibt es dazu – wie ich aus der SZ-Kolumne der „Gewissensfragen“ lerne – eine Theorie, die nicht nur Japan, sondern uns alle betrifft: sie heißt nun „psycholinguistische Theorie der Höflichkeit“ und wurde 1987 von Penelope Brown und Steven C. Levinson vorgelegt. Auf die Vorarbeiten bezieht sich Harald Weinrich 1986 in seiner großen Rede „Lügt man im Deutschen, wenn man höflich ist?“, im pdf. nachzulesen hier.

Das ist ein sehr nützlicher Hinweis, dennoch finde ich, dass der hochintelligente Ratgeber des süddeutschen Magazins am Ende doch nicht ganz zufriedenstellend argumentiert. Es geht um ein Schild im Wartezimmer: „Sie dürfen noch kurz Platz nehmen.“ Früher habe es geheißen: „Bitte nehmen Sie doch Platz“.

Unter Berücksichtigung der Theorie der Höflichkeit sagt Erlinger nun, die Psychologie unterscheide

ein positives Gesicht, ein Bedürfnis nach Anerkennung, und ein negatives Gesicht, das Bedürfnis nach Freiheit und Autonomie. Höflich zu sein, bedeutet in dieser Theorie, sogenannte face threatening acts, Handlungen, die das Gesicht des Gegenübers bedrohen, zu vermeiden. Hier geht es um das klassische Problem der Aufforderung, etwas zu tun, die, auch wenn sie mit einem „Bitte“ versehen wird, das Gegenüber in seiner Freiheit und Autonomie, dem negativen Gesicht, bedroht. Deshalb wird sie sprachlich verkleidet (…)

„Sie dürfen noch kurz Platz nehmen“ sollte man nicht wörtlich als anmaßende Erteilung einer Erlaubnis auffassen, sondern als – sprachlich etwas unglücklichen – Versuch, eine direkte Aufforderung, die ja trotz „bitte“ etwas von einer Anordnung hat, zu vermeiden. Deshalb liegt darin auch keine Arroganz, sondern im Gegenteil das Streben nach Höflichkeit.

Quelle Süddeutsche Zeitung Magazin „Gewissensfrage an Dr. Dr. Erlinger“ 19. Juni 2015 Seite 6

Mir scheint, dass hier etwas unberücksichtigt bleibt, was nicht nur sprachlich leicht verunglückt ist, sondern ebenso nach dem Reglement der Höflichkeit: das Wörtchen „kurz“, das eine unerträgliche Einschränkung meiner Freiheit avisiert, da ich möglicherweise geplant hätte, mich für eine sehr lange Zeit im Wartezimmer einzurichten, etwa in Anbetracht einer guten Lektüre.

Im Ernst: hier soll mir suggeriert werden, dass die Wartezeit ohnehin nur kurz ist, ich soll sie aber höflicherweise in meine Verantwortung übernehmen (für den Fall, dass es doch länger dauert). Wie lange werde ich unter diesen Umständen mein Gesicht wahren können?

Im aktuellen SPIEGEL (Nr. 26 / 20.6.2015 Seite 125) macht sich Nils Minkmar gerade Gedanken, ob der heute gängige Konversationsbeginn „Alles gut?“ wirklich geeignet ist, die früher übliche Formel „Wie geht es Ihnen?“ zu ersetzen.

Es war gegenüber der heute beliebten Formel ein nicht invasiver Gruß: Er bezog sich im Verständnis der meisten Zeitgenossen auf die Gesundheit oder den frischen Moment und überließ es weitgehend dem Befragten, wie er es verstehen sollte.

„Alles gut?“ ist dagegen eine fragende Wendung mit nahezu kindlichem Vollkommenheitsanspruch. Wie schockiert wären alle, wenn man sie glattweg verneinte. Es ist der Gruß in einer Kultur, in der auch die Erwachsenen sich jederzeit fühlen möchten wie Pippi Langstrumpf im Süßigkeitenladen, und einer digitalen Ökonomie, die vom Versprechen lebt, dass auch der entlegenste Wunsch … [nein, nein, nein!]

Ich schlage vor, zunächst einmal den Gruß, die Begrüßung, nicht mit dem harmlosest möglichen Gesprächsbeginn gleichzusetzen; es ist doch nur eine Ermunterung, die Andeutung einer Gesprächsbereitschaft (also nach dem „Guten Tag“ oder „Grüß Gott“, bzw. über diesen Gruß, meinetwegen auch über ein erstes „Hallo“, hinaus).

Noch fragwürdiger als die „Alles gut?“-Frage zu Beginn ist wohl die „Alles klar!“-Behauptung zum Abschluss; sie sollte einen nie zu erneuter Nachfrage veranlassen, etwa: was haben Sie gesagt:  A l l e s klar? das hätte ja nicht einmal Aristoteles von sich sagen können! Also könnten Sie mir vielleicht erklären, warum mich der Wandspruch aus einem bayrischen Wirtshaus mein Leben lang verfolgt: „Trink Gott und nicht iß vergiß!“ ??? Und zwar auch, wenn ich gerade den Rätselspruch von aller Weisheit Anfang  an einer Schule betrachte? So steht es wohl heute noch dort als Menetekel an der Wand, im Gasthof Adler neben dem Schloss Kirchheim bei Mindelheim, Bayrisch Schwaben,  in kunstvoll gegliederter, ziselierter Schrift:

Trink          GOTT

Und            Nicht

Iß                 Vergiß

              !

Bloggen: meine Hausaufgaben?

Ich bin ja nicht mehr in der Schule, nicht einmal als Lehrer; als Redakteur und Produzent hatte ich immerhin eine Öffentlichkeit zu beachten, wobei ich immer gehofft habe, dass das, was mich wirklich interessierte, auch für einen großen Teil des möglichen Publikums interessant sein müsste, – Leute, für die ich auch sehr gerne zusätzliche Recherchen anstelle, die dann wiederum für mich selbst nützlich sind. Denn: etwas erklären zu müssen, oder auch nur mit Sinn und Verstand als Thema zu behandeln, heißt zunächst einmal: es selbst nicht beim intuitiven Umgang damit bewenden zu lassen. Es genügt einfach nicht, nur zu ahnen, wie der innere Zusammenhang ist. Wenn ich Geige spiele, könnte das vielleicht genügen; ich weiß ja (hoffentlich), wie die Begleitung geht und kenne auch Hunderte von ähnlichen Stücken. Aber wenn ich Geige unterrichte, muss ich vermitteln, was außer den physiologisch notwendigen Bewegungen und außer den sichtbaren Notenköpfen für den anderen eine Rolle spielen sollte. Wo die Betonungen liegen, wo die Linie hinführt, wo sie abflacht usw., das kann ich nicht dem Gefühl überlassen, vielleicht hört das Kind ja zuhaus nur James Last… Schuld der Eltern, genau! Natürlich bilden sich auch da musikalische Gefühle, aber doch wohl sehr atavistische. Ich habe einmal die Merkformel notiert, dass schlechte Musik in Wirklichkeit Musikersatz ist, so wie ein Schundroman nur Ersatz für wirkliche Literatur ist, die man nicht zu lesen gelernt hat. Noch pauschaler gesagt ist der Schund nicht Literaturersatz, sondern Lebensersatz.

Wobei zu erwähnen wäre, dass man aus Schund und Müll, wie jeder weiß, durchaus Kunst machen kann …

Kurz und gut: ich schreibe hier, um mir über manche Themen Klarheit zu verschaffen, indem ich sie objektiviere. (Öffentlich kontrollierbar, damit es für mich ein bisschen verbindlicher und für andere nützlicher wird. Also doch Lehrer?) Manchmal schreibe ich auch nur, um Anregungen festzuhalten, denen ich vielleicht erst später nachgehen mag. Z.B. diese hier. Möglicherweise führt der Hinweis auf das Schlangenritual zu nichts. (Im Grunde habe ich zwischendurch lange und vergeblich danach gesucht, auf welcher Seite bei Ernst Cassirer mitten im Text zur „Philosophie der symbolischen Formen“ eine handschriftlich geschwungene Linie zu finden ist, ein „Ur-Zeichen“, das mich am Ende einer langen Entwicklungslinie vielleicht zu Liechtensteins „Brushstroke“ führen kann.

Mit andern Worten, ich übe nur. Auch in dem gestrigen, noch unausgeführten Beitrag habe ich mir eine Übung vorgenommen. Ich habe die CD von Anfang bis Ende gehört und ein paar Ideen notiert. Aber dann lag noch eine andere CD bereit, zu der mir gesagt worden war: „du musst sie laut hören! sonst wirkt sie nicht wie sie sollte!“, ich antwortete pflichtschuldigst auf die pädagogische Tour: „na sicher, darum habt ihr Jugendlichen später auch alle so kaputte Ohren!“ Delta Machine von Depeche Mode! Mir fällt genug dazu ein, auch wenn ichs leise höre. Ich muss nicht erst Schiffbruch erleiden, um zu wissen, wie heftig das stürmische Meer mir zusetzen kann.

Wenn ich von Übung spreche, denke ich an Johann Sebastian Bach, seine Clavierübung enthält die großartigsten Werke des Abendlandes. Was nicht heißt, dass ich, ein kleines Licht, also gar nicht erst anfangen muss mit eigenen Übungen oder dem, was ich so nenne. Es bedeutet vielmehr, dass ich kein MEISTER bin, der es sich leisten kann, im Alter auf Übungen zu verzichten. Im Gegenteil: ich darf nicht weniger, sondern muss mehr üben als je zuvor. Einesteils ganz einfach: um nicht einzurosten, andererseits noch einfacher: weil die Themen sich vervielfachen. Z.B. James Last warf mich letztens zurück aufs alte Schulgelände der Harmonielehre. Auch wenn Sie, liebe Mitleser, es bereits mit bloßem Ohr erfasst haben, ich füge hier eine Notenseite von Dvorak bei, – nicht ohne ein großes dankbares Lob auf die Notentextvermittlung der großen Petrucci-Musikbibliothek -, und mache Sie aufmerksam auf die Basslinie, die wir im Prinzip (!) dort auch bei James Last erfasst haben, aber in Wahrheit schon lange vorher aus anderer Quelle kennen, ich sage nur wieder BACH, füge hinzu BUXTEHUDE oder PACHELBEL oder auch meinen kleinen Beitrag hier.

Dvorak Romantische Stücke

Nein, ich muss das in einem neuen Artikel ausführen. Ich sollte „Die Popformeln“ hineinnehmen, die mein ehemaliger Kollege Kramarz zwar nicht erfunden hat, aber ins Licht gesetzt hat. Man hat allerdings den Eindruck, als wolle er den alten Meistern eher zur versehentlichen Popnähe gratulieren, statt die Popmusik eines gigantischen Harmonielehre-Plagiats zu verdächtigen. Und dann gibt es da noch den hochintelligenten Pop-Forscher Peter Wicke. Später! Streng genommen müsste ich jetzt erstmal üben. Klavier, das läuft gewissermaßen von selbst (Doppeltriller gis-moll siehe hier ), dann Geige (Dont: „Vorübungen zu Kreutzer“, sehr empfehlenswert auch ohne Kreutzer), aber das ermüdet mörderisch. Vielleicht mein Fehler.

Nur Bloggen ermüdet nicht. Ich vermute ja auch immer, dass die unselige Daddelei der Kinder mit den Smartphones sie nicht ermüdet. Und obendrein nichts „übt„. Aber dazu fällt mir ein, dass der Hauptdaddler, den ich kenne, am echten Instrument gern wortreich erklärt, dass – was am Instrument nicht geht – gar nicht gehen kann. Und wenn ich sage: es geht nur, wenn man es langsam geübt hat, lautet die Antwort: Nein, das hat damit nichts zu tun. Wirklich!

Und darum schreibe ich es lieber noch einmal hier in den Blog: ÜBEN HILFT. Diese „Popformel“ gilt allerdings nur, wenn stillschweigend inbegriffen ist: ÜBEN ist WIEDERHOLUNG OHNE FEHLER. Die Langsamkeit ist also ebenfalls selbstverständlich. Beim Üben Fehler zuzulassen bedeutet Fehler zu üben. Keine Selbsttäuschung (die Fehler zurechthören, sie für Zufall halten). Mit dieser strengen Art des Übens hat Bloggen nichts zu tun. Es ist näher am Improvisieren, Korrigieren, Verwerten von Zufallsgedanken. Auch in der Musik bedeutete Improvisieren nicht nur die fehlerlose Anwendung von Formeln (das wäre allerdings möglich, ist teilweise sogar notwendig), sondern auch das Riskieren (und Umdeuten) von Fehlern. Der Unterschied ist einfach: BLOGGEN IST NICHT ÜBEN. Ein Blogbeitrag kann aber EINE ÜBUNG SEIN. Oder: man kann Übungen daran anschließen, es kann also Übungsergebnis sein oder Übungsanleitung

(Und diesen ganz ordentlichen Schlußsatz habe ich gestern, als ich anfing zu schreiben, nicht vorausgesehen. Im Grunde habe ich ihn aber auch schon mehrmals gesagt.)

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“Der große Unterschied zwischen einer Koralle in einer Wunderkammer und einem Barthes-Zitat auf einem Blog besteht darin, dass mit Wunderkammern die Idee von Universalität und Ganzheit verbunden war, sie also ein Bild der gesamten Welt liefern sollten, während Blogs, der Verheißung von Kreativität verpflichtet, Unerschöpflichkeit suggerieren. Es gilt hier: ‘infinite scroll’ statt Totalität.”

Wolfgang Ullrich (Zitat aus seinem Blog https://ideenfreiheit.wordpress.com/ 6. Juni 2015)

Nachtrag 21. Juni 2015

„Was ist eine Probe? Nichts anderes als eine unendliche Anzahl von Neins: nicht so, nicht zu hoch, nicht zu tief, nicht zu laut, nicht schleppen, nicht eilen, nein, nein, nein, und nochmals nein.“ So hat Sergiu Celibidache den Charakter und den Sinn von Proben erklärt, bei denen alles darauf zielt, zuletzt „das eine Ja“ der richtigen, gelingenden Aufführung zu ermöglichen, also Bedingungen zu schaffen, damit „eventuell“ Musik entstehen kann. Darum geht es – um Lernen und Verstehen, nicht um billigen öffentlichen Voyeurismus. […bei seinen Proben vor Publikum]. Von einer solchen Einstellung könnte und sollte die Kultur auch in Zukunft viel gewinnen: vom freien Zugang zu dem Prozess von den tausend Neins zu dem einen Ja.

Quelle Süddeutsche Zeitung 20./21. Juni 2015 Seite 15 Kunst, Hand, Werk Schwellenangst vor der Hochkultur? Mit nichts lässt sie sich einfacher abbauen als mit dem Besuch einer Probe / Von Harald Eggebrecht

Vertrauen

Vom Vertrauen ist nun oft die Rede: mal ist eine Art „Weltvertrauen“ gemeint (Natur!), mal das Vertrauen oder der Mangel an Vertrauen in die politischen Verhältnisse, in die Sicherheitslage, in Putin, fern- oder nahestehende Menschen (jeder könnte sich in einen Täter verwandeln!).

Zu den Eigenschaften des Menschen gehört, dass er ohne Vertrauen kaum lebensfähig wäre, und außerdem, dass er für alles eine Erklärung haben möchte, aber sofort. Man muss darauf vertrauen können, dass das Dach hält, unter dem man schläft und das ein anderer gezimmert hat; dass im Flugzeugbauch kein Schraubenschlüssel an einer Stelle vergessen wurde, wo er unterwegs auf gar keinen Fall hingehört. Vertrauen ist unverzichtbar, und man denkt auch nicht darüber nach: Es gehört ja so selbstverständlich dazu. Wer hätte bis Donnerstag dieser Woche erwogen, ob ein Germanwings-Pilot auf die Idee kommen könnte, 150 Menschen in eine Felswand zu jagen?

Niklas Luhmann, der große Soziologe, hat das Vertrauen als „wirksamere Form der Reduktion von Komplexität“ bezeichnet – unsoziologisch gesagt: Wer alles bedenkt, verwirft und wieder bedenkt, der würde zu nichts mehr kommen. Tausend Mal am Tag bleibt einem kaum etwas übrig, als sich auf andere zu verlassen. Seit Donnerstag übrigens auch auf einen Staatsanwalt aus Marseille – nicht auszumalen, falls sich doch noch ein ganz anderer Absturzgrund herausstellen würde.

Quelle Süddeutsche Zeitung am Wochenende 28./29. März 2015 Seite 4 Flugreisen Vertrauens-Bruch  Von Detlef Esslinger.

Leben ist immer Ausgeliefertsein. Es geht nicht ohne blindes Vertrauen. Jeden Tag ist das so. Auf der Landstraße vertrauen wir darauf, dass der Fahrer des entgegenkommenden Autos nicht schläfrig ist, dass er keine SMS schreibt und nicht plant, sich mittels einer Karambolage ums Leben zu bringen. Wir vertrauen dem Heizungsmonteur, dem Arzt, dem Piloten. Unser Leben liegt oft in den Händen von Menschen, die wir nicht kennen, von Fremden, die Wahnsinnige sein könnten. Wir halten das aus.

(…)

„Die Hölle, das sind die anderen“, hat Jean-Paul Sartre geschrieben. Manchmal sind sie die Hölle, manchmal das Paradies, und fast immer ist es schlicht in Ordnung, ihnen ausgeliefert zu sein. Es lässt sich ohnehin nicht vermeiden. Nach der Katastrophe kommt zuerst das Innehalten im Schock, dann die Trauer, und dann leben die nicht unmittelbar Betroffenen weiter wie bisher. Anders geht es nicht.

Quelle Der Spiegel Nr. 14 / 28.3.2015 Seite 14 Leitartikel Ohne festen Boden Das Flugzeugunglück beendet den Mythos von deutscher Sicherheit. Von Dirk Kurbjuweit

PS. (am Tag danach)

Die Sendung „Hart aber fair“ (Notfall Psyche – Gefahr auch für die Mitmenschen) am 30.03. begann und endete mit dem obigen Textzitat von Detlef Esslinger, siehe hier.

Krimskrams im Kopf

Thomas Metzinger

Metzinger Titel

Kaum zu glauben, dass es schon 20 Jahre her ist, dass mich dieses Buch (792 Seiten) sehr beeindruckt hat, – und oft genug, wenn ich es aufs neue zur Hand nahm, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sah. Und jetzt sehe ich, dass es sich doch irgendwie trifft mit den Tendenzen, die mich seit mindestens 1960 bewegten, ohne dass ich den Eindruck hatte, mich auf dem rechten Weg zu befinden. Es war nie genug. Nicht methodisch und praktisch genug. Zu sehr abseits vom tätigen Leben. Zugleich gezeichnet von den Phänomenen, die heute erstmals genauer beschrieben werden.

Sivananda Titel

Inzwischen ist also der neue Ansatz da und fasst den Ist-Zustand ins Auge, ohne dass wir uns „erwischt“ fühlen. Es ist die Realität unseres Bewusstsein, die uns hart ankommt. Ich zitiere:

Wer ihn [Thomas Metzinger] fragt, wie das Denken funktioniert, bekommt zunächst den Eindruck, er beschreibe eine Horde Besoffener. Zwei Drittel des Tages torkelt der Mensch laut Metzinger  mit einer Menge Krimskrams im Kopf durchs Leben.

Offenbar ist der menschliche Geist die meiste Zeit in ein inneres Geplapper verwickelt. „Alles vermengt sich zu einem Hintergrundrauschen aus Erinnerungen, Bewertungen und kleinen Geschichten“, sagt Metzinger. Was gerade tatsächlich passiert, verschwinde hinter diesem Getöse wie hinter einem Schleier. „Wir haben nur manchmal das Erlebnis, beim Denken innerlich Handelnde zu sein“, sagt Metzinger. Die Liste dessen, was einen Menschen nebenbei beschäftigt, ist lang: spontan aufbrechende Erinnerungen, mehr oder weniger zwanghaftes Planen, wiederkehrende traurige Gedanken. Gern auch: neurotisches Denken, Schuldgefühle, die Beschäftigungen mit früheren Verfehlungen. Dazu kommen noch: Tagträume, sexuelle Fantasien.

Es gibt gute Gründe, warum man nicht ständig im Hier und Jetzt leben kann. Metzinger bezeichnet das Gewaber im Kopf als den „narrativen Ruhezustand“ des Geistes: die fortlaufende innere Erzählung dessen, was wir für unser eigenes Selbst halten und wie wir hoffen, einmal zu sein. „Sobald wir die Gelegenheit haben, versinken wir in diesen Selbstgeschichten, planen die Zukunft, verknüpfen die Vergangenheit.“ Erst dadurch, so Metzinger, entstehe das Gefühl, dauerhaft dieselbe Person zu sein.

Quelle Der Spiegel Nr. 11 / 7.3.2015 Seite 104-112 Dranbleiben, bitte! (Psychologie) Nur noch schnell die Mails checken: Immer mehr Menschen klagen über zu viel Ablenkung. Psychologen sprechen von dem Phänomen des „wandernden Geistes“. Doch Konzentration und Durchhaltevermögen lassen sich trainieren. (Kerstin Kullmann)

Man kann die Lektüre nur beherzigen und für sich selbst passend ausarbeiten. Es ist besser als sich – wie es oft geschieht – voreilig ein Burn-out-Syndrom attestieren zu lassen. Als Einführung diene der am Ende des Spiegelartikels angegebene Link, ein Statement von Thomas Metzinger im O-Ton:

http://video.spiegel.de/flash/88/80/1560888_1024x576_H264_HQ.mp4

Noch ein Zitat:

Der wandernde Geist, sagt Metzinger, produziere aber keine Gedanken. Er liefere nur ein angenehmes inneres Handlungsangebot, das immer wieder dazu verführt, darin abzutauchen. „Um uns konzentrieren zu können“, sagt Metzinger, „müssen wir die Fähigkeit besitzen, dieses Angebot abzulehnen.“

(a.a.O. Seite 109)

Kleine Sonderaufgabe

Vergleiche das, was der SPIEGEL hier mit großer Titelblatt– Geste anbietet („Kontrenzier dich!“ 11/2015), mit dem, was BBC schon im Oktober 2014 herausgebracht hat: „Concentrate! How to tame a wandering mind“ http://www.bbc.com/future/story/20141015-concentrate-how-to-focus-better

Interessant der neue Begriff Prokrustination, früher auch als „Bummelei“ bekannt, zuweilen als „Aufschiebeverhalten“, „Schreibblockade“, „Versagensangst“.