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Der Chill-Faktor

Ist „Gänsehaut“ bemerkenswert?

(Eine Notiz vom vergangenen Jahr, Abfallprodukt, ich veröffentliche sie nur, um sie los zu sein. Heute würde ich verschiedene Fragezeichen einschieben und vor allem einen neueren Aufsatz von Ferdinand Zehentreiter als Ausgangspunkt wählen, Thema: „Warum Musik keine ‚Sprache der Gefühle‘ darstellt“.)

Ganz unbedarft fühlte ich mich nicht angesichts dieses Themas: jedenfalls war es schon vor 1998, als ich über mehrere Radiosendungen hinweg versuchte, den emotionalen Wirkungen von Musik systematischer nachzugehen, auch indem ich um Feedback vonseiten des Publikums bat, woraus ein Menge Hörerpost resultierte. Ich glaubte auf dem rechten Weg zu sein, nahm 1998 an der Geneva Emotion Week (Université de Genève, Faculté de Psychologie et des Sciences de l’Education) – und kehrte ziemlich konsterniert zurück. Vielleicht hätte ich alles gründlich aufarbeiten sollen, dann hätte ich das Problem vom Hals gehabt. Soll die Wissenschaft doch weiter ihre Messungen anstellen, – sind es nicht durch die Bank Leute, die von den wirklichen Wirkungen der Musik wenig Ahnung haben? Immer dieses Gerede von den Emotionen… Was von den Laien völlig unterschätzt wird, ist der gedankliche Anteil der Musik.

Ich würde zunächst einen Aspekt völlig ablösen: die physisch spürbaren und benennbaren Effekte wie Gänsehaut und Tränen. Sie wären meiner Meinung nach separat von den emotionalen Wirkungen zu behandeln, die vorrangig aus der Introspektion stammen und allzuleicht verfälscht und übertrieben werden, auch irreführende Fragestellungen nach sich ziehen.

Ein Beispiel:

Universaler Chill-Effekt – Musik berührt uns im Innersten. Musik ist eine universelle Sprache der Gefühle. Nicht umsonst spricht man vom «Gänsehaut-Effekt», den wir beim Hören von Musik erfahren. Sie kann uns überwältigen und tief wie keine andere Kunst berühren – über alle Kulturen hinweg. Nur wenige Menschen zeigen sich immun gegen die Reize der Musik, die auch unser Filmerlebnis prägt. «Kulturplatz» trifft den Basler Filmkomponisten Niki Reiser. Einen, der weiss, wie ein Soundtrack klingen muss, damit ein Film sein Publikum erreicht. (Siehe hier.)

Dass die Musik eine universelle Sprache sei, „über alle Kulturen hinweg“, ist leeres Gerede. Wunschdenken. In der Musikethnologie gibt es zahllose Belege des vollständigen Versagens interkultureller Kommunikation. Bei jeder komplexeren Musik muss die Hör-Methode regelrecht eingeübt sein, möglichst schon in der Kindheit.

Ich beginne mit eigenen Erinnerungen, die das Phänomen Gänsehaut betreffen, den frühesten, die ich dingfest machen kann, und es entspricht wohl wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass sie erst mit der Pubertät auftauchen.

J.S.Bach: Matthäus-Passion „Barrabam“ – Schrei

Richard Wagner: Höhepunkt der Lohengrin-Vorspiels (Beckenschlag)

Bach „Ciaccona“: eine Stelle in einer bestimmten Interpretation (siehe hier)

(Ich habe all dies schon mehrfach zur Sprache gebracht, z.B. hier,  und sollte jetzt sondieren, was aus dem Zehentreiter-Ansatz an neuen Einsichten gewonnen werden kann.)

Geheime Gedanken, offenbar

Beginnt die Wahrheit mit einer Entschleierung?

Es gibt verschiedene Wege, die sogenannte Realität zu unterwandern. Zum Beispiel auch diesen: von einer sogenannten Realität zu sprechen, so als wisse man von vornherein, dass dahinter noch etwas ganz anderes steckt als Realität. Ja „dahinter“ natürlich, nicht etwa seitlich davon, oder davor, was ja möglich wäre, als täuschende Folie etwa, das farbige Glas wird da gern als Beispiel genommen, auch die rosarote Brille. Aber da bietet sich der gleiche Vorgang an: die Folie abziehen, die Durchsichtigkeit der Dinge erhöhen. Und seitlich? Wer sagt denn, dass es nur ein Ding, eine Sache zu ergründen gibt, ich muss die Relation zur Nachbarschaft beachten, schon um die Höhe und Breite des von mir herausgegriffenen Phänomens zu erfassen.

Die Analogien liegen so nah, dass wir schon nicken, ehe sie ausgesprochen sind. Man muss eine Oberfläche durchstoßen, man muss zum Kern der Sache kommen, sieben Schleier müssen abgelegt werden – und dann kommt was zum Vorschein? Hinter dem verschleierten Bild zu Sais befand sich – ja was nun? – die Götterstatue, die Jungfrau oder die Wahrheit. Die sogenannte Wahrheit, möglichst in handlicher, mit der Hand begreifbaren Form. Oder nur sichtbar? Aber wer daran rührt, wird seines Lebens nicht mehr froh.

Wer nach innen will, hat immer recht. Aber ob er wirklich dort war, ist schwer nachweisbar. Was erfährt man durch bloße Innenschau, was erfährt der andere durch meine verbale Beichte? Ist es ein Entblößungsmechanismus, ist da etwas, oder entdeckt man, was man vorher oder zugleich hineingelegt hat. Wieviel Pubertäres steckt in dem Vorgang, Unaufgeklärtes? Im Mittelpunkt der Liebesmystik des Novalis stand ein 12jähriges Mädchen (sie starb mit 15).

Novalis: Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft.

Ist das ein Glaubenssatz? Oder etwa Realität? Eine Tatsachenbehauptung wie „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Man kann Realität auch bei Google eingeben und hat reiche Auswahl. (Eine Schülerin meinte: „Denken ist wie googeln, nur krasser.“) Am Ende eines ZEIT-Artikels steht der schöne Merksatz: Realität ist stets das, was wir dafür halten.

Als Wahrheit gilt vielen das grobe Benennen der angeblichen Fakten, die schiere Taktlosigkeit.

Wer bin ich? Der, der ich damals war (mit 25) oder der, der ich nächstes Jahr (nach all den Arbeiten, die ich mir vorgenommen habe) sein werde. Ob eine Frau diesen Satz immer noch anders beantwortet als ein Mann? Sie will so sein wie sie früher mal war, aber mit dem Bewusstsein von heute. Er will so sein wie er ist, aber nicht sterben.

Thomas Mann münzte auf den alten Fontane, was dieser über seinen Vater geschrieben hatte: „So wie er ganz zuletzt war, so war er eigentlich.“

Was bedeutet der Rilke-Satz aus den ‚Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘:

Sieh dir die Liebenden an,
wenn erst das Bekennen begann,
wie bald sie lügen.

Sobald du (im Überschwang) ein Bekenntnis abgelegt hast, hast du eine Marke gesetzt, an der deine Liebe fortan gemessen wird. Ebbe und Flut wirst du durch Täuschungsmanöver ausgleichen müssen.

***

ZITAT

Und jetzt ist dieser enthemmte Alles-muss-mitgeteilt werden-Narzissmus aus der Pöbelmaschine [Facebook, Twitter JR] ins Real Life geschwappt. Die Psychologen konstatieren vor allem in der Beziehungskommunikation eine Art Quantensprung in die Geheimnislosigkeit. Der infantile und hemmungslose Zwang, sich ununterbrochen erklären zu müssen, wird mit absoluter Liebe und Ehrlichkeit verwechselt. Bei „Honestyexperiment.com“ können Paare eine dreißigtägige Ehrlichkeitskur buchen mit „Tipps, die einander näherbringen“. [Siehe hier .JR]

Liebe wird aber doch nicht besser oder näher, wenn man keine Geheimnisse mehr voreinander hat. Keine Frau muss sich zur Dokumentation von Vertrautheit und Wertschätzung die Zähne putzen, während er auf dem Klo sitzt, jedenfalls nicht im selben Zimmer. (…)

Etwa mit vier Jahren fangen Kinder an zu verstehen, dass sie Dinge über sich selbst wissen, die Eltern nicht wissen. Das ist der Anfang der Selbstabgrenzung, ein enorm wichtiger Moment zur Identitätsfindung. Mit fünf begreifen sie dann, dass sie darüberhinaus andere Informationen besitzen, die Eltern nicht haben. Mit dem Geheimnis beginnt die Autonomie. beides kann man zerstören. Eltern, die sagen, ihre Kinder haben keine Geheimnisse vor ihnen, werden von Psychologen als problematisch eingestuft. Sie lesen neuerdings – das gehört zum Helikoptern* offenbar dazu – sogar die Tagebücher ihrer Teenager, die sie „zufällig“ beim Aufräumen gefunden haben. Teenager, die Geheimnisse vor ihren Eltern haben können, sind autonomer, disziplinierter, besser im Abgrenzen, und, das vor allem: Sie haben schweigen gelernt. Wenn sie Anwälte werden wollen, oder Ärzte, Journalisten oder gute Ehepartner, werden sie diese Fähigkeiten brauchen können. Als Politiker übrigens auch.

Quelle Süddeutsche Zeitung 6./7. August 2016 Seite 49 Alles muss raus / Diskretion ist aus der Mode gekommen. Paare leben unter dem Diktat permanenter Offenheit – dabei brauchen wir das Geheimnis. Von Evelyn Roll.

* Zu dem Begriff „Helikoptern“ siehe hier.

***

In der Zeit, als ich mich viel mit Mystik beschäftigte, auch mit C.G.Jung, und in der Musik als Geiger „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ auf die Kunst der Bogenführung übertragen wollte, begann ich ebenso intensiv Marcel Proust zu lesen. Alles schien zusammenzufließen in ein Leben, das mit Wahrheitsfindung zu tun hatte, ein Wort wiederum, das in derselben Zeit durch Fritz Teufel einen urkomisch ironischen Klang bekommen hatte. Ich fühlte mich Proust nahe, wenn ich am Ebertplatz in Köln die Rotdornbäume blühen sah, ich besuchte regelmäßig den botanischen Garten, die Flora, vertiefte mich in exotische Blüten. Ich sah entfernte Kirchtürme, besonders im Abendlicht, mit seinen Augen, – habe ich etwa darauf gewartet, dass sich sich aufklappen und ein Inneres, die Wirklichkeit, preisgeben? Es war ja nicht ganz naiv, was ich erwartete, durchaus nicht.

Da der Kutscher, der nicht zum Reden aufgelegt schien, auf meine Bemerkungen kaum eine Antwort gab, blieb mir nichts anderes übrig als mangels anderer Gesellschaft mich ganz meiner eigenen zu überlassen und zu versuchen, mir meine Kirchtürme nochmals vorzustellen. Bald darauf war es, als ob ihre Umrißlinien und besonnten Flächen wie eine Schale sich öffneten und etwas, was mir in ihnen verborgen geblieben war, nunmehr erkennen ließen; es kam mir ein Gedanke, der einen Augenblick zuvor noch nicht in meinem Bewußtsein war und der sich in meinem Hirn zu Worten gestaltete, und die Lust, die mir soeben der Anblick der Türme bereitet hatte, war so gesteigert dadurch, daß ich, von einer Art Rausch erfaßt, an nichts anderes dachte. In diesem Augenblick – wir waren schon weit von Martinville entfernt – erkannte ich sie von neuem, diesmal ganz schwarz, denn die Sonne war untergegangen. Durch eine Wendung des Weges wurden sie mir für Sekunden entzogen, dann zeugten sie sich ein letztes Mal, dann sah ich sie nicht mehr.

Die besonnten Flächen öffneten sich wie eine Schale, – war es bei dem Mystiker Jacob Böhme nicht der Widerschein des Sonnenlichtes in einer goldenen Schale, der die Ekstase auslöste?  Der entscheidende Punkt bei Proust jedoch kommt erst wenige Zeilen später: die Macht der Wörter – jenseits aller ersehnten Ekstasen:

Ohne mir zu sagen, daß das, was hinter den Türmen von Martinville verborgen war, einem wohlgeklungenen Satz entsprechen mußte, da es mir ja in Gestalt von Worten, die mir Freude machten, aufgegangen war, bat ich den Doktor um Bleistift und Papier, und trotz der Stöße des Wagens verfaßte ich, um mein Bewußtsein zu entlasten und aus Begeisterung das folgende kleine Stück Prosa, das ich später wiederfand (….).

Quelle Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit / In Swanns Welt I / werkausgabe edition suhrkamp / Übersetzt von Eva Rechel-Mertens / Frankfurt am Main 1964 (Seite 240)

Der neunjährige Jean-Paul Sartre entdeckt das Schreiben:

Die Schreiberei, meine Schwarzarbeit, hatte kein Ziel, und plötzlich wurde sie zum Selbstzweck. Ich schrieb, um zu schreiben. Ich bedauere es nicht. Hätte man mich nämlich gelesen, so wäre ich in Versuchung geraten, Wohlgefallen zu erregen, ich wäre wieder bezaubernd geworden. Dank meiner Heimlichkeit wurde ich wahr.

Und schließlich gründete sich der Idealismus des Intellektuellen auf den Realismus des Kindes. Ich habe es oben bereits gesagt: da ich die Welt durch die Sprache entdeckt hatte, nahm ich lange Zeit die Sprache für die Welt. Existieren bedeutete den Besitz einer Approbation irgendwo in den unendlichen Verzeichnissen des Wortes; Schreiben bedeutete, daß man dort neue Wesen einschrieb oder daß man – dies war meine hartnäckigste Illusion – die lebenden Dinge mit der Schlinge der Sätze einfing. Wenn ich die Wörter geschickt kombinierte, so verfing sich das Objekt in den Zeichen, und ich konnte es halten. Ich begann damit, mich im Luxembourg durch das glänzende Scheinbild einer Platane faszinieren zu lassen: ich beobachtete sie nicht, ganz im Gegenteil, ich vertraute der Leere, ich wartete; nach einem Augenblick kam ihr echtes Blattwerk hervor unter dem Aspekt eines einfachen Eigenschaftswortes oder bisweilen eines ganzen Satzes. Dann hatte ich das Universum um eine wahrhaft schwingende Art von Grün bereichert. Meine Entdeckungen brachte ich niemals aufs Papier; sie sammelten sich, wie ich dachte, in meinem Gedächtnis. In Wirklichkeit vergaß ich sie. Allein sie gaben mir eine Vorahnung meiner künftigen Rolle: ich würde es sein, der Namen vergibt. Seit vielen Jahrhunderten warteten in Aurillac vage Ansammlungen von Weiß darauf, feste Umrisse und einen Sinn zu erhalten; ich würde aus ihnen richtige Monumente machen. Als Terrorist kam es mir nur auf ihr Sein an: durch die Sprache würde ich es erschaffen. Als Rhetoriker liebte ich nur die Wörter: ich würde Wortkathedralen errichten unter dem blauen Auge des Wortes Himmel. Ich würde für die Jahrtausende bauen. Nahm ich ein Buch, so konnte ich es zwanzigmal öffnen und schließen, sah aber sehr wohl, daß es sich nicht veränderte. Indem er über die unverwüstliche Substanz des Textes glitt, war mein Blick bloß ein winziger Zwischenfall an der Oberfläche, er störte nichts, er nutzte nichts ab. Ich hingegen, passiv und vergänglich, war ein geblendetes Insekt, das in die Lichter eines Leuchtturms geraten war; wenn ich das Arbeitszimmer verließ, so erlosch ich, während das Buch, unsichtbar in der Finsternis, nach wie vor glänzte: für sich allein. ich würde meinen Werken die Heftigkeit dieser verzehrenden Lichtstrahlen geben, und so würden sie später, in zerstörten Bibliotheken, den Menschen überleben.

Quelle Jean-Paul Sartre: Die Wörter / Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1965 Aus dem Französischen mit einer Nachbemerkung von Hans Mayer (Zitat Seite 139 f)

Was haben diese philosophischen Ansätze mit unserer (!) aktuellen Situation zu tun? Es ist nicht nur mein privates Problem. Man könnte ja auch fragen, ob nicht der entscheidende Punkt darin liegt, wieviele Menschen beteiligt sind. Der einzelne Mensch mit seinem Weg ins eigene Innere dürfte uns äußerst suspekt sein. Alles, was er sagt, bedarf der Wechselwirkung mit anderen Perspektiven. Die Selbsttäuschung muss ausgeschlossen werden. In redlicher Auseinandersetzung.

Vielleicht scheint es wirklich nur so, als ob die Unwahrheit, die Unsachlichkeit, die Lüge im öffentlichen Leben, in der Politik ein ganz anderes Gewicht hat. Sie arbeitet durchaus nicht mit glänzenden Visionen, sondern mit der realen Angst. Was nach der Lektüre des folgenden SZ-Artikels zunächst weiterwirkte, war der Satz: „Angst, zumal wenn sie partiell begründet ist, kann man schüren, Realismus nicht. Das ist der strategische Nachteil aller Sachlichkeit.“ (A.Zielcke) Und noch ein anderer Satz: „Die Demokratie ist stärker als jedes andere politische System auf Realismus aufgebaut.“

Aber: der Nachweis einer Lüge, das Beharren auf den realen Fakten, ist bei einem bestimmten Typus von Lügen oft wirkungslos, nämlich bei Lügen nationalistischer Tonart. Sie verbinden sich mit wahrheitsresistenten Parolen, wie z.B. „take back control“, – wer will die Lage nicht im Griff haben? -, da erübrigt sich ein Faktencheck. Mehr Kontrolle unsererseits kann doch nicht schaden.

ZITAT

Natürlich stehen in jedem politischen System Wahrheitsfragen in einem Spannungsverhältnis zu Wertefragen. Programmatische Ziele wie Imperium, nationale Glorie, Volksherrschaft, Gerechtigkeit, Europa oder sonst eine politische Vision erheben sich über nackte Tatsachen, auch wenn sie sich nicht völlig von der Realität lösen können. Umgekehrt, das lehrt uns die moderne Erkenntniskritik, sind selbst „reine“ Tatsachenaussagen nicht frei von subjektiven Vor-Annahmen und Interpretationen. Aber trotz dieses unvermeidlichen Dunkelfelds zwischen Faktum und Wertung wusste man zu allen Zeiten, politische Lügen von Meinung oder Irrtum zu unterscheiden.

Die Lüge zielt auf einen absichtlich herbeigefrührten Wahrnehmungsfehler ihres Adressaten. Wenn Wissen Macht ist, dann ist Lüge Machtmissbrauch. Sie funktioniert nur, wenn der Adressat sich auf die Wahrhaftigkeit seines Gegenüber verlässt. „Die Lüge muss, um erfolgreich zu sein“, sagte schon Augustinus, „das Vertrauen in die Wahrheit der menschlichen Rede voraussetzen, das sie zugleich zerstört.“

Und in Demokratien zerstört die politische Lüge die Wahrheit der öffentlichen Rede. Wahrscheinlich ist die Demokratie bei allen ihren ideellen Werten stärker als jedes andere System auf Realismus aufgebaut. Keiner weiß das besser als der lügende Volksvertreter.

Quelle Süddeutsche Zeitung 2. August 2016 Seite 9 Zeit der Lügen Stimmt es, dass Politiker immer öfter die Unwahrheit sagen? Oder ist das nur der Eindruck, weil das die allgegenwärtigen Faktenchecks behaupten? Von Andreas Zielcke.

***

Die große Gemeinschaft ist das eine. Darüber kann man sich täuschen. Aber welches ist das erwünschte nahe, überschaubare Umfeld? Nur die Familie, der enge Freundeskreis? Genügt der direkte Austausch mit wenigen „Auserwählten“, oder gar mit imaginären Personen, mit Büchern, mit Heiligen oder heiligen Schriften, oder: mit dem Internet?

„Sagt es niemand, nur den Weisen, weil die Menge gleich verhöhnet…“

Wäre es denkbar, sich abzuschließen, sich ganz auf sich selbst zurückzuziehen? Wie ein Mönch? (Das Wort Mönch kommt von „monos“ – allein.) Allein im Angesicht des Absoluten. Schon ist das Gegenüber da. Wie bei Caspar David Friedrich – vor dem Meer. Oder in der bürgerlich idyllisierten Klause – als „geigender Eremit.“ Die Resonanz der Ewigkeit. Solissimo (Bachs Idee). Das Kloster, das einfache Leben, überhaupt: die Vereinfachung, die Beschränkung des Gesichtsfelds.

Gibt es da einen Umschlag in Allmachtsphantasien, vielleicht beginnend mit einem Bund der Gleichgesinnten?

Zunächst: der Mönch ist nicht allein! Er muss sich absichern. Notfalls durch Kampftechniken?

Caspar_David_Friedrich_-_Der_Mönch_am_Meer_-_Google_Art_Project

Man kann sich Anregungen holen in dem Absatz „Kampf und Krieg“ des Wikipedia-Artikels Mönchtum, der allerdings (lt. Vorbemerkung) noch nicht abgesegnet ist.

Ich habe oben zwei Goethezeilen zitiert, die uns jetzt weiterführen sollen, – wenn es denn geht:

Sagt es niemand, nur den Weisen, weil die Menge gleich verhöhnet / das Lebend’ge will ich preisen, / das nach Flammentod sich sehnet.

Flammentod? Man sollte sich über die Problematik des Gedichtes „Selige Sehnsucht“ genau informieren, bevor wir den angedeuteten islamischen Hintergrund weiter verfolgen: vielleicht wiederum anhand eines Wikipedia-Artikels. Hier.

Nun halte ich Verse eines iranischen Mystikers unserer Zeit dagegen:

Mein Leben lang habe ich mich danach verzehrt, das Antlitz des Geliebten zu erblicken. ich bin ein Falter, der begierig die Flamme umkreist, eine Schote mit dem Samen der wilden Raute, die im Feuer röstet. Sieh meinen befleckten Mantel und diesen Gebetsteppich der Heuchelei. Werde ich sie eines Tages vor der Tür der Schenke in Fetzen reißen können?

Makaber genug, bezieht sich der Dichter dann auf einen der berühmtesten islamischen Mystiker, Mansur Al-Halladsch, der im Jahre 922 in Bagdad als Ketzer öffentlich verbrannt wurde, nachdem aus seinem Munde die Stimme des göttlichen Geliebten gesprochen hatte: „Ich bin die absolute Wahrheit.“ Und der eben zitierte Dichter fühlt sich von der Leidenschaft des großen Vorgängers durchdrungen und sagt: „Meines Herzen Liebe / hat den Mansur in mich gebracht, /  (…) / Wein aus Deinem randgefüllten Becher / hat mich ewig werden lassen. / Durch das Küssen des Staubes deiner Schwelle / bin ich mit dem Geheimnis vertraut geworden.“

Wollen Sie den Namen des Dichters erfahren, der in dieser Weise nicht nur mit irgendeinem Geheimnis vertraut wurde, sondern der absoluten Wahrheit teilhaftig geworden ist und von der eigenen Ewigkeit Gewissheit erlangt hat?

Er heißt Ruhollah Chomeini. Wie Goethe im Divan-Gedicht spricht er als Eingeweihter zu Eingeweihten:

„Oh, mein geistlicher Freund […] hüte dich, diese Geheimnisse, die ich dir mitteile, zu verraten […]. Diese innere Religiosität ist eine Ehrerweisung des Schöpfers, die vor Fremden geheimgehalten werden muss, denn ihr Verstand reicht nicht aus, um dies zu begreifen.“

Ich zitiere hier aus einem Aufsatz, in dem Persönlichkeiten behandelt werden, die für eine bestimmte Prägung religiöser Gewalt einstehen: 1. Bernhard von Clairveaux, 2. Ruhollah Chomeini und 3. bedeutende Vertreter des Zen-Buddhismus. Beispiele für „Mystiker und ihr Engagement für den Krieg“. Der Titel dieser Abhandlung ist: „Selbstlos töten im Namen des Einen. Mystik und die Ausrottung des Bösen in der Welt.“ Der Autor heißt Reiner Manstetten, sein Beitrag gehört zur Dokumentation einer Tagung, die unter dem Titel „Mystik und Totalitarismus“ im Auftrag des Internationalen Jacob-Böhme-Institutes veröffentlicht wurde (Weißensee-Verlag, Berlin 2013). Eine Hauptkapitel dieses Buches ist überschrieben: „Mystik-Rezeption im Dritten Reich“ und klärt über Zusammenhänge auf, die man über jede politische Verdächtigung erhaben wähnte. Ich jedenfalls, über viele Jahre hinweg.

Eine großartige Aufklärung hatte schon 2007 Rüdiger Safranski in seinem Buch „Romantik. Eine deutsche Affäre“ betrieben. Das Siebzehnte Kapitel sei zu regelmäßigem Studium an allen Gymnasien und in privatester Ferien-Idylle empfohlen. „Romantische Geisteshaltung als Vorgeschichte. Weltfremdheit, Weltfrömmigkeit und weltstürzender Furor.“ Und wenn man glaubt, Safranski neuerdings in die Abstellkammer zeitgenössischer Philosophie verfrachten zu können, lese man aufs neue: „Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? Über das Denkbare und das Lebbare“ (1993) und auch „Das Böse oder Das Drama der Freiheit“ (1997/1999).

Denkbare und lebbare Bücher gerade in einer Zeit der sich verfestigenden autoritären Strukturen. Keine Geheimlehren.

Nachtrag 25. August 2016

Die heutige ZEIT erinnert daran, dass es mit dem Wunsch nach  Entschleierung, der Offenlegung aller Gedankengänge in der Politik (und in der breiten Öffentlichkeit) eine besondere Sache ist: diese vollständige Transparenz ist nicht möglich und auch nicht wünschenswert. Man lese:

DIE ZEIT Seite 10 Gero von Randow: Lob der Verschleierung / Die Enthüllungsplattform WikiLeaks fordert von Politik und Diplomatie die totale Transparenz. Das ist nicht nur weltfremd, sondern grundfalsch.

Normalität bewahren

Man könnte sagen – und ich habe es mir gesagt -, in Nizza oder in der Türkei könnte die Welt zusammenstürzen, und DU tust so als sei dein nächstes Umfeld, dein Interessenkreis weiterhin das Wichtigste auf der Welt!? Die versunkene Welt Bachs zum Beispiel? Wer aber weiß, ob man dies nicht braucht, um sich abzuschirmen: damit nicht die eigene Welt vorzeitig in sich zusammenstürzt. Aus Höflichkeit gegenüber den Tatsachen sozusagen.

Ja, so ist es. Und das bedeutet ja nicht, dass einen nicht trotzdem die anderen Aspekte fortwährend beschäftigen, die allenthalben in den Medien klug oder weniger klug abgehandelt werden, in Facebook und Twitter sogar mit größter Erregung und zwar millionenfach.

Aber am meisten nachgewirkt hat wieder einmal die Haltung von Herfried Münkler, die ich im Prinzip schon kenne, deren Wirkung sich jedoch verstärkt, wenn ich ihn reden höre. Zum Beispiel in der Tagesschau am 15. Juli, im Gespräch mit Caren Miosga. Es mag zunächst wie Zynismus klingen, ist aber nichts anderes als Stoizismus, die bewährte philosophische Einstellung gegenüber einer Welt, die außerhalb unserer Reichweite liegt. Wer den klaren Verstand walten lässt, wirkt leicht gefühllos, andererseits muss man bedenken, das die grassierende emotionale Heftigkeit oft genug nur der bloßen Selbstdarstellung dient und künstlich ein Mitgefühl forciert, das kostenlos ist, und dessen Kern oft genug einer Prüfung nicht standhält. Selbstverständlich weiß Münkler, dass ein Wort wie „Vergleichgültigung“ in einer Gesellschaft, die Emotionalität per se verherrlicht, rein provokativ wirken muss. Es ist halt das Gegenteil von Panikmache. Die Trauer um nahestehende Menschen, oder um solche, mit deren Schicksal man sich identifiziert, ist davon unberührt.

http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-199933.html

HIER

Text ab 2:22 bis 4:17

MÜNKLER Ich glaube, dass einer der Modi, die unsere Gesellschaft zur Verfügung hat, „mürrische Indifferenz“, auch in diesem Falle eine angemessene Reaktionsweise ist. Wir erleben ja immer wieder Unglücke, Unfälle, und werden damit fertig und führen unser Leben weiter. Nun ist es sicher etwas anderes, ein Verkehrsunfall, eine Flugzeugkatastrophe auf der einen Seite, und ein Anschlag mit einem Täter auf der anderen Seite. Aber wenn wir so tun, als wäre das gewissermaßen in diesem Sinne eine Katastrophe, also die Intention des Attentäters oder des Verbrechers herausdividieren, dann haben wir im Prinzip die Möglichkeit, das was ich „mürrische Indifferenz“ nenne …, wir nehmen das so hin, zur Kenntnis, und nach einigen Tagen führen wir das Leben weiter, wie wir es auch ohne diesen Anschlag vollführt hätten. Das ist eine sehr stabile Abwehrlinie.

MIOSGA Und das bedeutet also, dass wir mit der Gefahr leben müssen? Ist das der Preis, den wir zu zahlen bereit sein müssen, wenn wir eine freiheitliche Gesellschaft behalten wollen?

MÜNKLER Nun leben wir ja sowieso mit Gefahren der unterschiedlichsten Art: dass wir uns infizieren, uns emm .. mit Haushaltsgeräten einen Schaden zufügen und derlei mehr. Und die Statistiker wissen auch, dass die Risiken in diesem Bereich sehr viel größer sind, jedenfalls wenn wir es auf die einzelne Person rechnen, als einem terroristischen Anschlag zum Opfer zu fallen.

Wir müssen eine gewisse Form der Vergleichgültigung psychischer Art – nicht politischer Art, da muss schon reagiert werden -, aber zunächst einmal psychischer Art hinbekommen, um die Wucht dieses Angriffs herauszunehmen und ihn tendenziell ins Leere laufen zu lassen.

Man lese dazu auch den Blog-Beitrag HIER und die dort gegebenen Links.

19.07.2016

Münklers Anspielung auf die Haushaltsgeräte – während wir uns über Terror echauffieren – hat Tradition:

Der Kurzfilm zeigte uns, wie blöd wir eigentlich sind: Zwei Menschen sind seit 2001 bei Terrorattacken getötet worden. Dagegen gab es 6700 tote Fahrradfahrer und 90.000 Leichen durch Unfälle im Haushalt. Die Chance sei größer, eine Million im Lotto zu gewinnen, denn bei einer Attacke zu sterben, so der Bericht.

So in einem STERN-Artikel vom 20. Januar 2015. Der Politpsychologe Thomas Kliche ist zu Gast bei „Hart aber fair“, siehe HIER.

Ich komme darauf durch die Lektüre der Tageszeitung:

Terror ST 160719 (Link folgt)

Angefangen hatte ich oben mit einer Anspielung auf „die versunkene Welt Bachs“. An dem Buch von Volker Hagedorn fasziniert mich aber u.a. das, was vielleicht andere Leser stört: die immer wieder versuchte Anbindung an die gegenwärtige Situation und sei es der mühsame Recherche-Weg des Verfassers selbst. Oder die Bemerkung, – anlässlich der Gräuel des 30jährigen Kriegs: dass damals mehr Menschen gestorben seien als im Zweiten Weltkrieg -, kann man das glauben? Wie bringt er überhaupt die authentischen Berichte von damals ans Licht? (Und warum? könnte der friedliebende Alte-Musik-Hörer in aller Naivität fragen.)

ZITAT

Irreal, diese Chronik im ICE nach Erfurt zu lesen, online, bequem die Seiten ansteuernd, die Happe, Jahrgang 1587, Sohn eines wohlhabenden Waidhändlers, vor 380 Jahren schrieb. Die 1785 Seiten, bis heute aufbewahrt in der Bibliothek der Universität Jena, sind auf einer digitalen Plattform der Universität Göttingen zu lesen, erschlossen mit differenzierter Suchfunktion, rechts das Original, heranzoombar, links die Transkription, in der sich zu jedem unvertrauten Begriff, jedem Namen eine Erläuterung aufklappen lässt. Eigentlich müsste damit besonders Volkmar Happes Hoffnung erfüllt sein, der seine Chronik merklich mit dem Ziel geschrieben hat, mit seiner Schilderung des Elends spätere Leser zur Arbeit an einer besseren Welt zu motivieren. Doch verursacht, je länger der ICE durch eine funklochfreie Strecke fährt, diese Lektüre auch Schwindelgefühle: Zu groß ist der Kontrast, mit Blick aus dem Fenster auf Landschaften, durch die schon lange keine Heere mehr ziehen, zu den Umständen, unter und zu denen Happe seine Seiten füllte.

Dann wieder siegt die Gravitation dieser fernen Realität, mit dem Erfolg, dass die Mitreisenden, der Kaffeeverkäufer, der Zugbegleiter wie durchscheinend werden. Das Mädchen schräg gegenüber, das am rosa Smartphone einer Freundin Banalitäten von einer Party erzählt, wirkt wie die Kunstfigur einer heilen, virtuell erweiterten Welt. Aber die ist ja nicht heil. Auf demselben Weg wie Happes Zeilen erreichen uns die Nachrichten von Gräueln des „Islamischen Staates“, von Leuten, deren Grausamkeiten an Vielfältigkeit hinter dem Dreißigjährigen Krieg zurückbleiben, den Katalog um moderne Waffen, Smartphones und das Internet erweitern, über das sie die ganze Welt an ihren Taten teilhaben lassen.

Quelle Volker Hagedorn: Bachs Welt. Die Familiengeschichte eines Genies. / Rowohlt 2916 / Seite 78

Zur Chronik von Volkmar Happe hier: ( http://www.mdsz.thulb.uni-jena.de/happe/erlaeuterungen.php )

Neue CDs – wahllos, nicht grundlos

1) Korea – Leseproblem oder Hörproblem

Korea Jambinai beide Die ganze CD

Korea Jambinai Titel gr Nur Interpreten und Titel lesbar

Dann eben so:

2) Morton Feldman – 76 Minuten am Stück

Feldman Cello Klavier Geduld und Stille

3) Gabriel Fauré – auf Empfehlung

Fauré Cello Sonaten Fremdartig trotz Nähe

4) Bach bis zu 3 Cembali 2009 – durch Vergleich

Bach Cembalo Konzerte Ensemble-Klang

5) Onslow Quintette 1994 – warum vergessen?

Onslow Quintette Vera Beths, Anner Bylsma

(Anmerkungen folgen)

zu 5) Mein Verdacht beim Hören – bei allem Staunen über die Virtuosität und den geschickten Wechsel zwischen den Instrumenten: es ist vollkommen quadratisch gebaut: Viertaktgruppe folgt auf Viertaktgruppe. Und es gibt kaum ein Thema, das wirklich „zu Herzen geht“. Man kann den Komponisten keineswegs an Beethoven oder Schubert messen. Es gibt „Einfälle“, aber sie kommen vom Kopf her.

zu 4) Es ist genau diese Aufnahme, die man braucht, um die Bach-Konzerte für mehrere Cembali intensiv zu hören, man kann wirklich alles durchhören, es ist wunderbar artikuliert, tänzerisch, wo es sein soll, zehrend-süß, galant oder schwungvoll in den Streichern, klanglich – zum darin Baden schön. (Vergleichen? Mit der alten Ristenpart-Aufnahme: man begreift, was die Alte-Musik-Bewegung tatsächlich bewirkt hat. Es altert nicht mehr…)

zu 3) Es gibt einige Merkwürdigkeiten in den Sonaten: dazu gehört, dass über das Tempo des Finales der ersten Sonate keine Sicherheit erzielt werden kann, daher gibt es auch in dieser Aufnahme zwei Versionen (Allegro commodo Tr. 3 Länge 7:28 und Tr.12 Länge 5:54). Paul Tortelier zum Beispiel, der den Satz im langsamen Tempo eingeübt hatte, ließ sich von Éric Heidsieck noch am Tage ihrer Einspielung überzeugen, den Satz schneller zu spielen…. Mehr dazu im Beiheft.

Virtualität

Innere und ausgelagerte Gedanken

Die Musik läuft wie keine andere „Gedankenkunst“ (um es in aller Vorsicht einmal so zu benennen) Gefahr, missdeutet und ihres Realitätsgehaltes beraubt zu werden. Man hört oder sieht es ihr nicht ohne weiteres an, dass sie mit mimetischen Vorstellungen arbeitet und auch körperlich verstanden werden muss. Der Anfang der Musik könnte heißen: aghat – „schlagen“, „verwunden“.

Die schöne indische Lehre von der Herkunft der Musik aus einer Welt der Stille, dargestellt von Vidya Rao (Music today, New Delhi 1992), von mir in vielen WDR-Sendungen zitiert:

Nadbrahma Music Appreciation Vol.1

Im Jahre 1989 hatte ich mich mit den esoterischen Theorien des Joachim E. Berendt auseinandergesetzt, die sich damals einer merkwürdigen Popularität erfreuten. Selbst ein Philosoph wie Peter Sloterdijk hat sich vor den Karren spannen lassen und seltsam verschlungene Worte der Anerkennung gefunden, was mit seinen eigenen Indienerfahrungen und -missverständnissen zusammenhängen mochte (vgl. „Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung“1987). Für mich war die Nada-Brahma-Formel für immer unbrauchbar geworden, ich sah die Klarheit und Größe der indischen Musik, der meine jahrelange Arbeit gegolten hatte, in ein gefühliges Ungefähr verzerrt. Die ganze Polemik findet man hier, Berendt sah sich zu ausführlichen privaten Stellungnahmen genötigt, für mich war die Angelegenheit mit deren Veröffentlichung erledigt. Und die heutigen Performance-Inszenierungen klassischer Musik, die von ferne an esoterische Musikaufführungen von einst – etwa in der Balwer Höhle – erinnern mögen, haben ein ganz anderes Niveau (Levit, Grimaud).

„Damit das Wort ‚Klang‘ in diesem Zusammenhang vollends klar wird, muss realisiert werden: ‚Klang‘ existiert für das wissenschaftliche Denken durchaus auch als Abstraktum. So empfinden ihn auch die Musiker: Bevor sie ihn spielen, lesen sie ihn in der Partitur. Schon dort ist er Klang. Oder sie hören ihn klingen in ihrem Inneren. Erst dann ’speisen‘ sie ihn ein in ihr Instrument. In genau diesem Sinn ’speist‘ das Universum ständig Klänge in jedes einzelne seiner ‚Instrumente‘ – vom Atom, und vom Gen bis zum Planeten und Pulsar.“ (Joachim E. Berendt)

Diesen Rollenwechsel des Klanges, des in der Partitur gelesenen, sollten wir nachklingen lassen: „Schon dort ist er Klang. Oder sie hören ihn klingen in ihrem Inneren.“ Oder so ähnlich.

Lieber Professor h.c.! Für einen Musiker liegen zwischen diesen Nadas ganze Brahmas. Ich kann ein wenig Partitur lesen, und das heißt: Ich stelle mir den Klang vor. Wenn mir aber jemand erklärt, das s e i  bereits der Klang, verzeihen Sie, so möchte ich ihm all meine abgenutzten Lieblingsschallplatten um die Ohren knallen oder ihn zu einem gemalten Mittagessen ins Museum einladen.

Dieses Insistieren auf dem realen Klang hat ihn offenbar am meisten irritiert, auch wenn er das „Um-die Ohren-Knallen“ wohl als verbale Aggression empfunden hat, während ich es natürlich nur gedanklich-metaphorisch gemeint hatte. Wie denn sonst??? – Andererseits würde ich gern weiterhin über die Natur des Klangs in unserer Vorstellung nachdenken. Denn in der Tat kann das innere Hören mit erstaunlicher Intensität erfahren werden. Das gilt aber in gleicher Weise für viele andere Vorstellungen, die wir keinesfalls mit den realen Vorgängen gleichsetzen.

Damals hätte ich ein nützliches Büchlein zitieren können, das dem ganz pragmatischen Umgang mit notierter „Opusmusik“ gilt: Partiturlesen / Ein Schlüssel zum Erlebnis Musik / Von Michael Dickreiter (Goldmann Schott 1983). Es beginnt (Seite 7) folgendermaßen:

Sind Noten eigentlich Musik? Ist eine Partitur – die übersichtliche Zusammenstellung aller Orchesterstimmen, auch der Solo- und Chorstimmen einer Komposition – nur die Summe vielfältiger Anweisungen, was jeder Musiker zu spielen hat, oder ist die Partitur selbst schon Musik? Fest steht immerhin, daß die meisten Komponisten ihre Werke schreiben, ohne ein Musikinstrument zu Hilfe zu nehmen, daß Musiker, aber auch viele geübte Laien, sich durchaus vorstellen können, wie eine Komposition klingen wird, auch wenn sie die Partitur nur lesen. In ihrem Bewußtsein entsteht dabei nämlich ein Klangbild, das freilich akustisch nicht vorhanden ist. Ist diese Vorstellung Musik? Auch wenn Musik erklingt, erleben wir sie ja nicht als Schwankungen des Luftdrucks, sondern wir erleben sie bewußt sozusagen nach einer „gehirngerechten“ Umwandlung der physikalischen Schwingungen durch das Gehör. So werden gelesene und gehörte Noten erst im Bewußtsein des Menschen zu Musik, Partiturlesen ist wohl auch eine Form des Musikerlebens.

Also doch?

Natürlich. Wie eben schon gesagt. Niemand bezweifelt die Kraft des Gedankens, der Idee, der (bloßen) Vorstellung, des scheinbar realen Bildes im Kopf. Ich erinnere mich genau, wie ich bemerkte, dass es eine von mir quasi losgelöste Existenzform annahm, lange bevor ich in die Schule kam. Lange? Vermutlich zwischen meinem fünften und sechsten Lebensjahr.

Vorausgegangen waren nächtliche Angstträume, die wohl mit körperlichen Zuständen zu tun gehabt haben, Mangelernährung in den letzten Kriegsjahren, kombiniert mit Bildern und psychologischen Machtmodellen (Phantasien von Herrschaft und Unterwerfung), die aus Grimms Märchen und ähnlichem Vorlesestoff (Tiergeschichten!) stammten. Eines Tages kam etwas Neues hinzu: Ich wollte gar nicht warten, bis ich abends im Bett lag, sondern legte mich am hellichten Tag aufs Sofa und schloss die Augen, um meine eigenen Geschichten zu sehen (ich habe sie noch nicht Film genannt, weil ich noch keine Filme kannte, nur Hörspiele). Dass meine Großmutter in Schrecken geraten würde, hatte ich geahnt.

(Fortsetzung folgt)

Die Zitate hier einbeziehen und fortsetzen (S.K.Langer)
E.M.R.-Aufsatz s.u.
Julian Jaynes‘ Idee

ZITAT E.M.R. (26.02.16):

Cathrin Kahlweit schreibt, die Virtualität des Netzes ersetze eigene Aktivitäten und die eigene Identität. Je nachdem, auf welche Weise man das Internet nutzt, behält sie Recht. Wer seinen fiktiven Rollenspielcharakter stundenlang durch eine virtuelle Welt spazieren lässt, kann sich schnell in dieser Fiktion verlieren und das im Virtuellen erlebte als wirkliche eigene Erfahrungen wahrnehmen. Oft genug hört man zufällig in der Öffentlichkeit Gespräche mit, in denen es darum geht, wer wie viele Personen mit welchen Waffen umgelegt habe, und erst im Laufe des Gesprächs wird dem unfreiwilligen Zuhörer klar, dass mit „Ich“ eine aus Pixeln zusammengesetzte Figur, die mit Tastenkombinationen über den Bildschirm gesteuert wird, gemeint ist.

Trotzdem gibt es durchaus Möglichkeiten, sich im Internet selbst zu verwirklichen. Im Internet kann ich eine Fotografin sein, ich kann zur Aktivistin werden, indem ich per Mausklick Petitionen für Greenpeace oder Amnesty International unterschreibe, ich kann zur Autorin, Musikerin oder Komikerin werden oder zu allem gleichzeitig. Wenn ich die Anerkennung für meine Werke bekomme, fühlt sich das alles real an. Trotzdem erweist es sich als kompliziert, die realen Dinge von den weniger realen zu unterscheiden, wenn alles im Internet stattfindet.

Durch das Internet wird einerseits alles öffentlich gemacht, andererseits herrscht aber auch eine gewisse Anonymität. Selten kann man mit Sicherheit sagen, dass das virtuelle Gegenüber wirklich der ist, der er vorgibt zu sein. Umgekehrt kann er dies auch nicht beurteilen. Fragwürdig ist auch, ob man selbst weiß, wen man online darstellt. Mit der Zeit kann sich ein Verlangen danach entwickeln, nur seine besten Seiten preiszugeben – oder aber einige bessere Seiten hinzuzufügen, so dass der Bildschirm eine Art Fassade zur Außenwelt ist.

Quelle Schulaufsatz Stuttgart 26.02.16 Eos (17 Jahre)

Fotos, die nicht traurig machen

…nicht einmal in 10 Jahren. Eine Lehre aus Meer und Leere.

März 2016 26

März 2016 37

März 2016 31

März 2016 45

März 2016 36

März 2016 48

März 2016 32 Pano

(Alle Fotos aus Texel: E.Reichow)

Der nächste Morgen

Texel x

Texel y Das Pferd

Andererseits: es geht auch darum, Traurigkeit zu ertragen. (Die Anregung kam von George Steiner: „Warum Denken traurig macht„. Vielleicht hält man sich jedoch besser an Albert Camus und den Mythos von Sisyphos. Und … jederzeit an Mozart, wobei die Traurigkeit auf glückliche Weise einbezogen wäre.)

Den entscheidenden Punkt vergaß ich: Ich bin nicht traurig. Aus unvernünftigen Gründen wache ich morgens auf und lebe gern. Und was Steiner angeht: Vielleicht ist dafür das abstrakte Denken erfunden. Anstelle des assoziativen Hin- und Hergleitens (Wandering Mind) die Absicherung durch das lineare Fortschreiten. Daher die Musik? Das Bedürfnis sich fortlaufend abzusichern: vom Basso Continuo zum durchgehenden Rhythmus der Popmusik, plus Vorgabe von 4-Minuten-Komplexen. Ein Beispiel für Abstraktion soll folgen. Zunächst: die Elster in der sonnenbeschienenen Eiche am Waldrand trägt einen dünnen Ast im Schnabel. Gottseidank keine Taube, sonst müsste ich an Zeichen und Wunder glauben.

Das Beispiel (an Ort und Stelle § 64) / ZITAT:

Versuche, den musikalischen Klang und den außermusikalischen Klang als gegenüberstehende Größen zu trennen, begreife den musikalischen Klang als das Element einer Ordnung von unterschiedlichen Klängen. Sofern nun der musikalische Klang den Klang des musikalischen Kunstwerks bezeichnet, kann er indessen nicht als das Element einer solchen Ordnung begriffen werden. Denn das Kunstwerk wird als Kunstwerk nur der ästhetischen Vernunft zugänglich. Und die ästhetische Vernunft faßt das Kunstwerk nicht als ein Seiendes unter anderem Seienden auf. Ihre Ontologie kennt ausschließlich – gelungene oder mißlungene – Kunstwerke. Sofern das ästhetisch Seiende Klang ist, muß es daher der Klang des  musikalischen Kunstwerkes sein. Die Ordnung von unterschiedlichen Klängen, deren eines Element der musikalische Klang darstellt, ist hingegen eine Ordnung, die das klingende Kunstwerk als ein Element unter anderem Seienden auffaßt. Sie ist eine Ordnung nicht aus ästhetischer Vernunft. Die Versuche, den musikalischen Klang dadurch zu bestimmen, daß man ihn seinem Ort in einer Ordnung unterschiedlicher Klänge zuweist, verfehlen daher das ästhetische Sein des Klanges. Die ästhetische Vernunft bestimmt den musikalischen Klang nicht in Abgrenzung zum außermusikalischen Klang, sondern durch die Darlegung seines Eigensinnes. Sie begreift ihn in seiner Autonomie.

Quelle Gunnar Hindrichs: Die Autonomie des Klanges / Eine Philosophie der Musik / suhrkamp taschenbuch wissenschaft Berlin 2014 (Seite 98)

Sind Sie ungeduldig geworden? Genau dies zu überwinden, dazu dient die Lektüre. Siehe hier die – vor Wochen noch etwas versteckt angedeutete – Quelle. Versteckt, weil mir die Bedeutung (der Wert des Werkes für mich) noch nicht klar war. Jetzt bin ich weiter, zumal mit August Halm (ab Seite 204) und der zentralen Behandlung der Kadenz ein Punkt erreicht werden dürfte, von dem sich ohne Komplikationen eine Linie nach Indien ziehen lässt (unter Einbeziehung des Gedankens von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“). Und ohne diese Möglichkeit wäre es für mich keine akzeptable Theorie der Musik.

Zugegeben: es gibt Stellen der absoluten Entmutigung, etwa über extensive und intensive Größe (Seite 118 f), mit Bezug auf Kants Kritik der reinen Vernunft und Cohens Interpretation des Differentials. Stocken Sie nicht, gehen Sie weiter. Nicht warten, bis Sie Kant und Cohen vollständig im Original gelesen haben. Wer weiß, was der kluge Autor über dem Schreiben dieses Buches an lebendiger Musik versäumt hat… Wollen wir es ihm verübeln? Vergessen Sie nicht, ins Freie zu blicken. Oder in die seltsam verschlungenen Landschaften, die sich unvermutet überall in der „konkreten Realität“ öffnen.

Texel De Hors Überblick Wieder einen Tag später…

Kölner Phase (unrepeatable)

Steve Reich hören lernen

In der Kölner Philharmonie hat sich ein Skandal ereignet, endlich mal, da muss man nicht immer wieder von dem Skandal 1913 beim „Sacre du printemps“ anfangen, oder ich mit meinem Lieblingsbeispiel, das ich 1960 nur vom Tonband eines Freundes gehört habe: Moses und Aron in Berlin unter Hermann Scherchen. Die Proteste bei der Uraufführung waren offenbar live über den Sender gegangen: als Scherchen den protestierenden und randalierenden Zuschauern zurief: „…dann muss ich Sie denen zurechnen, die meine Autoreifen zerschnitten haben und die gedroht haben, mir Vitriol ins Gesicht zu schütten!“ – Ich eilte zu Beginn meines Studiums sofort in eine Aufführung, die ruhig verlief, sehr eindrucksvoll (mit Josef Greindl), mir schien auch, dass nicht Schönbergs Musik die Menschen so erregt hatte, sondern der Tanz ums Goldene Kalb, die Nacktheit der tanzenden Menschen in ihren fleischfarbenen Trikots, ihre bacchantisch zur Schau gestellte, überzeugend gespielte Lüsternheit.

Nichts von alledem in Köln! Im Konzert des Ensembles Concerto, offenbar vor einem Publikum, das gewöhnt ist, in Konzerte Alter Musik zu gehen und das sich dieser Tatsache auch im Verlauf des Konzertes bewusst bleiben will, geschah das Unglaubliche: es wurde das gespielt, was im Programm vorgesehen und auch während des Konzertes im Programmheft nachzulesen war. Was dann aber passiert ist, muss ich nicht aufschreiben, man kann es leicht nachlesen: in Spiegel online, (jedoch: nicht „abgebrochen“, sondern „unterbrochen“!), man studiere auch die Kölner Medien (und klicke sich darin weiter) z.B. hier und vor allem die Beiträge von Seiten des Ensembles Concerto auf Facebook, klicke in den Bericht des Solisten („Noisy dissent disrupts a harpsichord recital“) und in die Stellungnahme des Cellisten Alexander Scherf hier.

Ein Jahr bleibt nun Zeit, die Schande wieder gut zu machen und am 1. März 2017 bestens präpariert aufs neue in die Kölner Philharmonie zu wandern. Mahan Esfahani: auch ich will dabeisein! Im Namen der persischen Musik! Und im Namen der Mbira-Musik Zimbabwes! Im Namen des Bach-Kanons auf dem Haussmann-Porträt!

Es ist nur ein kleiner Ausschnitt – aber keine Kapitulation vor dem Publikum – ein Appetizer – man kann die CD erwerben und die „Piano Phase“ nicht nur vollständig hören, sondern vor allem das Hören üben. Es ist nie falsch, das Hören auch als eine Aufgabe zu betrachten, Musik ist nicht nur eine Bringschuld des Interpreten, sondern ebenso eine Holschuld der Rezipienten. Wenn sie nicht hören (wollen), was da vor sich geht, können sie es nicht dem Interpreten anlasten, der sein Bestes gibt.

Dem Programmheft wäre übrigens durchaus Anregendes zum Prinzip „Wiederholung“ zu entnehmen gewesen:

Auch wenn sie mit ihren Phasenverschiebungen mitunter sehr spielerisch erscheint, ist sie doch eng mit geistigen und spirituellen Fragen verknüpft. Für Piano Phase trifft das in besonderer Weise zu. Einerseits ist es sehr reizvoll, dem musikalischen Verlauf aufmerksam zu folgen, andererseits rufen die Klänge bei entsprechender Einlassungsbereitschaft einen Zustand meditativer Versenkung hervor – wobei beides gleichzeitig erfolgen kann. Steve Reich abstrahiert in Piano Phase von Annäherung und Entfremdung, indem er eine einheitliche Melodiesequenz subtil auseinanderdriften lässt.

(Egbert Hiller)

Wenn man die Struktur auch technisch besser versteht, hätte man die Chance, eine besondere Wahrnehmungsweise zu entdecken. Und ich schwöre: wer es genau weiß, wird mit höchster Aufmerksamkeit, ja, mit Spannung zuhören, was nicht heißt: das Stück hat die gleiche Relevanz wie ein Bach-Konzert. Darum geht es nicht. Nein, ohne dieses Werk wäre unsere Alte Musikkultur nicht in Gefahr. Aber mit der plumpen Verweigerung ist keinesfalls das Abendland verteidigt, – sondern die schiere Dummheit hätte wieder einmal gesiegt.

Als Ziel meiner Überredungskunst noch ein spezieller Hinweis, von besonderem Interesse für Klavierspieler, die imstande sind, mit ihren zwei ineinanderwirkenden Hände eine einfache Tonfolge einzustudieren. Zwei Seiten aus Hans Peter Reutters Satzlehre HIER.

Und hier die Nutzanwendung:

Ausführende: Tinnitus Piano Duo / Tine Allegaert & Lukas Huisman

Nachtrag 3. März 2016: Das seltsame Echo des Kölner Eclats

Kölner Skandal im ST 160303

Ein so großer Bericht auf Seite 3 einer ganz gewöhnlichen Tageszeitung über ein außergewöhnliches Konzert? Ja, und von einem Journalisten, der sonst politische Kommentare schreibt (lesenswerte). Ich vermute, dass also übergeordnete Gründe zum Tragen kommen sollen, keine musikalischen. Das Bild ist ein Blickfänger, die Unterzeile suggeriert jedoch, dass der Musiker auf eine „erzwungene Unterbrechung seines Konzertes“ in dieser Weise reagiert habe: nämlich provokativ schlafend. Verachtung zeigend. War es so? Ist es nicht eins der üblichen Künstlerfotos, die den Interpreten in ungewöhnlichen Posen zeigen, um eine allzu biedere Sicht auf die Podiumssituation zu unterlaufen? Wie hier zum Beispiel:

Mahan Esfahani kl Foto: Marco Borggrefe 2009

Ärgerlich wird es, wenn der längere Teil des verbalen Berichtes unter dem Stichwort „Argwohn des Kulturbetriebes gegen das eigene Publikum“ steht und dann ausgerechnet Handkes programmatische „Publikumsbeschimpfung“ aus dem Jahre 1966 heranzieht. Damals war die Provokation unmissverständlich künstlerisches Ziel der Veranstaltung, wie auch oft bei den Happenings jener Zeit. Es ist aber einfältig, im Zusammenhang mit der aktuellen Situation zu schreiben: „Misstrauen und Verachtung des Publikums gehörte immer schon zur intellektuellen Folklore.“

Im Kölner Konzert wurde ein heute durchaus normales Programm präsentiert, nicht provokativer als etwa Beethovens „Eroica“. Und wenn ein Segment des Publikums – zur Kaffeezeit am Sonntagnachmittag – deutlicher als sonst zeigt, dass es vom Ernst des Spieles auf der Bühne noch nie gehört hat, kann das eigentlich niemanden erschrecken. Aber erst recht nicht zur freundlichen Verständigung mit diesem Segment ermuntern. Ich habe ein ähnlich – sagen wir – kühn aufgebautes Programm an einem Abend (!) in der Kölner Philharmonie erlebt (mit dem Kelemen-Quartett ) und habe nicht nur über die Interpreten, sondern auch über das hoch motivierte, ja, ideale  Kölner Publikum gestaunt.

Nachtrag 19. März 2016

Ein verspätet veröffentlichter Leserbrief im Solinger Tageblatt erinnert mich an die Möglichkeit, Steve Reich im Konzert eines Ensembles, das mit der engagierten Interpretation Alter Musik bekannt geworden ist, ganz anders wahrzunehmen, als es mir, der ich nicht dort war, einleuchtend erschien. Und auch anders als es dem Briefschreiber, mit gutem Grund, berichtenswert erscheint:

Cembalo Philharmonie ST 160318 Solinger Tageblatt 18/03/2016

Steve Reichs „Piano Phases“ (1967) ist ein fast 60 Jahre altes Stück, das immer wieder zu einer Ohren-Übung einlädt, aber es ist alles andere als ein Klassiker, den man immer wieder zu hören wünscht, sagen wir: wie Ligetis „Atmosphères“ (1961). Es gibt – wenn man es einmal kennt -keine neuen Facetten daran zu entdecken. Und wenn die Einführung des Cembalisten etwa (ich weiß es nicht!) den Eindruck erweckt hat, dass das Publikum vorweg eine Nachhilfestunde braucht, kann man sich einen gewissen Unmut erklären, der auch durch einen zu Hilfe eilenden Herrn aus dem Publikum nicht unbedingt gemindert wird.

Um nicht die falsche Klientel zu bedienen, habe ich übrigens im Artikel ganz andere (von mir durchaus gewünschte) Heiligtümer einer öffentlichen Aufführung beschworen:  „Im Namen der persischen Musik! Und im Namen der Mbira-Musik Zimbabwes!“ Und mit der Erwähnung des Bach-Kanons (BWV 1072) meinte ich eine Wiedergabe in perpetuo, die ihn wie (!) eine minimalistische Musik wirken lässt (vgl. u.a. auch Conlon Nancarrow).

Aber ich bin nicht überzeugt, dass man ein typisches Publikum der Alten Musik im Konzert erwecken muss, – übrigens erst recht nicht mit einem Stück von Górecki.

Marokko und Java

Nicht ohne Ansehen von Rang und Stand (und Geschlecht)

Ich gehe aus von einem Artikel, den ich vor ein paar Tagen zusammengestellt habe. Otto Jastrow hatte in seiner dort zitierten Rede ein Beispiel gebracht, das mich an bestimmte ethnologische Untersuchungen erinnerte. Es geht um „High and low varieties“ der Sprache, ein Phänomen, das als Diglossia (Ferguson) bezeichnet wird.

Wenn wir uns die verschiedenen Anlässe anschauen, in denen die beiden Varietäten verwendet werden, stellen wird fest, daß sie sich gegenseitig ausschließen. Jede gesellschaftliche Situation erfordert eine der beiden Sprachformen und nur diese. Die Verwendung der jeweils anderen Sprachform in der gleichen Situation würde als unpassend, unangebracht, im schlimmsten Falle sogar als lächerlich oder beleidigend empfunden.

Auch dazu eine kleine Anekdote: Im August 2007 wurde in Marokko ein Journalist verhaftet, der einen offenen Brief an den König veröffentlicht hatte, in dem er bestimmte politische Forderungen erhob. Der Stein des Anstoßes waren jedoch nicht so sehr diese politischen Forderungen, sondern die Sprache, in der sich vorgebracht wurden. Der Text war nämlich in marokkanischem Dialekt, der sog. dāriǧa, abgefaßt. Die Verwendung dieser Sprachform gegenüber dem Monarchen, und dazu noch in geschriebener Form, wurde als Affront wahrgenommen.

Quelle Otto Jastrow: Das Spannungsfeld von Hochsprache und Dialekt im arabischen Raum / (Seite 3) In:  Munske, Horst Haider (Hrsg.): Sterben die Dialekte aus? Vorträge am Interdisziplinären Zentrum für Dialektforschung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 22.10.-10.12.2007.

Ich zitiere den Ethnologen Clifford Geertz, der von seinen unterschiedlichen Erfahrungen in Marokko und Java erzählt:

Man nimmt natürlich an, daß bei jedem Volk Statusunterscheidung und Genusbestimmung Dinge sein werden, die von einiger Bedeutung sind. Was interessant ist und was variiert, ist das Wesen dieser Bedeutung, die Form, die sie annimmt, und das Ausmaß ihrer Intensität. Daß wir in den vorliegenden Fällen nicht nur einen krassen Unterschied in dieser Hinsicht vor uns haben, sondern etwas, das einer direkten Umkehrung nahekommt, wurde mir erstmals bewußt, als meine Ausbilder bei meinen Javanischstudien hartnäckig und akribisch alle Fehler korrigierten, die ich bei der Statusmarkierung machte (und das waren viele – es gibt viele, die man machen kann), während sie Genusfehler mehr oder weniger übergingen, während meine marokkanischen Ausbilder, die wie die Javaner als Universitätsstudenten nicht gerade Traditionalisten waren, nie einen Genusfehler unkorrigiert durchgehen ließen (davon gab es ebenfalls jede Menge und reichlich Gelegenheit, sie zu machen) und an Statusmarkierung, soweit es etwas davon gab, kaum interessiert zu sein schienen. Es schien nicht wichtig zu sein oder nicht sehr wichtig zu sein, ob man das Geschlecht im Javanischen richtig bezeichnete ( in den meisten Fällen war es lexikalisch neutralisiert), solange man keine Fehler bei den Rangabstufungen machte. Im Marokkanischen schien es fast gefährlich zu sein, Genusformen zu verwechseln; es machte jedenfalls meine Lehrer, die ebenso wie die Javaner sämtlich Männer waren, sehr nervös. Rangfragen dagegen wurde kaum Aufmerksamkeit geschenkt.

Die Sprachen als solche unterstützen diese ungleichartigen Tendenzen, von einigen Erscheinungen der Welt eher mehr Notiz zu nehmen als von anderen und um sie einen größeren Wirbel zu machen. (Das Javanische hat keine Flexionsendungen zur Genusmarkierung, aber es ist grammatisch in minutiös abgestimmte, hierarchisch angeordnete Sprachebenen geschichtet. Das marokkanische Arabisch hat Flexionsendungen zur Genusmarkierung für so ziemlich alle Wortarten, aber überhaupt keine Statusformen.) Doch das ist zu komplex und zu technisch, als daß ich hier darauf eingehen könnte. Was hier bedeutsam ist, in dieser schulmäßigen Demonstration dessen, was kulturelle Analyse ist und was nicht und wie man sieht, daß man sie fast reflexartig vornimmt, ist die Frage, zu welchen Schlußfolgerungen über die marokkanische und die javanische Art, auf der Welt zu sein, diese kontrastierenden Erfahrungen eben in ihrem Kontrastieren führen; welche substantielleren Dinge ins Blickfeld geraten.

Quelle Clifford Geertz: Spurenlesen / Der Ethnologe und das Entgleiten der Fakten / C.H.Beck München 1997 (Seite 57)

Zur javanischen Sprache siehe bei Wikipedia hier. Daraus folgendes:

Das Javanische kennt drei Sprachstile: einen informellen namens ngoko (unter anderem von Höherstehenden gegenüber Niedriggestellten verwendet), eine mittlere Ebene (madya) und einen höflichen und formellen Stil (krama,unter anderem von Niedriggestellten gegenüber Höherstehenden verwendet).

Wie Frank Peter Zimmermann …

mit ein paar Worten mein Üben inspiriert hat.

Im bloßen Wortlaut kann es nicht liegen, jeder, auch ich selbst hätte mir sagen können: Du musst einfach immer wieder ganz langsam üben, und nicht verzagt beobachten, wie und wo du Probleme hast. Es ist seine einfache, ehrliche Art zu sprechen und im Kontrast dazu sein gewaltig zupackendes und sensibles Geigenspiel, – als sei es nicht derselbe Mensch, der dann sagt, er habe um dieses Werk (das 2. Violinkonzert von Béla Bartók) immer einen Riesenbogen gemacht… – bis er es dann ganz, ganz langsam geübt hat, wie in Zeitlupe, es musste ja einfach nur funktionieren. Das Wort Matrix und die Anspielung auf den Film tat ein übriges (zugegeben: ich habe den Film nie gesehen und mich erst jetzt bei Wikipedia schlau gemacht). Also – ich hab’s alles abgeschrieben, es soll auch auf andere Menschen wirken:

Frank Peter Zimmermann O-Ton:

Also erstmal war das natürlich eine Riesenfreude, als die Offerte kam, die Anfrage, eine große Ehre und [weil] das Orchester eins von meinen Lieblingsorchestern ist auf der Welt, und da hab ich mir gedacht, wenn ich schon die Chance hab mit diesem wunderbaren Orchester, dann muss ich doch meine Residence mit diesem Stück hier beginnen. 0:52

Also der Bartók gilt ja wohl weltweit bei allen Orchestern und bei allen Violinsolisten als mit das komplexeste Violinkonzert wohl überhaupt. Und wenn man dann abends aufs Podium geht und … dieser Riesenberg … oh Gott, jetzt habe ich dieses ganze Stück vor mir, und jetzt beginnt alles wieder von vorne. Auf der andern Seite, es ist so unglaublich beglückend, wenn man’s dann geschafft hat. 1:33

Ich hab’s erst mit 37 gelernt, auch weil ich da immer ’n Riesenbogen drum gemacht hab, weil es eben so komplex und schwer ist, der Violinpart, und dieses Jahr hatte ich also eine große Serie mit dem Stück. Es hat sich nicht so viel verändert in der Interpretation, das Bartók-Konzert ist, eigentlich ähnlich wie das Berg-Konzert oder wie überhaupt alle großen Violinkonzerte des 20. Jahrhunderts, so, dass es eigentlich funktionieren muss erstmal, [eher] als dass man sich so wie bei Mozart oder Bach ein ganzes Leben lang … damit… ja, immer wieder musikalisch verändert. 2:33

Ich übe eigentlich dieses Werk extrem langsam. Ich sage immer, dass ich es eigentlich nur so lernen kann … indem ich es in Matrix-Art, also auf Matrix … also wenn man damals an diesen berühmten Film denkt, wie diese Kugel da auf den kleinen Keanu Reeves zukam und alles für ihn eigentlich in Zeitlupe war, so ist das, und soweit muss dann auch später so sein, wenn man es im schnellen Tempo spielt, dass es einem fast vorkommt, als ob man es [gerade] langsam übt. 3:22

Es ist für mich immer eine Zeit, wenn ich das Stück spiele, dass ich in Hochdruck lebe, eigentlich die ganzen Tage und Wochen auf der Überholspur, möchte ich mal sagen, auch innerlich. Man hat eine gewisse Unruhe, und ich glaube, man muss sich auch in diese Art von Stimmung bringen, ja quasi mit einem Killerinstinkt, dieses Stück zu spielen,-  das Orchester auch während der Aufführung reizen, dass es an die Grenze geht. In der Lautstärke oder grade auch in den zarten Momenten ist es ja manchmal auch so unglaublich still und fein und einzigartig… 4:21

Ich glaube, man hat so wahnsinnig viel Möglichkeiten für den Ausdruck, die Geige kann sein wie Elektra auf der einen Seite, auf der anderen kann sie so unglaublich zart … singen, und der Bartók hat das alles in dieses unglaubliche Werk hineingepackt… Die Geige ist 1711 gebaut worden von Antonius Stradivari. Die Geige ist wirklich ein Teil meines Körpers, ich spiele auf dieser Geige seit 9 Jahren, die Geige hat Fritz Kreisler gehört, eine Zeit lang, er hat da wahrscheinlich nie einen Ton Bartók drauf gespielt, er hat ja wenig zeitgenössische Musik gespielt, aber, nein, in Kombination mit einer phantastischen Geige gehört auch ein ganz toller Bogen, dieser Bogen ist eine Kopie von meinem [Dominique] Peccate, eine Kopie, die Herr Lucke gemacht hat, in Berlin, phantastischer Bogen, wo ich also wirklich bei Bartók das Gefühl hab, ich bekomme diesen richtigen Kern, also, mein Klang hat … ja, diesen Puszta-Klang irgendwie. 5:33

Das Interview stammt noch aus der Zeit 2010/2011, inzwischen musste FPZ die Kreisler-Stradivari dem Verleiher zurückgeben. Die Geschichte von der anderen Stradivari, die er seit kurzem zur Verfügung hat, kann man hier nachlesen.

An dieser Stelle geht es mir nur um die Methode des Übens. Im Original mit eingestreuten Beispielen aus der Bartók-Orchesterprobe mit FPZ nachzuhören in der youtube-Quelle.

Natürlich liegt es auf der Hand, mir vorzuhalten, dass meine kleine tägliche Übetätigkeit am Klavier oder mit der Geige nicht im geringsten an der Arbeit eines solchen Virtuosen Maß nehmen kann. Im Gegenteil! Es wäre nur dumm, das nicht zu tun: um wieviel mehr als er habe ich (haben SIE) es nötig, mindestens die gleiche Sorgfalt aufzuwenden und sich nicht täuschen zu lassen vom Erscheinungsbild: die Leute glauben ja immer, die besondere Leistung fiele den Meistermusikern in den Schoß, weil es bei ihnen so leicht und organisch aussieht. Es gibt genug Gründe, mich (oder Sie) zu entmutigen, aber keinen einzigen, uns am richtigen Üben zu hindern. Jede positive Erfahrung, die dabei herauskommt, ist mehr Geld wert, als eine langwierige Therapie beim Psychotherapeuten…

Meine aktuellen Probleme sind leicht benannt (man muss sie eingrenzen!):

  1. Chopin-Etüde op. 21 Nr.6  gis-moll Terzentriller – begonnen etwa Juni 2015 (siehe hier)  Ziel: ein Stück zu lernen, an das ich mich in meiner Studienzeit nicht herangetraut habe. Es geht jetzt nur noch um die Terzenläufe.
  2.  Schumann-Quartett op. 41, Nr. 2 und 3, zweite Geige, Problemstellen mit nachschlagenden Achteln. (Worum es geht? Siehe hier Video ab 1:34). Man kann sie lernen, indem man sie mit der Melodiestimme am Klavier übt (oder zur Geige singt), sehr langsam. Mir kommt aber zu Bewusstsein, dass ich immer schon Schwierigkeiten hatte, zum Beispiel in sehr schnellen Strauß-Polkas, wenn die nachschlagenden Achtel sich über mehrere Zeilen hinzogen und die Gefahr besteht, dass sie zwischendurch „umschlagen“ und plötzliche auf die betonte Zeit springen. Man kann (darf) nicht „switchen“.

Es ist übrigens sehr einfach zu üben, aber man braucht Geduld. Ich muss mir physisch die Chance geben, es zu verinnerlichen. Zeitlupe, – bis es mir auch im schnellen Tempo wie in Zeitlupe erscheint. Ich mache mir einen Plan, ich muss das Problem sonnenklar vor mir liegen haben:

Chopin gis-moll Terzenläufe  Chopin

Schumann nachschlagend  Schumann 41,2

Schumann nachschlagend b  Schumann 41,3

***

1 als Zeitlupe-Übung

Chopin gis-Lauf Übung

2 als Klavierfassung

Schumann Scherzo Trio

3 als Klavierfassung (cum grano salis)

Schumann 41,3

Zugegeben: so kann man’s nicht spielen, weder auf dem Klavier noch auf der Geige. Ich lasse es trotzdem erstmal stehen.

Die Vorübung für das schnelle Nachschlagen ist sehr einfach, wird erst bei äußerster Präzision und längerer Dauer problematisch. man kann leicht Varianten erfinden. Mit dem Fuß als Taktschläger, aber auch ohne; ohne Metronom, aber auch mit Metronom, Viertel = 120. Falls das Schwierigkeiten macht, bei 60 beginnen und allmählich aufwärts. Nicht Fuß und Metronom gleichzeitig. Denn vor allem gilt: absolut mühelos. Wie im Schlaf. Rumänische Tanzgeiger können es stundenlang. (Sie spielen beim Nachschlagen auch Abstrich/Aufstrich, mit Bogen an der Saite!)

Nachschlagen Geige

Und jetzt folgt die Schumann-Stelle, sträflich vereinfacht, auch transponiert, man sollte die Melodie singen oder pfeifen und dabei lässig die nachschlagenden Quinten ausführen. Es muss in Fleisch und Blut übergehen, – die zwei hier tätigen Geister sollen halt (wie soll ich sagen?) ein Fleisch werden.

Schumann nachschlagend einfach

Vorläufiges Ende der Übung auf dem Papier. Es ist ein Übung der Gleichmäßigkeit. Ein Lob dem Metronom! Under Psychologie: es ist ein Unterschied, ob ich „nachschlagend“ denke oder „auftaktig“ (offbeat). Synkopen (in Vierteln) sind ja ohnehin kein Problem. Ich habe das Problem gewissermaßen geschaffen, um es auf anderem Niveau zu lösen. Bewusstsein einschalten, um es nacher leichter ausschalten zu können. Oder „zu schalten und zu walten“.

Weiter! (7.2.16) Viertel (nur) 120

Schumann off beat übung

Vom Dilemma der Demokratie

Biologie oder Philosophie?

Es ist kein Zufall, dass das scheinbar natürliche menschliche Zusammenleben nur dank künstlichster Konstruktionen katastrophenfrei funktioniert. Wenn überhaupt … (die Grundgedanken lassen sich genauso in einer alten Solinger Hofschaft wie in einem Berliner Plattenbau, in einem Dorf auf Sri Lanka oder einer Metropole der Antike nachvollziehen. Ich denke zum Beispiel an die Gruppe der Häuser 6 bis 34 unmittelbar neben oder vor mir, die durch eine eigene Verwaltung zusammengefasst sind).

Ich erlaube mir, etwas weiter auszuholen: einmal bei unseren Vorfahren vor drei Millionen Jahren, dann bei Immanuel Kant im Jahre 1795. (Siehe auch hier). Beides beruht nicht auf meinen eigenen Recherchen, der eine Punkt auf dem neuen Buch des Evolutionsforschers E.O. Wilson, der andere auf dem großen ZEIT-Artikel von Thomas Assheuer (vor zwei Wochen). Mein Eigenanteil besteht nur darin, diese beiden Punkte gegen- oder miteinander abzuwägen. keinesfalls will ich behaupten, dass mir das Problem seit 60 Jahren sonnenklar ist. Es dämmert erst.

Huxley 1955  Kant Vom ewigen Frieden

ZITAT (2015)

Bis vor drei Millionen Jahren waren die Vorfahren des Homo sapiens überwiegend Pflanzenfresser; wahrscheinlich zogen sie in Gruppen von Ort zu Ort, wo sie Früchte, Wurzeln und andere pflanzliche Nahrung sammeln konnten. Ihre Gehirne waren unwesentlich größer als die des modernen Schimpansen. Erst vor einer halben Million Jahre unterhielten Gruppen der vormenschlichen Art Homo erectus Lagerstätten mit kontrolliertem Feuer – also einen „Nistplatz“ -, von denen aus sie auf Futtersuche auszogen und mit Nahrung zurückkamen, darunter ein erheblicher Fleischanteil. Ihr Gehirn war auf eine mittlere Größe zwischen dem des Schimpansen und dem des modernen Homo sapiens angewachsen. Begonnen hatte dieser Trend wohl ein oder zwei Millionen Jahre zuvor, als der frühe vormenschliche Vorfahre Homo habilis in seiner Ernährung mehr und mehr auf Fleisch setzte. Als sich dann Gruppen auf einer gemeinsamen Lagerstätte zusammenfanden und ein zusätzlicher Vorteil aus kooperativem Nestbau und gemeinsamer Jagd entstand, nahm die soziale Intelligenz zu, und zugleich wuchsen die Zentren für Gedächtnis und logisches Denken im präfrontalen Cortex an.

Wahrscheinlich kam es zu diesem Zeitpunkt in der Ära des Homo habilis zu einem Konflikt zwischen der Selektion auf individueller Ebene, bei der Individuen mit anderen Individuen derselben Gruppe konkurrieren, und der Selektion auf Gruppenebene, bei der verschiedene Gruppen miteinander konkurrieren. Die Gruppenselektion förderte Altruismus und Kooperation unter den Mitgliedern derselben Gruppe; es entwickelte sich ein in der gesamten Gruppe angeborenes Moralempfinden, ein Sinn für Gewissen und Ehre. Der Wettstreit zwischen diesen beiden Selektionskräften lässt sich in etwa so darstellen: Innerhalb der Gruppe gewinnen Egoisten gegen Altruisten, aber Gruppen von Altruisten gewinnen gegen Gruppen von Egoisten. Oder sehr stark vereinfacht: Die Individualselektion förderte die Sünde, die Gruppenselektion dagegen die Tugend.

Das führte schließlich zu dem ewigen Konflikt des Menschen, eine Folge aus der vorgeschichtlichen Multilevel-Selektion. Wir schwanken in wenig stabilen, sich ständig verändernden Positionen zwischen beiden Extremkräften, die uns erschaffen haben. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass wir uns einer davon ganz unterstellen und damit die Ideallösung für unseren politisch-sozialen Grabenkampf finden. Würden wir ganz den instinktiven Bedürfnissen nachgeben, die sich aus der Individualselektion ergeben, so hätte das die Auflösung der Gesellschaft zur Folge. Überlassen wir uns dagegen der Gruppenselektion, so würden wir zu engelsgleichen Robotern – einer Art übergroßer Ameisen.

Der ewige Konflikt ist keine Versuchung, mit der Gott die Menschheit auf die Probe stellt, und genauso wenig das Machwerk des Teufels. Es ist einfach nur eine Entwicklung, die sich so ergeben hat. Vielleicht war es nur mit diesem Konflikt möglich, dass sich im Universum Intelligenz auf der Höhe des menschlichen Verstands und spziale Gefüge überhaupt herausbilden konnten. Irgendwann werden wir einen weg finden, mit unserem angeborenen Konflikt zu leben, und vielleicht erfreuen wir uns sogar daran, weil wir ihn als Urquell unserer Kreativität erkennen.

Quelle E.O. Wilson: Der Sinn des menschlichen Lebens / Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke / Verlag C.H. Beck München 2015 / ISBN 978 3 406 681707 (Zitat Seite 31 ff)

Und nun – nach dem Naturwissenschaftler und (nicht zu vergessen:) Ameisenforscher Wilson – der Philosoph Immanuel Kant, in der Darstellung von Thomas Assheuer:

Kant war Aufkärer, aber kein Träumer. Schwärmer mochte er nicht. „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ Torheit, Eitelkeit, Herrschsucht und Zerstörungslust gehörten zum Menschen dazu, dieser habe nun einmal einen „hang zum Bösen“, später sprach Kant gar vom „radikal Bösen“. Eine tiefe „Unvertragsamkeit“ präge den Menschen, eine „ungesellige Geselligkeit“.

Diese „ungesellige Geselligkeit“ bedeutete: Die Menschen können einander nicht leiden und mögen doch nicht voneinander lassen. Sie ziehen sich in die „Vereinzelung“ zurück – und spüren zugleich ein Ungenügen an ihr. Deshalb suchen sie Gesellschaft und geben sich eine gemeinsame Ordnung, genauer: eine Rechtsordnung, in der alle Mitglieder ihre schöpferischen Anlagen in Freiheit entfalten können. Die dialektische Pointe lautete also: Es ist die soziale „Unvertragsamkeit“, die die Menschen dazu bringt, sich eine republikanische Verfassung zu geben. Dabei sind die Bürger der Kantschen Republik zugleich Urheber wie auch Adressaten ihrer Gesetze, einen König von Gottes Gnaden brauchte es nun nicht mehr. Der König konnte gehen, die Bürger machten das jetzt selbst.

„Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür der anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinigt werden kann.“

Das war Kants berühmte republikanische Verfassung, seine genial einfach demokratische Idee. 1795 schießt ihm dann dieser atemberaubende Gedanke durch den Kopf: Wenn sich die einzelnen Bürger durch den freine Gebrauch ihrer Vernunft eine rechtliche Ordnung geben können – warum soll das den „unvertragsamen“ Nationen untereinander nicht auch gelingen? Gewiss, noch befinden sich die Völker im wilden Naturzustand und führen Krieg gegeneinander, doch das dürfe nicht das letzte Wort der Geschichte sein.

Eines Tages, so prophezeit er in seiner Altersschrift unter dem ironisch gemeinten Titel Zum ewigen Frieden , würden die Völker ihres Leides überdrüssig, gäben „ihre wilde (gesetzlose) Freiheit auf“ und fänden weltweit zu einem „Föderalismus freier Staaten“ zusammen. Und wieder befördert der Antagonismus der Menschen den Frieden des Rechts: „Die Natur hat also die Unvertragsamkeit des Menschen, selbst der großen Gesellschaften und Staatskörper (…), wieder zu einem Mittel gebraucht, um in dem unvermeidlichen Antagonismus derselben einen Zustand der Ruhe und Sicherheit auszufinden (…): aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen, und in einen Völkerbund zu treten: wo jeder, auch der kleinste, Staat seine Sicherheit und Rechte (…) erwarten könnte.“

Quelle DIE ZEIT 3. Dezember 2015 Seite 49 f Was nun Herr Kant? Er war der Philosoph der Vernunft und des Friedens. Warum er gerade in Kriegszeiten aktuell ist. Von Thomas Assheuer.

(Fortsetzung folgt)

Hinzuzufügen wäre, dass heute offenbar in Paris der Durchbruch eines ersten weltweiten Konsenses – also unter Beteiligung aller Völker – gefeiert werden darf. Man kann es kaum glauben, aber es wäre ein historischer Tag. Nicht den Frieden betreffend, aber immerhin eine gemeinsame Zukunft: das Weltklima.

Nachtrag 15.12.2015

Und dem wiederum wäre heute z.B. hinzuzufügen, was ich soeben in der SZ las:

Eigenwillig erscheint, dass Schellnhuber gerade die wachstumsbegeisterte Angela Merkel von seiner ständigen Politikerschelte ausnimmt. Schließlich ist Deutschland von den Pro-Kopf-Emissionen her alles andere als ein Klimavorreiter. Und auch die angeblichen Emissionsreduktionen seit 1990 sind in Wahrheit Emissionsverlagerungen, weil unsere Konsumgüter eben zunehmend aus den Schwellenländern stammen. Trotz aller technischen Alternativen zu Kohle und Öl könnte darum außer Technik auch ein genügsamerer Lebensstil nötig sein.

Quelle Süddeutsche Zeitung 15.12.2015 Seite 15 Die Klima-Welt aus Forschersicht Hans Joachim Schellnhubers Buch zum Pakt von Paris. / Von Felix Ekardt

Falls Sie diesem letzten Link nachgegangen sind und Ihnen ein Wikipedia-Banner aufgedrängt wurde: auch dazu gibt es heute einen SZ-Artikel (Seite 20), dessen Überschrift schon einiges aussagt:

Wikipedia erzürnt die Basis Ein Banner auf der Webseite wirbt jährlich mit immer höheren Spendenzielen – dabei hat das Online-Lexikon keine Geldsorgen. Im Grundsatz geht es um die Frage, wie viel Geld eine Freiwilligen-Organisation einnehmen darf. Von Angela Gruber.