Ist „Gänsehaut“ bemerkenswert?
(Eine Notiz vom vergangenen Jahr, Abfallprodukt, ich veröffentliche sie nur, um sie los zu sein. Heute würde ich verschiedene Fragezeichen einschieben und vor allem einen neueren Aufsatz von Ferdinand Zehentreiter als Ausgangspunkt wählen, Thema: „Warum Musik keine ‚Sprache der Gefühle‘ darstellt“.)
Ganz unbedarft fühlte ich mich nicht angesichts dieses Themas: jedenfalls war es schon vor 1998, als ich über mehrere Radiosendungen hinweg versuchte, den emotionalen Wirkungen von Musik systematischer nachzugehen, auch indem ich um Feedback vonseiten des Publikums bat, woraus ein Menge Hörerpost resultierte. Ich glaubte auf dem rechten Weg zu sein, nahm 1998 an der Geneva Emotion Week (Université de Genève, Faculté de Psychologie et des Sciences de l’Education) – und kehrte ziemlich konsterniert zurück. Vielleicht hätte ich alles gründlich aufarbeiten sollen, dann hätte ich das Problem vom Hals gehabt. Soll die Wissenschaft doch weiter ihre Messungen anstellen, – sind es nicht durch die Bank Leute, die von den wirklichen Wirkungen der Musik wenig Ahnung haben? Immer dieses Gerede von den Emotionen… Was von den Laien völlig unterschätzt wird, ist der gedankliche Anteil der Musik.
Ich würde zunächst einen Aspekt völlig ablösen: die physisch spürbaren und benennbaren Effekte wie Gänsehaut und Tränen. Sie wären meiner Meinung nach separat von den emotionalen Wirkungen zu behandeln, die vorrangig aus der Introspektion stammen und allzuleicht verfälscht und übertrieben werden, auch irreführende Fragestellungen nach sich ziehen.
Ein Beispiel:
Universaler Chill-Effekt – Musik berührt uns im Innersten. Musik ist eine universelle Sprache der Gefühle. Nicht umsonst spricht man vom «Gänsehaut-Effekt», den wir beim Hören von Musik erfahren. Sie kann uns überwältigen und tief wie keine andere Kunst berühren – über alle Kulturen hinweg. Nur wenige Menschen zeigen sich immun gegen die Reize der Musik, die auch unser Filmerlebnis prägt. «Kulturplatz» trifft den Basler Filmkomponisten Niki Reiser. Einen, der weiss, wie ein Soundtrack klingen muss, damit ein Film sein Publikum erreicht. (Siehe hier.)
Dass die Musik eine universelle Sprache sei, „über alle Kulturen hinweg“, ist leeres Gerede. Wunschdenken. In der Musikethnologie gibt es zahllose Belege des vollständigen Versagens interkultureller Kommunikation. Bei jeder komplexeren Musik muss die Hör-Methode regelrecht eingeübt sein, möglichst schon in der Kindheit.
Ich beginne mit eigenen Erinnerungen, die das Phänomen Gänsehaut betreffen, den frühesten, die ich dingfest machen kann, und es entspricht wohl wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass sie erst mit der Pubertät auftauchen.
J.S.Bach: Matthäus-Passion „Barrabam“ – Schrei
Richard Wagner: Höhepunkt der Lohengrin-Vorspiels (Beckenschlag)
Bach „Ciaccona“: eine Stelle in einer bestimmten Interpretation (siehe hier)
(Ich habe all dies schon mehrfach zur Sprache gebracht, z.B. hier, und sollte jetzt sondieren, was aus dem Zehentreiter-Ansatz an neuen Einsichten gewonnen werden kann.)