Und falls man darüber weiter nachdenken will: Essays Essays Essays
Nach 10 Jahren erkenne ich mich (2008) kaum noch selbst, ich bin in jedem Punkt Leser:
Das vollständige Inhaltsverzeichnis des Buches mit allen Autoren findet man hier!
Also beim Wolke Verlag, dort unterste Zeile anklicken! (Der folgende Screenshot nur als Schmuckbild: die unterste Zeile „content/Inhaltsübersicht“ funktioniert also erst im Original, wie hier und dort angegeben.)
Screenshot der Web-Seite
Wichtig ist mir, in Erinnerung zu rufen, dass ich damals das Thema LINIE vor Augen hatte, das Harry Vogt für den 40. Jahrestag der „Wittener Tage für neue Kammermusik“ ausgerufen hatte. Wir haben ja oft, Raum an Raum im Carlton-WDR-Bürohaus, freundschaftlich miteinander Gedanken ausgetauscht, ich habe auch nicht selten seine Musikpassagen moderiert und dabei viel Neues gelernt. (Er gehörte mit Werner Fuhr und Frank Hilberg zu meinen liebsten Kollegen.) Hier Harry Vogts Vorwort für Witten 2008:
Es wäre an der Zeit, einmal die ganze Wittener Reihe zu ordnen und zu sichten, eine gewaltige Fundgrube des Denkens über Musik, nicht nur über die in Witten gebotene „Kammermusik“. Ach du lieber WDR, wo wirbst du mit deinen Riesenprojekten? Wer weiß davon? Und wo ist die weite bunte Welt der ältesten, der immer noch und ebenfalls weiterhin neuen Musikkulturen geblieben?
Die Rolle des Wortes über Musik in der MUSIK! Die Rolle der Wort-Musik-Sendungen im Rundfunk. Ist es Zufall, dass in dem aktuellen Heft Musik & Ästhetik die lesenswerte Besprechung eines lesenswerten Buches über Programmhefte zu lesen ist?
Im STERN las ich (nicht beim Friseur, wie viele behaupten, aber auch nicht beim Urologen, was hätte sein können), wie Christian Thielemann zu Wagner steht.
Denken Sie zum Zeitvertreib an der Supermarktkasse ein bisschen Johann Strauss?
Manchmal kommt mir etwas in den Sinn, aber ich schalte das weg. Ich muss weg von der Musik.
Warum?
Weil sie mich kaputt machen würde. Sie zerfrisst mich. Weil ich sie so intensiv erlebe.
Was ist denn an Wagners „Tristan und Isolde“ so gefährlich?
Wagners „Tristan“ ist lebensgefährlich. Der gehört in den Giftschrank. meine Mutter ist Apothekerin. Die hat mir erzählt, dass man mit kleinen Mengen bestimmter Substanzen eine ganze Stadt vergiften kann. Das ist bei Musik auch so. Bei Wagner muss ich genau wissen, was ich mit der Blausäure, der Schwefelsäure und dem Königswasser mache. Sonst kippen alle um.
Klingt hochdramatisch.
Ich habe vorhin in Placido Domingos „Walküre“-Probe gesessen und gedacht: „Dieser Wagner bringt dich um.“ Und das willst du aber, dass der dich umbringt. Deswegen kommst du immer wieder. Man quält sich selber und findet es schön. Deswegen muss ich hin und wieder weg von der Musik.
Quelle STERN Nr.30 19.7.2018 Seite 73 „Ein PEGIDA-versteher? das weise ich weg von mir“ Christian Thielemann, einer der größten Dirigenten der Gegenwart, eröffnet bald die Festspiele von Bayreuth. Doch er gilt auch als deutschtümelnd. Ein Gespräch über künstlerische Verantwortung in politisch bewegten Zeiten. Von Stephan Maus.
Vorsicht! kann man nur sagen. Thielemann weiß, wie Wagner wirkt, gerade im Tristan, Wagner selbst hat es gewissermaßen verbindlich beschrieben. Und zwei große Dirigenten sind bei ihrer eigenen Tristan-Aufführung am Pult verstorben. Ja, es gibt authentisches Orchestermaterial, in dem die Zeitpunkte vermerkt sind. Man lese bei Wikipedia hier nach, Stichwort Wirkung. Am Anfang steht dort sinnvollerweise Wagners Selbst-Diagnose, die er Mathilde Wesendonck zumutete, da sie ja mitschuldig war:
Kind! Dieser Tristan wird was furchtbares! Dieser letzte Akt!!! – – – – – – –
Ich fürchte die Oper wird verboten – falls durch schlechte Aufführung nicht das Ganze parodirt wird –: nur mittelmässige Aufführungen können mich retten! Vollständig gute müssen die Leute verrückt machen, – ich kann mir’s nicht anders denken. So weit hat’s noch mit mir kommen müssen!!…
Wenn ich mich recht erinnere (man kann es nachprüfen, siehe hier), hat Wagners Urenkelin die Idee mit der Parodie vor drei Jahren ernster genommen, als sie gemeint war; tatsächlich ist auch niemand gestorben und wohl auch nicht verrückt geworden. Ich – am Computer sitzend, mit bestem Blick auf die Bühne – habe mich nur geärgert, als König Marke seine Isolde nach ihrem (vorgetäuschten?) Liebestod abführte. Wer weiß, warum sie noch lebte, man munkelte etwas von ehelichen Pflichten.
* * *
Peter Gülke denkt auf ganz andere Weise – nämlich ernsthaft – über das Ende der Tristan-Handlung nach, ausgehend von Peter Wapnewskis Satz: „Die Logik der Oper ist nicht die Logik des Lebens“:
Ganz ohne diese jedoch kommt sie nicht aus, weshalb man zuspitzen könnte: Die Logik der Musik ist nicht die Logik der Bühne. Das Aufbrechen der Differenz, finale Überwältigung durch eine „vor unserem Gefühle als notwendig gerechtfertigte Handlung“, das heißt: von sich aus handelnde Musik, gehört zu den großen Aktivposten in Wagners Dramaturgie. Fast immer läuft die Szenerie auf Situationen zu, die sich auf der bislang gültigen Realitätsebene nicht lösen lassen; ein Deus ex machina muss her, Erlösung. „Wagner hat über nichts so tief wie über Erlösung nachgedacht“, so Nietzsche, „irgendwer will bei ihm immer erlöst sein“. Eben dort scheitert die Folgerichtigkeit bisher verfolgter Handlungsstränge – zugunsten einer anderen: Die Musik wird zum alles einsaugenden schwarzen Loch, beansprucht alle Rechte eines transzendierenden Mediums, worin auf- und untergeht, was anders nicht aufging.
Besonders im „Tristan“, der sich in den nächstliegenden Plausibilitäten des Bühnengeschehens zunehmend selbst widerlegt. So kommt man, weil Isolde übrig bleibt und sich in den Tod singen muss, um die Frage nicht herum, ob der dritte Akt nicht auch als Ermöglichung des sogenannten Liebestodes, als Vehikel für das „gleichsam transportierbar eingefügte Orchesterstück“ (Bloch) vonnöten war. Immerhin wollte Wagner sich, da der Traum vom praktikablen „Operchen“ schnell ausgeträumt war, „symphonisch ausrasen“. Hierfür schuf er freie Bahn, am deutlichsten am Ende.
Auf genauere Bestimmung der Todesart – irgendwo zwischen Selbstmord und Transsubstantiation, mit Anteilen von beidem – kommt es nicht an. Entsprechend vage die szenische Anweisung: „Isolde sinkt, wie verklärt, in Brangänes Armen sanft auf Tristans Leiche.“ „Verklärt“ bedeutet nicht unbedingt schon „tot“; dieses bestätigt erst der nächste Satz: „Große Rührung und Entrücktheit unter den Umstehenden. Marke segnet die Leichen.“ Dem Anspruch vom „Ertrinken, Versinken, unbewusst“ gemäß stirbt Isolde nicht real wie Tristan – im Prosaentwurf stürzte sie sich ins Meer! Dergestalt öffnet Wagner auch jenseits der Musik den Horizont des im zweiten Akt besungenen Liebestodes und macht das „transportierbare Orchesterstück“ für die auf Aufhebung ihrer selbst angewiesene Handlung zur Mündung des Ganzen. Welch symbolschwere Subtilität – ähnlich der, die dem konnotativ belasteten Englischhorn die Teilhabe am finalen H-Dur verwehrt (wobei es auch darum ging, den „Erlösungs“-Aufstieg h-cis-dis den bis dahin parallel geführten Oboen allein zu überlassen und das als Durterz empfindliche dis ausgewogen und diskret über die Oktavlagen zu verteilen).
Quelle Peter Gülke: Musik und Abschied / Bärenreiter Kassel Basel London New York Praha 2015 ISBN 978-3-7618-2401-6 (Seite 264)
(Fortsetzung folgt)
Wer die Geduld verliert, könnte sie am LOHENGRIN live üben. Die gestrige Aufführung 25. Juli 2018 ist per Video-Livestream abrufbar: HIER.
* * * * *
Mein Eindruck: die Oper ist inhaltlich eine Zumutung, da hilft kein Bühnenbild und keine Regie. Trotz sanftester Farben, und immerhin ohne Schwan. Aber leider auch musikalisch von Langeweile geprägt. Unendlich oft die gleichen Wendungen, – liegt es an Wagner oder an der Interpretation, am Tempo? Alles ist voraussehbar und behäbig, auch der „Luftkampf“ (Mein Gott: kenne ich das nicht von David Garrett? Mit Geige statt Schwert?) Und der lange Chor-Jubel am Schluss, ein durchgehendes vielstimmig-dumpfes Vibratogewirr, nicht-enden-wollend. Wer hält das in der Realität aus!? Es genügt eigentlich, das halluzinogene Vorspiel und die 2. Szene verinnerlicht zu haben (die ich 1956 auf LP kennenlernte und unzählige Male hörte). Die schrecklich gefügigen Männerstimmen angesichts der fiebrigen Frau. Damals liebte ich das Auskosten der phrygischen Kadenz, – so kannte ich sie nicht von Bach -, jetzt finde ich sie völlig überstrapaziert. (Merken: die Stelle mit dem Ausrufer vor dem Kampf, die Bruckner im Adagio seiner Siebten zum Ausgangspunkt nimmt.)
Pause nach I. Akt ab 1:02:17 bis 01:10:56 Gespräch mit Waltraud Meier + Gang durch Festspielhaus, Keller und Probenraum (Kantine)
(Sehr interessant, das Publikum hinter den plaudernden Protagonisten zu beobachten. Was für ein Glanz! Ich denke an die große deutsche Fernsehshow, an Hochzeit in Königshäusern, ja, ein Moderator namens Maier steht fast im Zentrum der Macht und spricht mindestens wie ein Adelsexperte oder sogar ein Bachelorkandidat.)
Es gibt ein paar Konzerte der letzten Jahre, die ich für den Rest meines Lebens verinnerlicht habe. Und ich werde immer wieder versuchen, sie mir möglichst deutlich in Erinnerung zu rufen: nicht nur in gelungenen Einzel-Interpretationen, sondern als Gesamtprogramme, als eine dramaturgisch vollkommene ComPosition unabhängiger Werke. Zum Beispiel den Abend mit dem Kelemen-Quartett in der Kölner Philharmonie (25.1.2016 hier), den Solo-Abend mit Barnabas Kelemen (25.10.2016 hier), drei Bach-Solosonaten mit Thomas Zehetmair in der Stiftskirche Stuttgart (7.9.2016 hier). Ein reines Mozart-Programm mit dem Hagen-Quartett am 25. Februar 2015 in der Kölner Philharmonie (hier). „Reiner“ Mozart auch in Form der „Hochzeit des Figaro“ in Bonn am 10. Juni 2018 (siehe hier). Das Konzert (der Programmverlauf!) mit Christian Gerhaher am 15. November 2017 in der Düsseldorfer Tonhalle (siehe hier). Und jetzt eben der Liederabend mit Truike van der Poel auf dem Pragsattel in Stuttgart. Ich nenne den Pianisten noch nicht, um dem naheliegenden Vorwurf der Befangenheit wenigstens für den Augenblick zu entgehen und geneigte Leser zum genaueren Lesen zu veranlassen, danach vielleicht um so geneigter zu finden. Denn dies ist ein Programm, das man nicht aufgrund einer vorgefassten Meinung oder dank einer Wahlverwandtschaft (ganz zu schweigen von einer naturgegebenen) liebgewinnen kann, sondern nur, weil es einen LIVE im sprichwörtlichen Sinn ergreift oder sogar „unter Strom setzt“. Alles ist neu, also eben NEUE MUSIK, da weiß man nichts vorher, allenfalls kann man – das Programmheft studierend – etwas ahnen, imaginieren. Über die Texte: Barbara Suckfüll siehe hier, Unica Zürn siehe hier , Marie Luise Kaschnitz hier. (Einen merkwürdigen Zugang zu Filmaufnahmen von 1955 und zu gesprochenen Gedichten der Schriftstellerin findet man hier.)
Rast auf der Fahrt nach Stuttgart 20. Juli mittags.
Die Komponisten Thomas Stiegler und Stefan Keller:
Verabschiedung:
Später:
Marc & Alvaro
Notiz nach Gespräch mit dem Komponisten Stefan Keller: seine Kompetenz in indischer Musik, – er studiert Tabla bei Aneesh Pradhan, hat bei Dhruba Ghosh Gesang studiert. Schreibt eine Dissertation bei Prof.Dr. Gert-Matthias Wegner. Website hier. Sein hervorragender Text „Takt und Tal“ ist als pdf abrufbar hier.
Beispiel eines Werkes (Russische Premiere 2015) „Schaukel“ hier. Text dazu:
Der Titel steht für zweierlei: für die Körperlichkeit der Musik, und für den spielerischen Umgang mit ihr. Die Lust, das Gewicht des eigenen Körpers zu spüren, seine Unterworfenheit unter die Gesetze der Schwerkraft, und gleichzeitig die eigene Kraft ins Spiel zu bringen, nicht nur um die wirksame Dynamik bis ins Äusserste zu steigern, sondern darüber hinaus auch um das gleichmässige Auf und Ab herauszufordern und Reaktionen zu testen – Stockungen, Wirbel, Stürze… dies sind wohl die Gründe für die Leidenschaft und Verausgabung, mit der Kinder sich dem Schaukeln hingeben. Etwas von dieser elementaren Spielfreude und von der durch sie zu erlangenden Erfüllung sind für mich zentraler Bestandteil von Musik. (St.K.)
Stefan Keller 2011 an der Tabla:
Erinnerungsbild eines Wiedersehens:
Pfaffenberg – Zurückgekehrt nach Solingen:
Pfaffenberg Bistro
Blick auf Burg Hohenscheid
Perfektes Programm Natur
(Nicht vergessen: Perfektion ist auch ein ironischer Begriff. Man darf mit Fug und Recht jede Wolke als Fehler des Himmels behandeln.)
Abschließend möchte ich einige wichtige Sätze festhalten, die im Programmheft des Festivals Sommer in Stuttgart 19. -22. Juli stehen. Es war ja vor allem Dieter Schnebel gewidmet, dessen eindrucksvolle Kaschnitz-Lieder auch in diesem Konzert zu hören waren. Vor 50 Jahren schrieb er den folgenden Text für damals neue Werke; ich finde ihn unvermindert aktuell, insbesondere wenn man an das nach wie vor aktuelle Konzept der Mimesis in der Musik denkt. Was Musik nämlich immer auch bedeutet: Bewegung im Raum, Theater. (Selbst wenn man zugleich die Tendenz zu akustischer Abstraktion nicht missen mag!)
Unbestreitbar ist es das, Theater. Zumindest gewann die sichtbare Seite von Musik erhebliche Relevanz. Hier wurde ein Schaden behoben. Und zwar der: Mit Hilfe von Schallplatte, Tonband und Lautsprecher vermochte man Musik auf die pure akustische Präsenz schrumpfen zu lassen, dies zumal in der elektronischen Musik, die auch den Interpreten vergessen machte. Sie und High Fidelity ließen überdies die Illusion aufkommen, es gäbe Musik ohne Fehler. So schien es, als könnte Musik bloß als blankes Resultat existieren. Alles andere, ausgenommen die Schau, die Dirigenten und Interpreten abziehen, wurde mit Nichtbeachtung bestraft. Dass es so respektable Handlungen wie das Üben und Proben von Musik gab, verdrängte man fast aus dem Bewusstsein. Indes, was da passiert: dass Musik entgleist, einen Anlauf nimmt, durcheinander gerät, ist voll hübscher Überraschungen. […] Jedenfalls kommen da Aspekte des Rätselhaften oder Absurden zum Vorschein. Das Theater, das die Musik spielt, ist ihr eigenes Wesen. Sie zeigt, was in ihr steckt, lässt sozusagen die Katze aus dem Sack.“
Dieter Schnebel, im Programmheftbeitrag „Musik als Theater“ (Seite 11) zitiert von Habakuk Traber.
Siehe dazu auch die Ausführungen von Stefan Keller (oben) zur Körperlichkeit in der Musik. Ich würde darüberhinaus gern Zitate aus der Analyse afrikanischer Musik beisteuern. Welch eine positive Wendung der Musikgeschichte, dass dergleichen nicht mehr als deplatziert gilt! (JR)
Nachtrag (Auszug aus dem biographischen Teil des Programmheftes)
(links oben: Truike van der Poel, in Fortsetzung; rechts: J.Marc Reichow. In gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen sagt man, dass sie miteinander verheiratet sind.)
Dass ich diesen Eindruck festhalten muss, fiel mir wie Schuppen von den Augen: als ich Bachs Mittelsatz des Italienischen Konzertes hörte, diese unglaublich schöne, todtraurige Melodie, und dann den Cis-moll-Satz aus Schuberts Klaviersonate, nein, der Moment, wenn diese ergreifende Musik ausgeblendet wird, – da weiß jemand, von welchen Emotionen wir leben (Mensch und Musik). Eine Frau natürlich… würde ich nicht sagen, aber nun steht es da. Ein ganzer Film zur Verherrlichung eines unerbittlichen Elementes, des Wassers und des Windes.
Ich denke an den Ärger, den einmal ein anderer, visuell sehr schöner Film ausgelöst hat, siehe hier.
Und nun dies! Der folgende Link führt zum Film, die Bilder unten sind nur gescannte Momente des Films!
3:45 Der Wind ist auf der Insel ein ständiger Begleiter. Überall dringt er hervor, bis in die Seele der Menschen hinein. Unablässig ist die Insel mit ihm konfrontiert. Im Guten wie im Schlechten. „Der Nordwind geht durch die Türritzen. Das pfeift ganz schön. Es ist wie mit einem Sturm. Am Anfang findet man ihn toll, aber irgendwann soll er einfach aufhören. Es gibt einen Wind, der dich verrückt macht, die Tiere reagieren ganz stark auf ihn, sie flippen richtig aus, rennen, machen Bocksprünge. Wir kennen das ja, deshalb warten wir, bis er vorbei ist, denn mit den Tieren ist dann sowieso nichts anzufangen. Irgendwann wird dieser ständige Wind anstrengend. Teile der hiesigen Kultur sind immer noch lebendig. Dazu gehören auch die Wetterfahnen.“ 4:55
Scan Momentaufnahme
53 Min.
Verfügbar von 22/06/2018 bis 21/07/2018
Live verfügbar: ja
Nächste Ausstrahlung am Mittwoch, 27. Juni um 17:40
„Wind scheint ja substanzlos zu sein. Aber ich habe noch nie einen Unterschied zwischen Geräuschen, Klängen und Musik gemacht. Für mich ist alles Musik. Und im Wind hörte ich Melodien an- und wieder abschwellen. Da war etwas Konvulsivisches, das meinem Schreiben einen Rhythmus gab und mich gleichzeitig in eine Art Hypnose oder Trance versetzte. Ich erzähle hier keine Geschichten mit meinen Texten, ich versuche eher, Emotionen einzufangen. Der Wind lieferte mir alles das. Ich hatte ein bisschen das Gefühl, nach seinem Diktat zu schreiben.“ Alexis Gloaguen
Aber ich komme nur von dieser auf jene. Ich würde nie sagen: Mozarts Figaro ist die tollste Oper, die ich kenne. Was ich als erstes erwähnen würde, wäre vielleicht: die Handlung macht mich verrückt, ich habe keine Lust auf das Versteckspielen, den Kleidertausch und die Hosenrolle usw., ich muss mir mühsam wieder anlesen, dass der Inhalt damals als revolutionär erlebt werden konnte; dass die Oper vom Kaiser genehmigt werden musste! Und ich nehme jede Mühe auf mich, weil die Erinnerung an dieses eine Juwel auch das gesamte Umfeld erstrahlen lässt und das Bewusstsein, dass die gesamten Szenenfolge und alle Charaktere – Musik für Musik – einzigartig sind. Der Anlass, dies zu schreiben, ist die Aufführung morgen in Bonn. Ich weiß, dass alles eine Freude ist oder sein wird, und ahne, dass es wieder die eine Szene ist, wo ich nichts mehr auf der Bühne erkennen werde, wieder wird es mir peinlich sein, obwohl ich im dunklen Zuschauerraum sitze. Dieses eine Lied, das in seinen Modulationen ein Universum der Innerlichkeit öffnet. Nein, ich ziehe diesen Ausdruck zurück.) Ich erinnere mich, dass mehrere solcher Stellen mich schon mehrfach motiviert haben, den Eindruck zu konkretisieren oder nach außen zu vermitteln, und immer wieder diese eine, ich greife einfach auf das zurück, was ich damals versucht habe in Worte zu fassen:
Wie soll man so etwas singen? Zumal wenn es sich um eine der schönsten Melodien handelt, die Mozart ersonnen hat? Auf jedenfall knabenhaft grade heraus und nicht allzu kunstvoll vibriert; naiv, erregt, – aber nicht lächerlich.
So wie hier ganz bestimmt nicht, mit lauter einzeln auftremolierenden Tönen, als gelte es zu zeigen, dass die Stimme gut sitzt.
10) 5036382 Kuijken „Figaro“ CD 2 Tr. 2 ab 0’16“ bis 0’39“
So in der Gesamtaufnahme Sigiswald Kuijkens (Monika Groop). In Nikolaus Harnoncourts Züricher Gesamtaufnahme klingt es nach reifem, konzentriertem Einsatz von Stimmkunst (Petra Lang), also auch weniger nach einem unerfahrenen, von unbeschreiblichen Gefühlen erfüllten Knaben:
11) 5019923 Harnoncourt „Figaro“ CD 2 Tr. 2 ab 0’08“ (!) bis 1’16“
Ich habe eine andere Aufnahme mit Harnoncourt in Erinnerung: ……. da begann Cherubino schüchtern, aber mit wachsender Sicherheit, und zugleich schienen die beiden gut aufgelegten Frauen, die ihm zuhörten, von wachsendem Staunen ergriffen, sie wurden ganz still: man erlebte einen magischen Moment, vollkommen erfüllt vom Zauber dieser einen, reinen Melodie.
Und wenn die Gräfin gleich danach sagt: „Bravo, was für eine schöne Stimme! Ich wußte gar nicht, dass Sie so schön singen!“
Und Susanna: „O wirklich, was er macht, macht er alles gut“, so klang das nicht alsbald wieder übermütig und belustigt wie in manchen anderen Aufführungen, sondern so, als müssten sie sich mit Mühe von diesem magischen Zauber lösen. Susan Graham sang damals den Cherubino. Unvergesslich!
Können Sie verstehen, dass man dann geradezu sauer ist, wenn man erlebt, wie Cherubino in John Eliot Gardiners Gesamtaufnahme von der Darstellerin selbst (Pamela Helen Stephen) geradezu verspottet wird? Entsprechend oberflächlich ist das Tempo.
12) 5016 344 Gardiner „Figaro“ CD 1 Tr. 25 ab Anfang bis 1’22“
Natürlich – sie fasst sich, sie versucht zu sich und zu der Musik zu kommen, aber kann man ihr den Dumme-Jungen-Anfang vergessen? Ich nicht.
Weil die Schönheit der Melodie keinen solchen Spaß verträgt.
Auf der Suche nach einem idealen Cherubino hatte ich erwartet, bei den aktuellen Vertretern der „Aufführungspraxis“ am ehesten auf eine glaubwürdig knabenhafte Frauenstimme zu treffen.
Aber wissen Sie, wo ich nun glaube fündig geworden zu sein? Bei Sir Georg Solti, in der Gesamtaufnahme von 1982. Frederica von Stade singt.
13) 5000 098 Solti „Figaro“ CD 1 Tr. 12 „Voi che sapete“ 2’48“ (Achtung: kein Stop an dieser Stelle!)
So einfach ist das. Frederica von Stade sang, das London Philharmonic Orchestra spielte unter Sir Georg Solti. So einfach ist das, und wieviel Kunst gehört dazu! Wieviel Mut allein, den naiven Überschwang in einem einzigen Glissando überborden zu lassen:
(andeuten!)
Meine Damen und Herren, eine ähnlich rastlose Wanderschaft durch die verschiedenen Tonarten wie in Mozarts Cherubino-Arie erleben wir bei Franz Schubert, und ganz besonders, wenn von der Wanderschaft die Rede ist. Ich habe lange Zeit sein wunderbares Lied „Der Wanderer an den Mond“ missverstanden: ich fand die ersten beiden Strophen erschütternd, so tapfer dahinschreitend, zugleich von untergründiger Verzweiflung getrieben, und da erschien mir der Schluss als allzu billiger Trost. Mir war nicht aufgefallen, dass das Wort „ich“ verschwindet! Da ist nur noch der Mond und der Himmel, „endlos ausgespannt“, und die Vision des Glücks, das dem zuteil wird, der, „wohin er geht, doch auf der Heimat Boden steht“; die glückliche Musik, die dazu erklingt, hat nichts zu tun mit dem Befinden dieses Heimatlosen, der da wandert.
* * *
Welche Aufnahme war es, die ich damals verwendet habe? Gerade eine einzige hat sich bei den vorherigen Hör-Aktionen „herausgeschält“, mit Frederica von Stade natürlich, unter Solti, aber war es die, die auf youtube zu sehen ist?
Wunderschön. Aber war es diese Aufnahme? So langsam… und mit winzigen Intonationsschärfen? Irgendetwas fehlt mir. Die gutturale Kraft der tiefen Töne, das gewagte Abwärtsglissando in der Höhe.
Die Aufführung in Paris 1980 ist berühmt, man kann auch die ganze Oper abrufen: hier. ( Frederica von Stade bei 56:06). Ebenso eine Gesamtaufnahme unter John Pritchard beim Glyndebourne Festival Opera 1973 hier. „Voi che sapete“ ist auch in der frühen Fassung unter Karajan in Klang und Tempo (!) sehr gelungen. Aber die unverwechselbare, für alle Zeiten (das sagt sich nicht so leicht!) einzigartige Aufnahme mit Frederica von Stade ist die von 1982 unter Solti:
Leider nicht so leicht auffindbar; ein kurzer Eindruck ist vielleicht hier (Tr.7) möglich…
* * *
Versuch, die unverständlichen (oder ärgerlichen) Abschnitte der Figaro-Handlung im Umkreis der Cherubino-Lieder zu verstehen (nach Wikipedia hier):
Szene 5–8. Der Page Cherubino wurde vom Grafen entlassen, weil er bei einem Stelldichein mit der Gärtnertochter Barbarina ertappt wurde. Er will das Schloss aber nicht verlassen und bittet daher Susanna um Fürsprache beim Grafen. Besonders vermissen würde er die Mädchen (Nr. 6. Arie Cherubinos: „Non so più cosa son, cosa faccio“). Als der Graf erscheint, versteckt sich Cherubino. Der Graf macht Susanna den Hof. Kurz darauf kommt auch Basilio, der Musikmeister der Gräfin, und der Graf sucht ebenfalls nach einem Versteck. In dem Durcheinander springt Cherubino auf den Sessel und verbirgt sich unter einem Kleid Susannas. Basilio beschwert sich bei ihr über das unziemliche Verhalten des Pagen der Gräfin gegenüber. Der Graf kommt aus seinem Versteck, um Näheres zu erfahren (Nr. 7. Terzett Graf/Basilio/Susanna: „Cosa sento! Tosto andate“). Wenig später entdeckt er Cherubino unter Susannas Kleid. Der Page wird nur durch einen Huldigungsauftritt der Landleute vor einer Bestrafung des eifersüchtigen Schlossherrn bewahrt (Nr. 8. Chor: „Giovani liete, fiori spargete“). Der verzeiht ihm aber lediglich unter der Bedingung, dass er sich der Armee anschließt. Figaro gibt Cherubino gute Ratschläge mit (Nr. 10. Arie Figaros: „Non più andrai, farfallone amoroso“).
Zweiter Akt (Ein prächtiges Zimmer mit einem Alkoven, links im Hintergrund eine Tür zu den Zimmern der Bedienten, an der Seite ein Fenster)
Szene 1–3. Die Gräfin beklagt die Untreue des Grafen (Nr. 11. Cavatine der Gräfin: „Porgi, amor, qualche ristoro“). Susanna erzählt ihr von den Annäherungsversuchen des Grafen. Figaro kommt hinzu und berichtet ihnen von Marcellinas (gehört zu Basilio JR) Intrigen. Doch er hat einen Plan vorbereitet, um alles wieder zum Guten zu wenden: Um die Eifersucht des Grafen anzustacheln, hat er ihm durch Basilio die Nachricht zukommen lassen, dass die Gräfin sich am Abend mit einem Liebhaber treffen will. Im nächsten Schritt soll Susanna dem Grafen ein Rendezvous gewähren, zu dem dann aber der als Frau verkleidete Cherubino kommen wird. Die Gräfin soll die beiden ertappen und den Grafen dadurch zum Einlenken zwingen. Figaro geht, und die beiden Frauen lassen den Pagen herein. Susanna bittet ihn zunächst, ein selbstverfasstes Lied vorzutragen, dass er ihr am Morgen gezeigt hatte (Nr. 12. Arietta Cherubinos: „Voi che sapete che cosa è amor“). Susanna nimmt Cherubino den Mantel ab. Sie fängt an ihn zu kämmen und bringt ihm bei, sich wie eine Frau zu verhalten (Nr. 13. Arie Susannas: „Venite… inginocchiatevi“). Danach entfernt sie sich mit seinem Mantel durch eine Hintertür, um ihr Kleid für Cherubino zu holen.
Ich liebe die zugleich kindlich-pubertäre wie androgyne Gestalt des Cherubino, der von einer Sängerin gespielt wird, die bis hierher als Knabe aufgetreten ist und nun zur Frau verkleidet wird. Niemand außerhalb der Bühne glaubt daran, aber ohne den Glauben wäre diese wunderbare Figur nicht entstanden.
* * *
Ich kann mir alles weitere sparen, seit dem gestrigen Abend (10. Juni 2018) in der Bonner Oper. Eine Aufführung, in der alles (ALLES) gelungen ist, jede kleine Absurdität in der Handlung sich auflöst: Leichtigkeit, Witz und Augenblicke voller Tiefe (jawohl), lauter Entdeckungen, wie schön das alles instrumentiert ist, im wörtlichen und im übertragenen Sinn, die Farben der Holzbläser, das Pizzicato der Streicher, die Brillanz und das Brio ihrer Läufe, die schauspielerischen Finessen der Bühnenfiguren, die Stimmen, die Phantasie in der Regie des Ganzen, im Bühnenbild, in den Aktionen, den Chören (was für ein „Bolero“!!!), drei Sternstunden der Oper an einem Stück! Ein Triumph Mozarts (und des Textdichters da Ponte), einer für alle – der Name des Dirigenten: Dirk Kaftan. Und was für ein Glück, solche Könner in der Stadt zu haben! Und auf einer einzigen Bühne und im Orchestergraben versammelt zu sehen!
(Der korrekte Name der Barbarina fehlt; das hätte die wunderbare Marie Heeschen nicht auch noch schaffen können…)
Zu allem was ich gestern in der Aufführung erlebt habe, passt haargenau, was ich (erst heute) vom Regisseur und vom Dirigenten darüber gelesen habe: Aron Stiehl und Dirk Kaftan. Was für eine Wohltat in einer Zeit, wo man sich darüber ärgert, wie wenig die aktuellen Inszenierungen den Besuchern an Mündigkeit und Abstraktionsvermögen zutrauen. Freundlicherweise erhielt ich die Erlaubnis, den Text wiederzugeben. Dank an Tilmann Böttcher!
Es funktioniert so: man stellt die zweite Aufnahme (Aufnahme B) auf Anfang ein (bei 0:25), und zwar unterhalb des Youtube-Bildes auf „Hier“, so dass sich ein externes Fenster auftut, und richtet sich darauf ein, dass man von der Blogansicht problemlos ins externe Fenster wechseln kann und zurück. Wir nehmen das Blogfenster als Basis, weil man dort die Noten verfolgen kann. (Übrigens auch dann, wenn man keine Noten lesen kann, die Ohren sind die Hauptsache!) Vor jedem Wechsel schalten wir auf Stop, damit nicht beide Aufnahmen gleichzeitig zu hören sind. Wir stoppen immer nach einem sinnvollen (wenigstens halb-) geschlossenen Zusammenhang, den man im Sinn behalten kann, aber auch nicht allzu gestückelt. Wir beginnen etwa Aufnahme A mit 0:00 bis 0:22… Stop (beim nächsten Mal von hier bis 0:38). Üben und hören! In der Analyse spreche ich nicht von ihm oder ihr (Geiger oder Geigerin), sondern von Geige A und Geige B, Klavier A und Klavier B. Beide Geigen sind technisch hervorragend, es geht uns aber nicht um das geigerische Können, sondern um das Wollen, die Interpretation.
Aufnahme A
Aufnahme B
Dieselbe Aufnahme im externen Fenster: HIER – – – Achtung: einstellen auf 0:25 (unmittelbar vor Musikbeginn) und Stop! (Dann zurück auf internes Blogbild!) Beim nächsten Mal wieder extern von hier bis 0:52. Üben und hören!
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Selbstverständlich gehört zur ordentlichen Interpretation eines großen Werkes auch eine gründliche gedankliche Vorarbeit. Ich will nicht das abschreckende Wort „Analyse“ verwenden, aber es ist doch ein Wissen um den Aufbau und bestimmte begleitende Überlegungen, was eigentlich den Komponisten bewogen hat, gerade dieses Werk zu schreiben. Ein Beethoven schreibt keine Sonate „nur so zum Spaß“, und die Instrumentalisten spielen nicht „nur so zum Spaß“. Auch nicht, um ihre Virtuosität vorzuführen oder um zu zeigen, wie großartig ihre Instrumente klingen. Ich verwende und zitiere ausschließlich einen Artikel des folgenden Buches, der vielleicht etwas karg formal klingt, aber doch Übersicht schafft; als Autor firmiert dort „Michael Maier“ (Info unter Franz Michael Maier hier). Wenn ich die vorgesehenen Zitate mit genauen Zeitangaben (in roter Farbe!) versehe, beziehen sie sich – wegen des mitlaufenden Notentextes – immer auf die Aufnahme A.
Für völlig unbrauchbar würde ich bei einer solchen Betrachtung bloße Geschmacksurteile wie „gefällt mir“ oder „gefällt mir nicht“ halten, es geht also um Begründungen. Und keine Interpretation ist sakrosankt, nur weil ein großer Name dahinter steht. Die berühmtesten Künstler können erstaunlich gedankenlos sein.
Darmstadt, 2.Auflage 1996
ZITAT Bd I Seite 248f:
Die drei Sätze bieten drei Blicke auf die Möglichkeiten des Zusammenspiels von Violine und Klavier. Den ersten Satz könnte man überschreiben „Das wiedergefundene Unisono“. Es handelt sich um einen Satz von klarstem, auf Sonderwege durchaus verzichtenden Bau: Das Hauptthema wendet sich im vierten Takt nach der Dominante und im achten Takt nach der Tonika; die weiteren Themen sind kontrastierend angelegt, ohne daß dadurch der rasche Ablauf des Satzes auch nur im geringsten stockte. Auffällig dagegen und durchaus folgenreich für den Satz ist die Art, wie das Hauptthema nach kurzem Anlauf in einem Fluge den Raum vom kleinen d bis zum dreigestrichenen g durchmißt, wobei Vorder- und Nachsatz im Unisono beginnen: (Notenbeispiel). Ob das erste Seitenthema in einem Sechzehntellauf ausschwingend in die Anfangsbewegung zurückkehrt oder ob diese in einem Überleitungsteil einem Akkordgang gegenübergestellt wird – zweimal kommt der Satz längst vor der Wiederholung der Exposition auf dieses Kopfmotiv in unisono rollenden Sechzehnteln zurück. Im Mittelteil der Sonate mischen sich in dieses Spiel von einstimmigem Beginn, Auseinanderlaufen und Zurückfinden die Unterschiede der Instrumente nach Klang und Lage hinein. Der in die Wiederholung der Exposition zurückleitende Abwärtsgang wird am Beginn der Durchführung sequenziert; den Sechzehntelrepetitionen des Klaviers treten dabei Violintriller gegenüber. Diese Sequenz mündet in eine Form der Ausgangsfigur, welche, in cis-Moll, das Unisono des Anfangs durch ein Alternieren der Kontra-Oktave des Klaviers und der zweigestrichenen Oktave ersetzt. Mit der vierten sequenzierenden Wiederholung ist mit der Grundtonart G-Dur auch die gemeinsame mittlere Lage wieder erreicht, in der das Unisono der Reprise eintritt. In dieser Weise exponiert der erste Satz die Frage des Zusammenspiels der beiden Instrumente; daß es in ihm um diese Exposition ging, muß die Behandlung der Frage in den folgenden Sätzen zeigen.
Ich möchte den atemlosen Gang der Dinge, während wir ihm vergnügt folgen, etwas einfacher beschreiben:
Es fällt wahrhaftig schwer, das Treiben zu unterbrechen und prüfend innezuhalten: der Drive des ersten Satzes ist hinreißend und duldet kaum eine Atempause. Wenn das zweite Thema einen Moment des Bedenkens anzumahnen scheint (0:38), – auch dadurch, dass es nach Abbruch der wirbelnden Sechzehntel modulierend ansetzt -, so kann es doch keinen Zweifel geben, dass es ähnlich weitergehen muss, und der Augenblick des Aufmerkens keine Schwächung bedeutet. Nicht umsonst bleibt das Sechzehntelmotiv als Einwurf präsent, ehe sich der geschmeidige Fluss des neuen Themas durchsetzt. Aber die Sechzehntel kehren unbeirrt wieder, angereichert durch Triller, Sforzati und abschließende Passagen, um endlich in die Rückkehr des Anfangs zu drängen (1:47) oder in weitere Aktionen zu münden (3:32). Man wird gewahr, dass schon im ersten Teil des Satzes mit dem übermütig exponierten Material gespielt wurde (um nicht von motivischer „Arbeit“ zu sprechen). In diesem Sinne geht es in der Durchführung weiter mit Läufen, Trillern und Sforzati, bis die Reprise dem scheinbar ungeplanten Treiben ein Ende macht und – neu beginnt (4:00).
Was soll die Interpretation anderes tun, als diese ganze Jagd unbeirrbar und perfekt abzubilden? Nur nicht stocken, ebensowenig eilen, nur nichts problematisieren, alles ist Spiel. Und wenn wir es nicht fertig bringen die Aufnahme A zu stoppen (5:41), dürfen wir es ihr und uns als Plus anrechnen, – um dann, wenn ohne jedes Zögern auch der zweite Satz beginnt (5:43), auszurufen: Stimmungswechsel! das kommt zu früh, da muss man doch länger warten, es muss wohl ein Schnittfehler sein!
Die Aufnahme B – die Live-Aufnahme eines Konzertes – lässt eine Pause von 7:12 bis 7:17, nicht zu lang, nicht zu kurz.
An dieser Aufnahme fällt von Anfang an auf, dass sie sich nicht damit begnügt stattzufinden: sie will uns vielmehr fortwährend etwas zeigen. Nehmen wir gleich nach den Sechzehnteln den Aufstieg zum höchsten Ton: er ist ebenso wie die aufsteigenden Achtel mit einem Punkt markiert, es soll ein kurzer Ton sein. Geige B gibt ihm ein besonderes Vibrato, das ihn verschönert, beim zweiten Mal noch auffälliger, er soll intensiv süß klingen. Womit zugleich eine Tendenz zum Auskosten, Innehalten angezeigt wird, – die dem Charakter des Satzes strikt widerspricht. Das Klavier antwortet mit der gesanglichen Fortspinnung, die von der Geige aufgenommen wird, bemerkenswerterweise aber nicht ohne Zögern; die beiden Auftaktachtel samt nachfolgender Dreiergruppe demonstrieren, dass sie den Stab übernehmen wollen. Warum tun sie es nicht einfach? Der Zielton bekommt ein besonderes Vibrato, ja, hier soll nun wohl gesungen werden, oder nein, es kommt allmählich in Fahrt, das Crescendo der aufsteigenden Sequenz scheint sinnvoll, aber das schwungvolle „Anhacken“ des höchsten Tones (0:58) doch übertrieben: sind wir schon so weit, dass es eines solchen Effektes bedarf? Wenn man begriffen hat, dass der Drive des Satzes in erster Linie mit einem steten Tempo Allegro assai zu tun hat, das mit dem Sechzehntel-Motiv des ersten Taktes gegeben ist und bei der Wiederkehr – einen Ton höher in A-dur (Aufnahme B bei 1:07) – keine weichere Tempovariante anbieten sollte, dann liegt es auf der Hand, dass dies auch für die nächsten Takte gelten soll. Was tut Klavier B? Es kostet den Fis-dur-Akkord über Gebühr aus. Was tut die Geige B? Sie lässt den gehaltenen Ton wild aufblühen und verzögert die nachschlagenden beiden Achtel. Und bei der nachfolgenden, ähnlich lautenden Phrase, wird der gleiche Vorgang noch einmal inszeniert und in den nachschlagenden Achteln sogar unmäßig übertrieben (bis 1:20). Da Klavier B das eingefügte Sechzehntelmotiv eigentlich nicht langsamer spielen kann, stottert der Motor spürbar, und Geige B eilt zu Hilfe mit einem entschlossenen Jammervibrato, das offenbar auf ein winziges crescendo reagiert, das von Beethoven eingezeichnet wurde. Die dreistimmige polyphone Passage schließt sich in gedrosseltem Tempo an; man ahnt bereits, dass ein neuer Tempo-vorwärts-Ruck bevorsteht, den Geige B (ab 1:29) tatsächlich mit einem reißerischen Impetus angeht. Zumindest wenn man die Aufnahme A kennt, wird man allmählich ärgerlich. Viel zu viele Ideen auf kurzer Strecke, und die Wiederholung der Exposition bietet haargenau das gleiche Bild, – unsteter kann es nicht werden. In der Durchführung (nach dem Doppelstrich) überrascht Geige B in dem Ping-Pong-Spiel der Kurztriller mit einer seltsamen Ausführung: ein engräumiges „Meckern“, das entsteht, wenn man weniger mit der Fingerbewegung als mit dem Vibratoschlag trillert, man nennt das auch „Bockstriller“, der allerdings im Wechsel mit der echten Trillerfigur des Klaviers leicht parodistisch klingt, – ist halt so eine Idee…
Nun wird man fragen: wenn die Geige B in diesem rasanten Satz schon so viele (überflüssige) Ideen unterbringt, was wird sie erst investieren im folgenden langsamen Satz? Man könnte ihn gar für eintönig halten und argwöhnen, Beethoven habe sich mit seiner Ausschmückung nicht genug Mühe gegeben.
Zitat (wie oben) Bd I Seite 249 / bitte mit Aufnahme A (Zeitangaben!) synchronisieren:
Den zweiten Satz (ab 5:42), Tempo di Minuetto ma molto moderato e grazioso, trägt eine Melodie von jener Art, die Beethoven nicht im Lauf der Komposition verändert und die er nicht variiert, sondern die er unverändert wiederholt. Anders aber als im Fall der Melodie des zweiten Satzes der Klaviersonate op. 90, in deren acht Wiederholungen nur einmal die Tenorlage der Melodie für klangliche Abwechslung sorgt, steht hier ein Reichtum von Kombinationen zur Verfügung. Der Satz beginnt getragen; zur Melodiestimme in der rechten und zum Baß in der linken Hand des Klaviers tritt in der Violine eine dritte Stimme, die wie der Baß in Vierteln geht, als höre man eine Begleitvioline. Die Violinstimme entfaltet sich zur Triostimme, die bald in Terzen mit der Oberstimme, bald in Gegenbewegung mit dem Baß geht. In den zweiten acht Takten (6:01) entfaltet sie sich zur Melodiestimme, die vom Klavier begleitet wird. In den folgenden (6:20), nach vier Takten gegliederten Abschnitten des Satzes wechseln sich die beiden Instrumente meist in eben diesem Rhythmus ab. Am Ende des Satzes (12:27) wird der Vortrag der unveränderten Melodie (über unverändertem Baß) einer Wechselrede der beiden Instrumente (Violine und rechte Hand des Klaviers) anvertraut. Durch die unüberbrückbare Verschiedenheit des Klanges und der Tonerzeugung wird die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf die Art des geschehenden Aufeinandereingehens gelenkt. Die Melodie, die so schön ist, daß man sie in den 177 vergangenen Takten gerne wieder und wieder hörte, wird in dieser Form des Vortrags zur Darstellung des Seltenen, daß Menschen, und wäre es nur beim Spielen von Musik, übereinstimmen wollen. Weniger das den Abschnitten des Satzes entsprechende Abwechseln der vortragenden Instrumente nach vier und vier Takten bereitet diese Wirkung vor als das Unregelmäßige, daß etwa die Violine, über die Zäsur hinweg, in den Takten 59 (7:57) und 149 (11:22) fortsetzt (das Klavier wäre „dran“), und es ist der Nachklang dieser in dem wiederholungsreichen Satz nicht wiederholten, unwiederholbaren Stelle, daß Beethoven den schließenden Terzgang g – f – es sechsmal (variiert siebenmal gezählt ab 12:42) wiederholen läßt.
Man muss diesen etwas papierenen Text geduldig an der Musik abarbeiten und durch die Vorstellung der „wahren“ klanglichen Abläufe ersetzen, um ihn im Nachhinein schätzen zu lernen.
Man höre anschließend die AufnahmeB( der Satz beginnt dort bei 7:15 ). Ich erspare mir einstweilen aufzuweisen, wieviel an Schmalz von Anfang bis Ende die reine Linienführung verdirbt; es betrifft vor allem die Geige. Aber mit einer ganz furchtbaren Nuance, vielleicht angezettelt durch Klavier B, müssen wohl beide einverstanden sein. Es ist die Stelle, die wir eben in Aufnahme A herausgegriffen haben („über die Zäsur hinweg“), hier in Aufnahme B auffindbar bei10:01 und 14:23; ich meine die Auffassung der triolischen Klavierbegleitung als „Walzertakt“, samt Verzögerung auf dem jeweils zweiten Achtel, damit es auch der Dümmste merkt (Achtung Wien!!!!), selbst gestisch noch ganz unangenehm unterstrichen (bis hin zur Andeutung eines leichten Mitschunkelns!). So disqualifiziert man sich auch als Pianist in einem der unschuldig-schönsten Sätze, die Beethoven je geschrieben hat. Und wenn die Geigerin dazu ein Gesicht macht, als wälze der ganze Satz ausdruckstechnische Probleme – oder löse sie gar: mir ist es unmöglich, alle Details der Fehldeutung aufzuzählen. Das vergisst sich nicht und kann im letzten Satz durch virtuose Glätte und Schein-Übermut nicht wettgemacht werden.
Der Vollständigkeit halber soll aber auch die den letzten Satz betreffende verbale Deutung nicht fehlen:
ZITAT (a.a.O. Seite 249f Anmerkungen sind weggelassen JR) dazu: Aufnahme A
Der dritte Satz (ab 13:14) hat die Interpreten nachgerade verlegen gemacht durch seine Spielfreude. Thayer spricht von einem „Rondo à la musette“, in dem „ein gut Teil Naturalismus“ stecke, und noch die Beilage zu den Schallplattenaufnahmen mit Clara Haskil und Arthur Grumiaux weiß von dem Jahrmarktstreiben, das man einmal aus dem Satz herausgehört habe. Zu dem für einen Schlußsatz obligatorischen Stimmungswechsel tritt jedenfalls eindrucksvoll bis zum Erstaunenmachen der Wechsel der Stilhöhe. Fast könnte man von einer Parodie, fast von Spott auf die Wiederholungen und auf das Verzärtelnde des zweiten Satzes sprechen, denn auch das Sechzehntelthema dieses Satzes wird oft genug wiederholt und ruft oft genug seine Gegenstimme herbei. Und auch die hervorgehobenen Stellen fehlen nicht: In Exkursen nach H-Dur (15:02) und nach Es-Dur (15:40) wird es als letzte in diesem Werk vorgestellte Form des Zusammenspielens gezeigt, daß ein Instrument die Richtung weist und daß das andere sich so einstimmt und nachfolgt, wie Onkel Toby den Vorschlägen seines Dieners Trim nicht widerstehen kann. Das „till-ready-accompaniment“ des Klaviers ab Takt 177 (15:40) ist ein solcher unwiderstehlicher Vorschlag, und die mit der linken Hand des Klaviers parallel laufende Begleitfigur der Geige in Takt 133-136 (15:02) ist ein solches Folgeleisten.
Quelle Michael Maier: Violinsonate op.30 Nr.1 / in: Beethoven Interpretationen seiner Werke / Herausgegeben von Albrecht Riethmüller, Carl Dahlhaus, Alexander L. Ringer / Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt Band I / 1996 / Laaber Verlag Laaber 1994
Noch ein Wort zum gelegentlichen Vibratoverzicht (vor dem Hintergrund der jederzeit drohenden Vibrato-Exzesse. (folgt)
Dank an Klaus Giersch für den Hinweis auf Kristóf Baráti !
HIER – zu dem kunstvoll ausgearbeiteten Vortrag von eineinviertel Stunde, mit Musikbeispielen, Filmen, und Erläuterungen.
A huge social and cultural history lies in the microcosm of this two-note rhythm. Questions dealt with include [1] What is a „Scotch snap“? [2] How does it relate to language, class and ethnicity? [3] Is it just Scottish, or is it also Irish, Welsh, English, West African, Hungarian, „Celtic“, „black“, „white“ or what? [4] It’s used by Henry Purcell, Béla Bartók, Mahalia Jackson, Woody Guthrie, Stevie Wonder, Ry Cooder, James Brown and Buck Owens; and you’ll also find it in Strathspeys, traditional English ballads, Appalachian fiddling, string band music, spirituals, white gospel, black gospel, even in West African time lines, but you won’t hear it in mariachi, mbaqanga or MPB, nor in music of South or Central Europe: why and why not? [4] It has to do with English language rhythm but then why did the snap disappear from English music during the 18th century to re-emerge globally in popular musics of the late 20th century? [5] Why did Dvořák think that „Negro“ and „Scottish“ musics were similar? [6] How come some music of English origin is labelled „Celtic“ when England is seen by fans of „Celticity“ as the devil incarnate? This instructive but entertaining video offers an alternative to ethnic fixations in popular music history and genre labelling.
Weitere Infos über die Arbeiten des Autors Philip Tagg und über ihn selbst:
Lombardischer Rhythmus siehe bei Wikipedia hier. Und nach dem dort angegebenen Musikbeispiel höre man lieber das lebendige Original in der folgenden Youtube-Aufnahme mit dem Hagen-Quartett: HIER ab 16:04, das ist das Trio des Menuetts, anschließend aber unbedingt das ganze Menuett von Anfang ab 14:22, und endlich das ganze wunderschöne Ritual des Mozartschen d-moll-Quartetts von Anfang bis Ende, ohne weiter an den Lombardischen Rhythmus zu denken!
In einem der schönsten Bücher von Martin Geck steht ein bemerkenswerter Passus, der den Aufsatz „Bach als Wegbereiter“ abschließt; selbst Nietzsche in seiner Zarathustra-Zeit hätte es nicht emphatischer sagen können):
Der Weg, den Bach der deutschen Musik vorgezeichnet hat, ist kein glatter und bequemer, sondern ein steiler und schwieriger. Er führt auf die Höhen und in die Einsamkeit. Hat man ihn einmal beschritten, scheint man nicht umkehren zu wollen oder zu können. Im Gegenteil: Viele Komponisten sind mit zunehmendem Alter immer „bachischer“ geworden – möglicherweise Mozart, gewiß Beethoven, Brahms und Schönberg. Sie alle haben von Bach gelernt, mit der Konzentration, die dazu nötig ist, nach der Essenz von Musik zu forschen. Als Angehörige der Moderne machten sie freilich von Generation zu Generation deutlicher als Bach die Erfahrung, bei ihrem Tun nicht der Essenz, sondern nur dem Ringen darum zu begegnen.
Quelle Martin Geck: Denn alles findet bei Bach statt / Erforschtes und Erfahrenes / Metzler Musik Stuttgart Weimar 2000 / darin Seite 109-117: Bach als Wegbereiter (Wiederabdruck aus dem Programmheft der Bach-Tage Berlin 1993).
Es müsste nicht unbedingt diese Fuge sein, wenn man klangliche Studien in den Vordergrund stellen will, und es sind vielleicht Lappalien, die ich hervorhebe. Und wenn ein virtuoser Pianist wie Glenn Gould das Stück so rabiat spielt, wie er es tut (siehe hier), dann kann ohnehin von Klang nicht vorrangig die Rede sein.
Ich halte nur einmal fest, was mir in den Sinn kam, während ich versuchte, der Engführung gerecht zu werden, – ohne versehentlich einer Schimäre nachzulaufen.
Vor allem habe ich dabei an Jürgen Uhdes „Forschendes Üben“ gedacht, und er bezieht diesen Begriff, glaube ich, nicht auf form-analytische Überlegungen. Ich werde ihn morgen ausführlicher zitieren, und bis dahin immer wieder die folgende Abschrift studieren, die mit Übergang zum dritten Takt des obigen Notenbeispiels beginnt.
Zur Erläuterung der ins folgende Beispiel eingetragenen Zeichen: die Fermaten bedeuten, dass man auf dem Klang stehenbleibt und hineinhorcht. In der zweiten Zeile sieht man Fermaten auch über bloßen Atemzeichen (wo man normalerweise gar nicht „atmet“), was bedeuten soll, dass beim Üben (!) die Achtelkette unterbrochen wird, so dass allein der Klang des Tones B übrig bleibt (ihm zuliebe auch die dreifache Ermahnung hören!).
Zu den Themenzitaten: in Takt 89 gekennzeichnet durch die Buchstaben B (=Bass) und A (=Alt) sowie durch die kleinen roten Pfeile; im Bass „original“, im Alt in Gegenbewegung (gespiegelt), dank Engführung um eine halbe Note versetzt. Die interpretatorische Frage ist: soll man etwas tun, um die Zitate hervorzuheben? Das eine auf Kosten des anderen? (Natürlich nicht.)
Was einem von vornherein klar sein muss: es gibt so viele Stufengänge und soviel Bewegung, dass es es kein Mittel – und schon gar kein klangfarbliches – gibt, um mit den ersten drei Tönen des Themas innerhalb des vorhandenen Tongeflechts zu zeigen: dies ist das Thema! Erst nach der Viertelpause, mit dem Motiv des dritten bis sechsten Tones, ist es möglich zu zeigen: wir befinden uns mitten im Thema. Und das entsprechende Detail in der Gegenstimme des Alts: dies könnte, dem Gestus nach, eine Imitation, vielleicht sogar die Umkehrung dessen sein, was der Bass vorgibt. Aber auch das ist verunklart, da sich für einen Moment die Sopranstimme die Altstimme des Vortaktes zu imitieren scheint, indem Takt 90 im Sopran mit dem Ton Ges beginnt, der zwei Zählzeiten vorher den Beginn des Themas (Engführung in Umkehrung) markierte. Und jetzt – im Weitergang – den thematischen Alt noch mehr verschleiert und die Aufmerksamkeit vollends auf die oberste Stimme lenkt, und erst wenn diese schweigt (Takt 91) die Aufmerksamheit auf die Achtel im Bass und dann auf deren Gegenbewegung im Alt lenkt und zulässt. Aha, konstatiert man, wir befinden uns also in der enggeführten Aufarbeitung des Themas. Es ist völlig ausgeschlossen, dass ausgerechnet der Komponist das nicht bemerkt hätte. Oder hilflos in Kauf genommen hätte. Das Thema soll einfach nicht vom ersten Beginn an wahrnehmbar und hervorgehoben sein und schon gar nicht so, dass jeder Esel (Brahms!) sofort merkt, was da geschieht. Es soll allmählich ans Licht treten: wie sich das Bedeutungsgeflecht sich immer mehr verdichtet, und erst im letzten Durchgang – „in paariger Engführung mit paariger Parallelführung“ (Dürr Seite 422) steht es in Tageshelle vor Augen und Ohren!!!
Was uns nicht hindern soll, schon viel früher uns als Spieler, Hörer, Schauende und mit Fingern Fühlende in den Vorgang hinein zu vertiefen!
Das verstehe ich – nach Jürgen Uhde – unter „forschendem Üben“.
* * * *
Jürgen Uhde:
Ist der große Zusammenhang derart umrissen, dann hat der Übende sich um so tiefer in das Leben der Affekte im einzelnen zu versenken, wie sie ihm aus der Struktur selber aufsteigen. Jeder Affekt ist, wie die Psychologie weiß, zeitlich; er entsteht, gewinnt seine Höhe und vergeht. Und so lebt auch der musikalische Affekt im Atem seiner Zeitgestalt; seine Phasen, wie er steigt, wie er kulminiert, wie er fällt, dieser stets wechselnde Zustand ist auszuloten. Die mimetische Kraft des Spielenden erstarkt in dem Maße, wie er den wechselnden Zeitphasen eines Affektes, seinem Mienenspiel, noch im kleinsten zu folgen lernt und wie er die Übergänge zwischen den verschiedenen Gesten minutiös registriert.
Solch geduldig forschendes Üben läßt sich zunächst nicht an eine streng durchgehende Tempoachse fesseln; ein stur einheitliches, gar metronomisches Tempo am Beginn des Übens würde das gerade entstehende mimetische Leben rigoros beschneiden. So wäre anfänglich ein sorgfältig aushörendes Rubato, das Gegenteil von willkürlichem Rubato, beim Üben nicht nur erlaubt, sondern geboten. Die einzelne Geste will einmal im Prozeß des Übens erscheinen, als wäre sie allein auf der Welt. Diese expressive Aufladung, diese Stauung im Detail, im Für-sich-sein des Einzelnen muß dann aber wieder in den Zug des Ganzen entlassen werden, in ihm aufgehoben sein in der zweifachen Bedeutung: preisgegeben und bewahrt zugleich. (…)
Quelle Jürgen Uhde, Renate Wieland: Denken und Spielen Studien zu einer Theorie der musikalischen Darstellung / Bärenreiter Kassel, Basel, London, New York 1. Auflage 1988 ISBN3-7618-0690-6 / Zitat Seite 490.
Es reizt mich, eine immer mal wieder sinnlos erscheinende Frage zu stellen, – die Frage nach dem Sinn. Vielleicht damit sie vorübergehend zum Schweigen kommt. Genauso wie die Frage nach dem Sinn des Lebens.
Im Fall Bach kann es zum Beispiel nicht der „Sinn“ eines Stückes zu sein, einen Text herauszulesen, oder einen Affekt zu benennen, oder eine Engführung der Stimmen zu erkennen. Eben hörte ich Philippe Jaroussky mit der Kantate „Ich habe genug“. Angenommen es wäre ein reines Instrumentalstück, – was wäre gewonnen, wenn ich enträtselte, dass es mir sagen will: „Ich habe genug“? Gewiss, auch in der Aria „Schlummert ein“ gefällt mir, dass ihre Überlänge, ihr Nicht-Endenwollen, wodurch sie schöner als schön wird, wirklich mit dem Schlaf (und seiner Süße) zu tun hat, sozusagen „offiziell“. Ich habe noch lange nicht genug! Ähnlich wie in „Schlafe mein Liebster, genieße die Ruh“. Langweilig vielleicht nur, wenn wir wirklich müde sind… Aber ist das der Sinn?
In dem wiederentdeckten, gestern schon zitierten Buch von Martin Geck, gibt es ein Kapitel, das heißt: Bachs künstlerischer Endzweck. Daraus möchte ich zitieren:
Bachs Lebens- und Schaffensgang steht unter dem Endzweck, das Reich der Musik in allen Richtungen zu erforschen und zu erobern – das Alte bewahrend, Neues entdeckend. Eine ähnlich absolute Entscheidung, das eigene Ingenium der Offenbarung des musikalischen Gesetzes dienstbar zu machen, hat kein anderer Komponist der abendländischen Musikgeschichte getroffen. Dies wird deutlich an dem Gegenbild des Zeitgenossen Georg Friedrich Händel, der zunächst eine Karriere als Opernkomponist anstrebt und verwirklicht, um danach – auf der Höhe seines Ruhms – in seinen Oratorien humanitäre Ideen zu verkünden: Die Dynamik dieses Lebens- und Schaffensganges ist eindrucksvoll, dient aber nicht der Erhellung des der Musik immanenten Gesetzes, sondern der Verherrlichung des Menschen. Selbst Beethoven, der durch seine Leidenschaftlichkeit, Form- und Gattungsprobleme in die letzte Konsequenz zu verfolgen, Bach am nächsten kommt, komponiert aus einem von Grund auf anderen Geist: Erfüllt Bach das Gesetz der Musik, so ringt Beethoven darum, das Gesetz, d.h. den kategorischen Imperativ Kants, durch die Musik zu erfüllen; dementsprechend führt Beethovens Spätwerk aus der Musik heraus in die Bereiche philosophischer und ethischer Spekulation, während das Spätwerk Bachs in den Kern der Musik hineinführt
Was befähigt Bach zu einem so gearteten Werk? Es ist sein musikalisches Ingenium, das ihn die Frage nach dem Gesetz der Musik in solcher Tiefe stellen und beantworten läßt. Auch seine Leipziger Kirchenmusik ist ja nicht deshalb in überzeugender Weise kirchlich, weil Bach ein frommer Christ und guter Theologe war, sondern weil er das Ingenium besaß, mit kompositorischen Mitteln aus lutherischer Theologie gute Musik zu machen.
Quelle Martin Geck: „Denn alles findet bei Bach statt“ / Erforschtes und Erfahrenes / Verlag J.B.Metzler Stuttgart und Weimar 2000 ISBN 3-476-01740-0 / Zitat Seite 54 /
Ich weiß, das Wort „Ingenium“ führt uns vielleicht auf die falsche Fährte, nämlich die der Genie-Ästhetik; es geht nicht um die Anbetung des Individuums. An anderer Stelle soll das Wort Endzweck weiter untersucht werden. Bach selbst hat es in seiner Generalbasslehre einmal so ausgedrückt: [Es solle] „wie aller Music, also auch des General-Basses Finis und End-Ursache anders nicht, als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemütes seyn; wo dieses nicht in Acht genommen wird, da ists keine eigentliche Music, sondern ein teuflisch Geplerr und Geleyer.“
Ich will anhand dreier Fugen-Analysen versuchen zu erfassen, inwiefern die betreffenden Autoren etwas über den Sinn der Sache verlauten lassen. Also werde ich das Form-Schema allein nicht gelten lassen; auch eine schlechte, „schematisch“ konstruierte Fuge könnte ein ansehnliches graphisches Schema ergeben. Ich vermute, eine Sinnaussage wird mich nur dann befriedigen, wenn ich sie überzeugend in Worten wiedergeben kann. Angenommen, eine Fuge besteht aus kontrapunktischen und rhetorischen Momenten, so besteht die Gefahr, dass ich intuitiv die rhetorischen (also dem Wort näherstehenden) höher bewerte. In Contrapunctus 1 der Bachschen „Kunst der Fuge“ etwa die pathetischen Schlusstakte, die Bach erwiesenenermaßen erst nach der Fertigstellung der (eigentlichen) Fuge angehängt hat. Die von mir ausgewählten Fugen stehen ziemlich am Anfang des Bachschen Spätwerkes (Nr. 1 und 3), die Autoren der Analysen sind Adam Adrio, Diether de la Motte, Walter Kolneder, Peter Schleuning.
Contrapunctus I Schluss
Dass überhaupt etwas gesagt werden soll, ist leicht erkennbar, wenn man die ursprüngliche, um 4 Takte kürzere Fassung der Fuge („Handschrift“ gegenüber der Druckfassung), betrachtet, die bereits in Takt 70 mit einer Pathoswendung und einer Pause für Überraschung sorgte, – um dann genau diese Wirkung noch einmal zu dehnen und zu überhöhen: im Bass durch den Orgelpunkt, im Sopran durch den expliziten Aufstieg zum hohen b, den höchsten Ton der Fuge: in Takt 70 hatte er mit dem nchfolgenden Sturz in die verminderte Septime alles zum Schweigen gebracht, um diese Geste noch einmal mit Nachdruck zu inszenieren und in den ungemein versöhnlichen Schluss zu führen.
Zu den ersten Analysen, die ich mit Eifer studiert habe, gehört die aus dem MUSIKWERK Die Fuge Heft 1 von Adam Adrio. Und ich habe nie vergessen, was mir daran imponierte: wie hier plausibel gemacht wurde, ihr Geheimnis sei, dass das Thema verloren geht und gewissermaßen wieder ans Licht treten muss. Stichworte: „Verschleierung“, „Tiefpunkt“, „zum Erlöschen gebracht werden“ – und „wieder zum Leben erweckt werden“. Mir schien akzeptabel, dass mir als Hörer aufgelastet wurde, dies als Drama zu empfinden…
60er Jahre
Erst viel später erfuhr ich (bei Kolneder), dass diese Fugen-Analyse wenig Anerkennung gefunden hat. Aber der Eindruck blieb in Erinnerung, weil überhaupt jemand wagte, mehr als eine Notentextbeschreibung und das Schema zu liefern. Allerdings erinnerte mich das Prinzip der „Verschleierung“ auch ein wenig ans Kasperletheater; es steckte zuviel Hörpsychologie bzw. psychologische Unterstellung darin: wenn etwa davon die Rede ist, dass das Thema in einer Stimme erscheint, „von der es nicht erwartet wird, und in einer Intervallordnung, die dem Hörer noch nicht bekannt ist, in Dur.“
Heute kommen mir selbst in Walter Kolneders verdienstvollem Standardwerk (Heinrichshofen’s Verlag Wilhelmshaven 1977) gelegentlich ähnliche Bedenken (aber das muss man auch wieder nicht zu eng sehen):
Die oben erwähnte Einschätzung betraf den ganzen Fugen-Band von Adrio und ist belegt im Teil IV des Kolneder-Werkes: „Kritische Chronologie“ Seite 621f (betr. das Jahr 1960) , wo neben Kolneders kritischer Anmerkung der Hinweis auf Roger Bullivant in „The Music Review“ 1964/67-71 steht. Von ihm stammt das folgende Buch:
London : Hutchinson, 1971
Auch Kolneders Beurteilung der Fugen-Analyse von Diether de la Motte (mit Carl Dahlhaus) – in dem Buch zur „Analyse“, das damals bahnbrechend erschien – konnte den Leser davor bewahren, in ziemlich leeren Worten nach einem tieferen Sinn zu forschen (ich empfand die Lektüre, die ich in den 70er Jahre für meine Pflicht hielt, letztlich als ebenso anspruchsvoll wie unerquicklich, jedenfalls soweit sie Bachs Contrapunctus III betraf):
Walter Kolneder: Die Kunst der Fuge Teil IV Seite 630
Ich widme mich also im folgenden nur noch dem Buch von Peter Schleuning, das mich seit dem Erscheinungsjahr immer wieder inspiriert, über Bach nachzudenken: Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“ / Ideologien, Entstehung, Analyse / dtv/Bärenreiter 1993.
Zunächst muss man sich (natürlich) mit dem Gedanken vertraut machen, dass es zwar (zunächst) um die eine Fuge geht, mit der das Werke beginnt, andererseits damit, dass diese Fuge am Anfang eines Zyklus steht, in dem jede Fuge etwas anderes sagt, und die Fugen ihre Eigenarten auch im Kontrast oder in Wechselwirkung entwickeln werden. (Allein die Reihenfolge ist schon ein Riesenthema. Z.B. ist unmittelbar wichtig, dass die Fuge III bei Schleuning in Kolneders Zählung – und bei Wikipedia – als Contrapunkt II behandelt wird; es ist die mit dem punktierten Rhythmus. Die Ursache soll uns hier nicht interessieren.) Mit Blick auf alle nachfolgenden Fugen ist die erste eben „als Eingangsstück eine Art ‚Bekanntmachung‘ des Themas und der Kompositionsart (…) und gibt sich mit der Absicht einer captatio benevolentiae, wie sie die Redekunst kennt, bescheiden, ordentlich und einladend.“ (Schleuning S.58)
Sehr bald wendet sich Schleuning den themenvariierenden Elementen zu, die auch im Kontrapunkt von Anfang an zu erkennen sind: die rhythmisch-melodischen Ableitungen, also eine Sache der Technik (die Sinnfrage sei bitte ignoriert, sobald es darum geht, warum und wie ein Ton überhaupt erklingt). „Ihre Herrschaft in praktisch jedem Stimmenzug – auch in Form von versteckten Themenumkehrungen – ist zwar keine Erfindung Bachs, aber durch ihn zu einem der bestimmenden Elemente der späteren deutschen Sinfonik und Klavierkunst [Achung: Formenlehre von Erwin Ratz assoziieren! s.a. hier JR] und sodann auch als Höhepunkt der Materialökonomie gewürdigt worden, etwa als ‚Minimum von Materie‘ bei einem ‚Maximum von Geist‘ oder als ‚Treue gegen das Thema in der Ausarbeitung bis zur Hartnäckigkeit gesteigert, und doch nirgends bloße Wiederholung oder sonst Monotonie‘ (J.Fr. Rochlitz 1811 und 1824 über C.P.E.Bach….).“
Schleuning in seinem Kapitel zur Fuge 1 einen Exkurs zur Zahlensymbolik ein (ab S.59), der einen bewahren kann vor sinnlosen Spekulationen, die einer wirklichen Analyse zu allererst im Wege stehen. Und er fährt fort (S.61) fort mit dem Hinweis, dass graphische Formübersichten immer den Eindruck vermitteln, die Abschnitte mit den Themenauftritten (die „Durchführungen“) seien wichtiger als die Zwischenspiele.
Dadurch geht der Blick auf das verloren, was das eigentlich Wichtige und Interessante an Musik ist, nämlich Entwicklungen, Zwischentöne und Feinheiten.
In diesem Sinne folgen Anmerkungen zur ersten Fuge, die in den thematischen Partien Elemente des Stile antico realisiert, des Palestrina-Stils: Kleinschrittigkeit, Materialbegrenzung, Rhythmusvielfalt und unperiodische Gruppenbildung. In anderen Partien aber Strukturen aufweise, die dem alten Stil fremd sind, z.B. Sequenzreihen.
Da dies nicht auf kontrapunktisches Unvermögen oder gar eine Hilflosigkeit Bachs bei der Abwesenheit des Themas zurückgeht, muss diese stilistische Differenzierung der Absicht Bachs entspringen, die Teile hörbar voneinander abzusetzen und die thematischen Partien hervorzuheben.
Zum anderen geht es um den neuen Tonartengebrauch, indem Bach nämlich der Subdominante eine neue Rolle einräumt, die sie vorher nicht hatte.
Schließlich die variable Form des Themas selbst:
Wie Bach hierbei die Themenintervalle verändert, entspricht nicht einem schulmäßig reinen kontrapunktischen Fugensatz, sondern dem Modulationsplan der Fuge und zeigt den Vorrang des harmonischen Aspektes vor der intervallischen Integrität des Themas.
Um zu sehen, was Bach wichtig ist, muss man die Neuartigkeit seiner Gedankengänge wahrnehmen. Ein Beispiel: „wie man in nur drei Takten (zweiter Sopran-Einsatz) an der Leitlinie eines ‚falschen‘ Themenzitates (Baß) von a-moll nach g-moll kommt.“ (Schleuning S.64, siehe Fuge 1 ab T. 29). Oder auch die neuartige enharmonische Umdeutung des verminderten Septakkordes, die schon im Frühwerk vorkomme und nebenbei auch bedeute, dass „mit den Regeln auch die Seele ins Wanken“ gebracht werden solle.
Dies kann auch mit einem ganzen Satz (Musikstück) ausgesagt werden, der sich in bestimmter Weise zu einem anderen Satz, der vorhergeht oder nachfolgt, verhält. Und das ist eine wichtige Frage, wenn man davon ausgeht, dass die „Kunst der Fuge“ als ein Zyklus gebaut ist und nicht als eine bloße Sammlung von mustergültigen Stücken. Andererseits: man tappt immer wieder in die Falle (weil man eben zyklische Aufführungen und Aufnahmen in Erinnerung hat), dass man ein Vorher und ein Nachher einkalkuliert, statt eines Nebeneinanders. Und wenn die Reihenfolge der Fugen sowohl I – II – III (in der Erstschrift) wie auch I – III – II (im Druck, mit entsprechend neuer Nummerierung) heißen kann, so erübrigen sich alle analytischen Bemerkungen, die auf einem chronologisch erlebten Ablauf basieren. Insofern stimmen mich auch Schleunings Ausführungen etwas skeptisch.
Wenn die Exposition der Außenfugen dieser Dreiergruppe bei der Dux-Comes-Folge ganz regelrecht sind, so trifft Bach nun in der zweiten Fuge eine einsame, befremdliche Entscheidung damit, daß er die Exposition mit der Umkehrung des Themas beginnen läßt: (S.64)
Das könnte zu der Überlegung führen, ob Bach in der Mitte der Dreiergruppe eher das Negative komponiert hat, welches im Positiven der beiden Rahmenfugen eingeschlossen und aufgehoben ist. (S.65)
Zu der dritten Fuge, die die Störungen von Fuge II durch das Thema recto und eine weitgehend normale Anlage wieder auffängt und ausgleicht, nur einige Bemerkungen: (S.67)
Die Nummer III ist nun gerade die Fuge, in der mit den (nachgetragenen) Punktierungen alla francese der Charakter des Stücks vollständig verändert erscheint, auch wenn das Thema genauso anhebt wie in Fuge I und auch sonst eine „weitgehend normale Anlage“ konstatiert werden kann. Es macht Lust auf weitere Belebungen. „Normal“ heißt ja an dieser frühen Stelle noch nicht: in lähmender Weise „formal normal“. Und wenn die problematische Fuge II – abgesehen vom „falschen“ Themenbeginn auch noch mit schmerzbeladener Chromatik angereichert – nunmehr an dritter Stelle folgt , so könnte man sie eben auch als wegweisendes Außenstück betrachten, das bereits eine Tür in Richtung Fuge IV öffnet.
Mit anderen Worten: wenn man will, kann man jede Reihenfolge rechtfertigen. Und wenn Werner Breig eine Gruppeneinteilung der Fugen vornimmt – A Einfache Fugen, B Gegenfugen, C Doppel- und Tripelfugen, D Spiegelfugen, E Quadrupelfuge -, so ist das (technisch) völlig plausibel, ebenso, dass die Gruppe A eben Contrapunctus 1 – 4 zusammenfasst. Während bei Schleuning die Fuge Nr. 4 – mit guten chronologischen Gründen – erst auf Seite 130 behandelt wird.
Der Aufsatz von Breig steht im Booklet der Aufnahme der „Kunst der Fuge“ mit Musica Antiqua Köln (1984). [Siehe auch abschließendes yutube-Video.] Dort findet man auch Reinhard Goebels Statement zur Aufführbarkeit des Werkes:
Eine Gesamtaufführung der Kunst der Fuge war von Bach weder beabsichtigt, noch im Rahmen der Konzertpraxis seiner Zeit überhaupt denkbar. Das gleiche gilt für alle diejenigen Werke, die vom Komponisten in Sechsergruppen im Dutzend oder in noch größeren Serien vorliegen, denn die Zusammenfassung gleichartiger Werke in einem Handschriftenband oder einer Druckausgabe entsprang eher praktischen Gesichtspunkten und muß daher nicht unbedingt als Hinweis auf innere Zusammengehörigkeit und somit auf zyklische Aufführbarkeit verstanden werden.
Wenn Bach also die Reihenfolge verändert und dabei DIE SCHLÜSSE BESTIMMTER FUGEN VERÄNDERT, so muss man nicht auf ein internes Problem der betreffenden Fuge schließen, das abgemildert werden soll, sagen wir: zugunsten ihrer Proportionen, sondern auf eine Maßnahme ZUGUNSTEN DER NACHFOLGENDEN FUGE, insbesondere wenn diese neuerdings eingefügt wurde. Ein Wink also, vergleichbar den vorausweisenden Abschlüssen mancher Praeludien, die das Thema der anschließenden Fuge andeuten (s.WTKII, C-dur) .
ABER: wenn es nicht zwingend nacheinander gespielt werden soll, warum liegt Bach dann beim Ende des einen Stückes daran, auf ein Charakteristikum des nächsten hinweisen? (Meine Vermutung: wenn man aus einer solchen Sammlung etwas spielt, dann niemals nur eins. Und wenn es ein Lehrwerk ist, dann studiert man ohnehin mehrere hintereinander, die gegebene Reihenfolge zumindest reflektierend.)
Peter Schleuning (S.123)
Das Vorziehen von III vor II zur neuen Folge 1, 2, 3 und die Nachkomposition von Nr. 4 ergeben eine klare Neubestimmung, die für das Verständnis der weiteren Veränderungen entscheidend sein kann: Statt Rahmensymmetrie Paarbildung von Fugengattungen (Wolff 11, 136), zwei Fugen über die Grundform, zwei über die Umkehrung des Grundthemas. Die das Problematische und Negative akzentuierenden Züge der Nr. II verbinden sich nun mit den entsprechenden und noch zu analysierenden Zügen der neuen Nr. 4, während Nr. 1 und 2 als eher einfaches, „positives“ Einleitungspaar wirken. Auch die drei nachkomponierten Schlüsse bestärken diese Paarbildung, denn diejenigen von Nr. 1 und 2 haben den Zweck, abschließend noch einmal durch je ein angefügtes Themenzoitat dessen Grundton zu verdeutlichen – deshalb haben sie auch fast die gleiche Länge von 6 bzw. 7 Takten. Und der alte Schluß von III (A-Dur), der sich ehedem zur Fuge V öffnete (Anfangston a‘), wird zu einem echten Tonika-Schluß nach D-Dur geführt – mit altertümelnder, „picardischer“ Terz in d-Moll – , wird also zum Abschluß des ersten Paares.
Dieses kleine Schleuning-Kapitel ist bis zum Ende (S.125) von großer Bedeutung. Ich merke dabei, dass sich meine Frage nach dem Sinn verschiebt in eine immer spezifischere Frage nach dem Notentext, und das ist auch gut so! Zu Seite 125 hätte ich noch eine Korrektur zu vermelden: das erste Notenbeispiel der Bachschen Handschrift steht auf dem Kopf, daher wirkt es ungewollt „lombardisch„. Man findet den Notentext im gedruckten Contrapunctus VI T. 21-23. Das zweite, korrekt gedruckte Beispiel gehört zu Ctp.II T. 55-59.
Bemerkenswert die Schwierigkeit, die sich für Kolneder angesichts des Kreismotivs in Takt 5&6 der Fuge IV stellt, das aber niemanden, der die b-moll-Fuge aus Bd.II des Wohltemperierten Klaviers studiert hat, überraschen dürfte:
Kolneder a.a.O. Bd.1 Seite 127
Schleuning löst das „Rätsel“ auf:
Bach ergänzt in Fortführung seiner in den drei ersten Fugen begonnenen „Kontrapunkt-Lehre“ die bisherigen Lernschritte mittels dieses Kontrasubjekts, indem er hier den bei Mattheson (1739) so genannten Contrapunto d’un sol passo (gleichbleibende Figur) vorführt, wie er ihn auch in den letzten Varianten der Orgel-Passacaglia und in der b-Moll-Fuge (T.67ff.) des zweiten Teils des ‚Wohltemperierten Claviers‘ anwendet (Butler 3, 299ff.).
b-moll-Fuge: Figur im Bass
Mit Recht macht Kolneder (s.129) auf eine bestimmte Durchführung in Fuge IV (Hauptthema in Umkehrung) aufmerksam, die eine neue Version des Themas einführt:
Die mit dem Baß T.62 einsetzende Durchführung gehört zum Gewaltigsten, was Bach in harmonischer Hinsicht je geschrieben hat. In all den bisherigen Gestalten des Themas war dessen Sekundschritt vom zweiten zum dritten Takt beibehalten. Die Terz an dieser Stelle, die erstmalig in T.62/63 auftritt, wirkt gegenüber der Sekund wie gewalttätig, die Tonalität wird hier aufgebrochen, die mit dem Terzsprung bewirkte Modulation innerhalb des Themas führt von C-Dur nach g-Moll, also in der Doppelsubdominantparallele. Das war innerhalb eines Fugenthemas der Bachzeit unerhört.
Ich habe es mir vor vielen Jahren in meine „Arbeitspartitur“ (Graeser, angeschafft Juli 1956, Fingersätze bei neuer „Phase“ 1964) eingetragen:
= in folgender Aufnahme ab genau 10:22 !
Da das Tempo hoch ist, sticht dieser Einsatz weniger hervor, als man vielleicht erwartet. Die Fuge beginnt bei 9:04, die wiedergegebene Partiturseite beginnt bei 10:01.
Was tun?
Man höre die Contrapuncte 1 bis 4, und zwar so oft, bis sie ohne weitere Nachfrage – Sinn machen. In der folgenden Aufnahme mit Musica Antiqua Köln unter Reinhard Goebel 0:00 bis 12:12. Durch den Wechsel der Instrumentation macht dieser 4-sätzige Ausschnitt sogar den Eindruck eines abgerundeten Werkes. Irgendwann wird der Wunsch erwachen, darüber hinauszugehen, vielleicht mit „dem Schleuning“ in der Hand…
Und nicht vergessen: es ist wichtig, jeden Eintritt des Themas zu beachten; aber am schönsten ist die Fuge oft in den sogenannten Zwischenspielen.
Vielleicht gibt es Bach-Liebhaber, die gleich auf den Schluss des Werkes vorfahren, um zu erleben, wie der Tod dem alten Bach die Feder aus der Hand genommen hat. Nein! so war es nicht!! Eher kann man sagen: Bach bereitete planmäßig seinen Ruhestand vor! Peter Schleuning ist bösartig genug darauf hinzuweisen, was der „Kunst der Fuge“ besonders abträglich ist war (und ist): Erschütterung. Siehe Seite 57. Ich glaube auch nicht, dass man bei diesen Fugen an den Weltraum und den Gang der Planeten denken sollte. Egal, was Goethe gesagt hat.
Es handelt sich vielmehr um Leben.
Unübertrefflich (auch wegen der Cembalo-Versionen!): Musica Antiqua Köln, mit Reinhard Goebel, Violine und Leitung 1984:
Ebenfalls eine sehr gute (durchhörbare und intelligente) Aufnahme (1987), bemerkenswert: die umgebaute Bratsche (für die „zu tiefen“ Stellen der zweiten Geige). Ein Freude: Das Juilliard Quartett !
Ein hypothetischer Ansatz, mit dem wir schon im Tierreich ins Dilemma kämen: ein Vogel z.B. kann sich durch einzelne Rufe erkennbar machen, Kontakt zu anderen aufnehmen und scheinbar immer dasselbe sagen: schau mal – „ich, ich, ich“. Oder die Artgenossen durch eine Kette von Tönen und Motiven beeindrucken. Vielleicht alles, was ihm in den Sinn kommt, abwandeln, fortwährend Neues erfinden oder das Einzelne favorisieren und das Prinzip der Wiederholung entdecken. (Nebenfrage: produzieren die Tiere auch Rhythmen??? Der – unvermeidliche – Rhythmus der Pferdehufe u.dgl. gilt nicht!)
Unter Menschen müsste es nicht anders verlaufen sein. Hier lobt nun der eine das Rhapsodische, Leidenschaftliche, Unberechenbare, schon hält der andere die Verlässlichkeit, die Wiederkehr des Gleichen dagegen, die Stetigkeit, die perfekte Organisation, und schließlich kommt ein Neunmalkluger daher und sagt: man braucht doch immer beides, die Gegensätze und den Ausgleich der Gegensätze. Der eine sagt: es geht um den Puls des Lebens, und der andere: mich begeistert der warme Klang des Sechszylinders, die kraftvolle Motorik der Maschine, der erste: wie im Sport, wir brauchen die Konstanz der Leistung, die Durchhaltekraft und die Steigerung. Der andere: selbst der einfachste Motor kann mit einer Gangschaltung ausgestattet werden, bedenke, wie ein Thermostat die Maschine wechselnden Verhältnissen anpassen kann. Als sei sie sensibel und wetterfühlig. Ich will nicht den Ursprung der Musik überhaupt zum Thema machen, sondern mit dem beginnen, was es nachweislich gegeben hat, in der „Musikgeschichte“. Jagdsignale, Töne, Rhythmen, Lieder, Gesänge, Tänze. Jedes Stichwort ergibt ein Buch des Lebens. Das Lineare, die Fläche, die Vielheit… Homophonie, Polyphonie… Siehe auch unter dem Stichwort „Bachs barocker Bewegungsmodus“ hier.
Für die homophone Schreibweise sind charakteristisch: Gliederung durch harmonische und motivische Mittel, Cäsuren durch Halb- und Ganzschlüsse (wobei alle Stimmen gleichzeitig und in gleichem Sinne am Kadenzgang beteiligt sind, zum Unterschied von der Polyphonie, wo im Prinzip ein solcher Vorgang nur am Schluß eines Stückes anzutreffen ist), Bildung geschlossener Gedanken im Sinne der Satz- und Periodenbildung, Erzielung typischer Formstrukturen durch Gegenüberstellung kontrastierender Elemente, schärfere Herausarbeitung des Gegensatzes von „fest“ und „locker“ gebauten Abschnitten. Hierher gehört auch der grundsätzliche Unterschied zwischen der Überleitung im homophonen Aufbau und dem Zwischenspiel in der Fuge. Die polyphone Gestaltung läßt ja an sich die scharfe Gegenüberstellung von „fest“ und „locker“ gebauten Teilen im Sinne der homophonen Gliederung nicht zu, weil sie einerseits durch das ständige Vorwärtstreiben der Bewegung, wie es eben der Polyphonie eigentümlich ist – das ständige Fließen und Nicht-zur-Ruhe-Kommen ist ja ein charakteristisches Merkmal – an und für sich eher die Kennzeichen des „Lockeren“ aufweist, andererseits wiederum, besonders in der Fuge, das unveränderte festhalten des Themas den ganzen Aufbau wie eine Art Knochengerüst durchzieht, so daß trotz der modulatorischen Bewegung im Mittelteil der Fuge dieser wiederum „fester“ wirkt als entsprechende Teile in den homophonen Formen. Das Zwischenspiel unterscheidet sich nun von der Überleitung dadurch, daß die Darstellung gleichsam in eine andere Ebene gerückt erscheint durch die Abwesenheit des Themas. Beim Wiedererscheinen des Themas wird gewissermaßen der frühere Zustand wieder fortgesetzt. Bei der Überleitung hingegen handelt es sich um Darstellung in einer Ebene; sie führt aus einem ursprünglichen Zustand zu einem neuen inhaltlich und strukturell verschiedenen Zustand. Diese scharfe Trennung soll hier nur dazu dienen, den grundsätzlichen Unterschied klarzumachen. Es soll dabei nicht übersehen werden, daß gerade die motivische Arbeit in den Zwischenspielen, besonders bei Bach, in hohem Maße vorbereitend auf die Technik der motivischen Entwicklung in der Wiener Klassik gewirkt hat, wobei auch der Technik der Sequenzbildung (die ja im Grunde genommen bereits im Widerspruch steht zum Prinzip der polyphonen Darstellung) gerade in den Zwischenspielen Bachs eine große Bedeutung zukommt.
Weiters tritt in der homophonen Darstellung das Prinzip der Wiederholung (wörtliche und variierte Wiederholung, Sequenz, Beantwortung) in entscheidender Weise in den Dienst des formalen Aufbaues.
Quelle Erwin Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre / Universal Edition Wien 1968 (Seite 38f)
ZITAT
In dem Maße, in dem die musikalischen Fortschreitungen im Sinne der neuzeitlichen Taktbewegungen habitualisiert werden, bestimmen einförmige Progresse die musikalische Temporalstruktur. Schon Printz beobachtet dies 1668. Später empfiehlt er, die Stimmen eines polyphonen Satzes so aufeinander abzustimmen, daß – mit Riemann zu sprechen – ein komplementärer Rhythmus und damit ein Einheitsverlauf aus Viertel-, Achtel- oder Sechzehntelnoten entsteht […]. Mattheson beschreibt einen Kompositionstypus, dessen Erfindungskern eine Notengattung ist, wo sich also eine Stimme – oft der Baß – einförmig in Achtel- oder Viertelnoten bewegt. In Purcells Arie „Wondrous machine“ (An Ode on St. Cecilia’s Day, 1692) schreitet der Baß einförmig in Achtelnoten fort. Es ist die Figur des Mechanismus, der die Orgel, die wunderbare Maschine, in Gang hält […]
Quelle MGG (neu) Lexikon „Musik in Geschichte und Gegenwart“ Sachteil 8 Bärenreiter Kassel, Basel etc. (1998) Artikel „Rhythmus, Metrum, Takt“ Sp. 291 (Autor: Wilhelm Seidel)
Dasselbe Stück (im externen Fenster) mit fortlaufender Partitur: HIER.
In dem Artikel „Barock“ des alten (!) MGG-Lexikons (Musik in Geschichte und Gegenwart 1994-1951) lassen sich versteckte Wertungen erkennen, die mit den Begriffen „mechanisch“, „lebendig“ oder „mechanisch pulsierend“ in Verbindung gebracht werden können.
ZITAT (rote Hervorhebung immer von mir)
Da überdies die Notenwerte der Stimmen des polyphonen Satzes einander überschneiden und nur an beabsichtigten Zäsuren zu gemeinsamer Kadenz zusammentreten, bietet der Satz der ars perfecta dem heutigen Ohr keine rhythmische Orientierung, ja, er setzt sogar der Taktstrichziehung in moderner Partitur unüberwindliche Hindernisse entgegen. D.h. die Renaissance hat keinen „Takt“ im Sinne der mechanisch pulsierenden Wiederkehr von rhythmischen Einheiten gekannt , oder vielmehr: sie hat ihn bewußt vermieden; denn im Tanz und in einfachen Liedbildungen wie Frottolen, Lauden, Villotten, Villanellen, Chanson usw. liegt oft genug ein moderner Takt zutage.Wenn mit dem Beginn des Barock der moderne „Takt“ in die Kunstmusik einzieht so bedeutet dies also, wie bei so vielen Stilelementen des Barock, eine Umwertung: was früher Eigentümlichkeit niederer Musikgattungen war, steigt in die Kunstmusik auf (ein Vorgang, der sich übrigens in gewissem Sinne in der Frühklassik wiederholt). Mit der Neigung zu rhythmisch-taktlicher Verfestigung, d.h. zur mechanischen Wiederkehr von Schwer-Leicht-Gruppierungen, trafen die Bemühungen der Humanisten zusammen, die metrischen Schemata der antiken Dichtung in der Musik zur Geltung zu bringen, und im strengen homorhythmischen Vortrag solcher metrischen Verse in der musique mesuréeà la’antique traten von selbst Maßeinheiten zutage, die gleichfalls zum „Takt“ strebten; ihre Nachwirkung in rhythmischer beziehung ist im frühen Florentiner Rezitativ deutlich zu spüren.Nicht nur im italienischen „balletto“ Croces und Donatis [etc.], überall ist eine der modernen taktmäßigen Ordnung mindestens sehr nahekommende mechanisch pulsierende Ordnung schon um 1600 vorhanden. Ihr fügt sich auch die Polyphonie ein: […].
An rhythmischer Freiheit ist wohl kaum eine Zeit der Musikgeschichte so weit ins Rhapsodische und das Rubato vorgestoßen wie das Frühbarock. Monteverdi gebraucht das „senza battuta“ und verlegt den Rhythmus vorwiegend in den freien, affekthaften Vortrag des Sängers, den den stile recitativo unter Grimassen, Gesten, Schreien und Seufzen vorzutragen hatte, und der Vortrag eines Violonsolos von Marini oder einer Toccata von Frescobaldi, eines der frühen Solomadrigale Peris oder Saracinis ist, auch abgesehen von den zahlreichen notierten Kontrasten und Abwechslungen des Rhythmus, äußerst frei zu denken. Erst im Verlauf des Barock erfolgte eine Verfestigung auch im Rhythmischen, indem der Komponist ein bestimmtes rhythmisches Motiv zugrundelegte, wie es etwa in den Opernarien Cavallis oder Cestis, Lullys oder Blows, in den Suiten von Chambonnières und Froberger zu beobachten ist. Und erst der Spätbarock entwickelte jene Motorik, die innerhalb eines Satzes die einmal zugrundgelegte rhythmische Bewegung unablässig (nötigenfalls mit eingelegten Kontrastabschnitten oder, im polyphonen Sartz, mit simultan kontrastierenden, aber ebenfalls durchlaufenden Bewegungsformen der verschiedenen Stimmen) wiederkehren und durch ihre unbarmherzige Einprägsamkeit den Hörer überwältigen. Bach, Händel u.v.a. bieten Beispiele auf Schritt und Tritt. –
Quelle Artikel „Barock“ in Bd. 1 des Lexikons MGG (alt) Sp. 1275 bis 1338 (Autor: Friedrich Blume) Bärenreiter Verlag Kassel und Basel 1949-1951
Der Titel dieses Blog-Beitrags hatte darauf aufmerksam machen wollen, dass der „durchgehende Rhythmus“ in der heutigen Pop-Musik bereits einen Sinn hypostasiert, – wie dürftig auch immer; die Musik bewegt sich allein schon dank der rhythmischen Grundlage vorwärts, nicht so sehr dank einer melodischen Spannung, die weiterführt oder aufgelöst werden müsste. Man muss es aber nicht pejorativ beurteilen, nur weil man die Überflüssigkeit einer Rhythmus-Unterfütterung bei Bach konstatiert. (Weil sie kontrapunktische Phänomene verschleift, die man in aller Klarheit erfassen will.) Der Perpetuum-mobile-Charakter nimmt dem (selbsterzeugten) rhythmischen Drive seine Selbstverständlichkeit und „führt die Sache vor“. Es ist einfach nur simpel, nicht etwa raffiniert.
Man vergleiche die geniale Kombination aller rhythmischen und melodischen Raffinessen in der indischen Musik, vom breitesten Rubato im Alap bis zur letzten „wirbelnden“ Phase des Gat. Von der Selbstverständlichkeit zur Artistik. Wobei allerdings auch dieses Prinzip eine gewisse Stereotypie des Ablaufs nicht leugnen kann. Die bedauernswerte Rolle des Tabla-Spielers während eines sehr langen Alaps… Andererseits: wieso ist eine sporadische Rückkehr zum Alap-Prinzip (ein erneutes Schweigen der Tabla) prinzipiell ausgeschlossen?