Ein Interpretationsvergleich
Es funktioniert so: man stellt die zweite Aufnahme (Aufnahme B) auf Anfang ein (bei 0:25), und zwar unterhalb des Youtube-Bildes auf „Hier“, so dass sich ein externes Fenster auftut, und richtet sich darauf ein, dass man von der Blogansicht problemlos ins externe Fenster wechseln kann und zurück. Wir nehmen das Blogfenster als Basis, weil man dort die Noten verfolgen kann. (Übrigens auch dann, wenn man keine Noten lesen kann, die Ohren sind die Hauptsache!) Vor jedem Wechsel schalten wir auf Stop, damit nicht beide Aufnahmen gleichzeitig zu hören sind. Wir stoppen immer nach einem sinnvollen (wenigstens halb-) geschlossenen Zusammenhang, den man im Sinn behalten kann, aber auch nicht allzu gestückelt. Wir beginnen etwa Aufnahme A mit 0:00 bis 0:22… Stop (beim nächsten Mal von hier bis 0:38). Üben und hören! In der Analyse spreche ich nicht von ihm oder ihr (Geiger oder Geigerin), sondern von Geige A und Geige B, Klavier A und Klavier B. Beide Geigen sind technisch hervorragend, es geht uns aber nicht um das geigerische Können, sondern um das Wollen, die Interpretation.
Aufnahme A
Aufnahme B
Dieselbe Aufnahme im externen Fenster: HIER – – – Achtung: einstellen auf 0:25 (unmittelbar vor Musikbeginn) und Stop! (Dann zurück auf internes Blogbild!) Beim nächsten Mal wieder extern von hier bis 0:52. Üben und hören!
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Selbstverständlich gehört zur ordentlichen Interpretation eines großen Werkes auch eine gründliche gedankliche Vorarbeit. Ich will nicht das abschreckende Wort „Analyse“ verwenden, aber es ist doch ein Wissen um den Aufbau und bestimmte begleitende Überlegungen, was eigentlich den Komponisten bewogen hat, gerade dieses Werk zu schreiben. Ein Beethoven schreibt keine Sonate „nur so zum Spaß“, und die Instrumentalisten spielen nicht „nur so zum Spaß“. Auch nicht, um ihre Virtuosität vorzuführen oder um zu zeigen, wie großartig ihre Instrumente klingen. Ich verwende und zitiere ausschließlich einen Artikel des folgenden Buches, der vielleicht etwas karg formal klingt, aber doch Übersicht schafft; als Autor firmiert dort „Michael Maier“ (Info unter Franz Michael Maier hier). Wenn ich die vorgesehenen Zitate mit genauen Zeitangaben (in roter Farbe!) versehe, beziehen sie sich – wegen des mitlaufenden Notentextes – immer auf die Aufnahme A.
Für völlig unbrauchbar würde ich bei einer solchen Betrachtung bloße Geschmacksurteile wie „gefällt mir“ oder „gefällt mir nicht“ halten, es geht also um Begründungen. Und keine Interpretation ist sakrosankt, nur weil ein großer Name dahinter steht. Die berühmtesten Künstler können erstaunlich gedankenlos sein.
ZITAT Bd I Seite 248f:
Die drei Sätze bieten drei Blicke auf die Möglichkeiten des Zusammenspiels von Violine und Klavier. Den ersten Satz könnte man überschreiben „Das wiedergefundene Unisono“. Es handelt sich um einen Satz von klarstem, auf Sonderwege durchaus verzichtenden Bau: Das Hauptthema wendet sich im vierten Takt nach der Dominante und im achten Takt nach der Tonika; die weiteren Themen sind kontrastierend angelegt, ohne daß dadurch der rasche Ablauf des Satzes auch nur im geringsten stockte. Auffällig dagegen und durchaus folgenreich für den Satz ist die Art, wie das Hauptthema nach kurzem Anlauf in einem Fluge den Raum vom kleinen d bis zum dreigestrichenen g durchmißt, wobei Vorder- und Nachsatz im Unisono beginnen: (Notenbeispiel). Ob das erste Seitenthema in einem Sechzehntellauf ausschwingend in die Anfangsbewegung zurückkehrt oder ob diese in einem Überleitungsteil einem Akkordgang gegenübergestellt wird – zweimal kommt der Satz längst vor der Wiederholung der Exposition auf dieses Kopfmotiv in unisono rollenden Sechzehnteln zurück. Im Mittelteil der Sonate mischen sich in dieses Spiel von einstimmigem Beginn, Auseinanderlaufen und Zurückfinden die Unterschiede der Instrumente nach Klang und Lage hinein. Der in die Wiederholung der Exposition zurückleitende Abwärtsgang wird am Beginn der Durchführung sequenziert; den Sechzehntelrepetitionen des Klaviers treten dabei Violintriller gegenüber. Diese Sequenz mündet in eine Form der Ausgangsfigur, welche, in cis-Moll, das Unisono des Anfangs durch ein Alternieren der Kontra-Oktave des Klaviers und der zweigestrichenen Oktave ersetzt. Mit der vierten sequenzierenden Wiederholung ist mit der Grundtonart G-Dur auch die gemeinsame mittlere Lage wieder erreicht, in der das Unisono der Reprise eintritt. In dieser Weise exponiert der erste Satz die Frage des Zusammenspiels der beiden Instrumente; daß es in ihm um diese Exposition ging, muß die Behandlung der Frage in den folgenden Sätzen zeigen.
Ich möchte den atemlosen Gang der Dinge, während wir ihm vergnügt folgen, etwas einfacher beschreiben:
Es fällt wahrhaftig schwer, das Treiben zu unterbrechen und prüfend innezuhalten: der Drive des ersten Satzes ist hinreißend und duldet kaum eine Atempause. Wenn das zweite Thema einen Moment des Bedenkens anzumahnen scheint (0:38), – auch dadurch, dass es nach Abbruch der wirbelnden Sechzehntel modulierend ansetzt -, so kann es doch keinen Zweifel geben, dass es ähnlich weitergehen muss, und der Augenblick des Aufmerkens keine Schwächung bedeutet. Nicht umsonst bleibt das Sechzehntelmotiv als Einwurf präsent, ehe sich der geschmeidige Fluss des neuen Themas durchsetzt. Aber die Sechzehntel kehren unbeirrt wieder, angereichert durch Triller, Sforzati und abschließende Passagen, um endlich in die Rückkehr des Anfangs zu drängen (1:47) oder in weitere Aktionen zu münden (3:32). Man wird gewahr, dass schon im ersten Teil des Satzes mit dem übermütig exponierten Material gespielt wurde (um nicht von motivischer „Arbeit“ zu sprechen). In diesem Sinne geht es in der Durchführung weiter mit Läufen, Trillern und Sforzati, bis die Reprise dem scheinbar ungeplanten Treiben ein Ende macht und – neu beginnt (4:00).
Was soll die Interpretation anderes tun, als diese ganze Jagd unbeirrbar und perfekt abzubilden? Nur nicht stocken, ebensowenig eilen, nur nichts problematisieren, alles ist Spiel. Und wenn wir es nicht fertig bringen die Aufnahme A zu stoppen (5:41), dürfen wir es ihr und uns als Plus anrechnen, – um dann, wenn ohne jedes Zögern auch der zweite Satz beginnt (5:43), auszurufen: Stimmungswechsel! das kommt zu früh, da muss man doch länger warten, es muss wohl ein Schnittfehler sein!
Die Aufnahme B – die Live-Aufnahme eines Konzertes – lässt eine Pause von 7:12 bis 7:17, nicht zu lang, nicht zu kurz.
An dieser Aufnahme fällt von Anfang an auf, dass sie sich nicht damit begnügt stattzufinden: sie will uns vielmehr fortwährend etwas zeigen. Nehmen wir gleich nach den Sechzehnteln den Aufstieg zum höchsten Ton: er ist ebenso wie die aufsteigenden Achtel mit einem Punkt markiert, es soll ein kurzer Ton sein. Geige B gibt ihm ein besonderes Vibrato, das ihn verschönert, beim zweiten Mal noch auffälliger, er soll intensiv süß klingen. Womit zugleich eine Tendenz zum Auskosten, Innehalten angezeigt wird, – die dem Charakter des Satzes strikt widerspricht. Das Klavier antwortet mit der gesanglichen Fortspinnung, die von der Geige aufgenommen wird, bemerkenswerterweise aber nicht ohne Zögern; die beiden Auftaktachtel samt nachfolgender Dreiergruppe demonstrieren, dass sie den Stab übernehmen wollen. Warum tun sie es nicht einfach? Der Zielton bekommt ein besonderes Vibrato, ja, hier soll nun wohl gesungen werden, oder nein, es kommt allmählich in Fahrt, das Crescendo der aufsteigenden Sequenz scheint sinnvoll, aber das schwungvolle „Anhacken“ des höchsten Tones (0:58) doch übertrieben: sind wir schon so weit, dass es eines solchen Effektes bedarf? Wenn man begriffen hat, dass der Drive des Satzes in erster Linie mit einem steten Tempo Allegro assai zu tun hat, das mit dem Sechzehntel-Motiv des ersten Taktes gegeben ist und bei der Wiederkehr – einen Ton höher in A-dur (Aufnahme B bei 1:07) – keine weichere Tempovariante anbieten sollte, dann liegt es auf der Hand, dass dies auch für die nächsten Takte gelten soll. Was tut Klavier B? Es kostet den Fis-dur-Akkord über Gebühr aus. Was tut die Geige B? Sie lässt den gehaltenen Ton wild aufblühen und verzögert die nachschlagenden beiden Achtel. Und bei der nachfolgenden, ähnlich lautenden Phrase, wird der gleiche Vorgang noch einmal inszeniert und in den nachschlagenden Achteln sogar unmäßig übertrieben (bis 1:20). Da Klavier B das eingefügte Sechzehntelmotiv eigentlich nicht langsamer spielen kann, stottert der Motor spürbar, und Geige B eilt zu Hilfe mit einem entschlossenen Jammervibrato, das offenbar auf ein winziges crescendo reagiert, das von Beethoven eingezeichnet wurde. Die dreistimmige polyphone Passage schließt sich in gedrosseltem Tempo an; man ahnt bereits, dass ein neuer Tempo-vorwärts-Ruck bevorsteht, den Geige B (ab 1:29) tatsächlich mit einem reißerischen Impetus angeht. Zumindest wenn man die Aufnahme A kennt, wird man allmählich ärgerlich. Viel zu viele Ideen auf kurzer Strecke, und die Wiederholung der Exposition bietet haargenau das gleiche Bild, – unsteter kann es nicht werden. In der Durchführung (nach dem Doppelstrich) überrascht Geige B in dem Ping-Pong-Spiel der Kurztriller mit einer seltsamen Ausführung: ein engräumiges „Meckern“, das entsteht, wenn man weniger mit der Fingerbewegung als mit dem Vibratoschlag trillert, man nennt das auch „Bockstriller“, der allerdings im Wechsel mit der echten Trillerfigur des Klaviers leicht parodistisch klingt, – ist halt so eine Idee…
Nun wird man fragen: wenn die Geige B in diesem rasanten Satz schon so viele (überflüssige) Ideen unterbringt, was wird sie erst investieren im folgenden langsamen Satz? Man könnte ihn gar für eintönig halten und argwöhnen, Beethoven habe sich mit seiner Ausschmückung nicht genug Mühe gegeben.
Zitat (wie oben) Bd I Seite 249 / bitte mit Aufnahme A (Zeitangaben!) synchronisieren:
Den zweiten Satz (ab 5:42), Tempo di Minuetto ma molto moderato e grazioso, trägt eine Melodie von jener Art, die Beethoven nicht im Lauf der Komposition verändert und die er nicht variiert, sondern die er unverändert wiederholt. Anders aber als im Fall der Melodie des zweiten Satzes der Klaviersonate op. 90, in deren acht Wiederholungen nur einmal die Tenorlage der Melodie für klangliche Abwechslung sorgt, steht hier ein Reichtum von Kombinationen zur Verfügung. Der Satz beginnt getragen; zur Melodiestimme in der rechten und zum Baß in der linken Hand des Klaviers tritt in der Violine eine dritte Stimme, die wie der Baß in Vierteln geht, als höre man eine Begleitvioline. Die Violinstimme entfaltet sich zur Triostimme, die bald in Terzen mit der Oberstimme, bald in Gegenbewegung mit dem Baß geht. In den zweiten acht Takten (6:01) entfaltet sie sich zur Melodiestimme, die vom Klavier begleitet wird. In den folgenden (6:20), nach vier Takten gegliederten Abschnitten des Satzes wechseln sich die beiden Instrumente meist in eben diesem Rhythmus ab. Am Ende des Satzes (12:27) wird der Vortrag der unveränderten Melodie (über unverändertem Baß) einer Wechselrede der beiden Instrumente (Violine und rechte Hand des Klaviers) anvertraut. Durch die unüberbrückbare Verschiedenheit des Klanges und der Tonerzeugung wird die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf die Art des geschehenden Aufeinandereingehens gelenkt. Die Melodie, die so schön ist, daß man sie in den 177 vergangenen Takten gerne wieder und wieder hörte, wird in dieser Form des Vortrags zur Darstellung des Seltenen, daß Menschen, und wäre es nur beim Spielen von Musik, übereinstimmen wollen. Weniger das den Abschnitten des Satzes entsprechende Abwechseln der vortragenden Instrumente nach vier und vier Takten bereitet diese Wirkung vor als das Unregelmäßige, daß etwa die Violine, über die Zäsur hinweg, in den Takten 59 (7:57) und 149 (11:22) fortsetzt (das Klavier wäre „dran“), und es ist der Nachklang dieser in dem wiederholungsreichen Satz nicht wiederholten, unwiederholbaren Stelle, daß Beethoven den schließenden Terzgang g – f – es sechsmal (variiert siebenmal gezählt ab 12:42) wiederholen läßt.
Man muss diesen etwas papierenen Text geduldig an der Musik abarbeiten und durch die Vorstellung der „wahren“ klanglichen Abläufe ersetzen, um ihn im Nachhinein schätzen zu lernen.
Man höre anschließend die Aufnahme B ( der Satz beginnt dort bei 7:15 ). Ich erspare mir einstweilen aufzuweisen, wieviel an Schmalz von Anfang bis Ende die reine Linienführung verdirbt; es betrifft vor allem die Geige. Aber mit einer ganz furchtbaren Nuance, vielleicht angezettelt durch Klavier B, müssen wohl beide einverstanden sein. Es ist die Stelle, die wir eben in Aufnahme A herausgegriffen haben („über die Zäsur hinweg“), hier in Aufnahme B auffindbar bei 10:01 und 14:23; ich meine die Auffassung der triolischen Klavierbegleitung als „Walzertakt“, samt Verzögerung auf dem jeweils zweiten Achtel, damit es auch der Dümmste merkt (Achtung Wien!!!!), selbst gestisch noch ganz unangenehm unterstrichen (bis hin zur Andeutung eines leichten Mitschunkelns!). So disqualifiziert man sich auch als Pianist in einem der unschuldig-schönsten Sätze, die Beethoven je geschrieben hat. Und wenn die Geigerin dazu ein Gesicht macht, als wälze der ganze Satz ausdruckstechnische Probleme – oder löse sie gar: mir ist es unmöglich, alle Details der Fehldeutung aufzuzählen. Das vergisst sich nicht und kann im letzten Satz durch virtuose Glätte und Schein-Übermut nicht wettgemacht werden.
Der Vollständigkeit halber soll aber auch die den letzten Satz betreffende verbale Deutung nicht fehlen:
ZITAT (a.a.O. Seite 249f Anmerkungen sind weggelassen JR) dazu: Aufnahme A
Der dritte Satz (ab 13:14) hat die Interpreten nachgerade verlegen gemacht durch seine Spielfreude. Thayer spricht von einem „Rondo à la musette“, in dem „ein gut Teil Naturalismus“ stecke, und noch die Beilage zu den Schallplattenaufnahmen mit Clara Haskil und Arthur Grumiaux weiß von dem Jahrmarktstreiben, das man einmal aus dem Satz herausgehört habe. Zu dem für einen Schlußsatz obligatorischen Stimmungswechsel tritt jedenfalls eindrucksvoll bis zum Erstaunenmachen der Wechsel der Stilhöhe. Fast könnte man von einer Parodie, fast von Spott auf die Wiederholungen und auf das Verzärtelnde des zweiten Satzes sprechen, denn auch das Sechzehntelthema dieses Satzes wird oft genug wiederholt und ruft oft genug seine Gegenstimme herbei. Und auch die hervorgehobenen Stellen fehlen nicht: In Exkursen nach H-Dur (15:02) und nach Es-Dur (15:40) wird es als letzte in diesem Werk vorgestellte Form des Zusammenspielens gezeigt, daß ein Instrument die Richtung weist und daß das andere sich so einstimmt und nachfolgt, wie Onkel Toby den Vorschlägen seines Dieners Trim nicht widerstehen kann. Das „till-ready-accompaniment“ des Klaviers ab Takt 177 (15:40) ist ein solcher unwiderstehlicher Vorschlag, und die mit der linken Hand des Klaviers parallel laufende Begleitfigur der Geige in Takt 133-136 (15:02) ist ein solches Folgeleisten.
Quelle Michael Maier: Violinsonate op.30 Nr.1 / in: Beethoven Interpretationen seiner Werke / Herausgegeben von Albrecht Riethmüller, Carl Dahlhaus, Alexander L. Ringer / Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt Band I / 1996 / Laaber Verlag Laaber 1994
Noch ein Wort zum gelegentlichen Vibratoverzicht (vor dem Hintergrund der jederzeit drohenden Vibrato-Exzesse. (folgt)
Dank an Klaus Giersch für den Hinweis auf Kristóf Baráti !