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Private Praxis

Etwas zu Handarbeit und Fingerfertigkeit

Es sieht nach einem läppischen Vorhaben aus, – wer je etwas aus Bachs Wohltemperiertem Klavier geübt hat, wird dieses Stück kennen: BWV 850. Zumal die nachfolgende Fuge sehr eindrucksvoll ist, auch leicht zu bewältigen. Aber das Praeludium hat seine Tücken; selbst wenn man es längst zu beherrschen glaubt, bringt es beim Vorspiel ungeahnte Schwächen ans Licht. Vielleicht nicht einmal im schnellen, sondern im mittleren Tempo. Immer noch Zeit, einen letzten Anlauf zu wagen, durch Überbietung: nämlich von der linken Hand (Fingersatz rot) das gleiche zu verlangen wie von der rechten (Fingersatz grün). Am Ende – ohne Bass – in Oktaven.

  

Der Kreis um eine Zahl – Takt 4 grün, Takt 9 rot – bedeutet, dass der Einsatz dieses Fingers in der Handhaltung weich (!) vorbereitet sein muss. Eine spezielle Einstellung gilt für den Takt 7 (grün, rechte Hand). Warum? Die zweite Sechzehntelgruppe ist mit diesem Fingersatz nur in einem bestimmten, feinjustierten Winkel leicht ausführbar, der in der dritten Sechzehntelgruppe in Richtung Daumen-Cis angepasst werden muss, so dass die Spannung zum hohen D leicht fällt und sofort wieder aufgegeben werden kann: die Hand zieht sich dabei minimal zusammen (auf Takt 8 hin), der Daumen ist also frei für das E und kurz danach wieder für das Cis.

Übrigens setze ich voraus, dass man auch beim Fingersatzüben eine Vorstellung vom formalen Verlauf des Präludiums hat. Den habe ich kürzlich rekapituliert, als ich mich dem BWV 850 wieder aufs neue zu widmen vornahm: siehe hier.

Zudem übt man nicht fortwährend von A-Z, sondern man nimmt sich einzelne Taktgruppen vor, z.B. Takt 3 bis 6 (1.Ton), Takt 6 bis 10 (1.Ton), also mit Grenzen innerhalb derer man die kleinste Unebenheit vermerkt und „bearbeitet“.

Kennen Sie die folgenden Zeilen? Eine bestimmte Verkettung von Umständen bewirkte in meinem Fall, dass ich sie (und das ganze Gedicht, in dem sie stehen) – so prosaisch sie klingen – seit dem 16.9.1959 mit Liebe lese:

Ich ahnte, dass Gottfried Benn in seinem Gedicht „Chopin“ Original-Zitate des Komponisten verwendet hatte. Einige Jahre später las ich, wie der große Klavierpädagoge Heinrich Neuhaus gerade diese Äußerung Chopins zum Thema machte:

Quelle Heinrich Neuhaus: Die Kunst des Klavierspiels edition gerig Köln 1967

Dieses Buch wurde für mich immer wieder zu einer Quelle der Ermutigung. Und auch jetzt entsann ich mich wieder, dass ich darin die genaue Analyse der Bewegungen gefunden hatte, die „auf der Hand liegt“ und doch immer wieder neu reflektiert werden muss.

 

Siehe zu diesem Chopin-Prélude und zum Thema überhaupt im Blog hier.

Bemerkenswert übrigens, dass Chopins Aussage nicht lautet: Jeder Finger spiele mit der gleichen Kraft. Gerade die abstrakte Forderung nach Gleichmäßigkeit kann im frühen Unterricht Schaden anrichten.

Da es die Aufgabe der Instrumentalpädagogik ist, die vorhandenen Anlagen zum Ausbau des Könnens zu benützen, ist es unerläßlich, daß die Pädagogik mit den dem gesunden Menschenverstand zugänglichen allgemeinen Vorstellungen der „Geschicklichkeit“ und der „Beweglichkeit“, und nicht mit der Vorschrift bestimmter Bewegungsformen beginnt, deren äußerliche Nachahmung (…) keine Gewähr für die Erzeugung des im Einzelfall zweckmäßigen, und daher allein bestimmenden, Muskelgefühls bietet.

Aus diesem Grunde ist es, namentlich bei Anfängern, zwecklos, den Schwerpunkt des rein mechanischen Übens auf die „Gleichmäßigkeit“ zu legen, wie es z.B. bei den einfachen Fünf-Finger-Übungen und Tonleitern meistens geschieht. Da auf dieser Stufe noch keinerlei Spielerfahrungen vorliegen, ist die Forderung der absoluten Gleichmäßgkeit ohnedies einstweilen unerfüllbar.

Quelle Zur Psychologie der Klaviertechnik / Aus dem Nachlass von Willy Bardas / Mit einem Geleitwort von Professor Artur Schnabel / Im Werk-Verlag zu Berlin 1927.

Ein kluges Büchlein, das ich meinem Vater verdanke; die beiden auf das Zitat folgenden Seiten sollen als Kopie folgen. (Es ist aber inzwischen auch in einer Neuausgabe von Manja Lippert zu beziehen.)

 Neuausgabe hier

Gerne zitiere ich auch wieder einmal das schöne Goethe-Gedicht (Obertitel von mir):

Ermutigung für Instrumentalisten

aus Goethes Drama: “ Künstlers Apotheose“, (dort auf Bildende Kunst bezogen):

Drum übe dich nur Tag für Tag,
Und du wirst sehn, was das vermag!
Dadurch wird jeder Zweck erreicht,
Dadurch wird manches Schwere leicht,
Und nach und nach kommt der Verstand
Unmittelbar dir in die Hand.

( Johann Wolfgang von Goethe, Künstlers Apotheose, veröffentlicht 1789)

Forschendes Üben

Klangstudie zur Fuge: wieder einmal BWV 891

In einem der schönsten Bücher von Martin Geck steht ein bemerkenswerter Passus, der den Aufsatz „Bach als Wegbereiter“ abschließt; selbst Nietzsche in seiner Zarathustra-Zeit hätte es nicht emphatischer sagen können):

Der Weg, den Bach der deutschen Musik vorgezeichnet hat, ist kein glatter und bequemer, sondern ein steiler und schwieriger. Er führt auf die Höhen und in die Einsamkeit. Hat man ihn einmal beschritten, scheint man nicht umkehren zu wollen oder zu können. Im Gegenteil: Viele Komponisten sind mit zunehmendem Alter immer „bachischer“ geworden – möglicherweise Mozart, gewiß Beethoven, Brahms und Schönberg. Sie alle haben von Bach gelernt, mit der Konzentration, die dazu nötig ist, nach der Essenz von Musik zu forschen. Als Angehörige der Moderne machten sie freilich von Generation zu Generation deutlicher als Bach die Erfahrung, bei ihrem Tun nicht der Essenz, sondern nur dem Ringen darum zu begegnen.

Quelle Martin Geck: Denn alles findet bei Bach statt / Erforschtes und Erfahrenes / Metzler Musik Stuttgart Weimar 2000 / darin Seite 109-117: Bach als Wegbereiter (Wiederabdruck aus  dem Programmheft der Bach-Tage Berlin 1993).

Bach b-moll Auschnitt

Es müsste nicht unbedingt diese Fuge sein, wenn man klangliche Studien in den Vordergrund stellen will, und es sind vielleicht Lappalien, die ich hervorhebe. Und wenn ein virtuoser Pianist wie Glenn Gould das Stück so rabiat spielt, wie er es tut (siehe hier), dann kann ohnehin von Klang nicht vorrangig die Rede sein.

Ich halte nur einmal fest, was mir in den Sinn kam, während ich versuchte, der Engführung gerecht zu werden, – ohne versehentlich einer Schimäre nachzulaufen.

Vor allem habe ich dabei an Jürgen Uhdes „Forschendes Üben“ gedacht, und er bezieht diesen Begriff, glaube ich, nicht auf form-analytische Überlegungen. Ich werde ihn morgen ausführlicher zitieren, und bis dahin immer wieder die folgende Abschrift studieren, die mit Übergang zum dritten Takt des obigen Notenbeispiels beginnt.

Zur Erläuterung der ins folgende Beispiel eingetragenen Zeichen: die Fermaten bedeuten, dass man auf dem Klang stehenbleibt und hineinhorcht. In der zweiten Zeile sieht man Fermaten auch über bloßen Atemzeichen (wo man normalerweise gar nicht „atmet“), was bedeuten soll, dass beim Üben (!) die Achtelkette unterbrochen wird, so dass allein der Klang des Tones B übrig bleibt (ihm zuliebe auch die dreifache Ermahnung hören!).

Zu den Themenzitaten: in Takt 89 gekennzeichnet durch die Buchstaben B (=Bass) und A (=Alt) sowie durch die kleinen roten Pfeile; im Bass „original“, im Alt in Gegenbewegung (gespiegelt), dank Engführung um eine halbe Note versetzt. Die interpretatorische Frage ist: soll man etwas tun, um die Zitate hervorzuheben? Das eine auf Kosten des anderen? (Natürlich nicht.)

Bach b-moll Klang

Was einem von vornherein klar sein muss: es gibt so viele Stufengänge und soviel Bewegung, dass es es kein Mittel – und schon gar kein klangfarbliches – gibt, um mit den ersten drei Tönen des Themas innerhalb des vorhandenen Tongeflechts zu zeigen: dies ist das Thema! Erst nach der Viertelpause, mit dem Motiv des dritten bis sechsten Tones,  ist es möglich zu zeigen: wir befinden uns mitten im Thema. Und das entsprechende Detail in der Gegenstimme des Alts: dies könnte, dem Gestus nach, eine Imitation, vielleicht sogar die Umkehrung dessen sein, was der Bass vorgibt. Aber auch das ist verunklart, da sich für einen Moment die Sopranstimme die Altstimme des Vortaktes zu imitieren scheint, indem Takt 90 im Sopran mit dem Ton Ges beginnt, der zwei Zählzeiten vorher den Beginn des Themas (Engführung in Umkehrung) markierte. Und jetzt – im Weitergang – den thematischen Alt noch mehr verschleiert und die Aufmerksamkeit vollends auf die oberste Stimme lenkt, und erst wenn diese schweigt (Takt 91) die Aufmerksamheit auf die Achtel im Bass und dann auf deren Gegenbewegung im Alt lenkt und zulässt. Aha, konstatiert man, wir befinden uns also in der enggeführten Aufarbeitung des Themas. Es ist völlig ausgeschlossen, dass ausgerechnet der Komponist das nicht bemerkt hätte. Oder hilflos in Kauf genommen hätte. Das Thema soll einfach nicht vom ersten Beginn an wahrnehmbar und hervorgehoben sein und schon gar nicht so, dass jeder Esel (Brahms!) sofort merkt, was da geschieht. Es soll allmählich ans Licht treten: wie sich das Bedeutungsgeflecht  sich immer mehr verdichtet, und erst im letzten Durchgang – „in paariger Engführung mit paariger Parallelführung“ (Dürr Seite 422)  steht es in Tageshelle vor Augen und Ohren!!!

Bach b-moll Schluss

Was uns nicht hindern soll, schon viel früher uns als Spieler, Hörer, Schauende und mit Fingern Fühlende in den Vorgang hinein zu vertiefen!

Das verstehe ich – nach Jürgen Uhde – unter „forschendem Üben“.

* * * *

Jürgen Uhde:

Ist der große Zusammenhang derart umrissen, dann hat der Übende sich um so tiefer in das Leben der Affekte im einzelnen zu versenken, wie sie ihm aus der Struktur selber aufsteigen. Jeder Affekt ist, wie die Psychologie weiß, zeitlich; er entsteht, gewinnt seine Höhe und vergeht. Und so lebt auch der musikalische Affekt im Atem seiner Zeitgestalt; seine Phasen, wie er steigt, wie er kulminiert, wie er fällt, dieser stets wechselnde Zustand ist auszuloten. Die mimetische Kraft des Spielenden erstarkt in dem Maße, wie er den wechselnden Zeitphasen eines Affektes, seinem Mienenspiel, noch im kleinsten zu folgen lernt und wie er die Übergänge zwischen den verschiedenen Gesten minutiös registriert.

Solch geduldig forschendes Üben läßt sich zunächst nicht an eine streng durchgehende Tempoachse fesseln; ein stur einheitliches, gar metronomisches Tempo am Beginn des Übens würde das gerade entstehende mimetische Leben rigoros beschneiden. So wäre anfänglich ein sorgfältig aushörendes Rubato, das Gegenteil von willkürlichem Rubato, beim Üben nicht nur erlaubt, sondern geboten. Die einzelne Geste will einmal im Prozeß des Übens erscheinen, als wäre sie allein auf der Welt. Diese expressive Aufladung, diese Stauung im Detail, im Für-sich-sein des Einzelnen muß dann aber wieder in den Zug des Ganzen entlassen werden, in ihm aufgehoben sein in der zweifachen Bedeutung: preisgegeben und bewahrt zugleich. (…)

Quelle Jürgen Uhde, Renate Wieland: Denken und Spielen Studien zu einer Theorie der musikalischen Darstellung / Bärenreiter Kassel, Basel, London, New York 1. Auflage 1988 ISBN3-7618-0690-6 / Zitat Seite 490.