Archiv der Kategorie: Musiklehre

Béla Bartók Violinkonzert II u.a.

Form (1939)

Man sollte die Eckpunkte dessen kennen, was für den Komponisten von Bedeutung war, selbst wenn es langweilig aussieht. Auch Bartók sprach in langweiligen Worten über den Formablauf einer spannenden Komposition. Aber wenn ich diese Eckpunkte nicht (oder erst nach oftmaligem Hören) erfasse, fehlt mir der rechte hörende Zugang zum Werk. Es genügt nicht, nur „das schöne Thema“ oder seine Abwandlungen zu erkennen. Ich beginne bewusst mit der klanglich unattraktiveren historischen Aufnahme, die den authentischen Stoff bietet.

SATZ I Exposition Anfang bis 2:56 / Durchführung ab 4:37 / Reprise 8:05 Kadenz 11:10 (13:06) bis 14:37 (Ende)

SATZ II Thema ab 14:53 bis 16:05 / Var.1 bis 17:03 / Var.2 bis 18:32 / Var.3 bis19:25 / Var.4 bis 21:10 / Var.5 (scherz.) bis 21:43 / Var.6 bis 22:42 / Thema bis 23:52 (Ende)

SATZ III (folgt, Faust ab 37:37)

(man sollte wissen, dass es 2 Schlüsse gibt: Isabelle Faust spielt den von Székely gewünschten, – Solist aktiv bis zum letzten Takt -, Tetzlaff 1991 z.B. den von Bartók ursprünglich vorgesehenen)

Beschreibung Wikipedia hier

Leeres Wort „Emotion“

Das Konzert mit Isabelle Faust – jetzt Mediathek) hier (bis 21.07.23) – überragend

Bartók ab 11:09 / endet mit dem alternativen Finalteil bei 49:17

Hörenswert (für später) auch die Live-Version mit Augustin Hadelich hier

Erinnerung (Achtung: hier!) an die frühe Lektüre, die nach wie vor aktuell ist: Ernö Lendvai

 

Quelle Ernö Lendvai: Einführung in die Formen- und Harmonienwelt Bartóks, in: Béla Bartók Weg und Werk / Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle Kassel etc. 1972 (Corvina Verlag Budapest 1957)

Weitere sehr gute Interpretation mit Barnabás Kelemen hier (ohne Film)

(zum Nacharbeiten)

NEU

hier oder bei Tacet

Die CD und der Text Brückenbau am Rande der Katastrophe Ein Essay von Jan Reichow

Italian Institute Budapest 24.-30.Juni 2019 Fotos: László Emmer, László Mudra, Andrea Felvégi / Produktion © 2023 TACET Aufnahme und Produktion: Andreas Spreer

Übersetzungsfehler

Was hat Eva dem Adam verabreicht?

Kürzlich, in einer der gängigen Fernsehquizshows , wurde den staunenden Ratern eröffnet, es war kein Apfel, auch keine Birne oder dergleichen, sondern laut originalem Text eine exotische Frucht, und der Übersetzer habe der besseren Verständlichkeit wegen stattdessen den in unseren Breiten gemeinen Apfel eingesetzt. Aber stimmt das auch? Man kann sich bei Wikipedia auf den rechten Weg bringen lassen (landet damit fast beim hebräischen Urtext, der mir weiterhin verschlossen bleiben mag), also etwa hier. Aber ich berufe mich auf diese Quizfrage nur, um auf ein Musikbuch zu kommen, das von vielfältigem Wissen überquillt und solche Fragen im Vorübergehen löst, so auch die, was im Englischen der Ausdruck „Artificial Intelligence“ wirklich bedeutet. Ich jedenfalls bin ganz naiv darauf hereingefallen und in großer Sorge gewesen, ob an dieser Stelle nicht die wahren Werte unserer Geistesgeschichte verteidigt werden müssten, na ja, wer weiß, – ob es nicht auch meinerseits nur ein Spiel war: hier und hier. Ich habe doch meinen Bach, unbeirrbar. Und nicht zu vergessen: Vilayat Khan, so ein Art von Genie kommt in dem ganzen Überblick nicht vor.

Jetzt lese ich jedenfalls in dem klugen Buch von Claus-Steffen Mahnkopf, wie einfach sich solche Missverständnisse auflösen lassen. Ich zitiere ihn in blauer Farbe:

Eva pflückte bekanntlich vom Baum der Erkenntnis einen Apfel. Im hebräischen Original gibt es jedoch keinen Apfel, aber in der lateinischen Übersetzung ein malum, das, je nachdem, ob das a gedehnt wird ‹Apfel› oder ‹das Böse› heißen kann. Eva nascht am Bösen, aber in der europäischen Kunstgeschichte wurde daraus ein Apfel. Ähnlich heute. Im Englischen gibt es »Artificial Intelligence«, »Intelligence« heißt Daten- und Informationsverarbeitung, und zwar künstlich, also mit Maschinen. Künstliche Datenverarbeitung wird in Deutschland übersetzt mit ›Künstliche Intelligenz‹, eine Formulierung, die so falsch ist, wie sie nicht mehr korrigiert werden kann. Sie ist ein Mem geworden, allerdings eines falschen Denkansatzes. Sie suggeriert, dass Computer und ihre Programme intelligent seien, so wie wir es intelligenten Zeitgenossen nachsagen. Daraus hat sich eine Großideologie gebildet.

Quelle Claus-Steffen Mahnkopf: Die Kunst des Komponierens / Wie Musik entsteht / Verlag Philipp Reclam jun. Ditzingen 2022 (Seite 124 f)

Die transhumanistischen Theorien von der bald bevorstehenden Macht der Algorithmen, die ›intelligenter‹ sein werden, als der Mensch es realiter ist, stammen durch die Bank von technikaffinen Männern, die ihre Allmachtsphantasien auf solche Geräte projizieren und dabei außer kaum belegbaren Behauptungen wenig Substantielles beitragen. Weder überprüfen und klären sie die Grundbegriffe des Denkens, des Lebens, des Verstehens, des Rechnens, des Bewusstseins, des Selbstbewusstseins, der Kreativität, ja des Algorithmus selbst, noch liefern sie uns die Beweise für ihre kühnen Thesen. Wenn Yuval Noah Harari, seines Zeichens Militärhistoriker, zu Zwecken von Bestsellern sich zum Universaldenker aufschwingt und erklärt, wir Menschen seien Algorithmen, und zwar veraltete, dann fragt man sich, welcher veraltete Algorithmus das Harari eingeflüstert hat. Was er über den Zusammenhang von sogenannter Künstlicher Intelligenz und Musik schreibt, bewegt sich, mit Verlaub, unterhalb des Gymnasialniveaus. Er behauptet, dass heute schon Computer Mozart-Symphonien oder Bach-Fugen komponieren können. Noch einmal: Sie können es nicht. Die wenigen Computerkomponierhilfsprogramme erleichtern lediglich Rechnungen wie Proportionen, Transpositionen oder Ähnliches. (…)

Auch unter selbsternannten Musikphilosophen wird eine Revolution durch die Digitalisierung ausgerufen. Sie wollen die Ersten sein, die eine neue Epoche heraufziehen sehen. Doch das geschieht seit bald 100 Jahren immer wieder, und es ist jedes Mal anders gekommen. Zukunftswissenschaft ist streng genommen ein Widerspruch in sich. Hegel wusste, warum er die Eule der Minerva erst mit der Abenddämmerung ihre Kreise ziehen ließ.

Ich weiß, wovon die Rede ist: vor über 10 Jahren hat es doch diesen Disput gegeben um das Buch von Harry Lehmann – „Die digitale Revolution der Musik“ -, ich habe es nicht lange in Betracht gezogen, weil es eine Zukunft entwirft, ohne einen Gedanken an andere Musikkulturen der Welt zu verschwenden. Da fällt mir ein, – wie steht es denn darum hier bei Mahnkopf? Er berichtet, wie er als Komponist in Shanghai gearbeitet hat: mit „rein chinesischen Instrumenten“ (Seite 165), aber die rein chinesische Musik, die damit gemacht werden könnte, interessiert ihn nicht, nur das ganz, ganz andere Klangwerkzeug. Sicher, er arbeitet dort als westlicher Komponist… Aber er kann doch (noch ein wenig weiter) über den Tellerrand gucken!

Kurze Zeit später scheint er es zu tun, er spricht von „klassischer südindischer Musik“ – die gibt es also, man nennt sie auch karnatische Musik, füge ich hinzu, weithin gerühmte Komponisten, ja, sie verstanden etwas von der Kunst des Komponierens, von der Kunst einen bloßen Raga in die Form einer Krti zu verwandeln. Aber was erzählt uns dazu der westliche Avantgardist? Null. Nichts. Hätte er nicht wenigstes sagen können, dass man in solch einem riesigen Land herumreisen kann, gewaltige kulturgetränkte Städte erkunden, – und nirgendwo kennt man den Namen Beethoven. Zu seiner Zeit haben sie einst die Violine von den englischen Militärmusikern übernommen, ja, sagten sie, aber wir können sie wirklich spielen, wir begleiten unsere Sänger:innen bei ihren Krtis damit! Und nun Mahnkopf:

Bei Sängern klassischer südindischer Musik beispielsweise sitzt der Kehlkopf höher als bei westlichen, so dass sie das Vibrato in Geschwindigkiet und Amplitude – auch getrennt voneinander – regeln können. Gerade dieser doppelte Zugriff auf das Vibrato (bei Streichern ganz üblich) wird in der zeitgenössischen Musik erwünscht. Freilich fehlen in der westlichen Welt jene anatomischen Voraussetzungen: Der Kehlkopf ist, wo er ist. Geiger können zwischen einem modernen und einem barocken Instrument wechseln, der Sänger jedoch bleibt, weil er selbst das Instrument ist, ein Individuum.

(Zitat a.a.O. Seiter 167) Klingt klar und deutlich. Schleierhaft dagegen bleibt, wieviel Unsinn man auf engem Raum zusammendrängen kann, wenn ein einziges Mal wirklich von „klassischer südindischer Musik“ die Rede sein soll! Wo tatsächlich im Gesang überhaupt nicht vibriert wird. Es gibt unendlich feine und flinke Ornamentationen, aber kein Dauervibrato, und soweit ich weiß, sind die Kehlen dort nicht anders gebaut, sondern nur anders ausgebildet. (Dürfte man eigentlich so genderfrei von anatomischen Details berichten, die den männlichen Kehlköpfen fremder Völker eigen sind? Was gäbe es da erst über die Khöömi-Sänger in Tuva  zu mutmaßen.)

Ich weiß nicht, was man zu solchem Gerüchtegebräu sagen soll, wenn sich schon ein Yuval Noah Harari  angeblich manchmal „unterhalb des Gymnasialniveaus“ bewegt (a.a.O. Seite 125). Vielleicht habe ich  ihn überschätzt? Damals habe ich ihn jedenfalls ganz anders gelesen, aber mir ist gewiss auch manches, was mich damals beschäftigt hat, längst wieder fremd geworden (siehe u.a. hier).

Ich würde einen wichtigen Punkt verhehlen, wenn ich nicht auch erwähnen würde, dass mir das Lesen viel Vergnügen und Anregung bereitet hat. Ich bewundere Claus-Steffen Mahnkopf seit seinem großen Tristan-Buch, und auch jetzt wieder beeindruckt er mich mit seiner Stofffülle und der Vielfalt der (westlichen) Aspekte. Zugegeben: selbst im noch recht nahen 20. Jahrhundert wird er mir oft zu anekdotisch-zufällig. Beispiel: wenn es um die „Öffnung immer weiterer Kulturkreise durch die Globalisierung“  geht, Seite 180, liefert er eine absurde private Meinung aus Litauen, und sie wird nicht diskutabler, wenn der, der sie äußert, sich Komponist nennt. Da könnte ich auch die ästhetischen Ansichten meines Opas anführen, der aus dem Ersten Weltkrieg erzählte, wo auch manchmal gesungen wurde. Was da fehlt, das fehlt mir überhaupt oft im Weltbild der Avantgarde: die „Welt“ ist nur da, wo auch in Neue Musik westlicher Prägung investiert wird. Und auch die Geschichte ist uns nur dort nah, wo sie uns greifbar in schriftlichen Dokumenten vorliegt. Die klassischen südindischen Kompositionen wurden zum ersten Mal notiert von Josef Kuckertz, aber man muss sie trotzdem in voller Länge im Original hören (HÖREN!), sonst hat man nichts davon. Ja, und dazu noch etwas „Theorie“ lernen, aber die indische …

Warum muss man Hildegard von Bingen erwähnenswert finden, nicht aber Tyagaraja, Muttusvami Dikshitar und Syama Shastri, die großen Zeitgenossen von Mozart, Beethoven, Schubert? – Ja, ich weiß warum, aber lassen wir es damit bewenden…

Etwas hat mich nachhaltig an dem Buch fasziniert: die Wendung, die da ein zeitgenössischer Komponist nimmt, um einen richtig alten, traditionellen Wert zu positionieren: SINN.

Natürlich lassen sich Klangdesigns errechnen, so wie Bildsequenzen. Aber es sind akustische Kaleidoskope, ohne jeden musikalischen Sinn. Rohmaterial vielleicht, Klänge, aber keine Musik. Computer verarbeiten mathematische Fakten, nicht Sinn. Musik gehört aber zum Reich des Sinns. Natürlich können Computer Töne aneinanderreihen, wie sie das auch mit Bildern, Filmsequenzen und Wörtern vermögen. Aber das war es dann auch schon. Denn Texte, Musikstücke, Bilderfolgen und Filme brauchen einen sinnvollen Zusammenhang; sofern Kunstanspruch dabei ist, erst recht. Sinn, der Verweisungszusammenhang von Lebendigem, ist aber eine Dimension, die einem Computer prinzipiell unzugänglich ist, da dieser nicht lebt.

(Zitat Mahnkopf a.a.O. Seite 126 f)

Ich bin (als lebendiger Mensch) sehr zufrieden!

Zum Buch: HIER

P.S. Eine private Geschichte von anekdotischer Evidenz

Ich beziehe mich auf die Aufführungssituation bei Kagels Match (1964), von der Mahnkopf auf Seite 186 erzählt. Ich war dabei. Bei den Proben im Kölner Funkhaus, der Aufführung und der Nachfeier mit Siegfried Palm im Ristorante „Alfredo“. Gerade wurde ich wieder drastisch daran erinnert: der Percussionist der damaligen Szene starb am 19. Februar dieses Jahres: Christoph Caskel, er war in derselben Stadt wie ich geboren (Greifswald), sein Vater war ein bekannter Orientalist.

Siegfried Palm, der agile Cellist und erfinderische Pionier ausgefuchster Streichertechniken für die Neue Musik, hatte uns hier Zugang verschafft (Lehrer der Cellistin Edith Frieser und unser gemeinsamer Kammermusiklehrer). Sein – in unseren Augen – wesentlich jüngerer Kollege Klaus Storck war neu in der „Branche“, ziemlich bekannt in der Alte-Musik-Szene (man munkelte, er wollte dies Image loswerden), gab sich redlich Mühe, den Kagel-Spaß über die Bühne zu bringen. Für uns sehr interessant, aber auch nicht ganz neu, damals erlebte man allenthalben auf Podien der Neuen Musik sogenannte Happenings. Bei Kagel faszinierte die bis in jede Geste festgelegte und festlegende Notation, zudem die irgendwie auch lebendigen Klanggestalten.

Was ich eigentlich erzählen wollte: als ich 20 Jahre später – auf anderen Wegen – im WDR unterwegs und in vielen Sendungen die Genres der Musik, die ich kennengelernt hatte, zu verbinden suchte, und zwar in einer Nachmittagssendung, in der man den zuhörenden Menschen nicht alles, aber doch einiges an Fremdheit zumuten konnte, ein Übungsplatz namens Musikpassagen, da kam ich auf die Idee, Kagels „Match“, das ich einst so lebhaft erfahren hatte, aus dem Archiv zu holen, zumindest in Ausschnitten vorzuspielen und zugleich etwas von der Geschichte zu rekapitulieren. Es gelang mir nicht. Ich hörte es zum erstenmal seit damals in meinem Büro ab, an einer der großen fahrbaren Maschinen, auf der Suche nach einem attraktiven Ausschnitt. Und fand nichts, was ich rein „akustisch“, ohne die Bühnen-Atmosphäre von einst, einem (hoffentlich) neugierigen (Klassik-)Publikum auf WDR 3 vorsetzen mochte. Und hatte nicht den Mut, das zu sagen, und gleichzeitig an anderer Stelle in freundlich werbendem Tonfall auf Einzelheiten indischer oder persischer Musik einzugehen, als sei „fremd“ und „fremd“ das gleiche… Zugleich schämte ich mich für mangelnde Einsatzbereitschaft.

Nebenbei: was ist eigentlich von Mauricio Kagel geblieben? Habe ich jemals noch von einem Kammermusikprogramm gehört, in dem „Match“ enthalten war? War es etwa an diese drei miteinander kontrastierenden und damals auch prominenten Personen auf der Bühne gebunden?

Am liebsten würde ich noch einmal auf das Problem der Übersetzungsfehler zurückkommen.

Quartett als Duo

Geht nicht. Oder doch?

Hören Sie die Musik über YouTube, – kehren Sie hierher zurück und versuchen Sie synchron die Noten im Duo-Text mitzulesen: 1 Kadenztakt vorweg (fehlt im Duo), ab 2:08 Wiederholung der Exposition, also wieder zurück an den Anfang der Notenseite:

(Quelle: hier)

Die Duo-Noten stammen so nicht von Haydn, entsprechen aber (reduziert) ziemlich genau dem Ablauf des originalen Quartett-Satzes, von dem hier noch vier weitere Seiten wiedergegeben sein sollen, incl. der Doppelstrichseite, von der aus wieder der Sprung zurück an den Anfang erfolgt:

Des Rätsels Lösung (Zitat Nachwort der Duo-Edition):

Die vorliegende Sammlung ist eine Bearbeitung für zwei Violinen von Werken Joseph Haydns. Der Verfasser war ein Zeitgenosse Haydns, Näheres ist jedoch nicht bekannt.

Die Sammlung wurde zunächst bei dem Wiener Verleger Giovanni Cappi herausgegeben, kurz danach erschien sie bei Bernard Viguerie in Paris. Der Verlagszeichnisnummer Vigueries nach war dies im Jahre 1798.

Alle Sätze sind Kombinationen von verschiedenen Sätzen aus Streichquartetten, Symphonien und Klaviertrios.

(Offenburg 2004 / Mihoko Kimura)

(JR) Die Kombinationen erscheinen uns heute reichlich unbekümmert, wenn etwa der erste Satz aus einem Klaviertrio stammt, der zweite und dritte Satz aber aus der Sinfonie mit dem Paukenschlag. Andererseits ist es ein interessantes Dokument der (suggerierten) Praxis: wie nämlich die Musikliebhaber der Zeit mit den beliebten Originalen umgehen. Eine Potpourri-Technik, – wobei aber die „Ganzheit“ der ursprünglichen Sätze weitgehend gewahrt bleibt (nicht die der Werke). Erwähnenswert, dass z.B. das Rondo von Duo I eine Transposition des berühmten „all’ongarese“ aus dem Klaviertrio G-dur nach F-dur darstellt. – Ob insgesamt der Verkaufstitel im Jahre 1798 korrekt ist oder einen Raubdruck verschleiert, wage ich nicht zu entscheiden.

Natürlich gibt es großformatige Duos zwei Violinen „sui generis“ (für Violine und Cello sowieso – Kodaly! -, Violine und Bratsche sowieso – Mozart!), etwa von Spohr oder gar Ysaÿe, aber es ist nicht befriedigend, wenn man sie unterhalb eines virtuosen Niveaus zu bewältigen sucht (Intonation!). In diesem besonderen Fall ist es aber reizvoll, die Haydn-Quartett-Sätze im Ohr zu haben – also Musik in ihrer anspruchsvollsten Form -, aber nun in ihrer reduzierten Version zu realisieren,  ohne dass die formalen Blöcke verkindlicht erscheinen. Man spürt: „da fehlt was“ , aber trotzdem ist es kein „best of“, keine Sammlung „schöner Stellen“, – man ahnt den „Zugzwang“ der großen Form und ist glücklich trotz des defizienten Wahrnehmungswinkels. Es ist nur eine Ohren-Übung, fühlt sich aber an wie der (musikalische) Ernst des Lebens. Mehr davon!

Ich denke mit Sympathie an die Laienmusiker:innen jener Zeit, die noch keine Kassettenrecorder und keine Handys kannte. Und mit Trauer an Kinderzimmer unserer Zeit, in denen das Handy als wichtigstes und allgegenwärtiges Spielzeug  bereitliegt. Jämmerliche Ersatztätigkeit der Finger, die dazu da sind, reale Welt zu be-greifen..

Edition Offenburg als Beispiel.

Mehr von Busoni, bitte!

(also sprach:) Meine innere Stimme (5.2.23)

Voraussetzungslos (nur hören!), Bild nach Beginn wegschalten. Nur Musik: Sarabande etc :

und … ein weiteres Mal (ernsthaft) hören, nichts unbeachtet lassen…

Der Pianist:

Content:

Ferruccio Busoni, piano LP, International Piano Archives, IPA 104, 1976 Rec. February 27, 1922, London studios of British Columbia Records

00:00 Bach: Prelude & Fugue in C major, WTC, Book 1 04:00 Bach-Busoni: Organ Prelude „Rejoice, Beloved Christians“ 05:51 Beethoven-Busoni: Ecossaises 07:53 Chopin: Prelude in A major, Op. 28 No. 7 — Etude in G-flat major, Op. 10 No. 5 10:44 Chopin: Etude in E minor, Op. 25 No. 5 14:08 Chopin: Etude in G-flat major, Op. 10 No. 5 (alternate version) 16:01 Chopin: Nocturne in F-sharp major, Op. 15 No. 2 19:41 Liszt: Hungarian Rhapsody No. 13 (abbreviated)

Lesen:

Frank Hentschel über Busoni und seine „Faust-Oper“: HIER.

Abstract:

Before its completion, Busoni once referred to one of his operas he was then composing, either Arlecchino or Doktor Faust, as an „opera (that won’t be an opera).“ The article takes this phrase as a point of departure to gain insight into some of the aesthetic and poetic features of Doktor Faust. Rather than focusing on the history or theory of genre, attention is given to Busoni ’s idea of opera, his dramaturgical intentions, his relationship to expressionism, and his use of independent forms.

Insbesondere zu beachten: 3. Keine Erotik S.314

,,Ein Liebesduett auf offener Bühne“ nannte Busoni „völlig falsch und verlogen und überdies lächerlich“. Er veranschaulichte dies durch die Absurdität von Bühnenkonstellationen, wie man sie durchaus kennt: ,,Nichts Schlimmeres zu sehen und zu hören als ein kleiner Mann und eine große Dame, die einander in Melodien anschwärmen und sich die Hände halten“. Aber hinter Busonis erregtem Wortschwall verbarg sich mehr: Er nannte das Liebesduett auch „schamlos“ (MO, 22), und darin dürfte der eigentliche Schlüssel zu Busonis Problem mit dem Liebesduett liegen. Jemand, der in der Oper überall das Wunderbare, Unwahrscheinliche suchte und der den Verismus ablehnte, konnte das Liebesduett nicht ernsthaft deswegen zurückweisen, weil es unwahr sei. Doch Busoni ging es eben um diesen anderen Aspekt – den der Schamlosigkeit. ,,Erotik“ sei „kein Vorwurf für die Kunst, sondern eine Angelegenheit des Lebens“, erklärte er daher auch und nannte die Situation eines Publikums, das einem Liebesduett zuhört, ,,peinlich“. Die Alten hätten
demgegenüber noch Geschmack besessen (MO, 23).

Wohlgemerkt: „eine Angelegenheit des Lebens“.

Kurz-Exkurs zur Schamlosigkeit: (folgt)  (JK Otello im Beifall Baden-Baden)

Zum Studium der Partitur

Musikalische Handwerkskunst

Peter Lamprecht ist ein Phänomen

Diese CD-Box mit allen Bach-Suiten

Man muss es genau lesen und verstehen: Nicht nur die Bach-Suiten, dieses zentrale Werk aller Cellisten in der Welt, wurden hier solistisch (Bass-Instrument ohne Begleitung) und in eigener Regie eingespielt, was ja bei Künstlern durchaus erwartet wird, aber auch die Instrumente wurden vom Interpreten selbst geschaffen, eine handwerkliche Meisterleistung: das Cello und die Viola da Gamba ganz und gar, das historische fünfsaitige Cello aus Ungarn (Suite VI) perfekt restauriert. Nicht genug: Die Tonaufnahmen wurden mit eigener Technik erstellt, realisiert und geschnitten, eine unglaubliche Arbeit (Toningenieur und Tonmeister in einer Person!), und schließlich auch noch Booklet und Box (letztere – zugegeben – als Fertigteil), die drei CDs umfasst.

Es ist kaum zu begreifen, wieviele verschiedene Begabungen hier ineinandergreifen und funktionieren müssen. Und am Ende ist es Musik, ein Dokument ganz großer Musik – von Johann Sebastian Bach.

Viele Jahre lang, als Peter Lamprecht noch Solocellist der Bergischen Symphoniker in Solingen war, sind wir hier mit barocken Programmen gemeinsam aufgetreten, ehe wir feststellten, dass wir praktisch am selben Tage des Jahres 1967 in der Kölner Musikhochschule Reifeprüfung gemacht haben. Während des Studiums sind wir uns – obwohl gleichaltrig – seltsamerweise nicht begegnet. Unter seinen Begabungen, die in den Jahren der Solinger Praxis hervortraten, ist eine noch nicht genannt: die pädagogische. Sein Sohn Christoph ist dank solider Ausbildung (zuhaus) ebenfalls ein renommierter Cellist und Kammermusiker geworden (hier).

Besonderen Dank schulde ich Peter Lamprecht, weil er meine kostbare afghanische Laute RUBAB, die vor ein paar Jahren durch einen Sturz vom Wohnzimmerschrank lädiert war, mit größter Sorgfalt restauriert hat: nun ruht sie dort auf dem schwarzen Eichenbrett, und kein Tag vergeht, an dem ich dort vorbeigehe, ohne dass ich an den Spieler des Instrumentes 1974 in Kabul  zurückdenke, Ustad Mohammad Omar, und zugleich an den liebevollen Rubab-Restaurator in Solingen, Peter Lamprecht.

Mohammad Omar 1974 (Foto JR)

Und da die heutige Präsenz des Internets es erlaubt, in jene Zeit zurückzukehren und dies gar im Zeichen des alten afghanischen Instrumentes, das nun wiederum mich und den außergewöhnlich vielseitigen Solinger Künstler auf besondere Weise verbindet, uns beide aber, ob wir es wissen oder nicht, auch mit jenem bedeutenden Musiker, den ich damals im fernen Kabul kennenlernen, hören und aufnehmen durfte: nicht ahnend, dass eine solche Zeit der freien Musik dort nie mehr wiederkehren würde… darum steht jener am Ende dieses Artikels – zu Ehren eines Solinger Interpreten.

Vom Portamento

Wie gebräuchlich war früher die gleitende Verbindung zwischen den Tönen?

Anstelle eines Kommentars gebe ich nur Stichworte zu den Originaltexten. Im folgenden zu beachten die Namen: Baillot, Spohr.

Quelle MGG Musik in Geschichte und Gegenwart Kassel 1998 Sachteil Band 9 Violine Sp 1642

Der nächste Text bezieht sich auf Baillot (darin erwähnt: Spohr). Genau ansehen: die Fingersätze, insbesondere zu Mozart (das andere ist eine nützliche Etüde): am Anfang des Klarinetten-Quintetts KV 581, – der allerdings eigentlich der Klarinette zugedacht ist: der dritte und der vierte Melodieton würde, auf der Geige mit dem 3. Finger gespielt, einen Rutscher ergeben, den man heute unbedingt vermeiden würde. Egal, wie dezent oder lässig man ihn gestalten kann.

Lässiges Portamento, aber Bilder wie

aus einer Zwangsanstalt?

Quelle Marianne Rônez: Pierre Baillot, ein Geiger an der Schwelle zum 19. Jahrhundert. Ein Vergleich seiner Violinschulen von 1803 und 1835 / pdf hier

„… während das Hineingleiten in Töne in romanischer und slawischer Musik häufiger Anwendung finden kann, ja, zur stilvollen Darstellung dieser Musik gehört.“

Quelle Hans Diestel: Violintechnik und Geigenbau / Die Violintechnik auf natürlicher Grundlage nebst den Problemen des Geigenbaues / Kahnt Leipzig 1912, ²1919

Über Spohr und in der Folge Ferdinand David und Joseph Joachim…, aber nicht etwa „jüdische Einflüsse…“ (1948), über die Nachahmung der Sänger und über deren Portamento…

Quelle Arthur Jahn: Methodik des Violinspiels / Breitkopf & Haertel Leipzig 1948

Auers Empfehlung, eine Passage mit Portamento zu singen, um zu entscheiden, ob es gerechtfertigt ist oder nicht. Die abschließende Anekdote hat eigentlich wenig mit dem Thema zu tun („the spicing of the tone they produce with vibrato, portamento and other similar devices“).

Quelle Leopold Auer: Violin Playing As I Teach It / Dover Publications New York (1921) 1980

Violin-Transkription der Sarabande aus Bachs Suite für Cello Nr.V (Fingersatz!)

Bach – „con dolore“

Joseph Ebner 1913

Ich habe keine Cello-Version gefunden, die so klingt, wie diese Violin-Transkription – dem Fingersatz nach – empfunden sein müsste. Die heutigen Cellisten – schon seit Pablo Casals – halten sich sehr zurück, niemand romantisiert ein derart verinnerlichtes Stück. Es gehört zum Allerheiligsten. – Die Geiger aber lassen sich am ehesten im Ausdruck zügeln durch die Akkorde, mit denen Bach seibst seine Solissimo-Adagios einhüllt. Und dementsprechend sieht dann auch die (von Bach) harmonisierte Cello-Sarabande der Suite VI in der Violin-Version ganz anders aus, sparsamster Lagenwechsel ist durch die Akkorde vorgegeben:

Und ausgerechnet dazu gibt es eine historische Aufnahme des Cellisten Julius Klengel, in der er sich allein auf die Melodie konzentriert, die er mit zahlreichen Portamenti anreichert, während er die (leicht abgewandelten) Harmonien einem Klavier anvertraut. Vermutlich in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts.

Die Geiger sind allerdings nicht pauschal entlastet, im Gegenteil:  ich erinnere an die unsägliche Fassung des Air aus der Bach-Suite D-dur von August Wilhelmj: die ganze Melodie auf der G-Saite. Statt vieler Worte folgt gleich der Verweis auf die entsprechende Website: hier. (Oder ist dies die Originalversion des Artikels? Hier). Im Link vorher zu beachten: Wilhelmj wurde 1875 von Wagner, der ihn bewunderte, als Konzertmeister ans Bayreuther Festspielhaus berufen!

Váša Příhoda Wikipedia hier

Fritz Kreisler, siehe auch Chopins Nocturne in Es-dur hier, sowie anschließend Sarasates Malaguena—

Was mich jedoch am meisten erstaunte, war die Wiederkehr (?) und systematische, „chorische“ Anwendung des Portamentos der Streicher im Orchester unter Mengelberg. (Der Zufallseffekt bei Richard Strauss war mir als Negativum in Erinnerung: eine Stelle am Anfang der Mozart G-moll-Sinfonie Takt 12 in den Tönen a“-c“‘-fis“-a“ , nämlich von c“‘ abwärts nach fis“). Übrigens realisierte es ausschließlich in Aufnahmen mit dem Orchestre Concertgebouw Amsterdam, es war sorgfältig einstudiert.

Dazu Kommentar in „Mahler-Dokumente“ (folgt noch!)

Und zum Abschluss etwas ganz Anderes, – von allen guten Geistern verlassen… oder… besessen?

(Zur Sicherheit – ein „Original“: Hier (https://www.youtube.com/watch?v=BB-cpNtbVuo)

Noch ein schönes Gitarren-Beispiel: „Slide“ (Dank an C.A.)

Zugabe (Klassik):

Urtext mit geheimen Zeichen?

Wie der Praktiker zur wissenschaftlichen Arbeit kommt

Für angehende Musiker[innen] gehört es schon früh zu den selbstverständlichen Fragen, ob die in den Noten – als Achtel, Viertel oder wie auch immer – scheinbar eindeutig dargestellten Töne kurz oder lang, markiert oder leichtfüßig wiederzugeben sind. Alles, was nicht ausdrücklich in den Noten steht – und das ist viel -, kann zu einem Problem werden. Viele Details, die den Vortrag betreffen, werden im lebendigen Unterricht vermittelt, manches, was um 1800 selbstverständlich war, gerät in einer anderen Epoche in Vergessenheit. Es muss gesagt und vorgemacht werden, es kommt nicht von selbst. Auch neue, groteske Missdeutungen werden regelrecht eingeübt. Ich nenne nur ein Beispiel: im Laufe des 19. Jahrhundert wurde es selbstverständlich, dass ein guter Musiker über den Taktstrich hinwegdenkt, dass er eine Melodielinie partout über mehrere Takte hinwegspannt. Dies nicht zu tun, war geradezu ein Zeichen für unmusikalisches Verhalten. In meiner Lernzeit (50er Jahre) gab es dementsprechend die geigerische Manie, den Schluss eines Taktes immer zu crescendieren und in die Eins des nächsten Taktes hinüberzuziehen. Ein Markenzeichen dieser nicht abbrechenden Intensität war auch das Dauervibrato, das man zur Schau trug, als dürfe es keine entspannteren Phasen geben.

Insofern musste erst wieder gelernt werden, dass vieles z.B. in der Barockmusik ganz anders zu handhaben ist; dass es einen rastlos wandernden Bass gab, dass andererseits die Tanzmusik bestimmte Betonungen – auch taktweise – vorgab und die Musik trotzdem nicht langweilig wird, sondern gerade dadurch erst ihren hinreißenden Drive bekommt.

Heute wundert sich kein musikalischer Mensch mehr, dass über solche Fragen der Artikulation, Betonung und Phrasierung endlos gestritten werden kann. Dass es – auch nach jahrzehntelanger bewährter Orchesterpraxis – niemals überflüssig wird, nachzufragen, wie genialische Menschen denn wohl selbst ihre Werke einem Publikum dargeboten oder mit Schülern ausgearbeitet haben. Und was sie dabei in die Noten eintrugen, um ja nicht missverstanden zu werden. Jeder Hinweis wäre nützlich. Ich erinnere nur an den Vortrag der Mazurken von Chopin: wie nah oder wie fern stehen sie noch der Praxis der polnischen Volksmusik? – oder dem, was der Komponist selbst als „Nationalcharakter“ empfand, aber schon als hauptstädtische Modifikation betrachtet werden könnte (siehe hier).

Ich hatte mich in den 60er Jahren relativ früh mit „Aufführungspraxis“ beschäftigt, dank meinem Lehrer Franzjosef Maier, erst recht seit er uns im Kurs für Alte Musik Köln Georg Muffats Vorrede zum „Florilegium secundum“ studieren ließ (die wohl auch für ihn neu war) und wie man mit solchem Rüstzeug nicht nur „Terpsichore“ von Praetorius adäquat erarbeiten konnte, sondern entsprechend auch die genuin französische Musik: Suiten von Lully, Rameau oder Campra. Damals eine neue Welt! (Maiers Name fehlt übrigens in den Annalen der Stadt Köln, siehe hier ab Seite 6, Dr. Alfred Krings war die treibende Kraft.)

Die praktizierenden Musiker begannen erfolgreich ins Gehege der Musikwissenschaft einzudringen und machten ungeahnte klangliche Entdeckungen. August Wenzinger, Fritz Neumeyer, Gustav Leonhardt, Nikolaus Harnoncourt und viele andere. Concentus musicus Wien, Cappella Coloniensis, Collegium Aureum, La Petite Bande. Am Anfang ahnte niemand, dass eine musikalische Revolution bevorstand. Für mich war es eine Offenbarung, als ich im Musikhaus Tonger zufällig diese Abhandlung entdeckt hatte und all die Zeichen zu hinterfragen begann, die mir eigentlich aus der Violinschule von Leopold Mozart schon seit den 50er Jahren (Musikbücherei Bielefeld) vertraut sein mussten. Aber der Fall liegt so: man kennt es in der Schriftlichkeit, als archaisches Faktum, aber man realisiert es nicht, die Bedeutung erreicht uns erst auf einer ganz anderen Ebene.

Bielefeld 50er Jahre

Neu war in den 60er Jahren, dass die Zeichen uns auf den Leib rückten, wir schafften uns auch das Material an, die Bögen, um die gemeinten Stricharten auch „taktil“ zu erleben. Wir versuchten es zumindest. Wie geht ein Springbogen, ein Spiccato, mit solchen Bögen?

Entwicklung des Bogens (nach David D. Boyden 1971)

Soviel – so knapp wie möglich – zu meiner Vorgeschichte des (Kennen-)Lernprozesses der „Aufführungspraxis“ oder der „historisch informierten Spielweise Alter Musik“ oder wie auch immer Sie es nennen wollen, wobei die Spannweite der Impulse, die von der „Alten Musik“ ausgingen, sich kontinuierlich über Klassik, Romantik in Richtung Moderne erweiterte, wo wir mit Leibowitz, Kolisch, Adorno zugleich wieder bei Beethoven gelandet sind… Man lese nur Thomas Seedorf über die Erweiterung des Repertoires hier. Ein Zwischenstopp bei Ravel, dessen Bolero hier nicht als Beitrag zur Geschichte der Aufführungspraxis gedacht ist: eine Melodie-, Harmonie-, Monotonie- und Instrumentationslehre ohnegleichen…

Ist es ein Wunder, dass auch heute noch ein Buch mit neuen Erkenntnissen zu Beethovens Aufführungspraxis uns in Aufregung versetzen kann? Nein, es ist kein Wunder, zumal es von diesem Dirigenten stammt, einem Mann der Praxis: Uroš Lajovic, aus der Schule der Praktiker Bruno Maderna und Hans Swarowsky. Und mit besonderer Sympathie habe ich unter dem beflügelnden Vorwort des Buches den Namen eines ehemaligen WDR-Kollegen gelesen, – mit dem entsprechenden berufsbezogenen Zusatz: Michael Schwalb, Cellist und Musikjournalist.

(Fortsetzung folgt)

Beethoven-Link betr. Punkt und Keil hier , siehe Schwalb Seite 10

(Fortsetzung oder Ergänzung folgt)

Was uns die Fuge sagen soll?

Auch wenn sie nur eine Technik ist…

… dann heißt das doch noch lange nicht, dass wir nur dies zu konstatieren haben. Eine Kathedrale bauen zu können, ist zunächst mal eine Sache der Technik, noch früher allerdings muss da der Wille vorhanden sein, sich einer solchen Technik zu bedienen, ja, sie zu imaginieren, zu entwickeln und einen Bau zu errichten, der nicht nur dumm im Raume steht. Insofern darf man ungeniert weiterfragen, wenn uns jemand mitteilt:

Fugales, kontrapunktisches Denken und Komponieren ist die Königsdisziplin der europäischen Musik, seit diese um 1200 aus dem Schatten der nur mündlichen Überlieferung in die Schriftlichkeit der Mensural-Notation heraustrat.

Man kann sofort entgegnen: warum tat sie es denn? Oder soll man lieber abwarten, was denn daraus wurde, als sie aus dem Schatten herausgetreten war, – der Grund dafür, oder die Gründe müssen doch virulent geblieben sein.

Die Technik besteht im Wesentlichen darin, durch Imitation der Intervalle und Rhythmen einer zuerst eintretenden Stimme – Dux genannt – seitens des ihm nachfolgenden Comes eine sinnfällige Verknüpfung herzustellen.

Im Laufe der Jahrhunderte entdeckte und sammelte das komponierende Kollektiv eine derartige Menge von kombinatorischen Kunstgriffen, vom einfachen Kanon auf gleicher Tonhöhe bis hin zu Umkehrungen, Spiegelungen und extremen Vergößerungen und Stauchungen, die selten, aber nie auf Anhieb als solche zu hören sind, aber bis zum Ende der Barockzeit den Beweis für die wundervolle hermetische Durchstrukturierung selbst des Tonraums durch die ordnende Hand Gottes lieferten.

Der Grund kam schneller als ich dachte: die ordnende Hand Gottes selbst im Tonraum (dem flüchtigen, ungreifbaren) zu beweisen.

(Achtung: winzige Abweichungen vom Originaltext im folgenden Zitatabschnitt).

Mit Bezeichnungen wie „Kirchenstil“, Prima Prattica und stile antico differenzierte man diese kunstvolle Kompositionsweise von dem um 1600 erfundenen und in die Schriftlichkeit drängenden, am Volkslied orientierten madrigalesken Stil sowie auch von der Affekt- und Seelenmusik der seconda prattica.

Aber natürlich vermischten und durchdrangen sich die verschiedenen Kompositionsweisen sofort: der stile antico wurde in jeder folgenden Stil-Periode aufgehübscht und den Erfordernissen einer zumindest gewissen Modernität angepasst, während der Affektmusik und dem einfachen Volkslied mittels fugaler Techniken eine Art Standeserhöhung zukam.

Nötigten im Verlauf des Spätbarock Practica wie die Artifici Musicali des G. B. Vitali, das Musicalische Kunstbuch von Johann Theile, sowie Musicalisches Opfer sowie Kunst der Fuge von J. S. Bach dem Hörer wie auch dem Betrachter noch einmal höchste Bewunderung ab, so rückte die Aufklärung dem Stile Antico zu Leibe und nahm ihm mit einem Male die Aura des Göttlichen.

1753/54 legte der Berliner Musik-Theoretiker Fr. W. Marpurg mit seiner Publikation Abhandlung von der Fuge auf 350 Textseiten, sekundiert von 120 Seiten Noten-Beispielen das bislang nur privatissime und von geheimnisvollem Sfumato umflorte Wissen dem staunenden Publikum als erlernbares Handwerk vor: nicht Genialität, nicht Erkenntnis der göttlichen Ordnung machte den erfolgreichen Fugen-Komponisten aus, sondern die schlichte Beherrschung der Zahlen! Marpurg zeigte, daß Canons und Fugen mathematisch vorausplanbar waren.

Ich habe diesen Text herausgehoben, weil hier einer der besten Kenner der Materie spricht: Altmeister Reinhard Goebel, der schon 1984 eine frisch durchdachte „Kunst der Fuge“ vorgelegt hatte, verfolgt das Thema Fuge aufs neue am Beispiel der Streichquartettbesetzung und zwar quer durch die Musikgeschichte von 1600 bis 1828, ja, er hat es regelrecht inszeniert. Seine Veröffentlichung mit dem Armida-Quartett beschäftigte mich vor fast einem Jahr hier und hier.

Den Anfang der Fuge Tr. 3 von Alessandro Scarlatti habe ich per Ohr skizziert, weil mir die Noten fehlten, habe es allerdings auch von d- nach cis-moll transponiert, um Vergleiche anzuregen. Ich weiß noch nicht, ob das sinnvoll war, jedenfalls zur hörenden Analyse verführend. Ein Thema, das – mehr pathetisch als mathematisch – über Bach auf Beethoven op. 111 und  Schubert („Der Atlas“) weist.

a) Fugen-Anfang A.Scarlatti b) Detail aus Bachs Präludium (BWV 849), das eine Vorahnung des Fugen-Themas gibt, das in c) folgt. Ausführlicher nachlesbar in den zwei folgenden Ausschnitten:

Es geht um Takt 26/27, Mittelstimme, e“-his“-cis“ Fugen-Exposition (BWV 849)

Das Thema im Kern rückwärts bei Schubert (der sich an Beethovens op.111 anlehnt)

Schubert „Der Atlas“

Beethoven op. 111

Noch zweimal Bach, Matthäuspassion und H-moll-Messe:

Goebel sprach vom Kirchen-Stil (stile antico), ihn absetzend von der neuen Affekt- und Seelenmusik (seconda prattica), dann aber auch von der Durchdringung der Stile, was nun nicht einmal als Vergehen gegen die gottgegebene Ordnung aufgefasst werden kann: Christus als menschgewordener Gott hat an beidem teil. Die Umrisse des Themas als Figur des Kreuzes. Der Hinweis auf die Affekt-Formel des Leidens, die im Gebrauch des verminderten Intervalls erkennbar wird, – zumal der Quarte, noch enger gefasst in der verminderten Terz (siehe hier die beiden letzten Beispiele) –  gilt also dem Leiden schlechthin, auch innerhalb der Ordnung Gottes. Ein Beispiel dafür ist das Thema der zweiten Kyrie-Fuge innerhalb der H-moll-Messe (s.o.). Man hört es im Extrem der Affekt- und Seelenmusik zusammengefasst in den 4 letzten gesungenen Takten des Schubert-Liedes „Der Atlas“.

Mit den Anfangstakten des Liedes „Der Doppelgänger“ kehren wir dann – fast notengetreu – zum Thema der Bach-Fuge zurück (ohne dass Schubert dies mitgedacht oder gar gemeint haben muss).

Näheres zum Lied (incl. Ton & Text) hier

  Näheres zum Lied (incl. Ton & Text) hier

Bach Fuge BWV 849 Anfang

Ich wollte an dieser Stelle beginnen, stufenweise eine Gesamt-Übersicht zur Fuge zu liefern, was sicher nur anhand der Noten zu leisten wäre. Womit aber viele Laien-Musikerliebhaber ausgeschlossen wären. Am besten wäre, man könnte lernbegierigen Menschen während des tönenden Ablaufes etwas zuflüstern, so dass etwa die große Dreiteilung dieser Fuge und die allmähliche Steigerung der Kontrapunktik und der inneren Dynamik (fast) unmittelbar vor die Sinne tritt. Ich habe eine gute Aufnahme gesucht (immer bevorzugt: Angela Hewitt, immer leicht auffindbar: Andras Schiff) und dabei etwas anderes gefunden, etwas viel Kostbareres, denn wie selten gibt es Künstler:innen, die ihre Gegenstände ebensogut verbal erklären können wie im Klang realisieren. Jörg Demus gehört gewiss zu ihnen. Ich habe ihn erlebt, als ich im Collegium Aureum saß und er mit uns die Mozart-Klavierkonzerte im Fuggerschloss Kirchheim aufnahm. Eine Pioniertat. Uns ging er mit seiner höflichen Redseligkeit zuweilen auf die Nerven, heute bin ich ihm ebenso dankbar wie seinem Kollegen Paul Badura-Skoda, der Beethoven am selben Ort unvergesslich spielte (und auch erläuterte, womit er gern einen neuen Aufnahme-Take einleitete). Kurz: ich möchte den folgenden Youtube-Beitrag mit Bachs Praeludium und Fuge Cis-moll BWV 849 aus dem Wohltemperierten Klavier Band 1 herzlich empfehlen (nur nicht ungeduldig werden: manches muss man sich selbst ergänzen, z.B. wenn es um Fünfstimmigkeit, Chor, Intonation und Orgel geht, da fehlt etwas… , und ich persönlich lasse mich nicht auf das Gleichnis vom Himalaya ein, ohne den Ausblick auf indische Musik zu verlangen, doch diesen Exkurs in Parallelwelten der Affektenlehre versage ich mir heute, Bach zu Ehren):

Praeludium beginnt ab 22:10, Fuge ab 24:54 ABER: von vorn beginnen!

Bis etwa 7:00 spricht er über Verzierungen, dann über die Tonart cis-moll, – auch E-dur sei positiv gestimmt. Ab 8:55 über die Fuge, Vergleich auch mit der aus WTK II in Fis-moll (Laufthema). Bei 11:00 Vor- und Rückschau auf, letzteres in Gestalt des Alten Stils, wie in Fuge E-dur, wo Bach sogar das alte Schriftzeichen einer langen Brevis-Note gebraucht. Ab 12:20 das Thema der cis-Fuge, das Intervall his-e für sich angeschlagen = große Terz, der Begriff „Auffassungsdissonanz“. 13:30 alte Texte passen: „Kyrie eleison“ und „Et incarnatus est“ (singt), also Leidensausdruck. Für Demus ist die Fuge klar dreiteilig. Das „zweite Thema“ (Laufthema in Achteln) „Engelein und Blumen“. Verschwinden im dritten Teil. Ist es eine Tripelfuge (mit 3 echten Themen? 14:15 kein Thema, nur fester Kontrapunkt? Auf jeden Fall: Dreiteilige Fuge. 14:30 Verweis auf Orgel, Intonationshilfe für Chor 15:30 es gibt nur 2 fünfstimmige Stellen („Fuga à 5“), 17:00 Verweis auf César Francks Orgelbearbeitung. 18:00 Palestrina (alter Stil) 18:50 Tenor-Solo, Dynamik, die sich aus der Stimmführung und den Verläufen ergibt. Ab 22:10 Ganzfassung (ab 24:57 Fuge).

Die Dreiteiligkeit der Fuge war seit Riemann und vor allem: Hermann Keller abgesegnet (1950 bzw. 1965). Und was dieser schrieb, ist auf einer schöne Art altmodisch, – und immer noch lesenswert.

über die drei Themen…

… der drei Teile (von unten nach oben)

„Stylus gravis“ ist ein wichtiges Stichwort. 1968 brachte die Dissertation von Christoph Wolff endgültig Licht in das Dunkel: „Der Stile Antico in der Musik Johann Sebastian Bachs“. Hier ist seine Liste der Werke, die als Ganzes dazugehören, dann eine weitere Liste mit Werken, die nur zu einem Teil im Stile Antico gehalten sind, – sowie die Begründung dieser Zuordnung. Die E-dur-Fuge aus dem Zweiten Band des WTK gehört zur ersten Kategorie, während die hier behandelte  Cis-moll-Fuge aus dem Ersten Band des WTK zur zweiten Kategorie gehört, da mit dem Takt 36 ein anderes, „verspieltes“ Element zutage tritt.

Quelle Christoph Wolff: Der Stile Antico in der Musik Johann Sebastian Bachs / Studien zu Bachs Spätwerk / Franz Steiner Verlag Wiesbaden 1968

Wenn ich im Folgenden etwas von der fortschreitende Differenzierung der Fugen-Analyse anzudeuten suche, so nicht, um sie als Bedingung einer künstlerisch überzeugenden Interpretation zu postulieren. Im Gegenteil: man sollte durchaus wissen, bis in welches Detail das Bachsche Opus dem sezierenden Blick standhält; aber was von den Ergebnissen präsent bleiben sollte, das ist dem lebendig musizierenden Menschen wahrhaftig nicht von außen vorzuschreiben. Der große Bach-Forscher Alfred Dürr folgt in seiner Monographie, die 1998 erschien, einem Mittelweg, der die Formverläufe darstellt, aber auch historische und aufführungspraktische Hintergründe liefert.  Und selbst bei ihm ist oft ein Blick auf den unerbittlichen Analysten Ludwig Czaczkes zu konstatieren.

Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach / Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle Kassel 1998 (Seite 118 f)

Dies ist nur ein Ausschnitt (auf der 2. Seite fehlt die obere Hälfte, die Formübersicht im unteren Kasten ist nicht vollständig –  Teil C und D folgen nächsten, nicht abgebildeten Seite); ja, und Czaczkes bleibt unverzichtbar. Und selbst wenn man längst felsenfest überzeugt ist, dass man eine dreiteilige, sehr übersichtliche Form vor sich hat, ist man am Ende eines besseren belehrt – und ein bisschen unglücklich. Das kommt von der freudlosen Methode:

Quelle Ludwig Czaczkes: Analyse des Wohltemperierten Klaviers / Form und Aufbau der Fuge bei Bach Band I / Österreichischer Bundesverlag Wien 1982

Auf der nächsten Seite entwickelt er ähnlich die Herkunft des anderen Kontrasubjekts (jenes mit den Achtelgängen, Jörg Demus sprach von Engeln und Blumen), und zwar füllen wir einen Quartsprung stufenweise mit Sekundschritten aus …. und „wenden und drehen es dann nach allen Richtungen, so werden wohlbekannte Motive lustig vor unseren Augen tanzen“ (Czaczkes). An wenigen Stellen des Analysewerks lässt der Autor sich zu solchen Wendungen hinreißen, sein Metier ist die trockene Arbeit am Präparat. Man muss längst auf andere Weise musikalisch hochmotiviert sein, um sich darauf einzulassen. Unvorstellbar auch, dass Bach in dieser Art an seinen Fugen gearbeitet hat. Aber was ist die Vision, die den Komponisten geleitet hat, ehe er sich in die Detailarbeit versenkte? Gerade bei Werken, die so eindeutig auf die sakrale Sphäre verweisen, wie die, die den „stile antico“ heraufbeschwören: ob streng durchgeführt wie in der E-dur-Fuge, oder ihn mit anderen Charakteren überwölbend, durchsetzend, wie in der Cis-moll-Fuge, – das ist doch keine technische Spielerei, in der man zeigt, dass man wirklich mit allen kontrapunktischen Wassern gewaschen ist. Wenn ich ein Bild dafür suche, das groß genug ist für solche universalen Entwürfe, so bin ich bald bei der Weltenorgel, wie sie bei Athanasius Kircher abgebildet ist, – allerdings – – – ohne dort zu verweilen, denn Bach war ja in der höfischen und bürgerlichen, ja, familiären Welt ebenso zuhaus wie in der kirchlichen, gottesdienstlichen, religiösen. Insofern neige ich dazu, die Widmungskürzel, die Bach ans Ende seiner Werke setzte, S.D.G – Soli Deo Gloria – nicht so gewichtig zu interpretieren wie in früheren Jahren, als ich gerade mal die Schrift des Theologen (!) und Musikwissenschaftlers Walter Blankenburg über Bachs H-moll-Messe (1974) gelesen habe. Der dort zitierte Bach-Zeitgenosse Buttstedt (1716) hat mich durch ein reproduziertes Titelblatt schwer beeindruckt, ohne dass ich versucht hätte, das etwas einfältige Weltbild dahinter abzuschätzen. Wer weiß, ob ich nicht – ermutigt durch Jörg Demus – versucht gewesen wäre, die Engelchen oder Kinder Gottes in einer Fuge wie unserer „aktuellen“ in Cis-moll noch ernster zu nehmen.

Ohne hier den (mehr als 20 Jahre späteren) Konflikt Scheibe vs. Bach aufrollen zu wollen, sei doch erwähnt, dass einer der bekanntesten Musiktheoretiker der Zeit, Johann Mattheson (1681-1764) sich weder deutlich für noch gegen Bach positionierte; er schätzte, ja: bewunderte ihn, stand aber wohl eher im Lager einer „moderneren“ Richtung, die öffentlich wirkunsvoll mit dem Opern-Stil sympathisierte (er selbst – einst Wunderkind an der Orgel – hatte in Hamburg als  Opernsänger begonnen und wartete dort seit 1799 mit eigenen Opern auf, war seit 1715 jedoch Domorganist). Bach pflegte mit ihm keine persönlichen Kontakte. Um so interessanter, in den ersten großen Mattheson-Büchern (seit 1713) nach dem Stellenwert zu fahnden, den dieser den großen Stilen seiner Zeit beimaß. Der Name Buttstedt war für mich jetzt der Auslöser, die akribische Einleitung des Musikwissenschaftlers Dietrich Bartel zu studieren und die Mattheson-Werke wieder ernstzunehmen (Laaber Reprint). Zugleich die Einschätzung, dass diese Auseinandersetzung schon damals über den „Dialog mit einem reaktionären Organisten hinaus“ (Bartel) Bedeutung annehmen sollte.

Für mich persönlich war immer eine entscheidende Frage, wie spekulativ man bei Bach vorgehen kann, wieviel musikalisch umgesetzte Theologie z.B. in dem Kürzel steckt D.S.G., oder ob man – mit Adorno – grundsätzlich davon absehen sollte und nur die Qualität der Werke zum Maßstab nehmen sollte. (Das Projekt „Morimur“ – Helga Thoene 1994 – war für mich absolut inakzeptabel.) Das große Gottes-Lob findet man überall in jener Zeit als letzthinnige Begründung, auch bei dem Buttstedt-Gegner Mattheson. Und selbst dann, wenn ersatzweise dann ganz in der Nähe der Begriff „Natur“ auftaucht…

Daher gehe ich so ausführlich auf meinen Fehlgriff von damals ein, obwohl er vielleicht doch zu bedenkenswerten Ergebnissen geführt hat.

Abgesehen von den Druckfehlern oder Verbesserungen, für die ich nichts kann ( am schlimmsten die Korrektur: „Sei Soli“ statt „Sei Solo“), würde ich heute ohne Buttstedt auszukommen suchen. Hier folgen die Beispiele der vorherigen Seite, auf die ich mich beziehe. Das Ornament gefällt mir auch heute noch. Gleich anschließend das Titelblatt, mit dem Mattheson den Erfurter Organisten 1717 erledigte:

1713  1717 Also: Matthesons „Orchestre“ Erstes und Zweites Titelblatt, dieses ausdrücklich gegen Buttstedts inzwischen erschienene Streitschrift gerichtet, gegen seine „Todte (nicht tota) Musica“. Die Schreckensfigur im Zusammenhang mit „Ut,Re,Mi“ war damals Aretinus = Guido von Arezzo.

Um diesen Artikel nicht ins Uferlose auszudehnen, soll es mit der Andeutung dieser frühen Polarisierung genug sein: auf der einen Seite „Ut, Re, Mi“ etc.“, die alten Kirchentonarten – „tote Musik“, auf der anderen der „Galant Homme“, ein Mann von Welt, von erlesenem französischen Geschmack. Nicht zu vergessen: In Bachs höfischer Köthener Zeit (1717-1723) entstanden seine allerfranzösischsten Werke. Und diese Zeit war nie ganz abgetan, nicht als er seine „Galanterien“ (Clavir Uebung 1731) schrieb, nicht als er sich in den Stile Antico versenkte (ab 1742 „Kunst der Fuge“ – mit contrapunctus VI „In Stylo francese“). Und im zweiten Band des „Wohltemperierten Klaviers“ (ab 1740) findet man bekanntlich nicht weit von der Fuge in E-dur BWV 878, dem clavieristisch gefassten Musterbeispiel des Stile antico, das französische Praeludium (hier) und die frappierende „Gavotte“-Fuge in Fis-dur BWV 882. Es ist nur ein paar Jahre her, – bitte im Blog nachlesen und nachhören hier (Die Fuge als Tanz) und hier (Couperin Pièces). Merken: „Les Niais des Sologne“ von Rameau. UND mir zeitlich noch näher – das einzig schöne Erlebnis in der Solinger Klinik: „Les Passions“ mit Andreas Pilger hier.

War Bach ein erfolgreicher Fugenkomponist? Er hat durchaus Adressaten genannt, für wen also komponierte er das „Wohltemperierte Clavier“? Er nennt in seiner Widmung als erstes den „Nutzen und Gebrauch der Lehr-begierigen Musicalischen Jugend“, dann den „besonderen Zeitvertreib“ derer, die schon was können. Und ganz ans Ende schreibt er S.D.G., „Gott allein zur Ehre“.  Heute kann man über jeden Punkt streiten. Die Jugend ist von Haus aus wohl nicht in diesem Sinne „musikalisch“ lernbegierig, auch der Zeitvertreib der Älteren läuft über das Handy. Und Gott?

Zu Bachs „Soli Deo Gloria“ siehe auch Relativierendes – ja, natürlich unter Johann Mattheson , obwohl er sich, wie wir oben bei Bartel gelesen haben, „als tiefgläubiger Orthodox-Lutheraner … täglich der Bibellese widmet“. Siehe aber auch, was Reinhard Goebel (oben in Blau) über Fr.W.Marpurg und seine angeblich mathematisch vorausplanbaren Fugen sagte. Kennen Sie vielleicht eine einzige bewegende Fuge von Marpurg??? (Vgl. auch die neulich digital realisierte Zehnte von Beethoven, heute ist alles möglich! sogar eine vorgetäuschte Künstliche Genialität.)

Was ich aber nicht relativieren möchte, ist der Kommentar einer jungen Pianistin unserer Zeit.

…eigene Person auszuklammern und dadurch in bislang ungeahnte Dimensionen musikalischen Verstehens und Ausdrucks vorzudringen.

Die Autorin schreibt des weiteren über „Das Ich als Störfaktor“, durchaus bemerkenswert für eine hochvirtuose Bach-Interpretin in ihrem Debüt-Album. Darüberhinaus auch philosophisch bedenkenswert! Ich bin so froh über diese neue überzeugende und begeisternde Interpretation der Bachschen Präludien und Fugen, auch wenn man hier und da vielleicht andere Ideen suggerieren wollte, nie entsteht der Eindruck, – wie etwa bei Glenn Gould – , dass da jemand sagt: „Ich, ich, ich.“ Oder gar behauptet: Bach hat es so gewollt, und der Weg durch ihn führt direkt zu Gott. (Auch das gibt es, wenn auch nicht bei Gould. Dann ist auch schnell das berühmte Goethe-Zitat zur Hand: wie in Gottes Busen vor der Weltschöpfung…)

Aber immer wieder wird man gefragt: Muss man nicht sehr gläubig sein, wenn man Bachs Musik spielt? Wer darauf eine Antwort erwartet, kann es mit seiner Musik nicht ernst meinen. Man müsste ja stattdessen über den Pietismus sprechen, über Luther sprechen, über die Geschichte des Christentums, und wie es geschehen konnte, dass die katholische Kirche inzwischen jeden Kredit verspielt hat. Der Wissenschaftler Martin Geck hat, was Bachs persönliche Motivation angeht, schon 1967 alles Notwendige gesagt:

„…besitzt die Kraft, das musikalische Sachgesetz final zu erfüllen, anstatt wechselnden Anregungen von innen und außen kausal zu folgen.“

Eine frühe Studie, wieder veröffentlicht (S. 46 – 55) in dem insgesamt lesenswerten Band:

Martin Geck: »Denn alles findet bei Bach statt« Erforschtes und Erfahreres / Metzler Musik / Verlag J. B. Metzler Stuttgart Weimar 2000 / ISBN 3-476-01740-0

Die Pianistin:

Weiteres auf der Website HIER oder – in WDR 3:

Eine atemberaubende Live-Vorstellung! – und immer wieder: was für ein Werk! Der Einstieg in die Partita c-moll BWV 826, beginnend mit dem grandiosen Pathos einer Französischen Ouvertüre, fortfahrend mit einer überirdischen Melodie, die nie enden sollte, deren süße Klagelaute aber plötzlich überspringen in eine furiose Fuge, eine zweistimmige, und zwar von einer Vehemenz, wie man sie im Wohltemperierten Klavier nur 1mal wiederfindet: in e-moll, teuflisch wie ein Spuk ist sie dort vorbei, nach einem großangelegten Praeludium. Und befindet sich gar nicht so weit entfernt von der großen fünfstimmigen in cis-moll, an der wir uns noch gedanklich abarbeiten wollen. Die Partiten (1731 Opus 1): wie gesagt, „Galanterien“ steht da in der Aufzählung der Tanz-Formen, – was denkt sich Bach bei diesen übergroßen Werken eines anderen Genres, die unter dem Gesamttitel „Klavierübung“ laufen und deren erste Bach 1726 einem Säugling  gewidmet hat? Das Widmungsgedicht ist der Forschung fast etwas peinlich, Hermann Keller freut sich nur, „dass Bach ein besserer Komponist als Dichter war und dass seine Musik nichts von der Unterwürfigkeit des Bürgers Bach unter seinen früheren Souverän [den Vater des Säuglings in Cöthen] bezeugt!“

*    *    *

Mit Vorbehalt: Die Fuge in cis-moll  BWV 849 als Form (Anwendung von kontrapunktischen Techniken) und Ausdruck – nicht nach Dürr, nicht nach Czaczkes – sondern intuitiv…

 

Ich habe beim Spielen und Üben nach der einfachsten Form für ein Gebilde gesucht, das höchst kompliziert gearbeitet ist, aber nicht unübersichtlich. Dass es ein fünfstimmige Fuge ist, halte ich für wesentlich, ich kann kein Schema akzeptieren, in dem das nicht zum Vorschein kommt. Daher habe ich alle wirklich fünfstimmigen Abschnitte durch eine geschlängelte Linie gekennzeichnet; sie läuten das Ende einer Durchführung ein. Bis zur entsprechenden Kadenz darf sich die Stimmenzahl wieder verringern, damit (?) der Beginn der neuen Durchführung offen liegt, siehe Takt 20. In Takt 35/36 liegt der Fall anders – das Laufthema soll folgen, der Charakter verändert sich, der Satz verdünnt sich ohnehin. Ab Takt 66 die Idee des chromatischen Abstiegs (vgl. Takt 102 ff), der große Bass-Einstieg des Hauptthemas liegt an. Am Schluss: es geht dem Höhepunkt zu, der Apotheose des Orgelpunktes am Ende der Fuge. Ab Takt 86: das Laufthema erschöpft sich – unter dem großen Sopran-Einstieg des Hauptthemas, das sich nunmehr verwandelt im Ansturm der Engführungen; es kehrt erst wieder zurück, wenn das absolute Ende in Sicht ist: ab Takt 107. Der Orgelpunkt hat es schon angezeigt!

Eine Cembalo-Version wäre fällig, – jede Orgel-Version disqualifiziert sich (in meinen Ohren)  bereits im Präludium – , mit der Frage: wie durchsichtig lässt sich das dichte Gewebe der Stimmen wiedegeben? Die Leonhardt-Aufnahme von 1963 ist seltsam unbefriedigend. Interessante Aspekte verspricht ein leidenschaftlich-unbewegter Kommentator (Fr.Siebert hier): vor allem sein Hinweis auf Luthers bzw. Johann Gottfried Walthers Version des Chorals „Nun komm der Heiden Heiland“ mit der verminderten Quarte lässt aufhorchen, aber auch die Entdeckung, dass das Hauptthema dieser Fuge auf jedem Ton der Cis-Tonleiter erklingt! Aber ist es deswegen schon eine Mixowasnochmal-Skala? Gerade nicht! Doch davon später. Auch die Ausführung: Was mich schon im Präludium skeptisch stimmt: wenn die eine Hand jedesmal wartet, bis die andere ihr Ornament ausgeführt hat. Das Grundzeitmaß muss gewahrt werden! Dem französischen Cembalisten Bertrand Cuiller höre ich allerdings gern zu, wie er sich singend Gedanken macht, ohne allerdings zu einer Analyse zu kommen. Am Ende steht Gott und der Glaube, das ist mir sympathisch, allein mir fehlt … was? (man lese Goethes „Faust“ Osterszene).

Ich verstehe nicht recht, weshalb man bei Johann Gottfried Walther nachschaut (NB: auch Buttstedt taucht in der Bio auf, wenn auch negativ), welcher Kirchentonart das Bachsche Thema entsprungen sein könnte, „Nun komm der Heiden Heiland“ , ich denke, in Luthers Original einfach dorisch – man könnte aber bei Bach selber zu suchen, der wohl den entscheidenden Leiteton in den Choral eingeführt und ihn somit dem dorischen Modus entfremdet hat. Hat er nicht schon entsprechende Choralvorspiele geschrieben? Oder Kantaten? Wenn man sie nicht alle präsent hat, schaut man eben mal in den „Schmieder“:

Auch Wikipedia ist interessant, wenn man Alfred Dürrs Kantaten-Bände nicht zur Hand hat: hier. 1714 die Uraufführung dieser Adventskantate, so früh also, damit wären wir auch wieder beim Phänomen „Französische Ouverture“… Aber hilft uns dergleichen etwa weiter bei der Fugen-Analyse? Geht es über einen Kommentar zum Hauptthema der Cis-moll-Fuge hinaus? (Immerhin ist dieser thematische Zusammenhang bisher nirgendwo vermerkt, soweit ich weiß.)

Es ginge etwa so: 1. das Kreuz, der Heiland, der Herr, in den Stimmen von unten nach oben aufsteigend, alle Wesen erfassend, 2. die himmlische Sphäre realisiert sich (Engel?), 3. ein schreitendes Thema (der Mensch?) tritt auf, wird bedeutsam, am Ende dieses Teils B zum erstenmal die chromatische Bewegung von oben herab bis gis. Teil C Durchführung V, Hauptthema in der tiefsten Lage auf CIS und  in der höchsten auf cis“, am Ende  – nach der 5stimmigkeit – noch einmal auf cis“, das Achtelthema löst sich auf, Durchführung VI. das Hauptthema und das „Menschen“-Thema in dichtester Engführung, chromatischer Abstieg des Soprans über 4 Takte, Ziel: gis, ausgedehnte 5stimmigkeit, Orgelpunkt. Das letzte Zitat des Hauptthemas endet auf der Quinte des Schlussakkords (gis), das Menschen-Thema auf der Terz eis. – Ich habe aufgehört, das Narrativ von der Erlösung auszumalen…

Etwa in dieser Art stellt der Schweizer Pianist Jürg Lietha die Fuge dar, hier ab 7:35 (Video bricht leider bei 9:55 ab): Heilige Dreifaltigkeit: Vater (Thema 3), Sohn (Thema 1) Heiliger Geist (Thema 2) auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Das klingt auf den ersten Blick verführerisch, aber wieso eigentlich? Warum soll eine Musik, bei der man an „Anderes“ denkt, attraktiver sein, als wenn man bei ihr „selbst“ verharrt?

Die mächtige Forte-Fuge (Friedrich Gulda)

Von den vielen Aufnahmen, die leicht greifbar sind (z.B. auch Sokolow: spannend, dramatisch aufgeladen, jedoch „wegen Nebels“ ausgesondert), kehre ich zurück zu der CD mit Schaghajegh Nosrati – und bin überwältigt von der Klanglichkeit, dem tieferen Sinn, der quasi von selbst hervortritt. Ich beschränke mich auf die Fuge: weder zu schnell noch zu langsam, nicht aufgesetzt dynamisch, überall durchsichtig, alles Thematische deutlich, linearisch, ohne Zeigestock, der Klang ist in Stille gehüllt, wie der Edelstein in eine Samtschatulle. (Ich glaube, dieses Bild stammt von Heinrich Neuhaus.)

Um die Form dieser Fuge auch für solche Hörer:innen erschließbar zu machen, die nicht den Noten folgen können, gebe ich im folgenden noch zum Ablauf die betreffenden Zeitangaben. Nachteil: man folgt der Musik anhand eines pedantischen Minutenplans, der auch wieder ablenkt; aber er erlaubt vielleicht doch, sich zeitgleich auf die Musik zu konzentrieren (denke ich). Zunächst die starke, aber auch kalte Version von Friedrich Gulda, dann die hoch differenzierte, ausgesprochen kontrapunktisch durchdachte und empfundene Version von Schaghajegh Nosrati.

Gulda

A I 00:00     II 0:47

B III 1:15     IV 1:43

C V  2:32     VI 3:15 Orgelpunkt 3:38 Schluss 4:08

Nosrati

A I 00:00     II 0:43

B III 1:08     IV 1:33

C V  2:16     VI 2:54 Orgelpunkt 3:14 Schluss 3:48

Der Orgelpunkt im Bass setzt unauffällig ein: im Sopran ist vorher der Ton GIS als Ziel einer absteigenden chromatischen Linie erkennbar, um dann zum letzten großen Themenzitat überzugehen. Ein unglaublich ergreifender Abschluss. Warum eigentlich? Ist nicht ALLES schon gesagt?

Tchiba

Klänge zur Selbsterfahrung?

ZITAT nmz 2022/07 (Martin Hufner)

Kryptisch, ohne jeden Kommentar. Pure Klänge auf digitalem Papier, umgesetzt auf verschiedene Art und Weise. Das ist das neueste Netz-Projekt des Pianisten, Komponisten und Medienkünstlers Martin Tchiba. Jeden Tag um 8 Uhr gibt es einen neuen. Am 22. Juni war man beim 48. Akkord. Es werden insgesamt 180 Einträge zum Klingen gebracht. Das ist schon faszinierend anzusehen und vor allem anzuhören. Die glubschigen Notenköpfe übereinander lassen nicht wirklich erahnen, wie sie dann erklingen werden als elektroakustisches Ereignis. Ab und zu gibt es Hinweise dazu auf seinem Twitter-Feed (https://twitter.com/MartinTchiba) wie „für heute ein schwebender tritonus“. Auch dies ein Projekt, das durch eine Förderung im Rahmen von NEUSTART KULTUR auf den Weg gekommen ist.

HIER https://einhundertachtzig.blogspot.com/2022/05/akkord-001-050522.html

S. a. (als Vorbereitung) jede Menge Klänge hier im Blog.

Des weiteren vorzumerken (ebenfalls nach nmz-Hinweis):

Sisters with Transistors: Die verkannten Heldinnen der elektronischen Musik

Die Dokumentation erzählt die verblüffende Geschichte der Pionierinnen der elektronischen Musik. In einer virtuosen Mischung aus Archivmaterial, Interviews und visionärer Musik entsteht ein unterhaltsames Zeit- und Sittenbild von den Kriegsjahren bis heute, das von der befreienden Kraft neuer Technologien erzählt. Erzählerin ist die Musik-Ikone Laurie Anderson.

HIER https://www.arte.tv/de/videos/104017-000-A/sisters-with-transistors-die-verkannten-heldinnen-der-elektronischen-musik/

Mehrklänge hören, viel mehr Klänge!

Doch vorweg: Was sagt denn Wikipedia?

Siehe hier.

Ich sehe diesen Wiki-Artikel als eine Übung, um zu erkunden, was man überhaupt über „Akkorde“ weiß. Das weiter unten folgende (heftförmige) Büchlein stellt im Vorwort klar, dass nur die „Kenntnisse traditioneller europäischer Musik und aus ihr abgeleiteter Begriffe und Verfahrensweisen“ vorausgesetzt sind. Es wendet sich aber durchaus (oder gerade) an Studierende, die sich mit moderner Komposition beschäftigen, die „Neue Musik“ komponieren (oder auch nicht). Der Autor wagt es, Hindemiths „Unterweisung im Tonsatz“ ebenso zu berücksichtigen wie Messiaens Lehrbuch „Technik meiner musikalischen Sprache“. Er sagt Im Vorübergehen Erhellendes zum Konzeptualismus und zum Punktualismus, ohne zu fürchten, dass seine eigene Arbeit, die sich damit nicht weiter abgibt,  dadurch entwertet wird. Auch der Einwand, dass jedes zeitgenössische Werk einer eigenen Ästhetik, einem eigenen Gesetz folgt, gilt für ihn und seine Analyse nicht. Er behandelt keine Akkordverbindungen, keine Grammatik, sondern die einzelnen Gebilde. Nebenbei erfährt man, dass jenes Stück von Messiaen, das gewissermaßen den ganzen Boom des Serialismus auslöste („Mode de valeurs et d’intensités“), bei ihm selbst ohne entsprechende kompositorische Konsequenzen blieb. Der Komponist selbst meinte, man habe dieser „ganz kleine[n] Arbeit“  viel zu viel Bedeutung beigemessen… Das zu wissen hätte mir Anfang der 60er Jahre einige elementare Gewissensbisse erspart. Ich war ein Verfechter der Neuen Musik, sagen wir: bis Anton Webern. Aber es waren genau diese punktualistischen „Zufalls“-Ergebnisse, durch die ich meine Musikalität in Frage gestellt sah. Zweifellos war sie ja auch mit diesen Mitteln tatsächlich nicht weiter entwickelbar. Ich war – ohne es zu ahnen – anfällig für das Prestige anderer Musikkulturen. Im Tonsatzunterricht gab es heftige Diskussionen mit Traditionalisten wie Max Baumann und Ernst Pepping, die aus meiner Sicht (insgeheim) von Adornos „Kritik des Musikanten“ mitbetroffen waren.

Man lese, was ich damals im Konzertprogramm (mehr über das Boulez-Werk) unterstrichen und mit Ausrufezeichen versehen habe…

Berlin, Januar 1961

Hören? HIER

Solingen, August 2022

Nun also ein neues Werk zum Thema und zu vielen Themen: Claus Kühnl (eigene Website hier) Möglicherweise lege ich mir über kurz oder lang auch noch das von ihm empfohlene Harmonik-Buch von Nordhausen/ Gardonyi zu, und wenn jemanden das bloße Inhaltsverzeichnis schreckt – es gibt darin ja über 400 Notenbeispiele: wenn man nur etwas Klavier spielt, ist das eine unvergleichliche tönende Musikgeschichte: hier.

Doch zur Sache:

s.a. hier, erst kürzlich – dank NMZ bzw. Moritz Eggert – entdeckt …

Zusätzliche Musikbeispiele

Seite 6 – Schönberg Serenade op.24 hier Einzelsätze anklickbar Nr.4 „O könnt‘ ich je der Rach‘ an ihr genesen“

2 Sätze mit Partitur hier

alle Sätze: Mitropoulos-Aufnahme (1949) hier I. 0:00 II. 4:40 III. 11:37 IV. 15:37 V. 18:37 VI. 25:25 VII. 27:23

Seite 8 – Haydn (Nonenakkord) Klaviersonate (1771) XVI:20 Takt 25-26

Seite 9 „…ein früher spektakulärer Fall…“

Recordare:

Seite 10 Beethoven op. 22 (gemeint ist Takt 32 f)

Mir wird klar, dass ich diese „Disharmonien“ früher genossen, aber anders gedeutet habe, nämlich nicht als Klänge für sich, sondern immer als „Zufallsprodukte“, die aus Durchgangsnoten erklärbar, also gewissermaßen aus melodischen Gründen  exculpiert sind. Obwohl als „Reibungen“ eben: genossen. Dass der Orgelpunkt G nach Takt 30 einfach stehenbleibt, bedeutete, dass ich den Akkord der rechten Hand in Takt 32 einfach als Griff eis/gis/h/cis (Dominantseptakkord in Richtung fis-moll/ h-moll) auffassen darf, eine Zwischenstörung, die mit dem Wechsel von cis nach d einen Verminderten einführt, der sich in jede möglich Richtung auflösen kann. Und es wirkt plausibel, dass auf der 1 des nächsten Taktes der gleiche Akkord, – um einen Halbton höher gerückt -, als „gis/h/d/e“ erscheint, der sich nicht nur nach oben schein-auflöst (zum f), sondern auch unten (zum g) und sich damit überraschend zum Orgelpunkt-G bekennt: im nächsten Takt wird die Wendung plakativ im Dominantseptakkord der „vollgriffigen“ linken Hand.

Das heißt: ich habe immer syntaktisch gedeutet, nicht punktuell, den jeweiligen Akkord als Eigenheit, Eigenklang, Eigenwert betrachtend, obwohl ich dies insgeheim – wie gesagt – sehr wohl goustiert habe.

Natürlich könnte man sagen: nun bist du doch reingefallen auf das Punktuelle. Das lasse ich nicht gelten, – soll ich es ablehnen, nur weil ich einmal im Leben nicht damit klargekommen bin? Zu den größten Hör-Erlebnissen in meinem Leben gehört dafür ein Konzert in Darmstadt mit Ligetis „Atmosphère“, da fand ich Punktualität und linienhafte Dauer beispielhaft realisiert. Übrigens gefällt mir Kühnls Behandlung dieses Komponisten, der wegen seiner späteren Entwicklung oft geschmäht wurde (Horntrio), ebenso wie die des Geräuschpolyphonikers Lachenmann, den ich vergeblich „nachzuempfinden“ suchte, – um so einen Ausdruck der veralteten Ästhetik des ältesten Bach-Sohnes zu gebrauchen.

Die Begehrlichkeit wächst (Ausblick)

soeben eingetroffen…

Und was sehe ich dort, Johann Sebastian Bach betreffend??? Kontrapunkt… Choralsatz… und darüberhinaus Melodielehre