Archiv der Kategorie: Musiklehre

Bachs „Chaconne“ verfremdet

… oder nähergerückt?

14 Violinist(inn)en: Julia Fischer, Augustin Hadelich, Renaud Capuçon, Klaidi Sahatçi, Alexander Sitkovetsky, Nicola Benedetti, Andreas Janke, Daniel Röhn, Lisa Batiashvili, Lena Neudauer, James Ehnes, Stefan Jackiw, Rudens Turku, Vadim Gluzman

Jascha Heifetz, Violine

Orchesterfassung Stokowski

John Feeley, Gitarre

Für Streichquartett von (Albert) Maria Herz: Asasello Quartet

The Galvin Cello Quartet

Busoni-Fassung: Hélène Grimaud, Klavier

Andrea De Vitis, Gitarre

Nur ein flüchtiger Blick sei einer seltsamen Deutung des Bachschen Werkes geworfen, deren Lektüre mir noch unerträglicher war, als die mit gesungenen Choralzitaten durchsetzte Violin-Wiedergabe der Ciaccona auf CD (ECM 2001), die auch dem Buch beigegeben wurde:

Ich bekenne mich bedingungslos zu dem Urteil, das Reinhard Goebel in seinen 2024 herausgegebenen Sammelband eingefügt hat, – auch wenn ich jede andere klingende Deutung des Werkes vom jeweiligen subjektiven Standpunkt der Interpreten aus irgendwie nachempfinden kann, – nachzählen und nachrechnen will ich nie und nirgends, gerade auch nicht bei Bach. Es sei denn, es gäbe einen glaubwürdigen Hinweis aus seinem biographischen Umfeld. (Mauricio Kagel gilt nicht!)

Quelle Reinhard Goebel: »Der Kopf macht die Musik« Texte zur Musik Essays – Interviews – Würdigungen / Verlag Klaus-Jürgen Kamprad / ZITAT Seite 158, dort mit folgender Überschrift (die nicht Bachs Orthographie folgt): »Mona Lisa« / Eine Etude zur »Ciacona« von Johann Sebastian Bach (Achtung: Scharf gewürzt)

Mahlers Neunte – „historisch“?

Vorgemerkt

Performing on period instruments from around 1900 the Originalklang-Project of the Mahler Academy Orchestra brought to life the sound of Vienna at the turn of the century. 47 students of the Gustav Mahler Academy, who were selected from over 800 applicants, met outstanding musicians from Europe’s top ensembles in South Tyrol. Together they learned historic playing techniques of the fin de siècle and played on the very instruments that Gustav Mahler bought for the Vienna Court Opera during his directorship. On September 8, 9 and 10, 2022, Mahler’s Ninth Symphony was being performed on period instruments in Toblach, Bolzano and Ferrara The Originalklang-Project was created by conductor and curator of the Gustav Mahler Academy Philipp von Steinaecker who also directed the performances. The academy worked closely with Prof. Dr. Clive Brown, the leading specialist in the field of performance practice of romantic music. Mahler Academy Orchestra – Originalklang-Project

Gustav-Mahler-Akademie Bozen HIER

Zu Clive Brown

Mendelssohn-Teil wieder rausnehmen!

Vorwort zur Bärenreiter-Ausgave des Mendelssohn-Violinkonzerts (hier)

Mendelssohns Violinkonzert op. 64 ist ein zentrales Werk des 19. Jahrhunderts, das zum einen noch dem klassischen Stil eines Beethoven verbunden ist, zum anderen aber auch den Weg zum romantischen Ausdrucksideal eines Brahms weist. Seit langem ist bekannt, dass Mendelssohn das Werk nacheinander mit drei Solisten aufführte: Ferdinand David, der während des Entstehungsprozesses eng mit dem Komponisten zusammenarbeitete und die Premiere spielte, Joseph Joachim, das ‚Wunderkind‘, und Hubert Léonard, ein junger belgischer Virtuose, über den wir wenig wissen.

Korrekturfahnen zum Violinkonzert in e-Moll galten lange als verschollen; so konnte man es als kleine Sensation bezeichnen, als kürzlich doch ebensolche zur Solo-Violinstimme zusammen mit einem Brief von Mendelssohn an Léonard gefunden wurden.

Der Brief informiert uns, dass der Komponist Léonard zu sich nach Hause in Frankfurt einlud, um ihn kennenzulernen. Es war bereits bekannt, dass Mendelssohn David Korrekturfahnen gab; aber nun wissen wir, dass auch Léonard ebensolche erhielt.

Die jüngst entdeckten Korrekturfahnen bezeugen, wie Léonard das Konzert zusammen mit Mendelssohn an jenem Abend im Februar 1845 spielte. Sie enthalten Strichbezeichnungen und Fingersätze und zeigen, wie Léonard Lagenwechsel ausführte und wo er leere Saiten einsetzte; sie umfassen darüber hinaus modifizierte Dynamik-Angaben sowie zusätzliche Legato-Bögen.

Wir können davon ausgehen, dass all dies in Mendelssohns Sinne erfolgte. Dass der junge Geiger einen positiven Eindruck auf Mendelssohn machte, wird in den Briefen des Komponisten nach dem gemeinsamen Abend bestätigt; Mendelssohn lobt Léonards Spiel sehr und stellt in Aussicht, ihn dabei zu unterstützen, in Deutschland Arbeit zu finden.

Bärenreiters revidierte Ausgabe von Mendelssohns Violinkonzert – lediglich die Orchesterstimmen sind unverändert geblieben – schließt ein separates Heft zur Aufführungspraxis ein. Herausgeber ist der ausgewiesene Experte für romantische Aufführungspraxis Clive Brown.

SPIEGEL-Gespräch unbedingt lesen:

Steinaecker: Klassische Musik, der viele Menschen ihr ganzes Leben verschreiben, ist keine Materie, die man in einer gemütlichen Viertelstunde vermitteln kann, leider wird das trotzdem häufig versucht. Ich bin kein Experte, aber das erste Ziel in der Musikvermittlung ist immer die Niedrigschwelligkeit, immer geht es darum, vor allem niemanden abzuschrecken. Ich denke, dass man damit die meisten Leute total unterschätzt, die beteiligten Musiker fühlen sich damit auch unwohl. Sie wissen ja, dass es um komplexe Sachen geht, müssen aber so tun, als ob sie doch ganz einfach wären.

SPIEGEL: Man behandelt Erwachsene wie Kinder?

Steinaecker: Genau, wie kleine Kinder, denen man ein Spielzeug hinreicht und sagt: »Hier, wenn du an diesem Rädchen drehst, passiert das und das«. Das ist einfach unangemessen. Klassische Musik verhandelt die großen Fragen der Menschheit. Musik ist eine Sprache, die sich nicht einfach so in Worte übertragen lässt, und das soll ja auch so sein.

SPIEGEL: Was also bringt Musik dem Menschen?

Steinaecker: Vor dem Auftritt von Sigmund Freud und seinen psychologischen Traumdeutungen war die klassische Musik und Musik überhaupt die Möglichkeit, das Unbewusste sprechen zu lassen. Seit Freud nehmen wir das anders wahr. Das Unbewusste ist weitgehend erforscht, folglich spielt Musik heute eine andere Rolle für uns. Hochkomplex bleibt sie, aber das ist kein Problem, wie alle immer denken, sondern es ist großartig. Komplexe Sachen reizen das menschliche Interesse, sie beschäftigen uns, sie wecken Neugierde und machen Lust. Dafür müsste man den Leuten ein Gefühl geben. Es geht darum, dass da in der Musik Großes verhandelt wird, das sich nicht von jetzt auf gleich verstehen lässt. Aber wer dem nachgeht, wird belohnt.

Andere Mahler-Version

Hier

Auf der Suche nach Mahlers Ideen

Von innen und

auch von außen

Jedenfalls: in Toblach 2009 (dort hat er schon alles wegkomponiert)

Julian Prégardien

Zwei Sternstunden: Schubert, Müller, die Geschichte, der Film, der Liederzyklus, der Gesang

Sendung 9. Juni 2024 (W bis 2029)

https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzIwNjE5NzA HIER

Der Film begleitet Julian Prégardien auf seiner Reise zu den Ursprüngen des Liederzyklus und beim Austausch mit verschiedenen Persönlichkeiten. Ein Psychiater erklärt das Phänomen der unerfüllten Liebe, eine Gender-Expertin gibt Einblicke in die Perspektive der angebeteten Frau und ein Schubert-Kenner vermittelt die Künstlerwelt des Komponisten zwischen Genie und Wahnsinn. Neben den Pianisten Kristian Bezuidenhout und Daniel Heide verzaubert die Puppenspielerin Manuela Linshalm das Publikum mit ihrer zeitbasierten Interpretation der romantischen Erzählung. Es ist eine Suche nach einer immer neuer Inspiration für ein Werk, das Julian Prégardien als Sänger besonders viel bedeutet und für das er seine Freude mit vielen Menschen teilen möchte. Ein Film von Nanna Schmidt.

https://www.ardmediathek.de/video/kulturmatinee/julian-pregardien-singt-schuberts-schoene-muellerin/swr/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzIwNTQ1Mzc HIER

„Die schöne Müllerin“ Gesamtaufnahme SWR

Der Film zeigt auch, dass man den Dichter genauso ernst nehmen muss, wie Schubert es tat.

Siehe auch Christian Gerhaher zum gleichen Thema hier im Blog

Zu Julian Prégardien siehe auch hier im Blog

Bachs Jodler

Meine „fixe Idee“

BWV 848

Quelle: hier

Dies nur als Appetizer. Man könnte nachforschen, ob etwa zu Bachs Zeit schon Tiroler Musikgruppen in Sachsen unterwegs waren… aber man kann sich auch mit der Vorstellung zufriedengeben, dass Bach ein besonders heiteres Thema verwenden wollte, das nicht gerade nach der Fugenform schrie… da kam er auf den Sextsprung aufwärts.

Ein Charakteristikum sollte einem bei der Betrachtung des Thema bewusst werden: wo liegt eigentlich der natürliche Akzent? Der höchste Ton exponiert den schwächsten Punkt des Taktes, und der Rückfall auf den Ausgangston gis wirkt durch die Stellung am Taktanfang weder geadelt, noch durch Wiederkehr gewichtiger. Entscheidend ist, wie dieser Ton behandelt wird, wenn es mehrstimmig weitergeht: die andere Stimme bildet immer mit ihm eine Dissonanz, die weitertreibt. Man sehe den Anfang des Taktes 4 (eis zu dis) oder der Takte 6, 11 oder 15 – genau genommen immer, und doch ist man selbst als Spieler zuweilen überrascht, weil die Sekundreibung durch einen Sprung erreicht wird: eine kühne Kontrapunkt-Idee! Mein Gott, auf dieser Basis kann man nicht jodeln!

Wir dürfen gespannt sein. In Cis-dur, eine Tonart mit 7 Kreuzen, – absurd genug? Ich erinnere mich, dass ich mich mit dieser Tonart schon einmal auseinandergesetzt und befreundet habe: hier. Und nun dies: Erster Band, BWV 848. (Zum „Wohltemperierten Klavier“ überhaupt folgt ein Link weiter unten im heutigen Text).

Allerdings möchte ich bei analytischen Betrachtungen ungern Leser/inner, Hörer/innen ausschließen, die im Notenlesen nicht zuhause sind, aber denen doch jeder Jodelanklang  ein wissendes Lächeln ins Gesicht zaubert. Also hören Sie doch den Fugenbeginn, bis Sie entsprechend heiter gestimmt sind, bereit, es in jedem Versteck aufzuspüren.  (Das folgende Titelbild mit dem Crucifix führt in die Irre. Nebenbei: das Porträt auch.)

I ab 0:10 (Sopran) (Alt) (Bass) (überz.) II ab 0:49 (Bass) III ab 1:21 (Sopran) IV (Sopran) ab 2:16 Oder lieber mitsamt Praeludium? 0:00 bis 1:32 dann Fuge bis 4:01 im folgenden Beispiel:

Übrigens würde ich niemandem, der das „Wohltemperierte Klavier“ noch nicht gut kennt, raten, eine Gesamtaufnahme aufzulegen und sie von Anfang bis Ende durchzuhören. Man wird von der Fülle erschlagen und leicht sagen: „Auf die Dauer etwas eintönig“. Nichts falscher als das! Zur ersten Übersicht orientiere man sich hier.

Noch einmal von vorn:

 Gekennzeichnet sind die Anfänge der einzelnen Teile („Durchführung“ genannt), hier erkennt man vielleicht (violett eingekreist) I, II und III, die weiteren regulären Themeneinsätze innerhalb dieser Teile an den runden Halbkreisen vor ihrem ersten Ton. Der unscheinbare Buchstabe ü heißt überzähliger Einsatz (dazu nichts weiter! wohlgemerkt: nicht „überflüssiger Einsatz“ ), Z bedeutet Zwischenspiel. Damit wären Sie analytisch vollständig ausgerüstet. – Auf der nächsten Notenseite (s.o.) gibt es nur noch die Durchführung IV, und die ist – o Wunder! man hört es nicht auf Anhieb! – praktisch fast identisch mit der Durchführung I.

Ein Blick in die Noten zeigt, dass man den Zwischenspielen eine wesentliche Rolle zubilligen muss, sie nehmen nicht nur viel Platz ein, sie bilden auch musikalisch einen wunderbaren Kontrast, indem sie Elemente des Haupthemas hin- und herwenden oder sequenzenartig aneinanderreihen.

Wer mit dem Notentext Lese-Probleme hat, halte sich an die genauen Zeitangaben für die Youtube-Klangbeispiele, – man kann alles, wovon ich rede, hören: es ist keine Papiermusik, so wenig wie der Jodler, von dem wir ausgingen.

Wesentlich für eine Bachsche Fuge ist, nicht nur die Themen-Wiederkehr wichtig zu nehmen (dies gilt übrigens auch für Interpreten), ihr Wiederauftauchen in den anderen Stimmen zu beobachten,

z.B. in Durchführung I in der Reihenfolge (Oberstimme), (Mittelstimme), (Unterstimme), (überz. in der Oberstimme), – überzählig? weil es in den 3 Stimmen dieser 3-stimmigen Fuge bereits „durch“ ist -,

sondern eben auch: die Zwischenspiele, die kurzen zwischen den einzelnen Einsätzen und die langen, die den einzelnen Durchführungen folgen oder vorangehen.

Nur eins erwartet man vergebens: Atempausen, die der Gliederung entsprechen – wie man sie aus der Klassik kennt, etwa bevor das 2. Thema einsetzt. Die Nahtstellen sind in die fließende Textur perfekt eingebettet.

Das alles klingt in Worten etwas verzwickt, in der Musik aber einfach und eher verspielt. Insbesondere, wenn Sie die Zwischenspiele nicht als nebensächlich, sondern als Witz der Fuge betrachten. Auch das Haupthema nicht als absoluten Herrscher hofieren, sondern seine starken „Gefährten“ erleben: z.B. gleich am Anfang, wenn das Thema allein (1-stimmig) in der Oberstimme zu hören war und in der Mittelstimme in etwa gleichlautend beantwortet wird, zugleich der hohen Stimme weiterhin lauschen, wie sie nun dazu die Gegenstimme, den Contrapunctus, etabliert. Und dann?

Es ist klar, dass man aufmerksam zuhört, aber mehr nicht, ein spezieller kontrapunktischer Scharfsinn ist nicht gefordert. Eher wird die helle Freude am kaleidoskopischen Austausch der Stimmen erwachen. Keine Prüfungsaufgabe – ich spreche von Freude, wünsche vor allem viel Vergnügen!

Ja, aber … wann habe ich denn nun diese Bach-Fuge wirklich verstanden?

Ach, wenn Sie noch mehr benennen wollen: Sie kennen ja nun die 4 Durchführungen, und das ist schon viel: zu wissen, dass die erste und vierte sich gleichen (jeweils drei Themenauftritte und ein „überzähliger“).

Die Durchführungen II und III haben aber auch etwas gemeinsam: jede hat nur zwei Themenauftritte, die II. in Unterstimme (Takt14f) und Mittelstimme (Takt 19f), die III. in Oberstimme (Takt 25 mit „Anlauf“) und Mittelstimme (Takt 27 mit Auftakt).

Dem nachfolgenden Zwischenspiel gilt dann unsere ganze Aufmerksamkeit: es vertieft sich a) in die verspielten Sequenzen aus den früheren Zwischenspielen, b) sie widmet sich dem Anfang des Haupthemas und lockert es durch die Kippfiguren der linken Hand, vertauscht dann die Rollen der beiden Hände (Takte 35-38 und Takte 39-42). Und schon sind wir unvermittelt (oder besser: mehrfach vermittelt) im Beginn der Durchführung IV (Takt 42).

Habe ich damit wenigstens den groben Formverlauf der Fuge verstanden? Allerdings ohne den Wechsel der Tonarten zu benennen. Ich vermute doch, den fühlen Sie schon von selbst ausreichend. Ansonsten genügt es, das kaleidoskopische Spiel der Themen und Zwischenspielmotive zu verfolgen: sie haben keine Bedeutung, die man verstehen muss. Vielleicht gehört noch die Wahrnehmung der Auflockerung und Verdichtung des Tonsatzes dazu, z.B. die ausgedehnte Zweistimmigkeit vor der Durchführung IV, die durchgehende Dreistimmigkeit dieser Durchführung und nach deren letztem („überzähligem“) Themenzitat in Takt 58 – in der kurzen Coda – das nahezu dramatische Zusammengehen der linken und der rechten Hand in 16teln (20 Noten!), bevor die bündige Schlusskadenz folgt.

Ich muss zugeben: Worte der Musikbeschreibung machen einen langweiligen Eindruck, so wie die Beschreibung einer Hügelkette nichts von der Schönheit der Landschaft verrät, an denen sich unsere Augen nicht sattsehen können. Wenn sie nicht vor uns liegt, kann ich nur versichern, dass die Wirkung sehr schön ist. Ja, beseligend. Und schweigen.

Ziehen Sie keine vorschnellen Folgerungen aus dem folgenden Titelbild, die Aufnahme ist einfach „bezaubernd“. Und danach fühlen Sie sich vielleicht ähnlich enthusiasmiert wie die Künstlerin.

0:00 – 0:29 II 0:30 – 0:53   III 0:54 – 1:33   IV 1:34 – 1:58 (+ Coda) 2:07.

Angela Hewitt ! Wir lächeln auch.

Bach bei Blumenberg nachgelesen

Matthäuspassion

Noch einmal: Timor Dei

Die Zeit vergeht. Es ist jetzt nur eine Ostererinnerung, die ich hatte dokumentieren wollen, und dann ist nur der Ansatz stehengeblieben,bzw der Vorsatz, einige Leseerlebnisse festzuhalten. Vor allem, wieviel Text bei Blumenberg den theologischen, exegetischen Implikationen gewidmet ist und einen gewahr werden lassen, wie sehr Bachs Musik über Anflüge des Zweifels und jede grundsätzlichere Infragestellung seiner Quelle hinweggetragen hat.

Achtung: der folgende Abschnitt beruht teilweise auf Erinnerungfehlern (geschrieben ohne vergleichende Rücksprache mit den Notentexten der Original-Passionen. Ich korrigiere nicht, weil die Irrtümer und deren Aufklärung eine interessante Aufgabe ergeben.

Es wird vielen so gehen, dass sie – wie der Evangelist Julian Prégardien hier von sich berichtet – zutiefst erschüttert werden durch die „Erbarme-dich“-Arie, vorbereitet schon durch das extensive Melisma „…und weinete bitterlich“. Man ist bereit, sich mit dem Schicksal des Petrus zu identifizieren -, und bemerkt doch kaum, dass diese Hauptfigur für den Rest der Geschichte keine Rolle mehr spielt. Man hat begriffen, was Sünde ist. In diesem Sinn wird er im Anfangschoral der zweiten Teil nochmal genannt. Im folgenden tritt Judas an seine Stelle und erlaubt – so scheint es – eine eindeutige Parteinahme. Das hat enormes dramatisches Potential vom Judaskuss bis zum Suizid und dem Nachklang der Silberlinge, aber so, dass man sich auch viel leichter von ihm trennt. Und doch wirkt diese Figur nach und lässt, anders als Petrus, bei näherer Untersuchung keine Ruhe. Petrus ist schwach, aber ob Judas böse ist (oder nur sein muss), das wissen wir nicht.

Ich erinnere mich, dass mich schon in meiner Jugend ein Fischer-Taschenbuch, das ich im April 1956 zu lesen begann, begeistert hat; es machte mir erstmals ein Denken in Ambivalenzen plausibel: es begann mit „Caesar und Brutus“ und behandelte im Anhang „Jesus und Judas“. Von einer  „Judastragödie“ ist die Rede. Quelle: Rudolf Goldschmit-Jentner: „Die Begegnung mit dem Genius“. (Heute sucht man in der allzu kurzen Wikipedia-Biographie vielleicht vergeblich Aufschluss über den Zeitraum 1933 -1945, für mich ist daher ein bestimmtes Detail der Vita an anderer Stelle wichtig: hier Mai 1943.)

Blumenbergs Buch „Matthäuspassion“ in der Besprechung von Christoph Türcke (ZEIT 19.5.89)

ZEIT 19.5.1989

https://www.zeit.de/1989/21/philosophie-im-plauderton HIER

(Fortsetzung folgt)

Was ist ein „golden moment“ des Musizierens?

Glatteis Musikpädagogik

Nicht jeder Beitrag in „Musik & Ästhetik“ muss mir gefallen; es genügt, wenn er unverhoffte Anregungen bietet. Das geschieht selbst dann, wenn der Titel eher entmutigt wie dieser: „Hegel, Plessner und die dispositionale Realität musikalischer Bewegung“ und der Autor mir völlig unbekannt ist: Markos Tsetsos.  Während es mich elektrisiert, wenn ich in Anmerkung 2 einen (aus meiner Sicht unbegreiflich) vernachlässigten Namen der Musikästhetik sehe, der das Problem erstmalig angegangen ist: Victor Zuckerkandl. Für mich Anlass nachzusehen, was der denn am Begriff musikalischer Bewegung aufgezeigt hat. Aber noch ehe ich es realisiere (ich komme an anderer Stelle darauf zurück), hat mich dieser neue Autor gefesselt, der immerhin schon 2007 eine Arbeit im Hegel-Jahrbuch veröffentlichen konnte, die sich durch besondere Klarheit auszeichnete: „Über den Lebensbegriff in der Ästhetik Hegels“ .

Inzwischen bin ich allerdings ausgewichen auf einen anderen Beitrag des oben genannten Ästhetik-Heftes, weil er erlaubte, eine Youtube-Aufnahme dingfest zu machen, die mich an viele Diskussionen vergangener Zeiten erinnerte, über die Vermittlung musikalischer und technischer Erfahrung im Lehrer-Schüler-Verhältnis, z.B. im regelmäßigen Unterricht oder in konzentrierten Meisterkursen, die extern stattfanden. (Flagrante Erfahrungen der Freunde, die den gemeinsamen Lehrer in Frage zu stellen schienen, wenn sie von Wunderbegegnungen mit Wolfgang Schneiderhan oder George Neikrug berichteten.)

Mir scheint, die Zeiten haben sich grundlegend geändert, ich habe damals Interessantes aus Sebök-Kursen gehört, z.B. dass die Geschichte der gültigen Klaviermusik mit Bach beginnt oder allerhand weise Sätze von der Art, dass alle Musik „romantisch“ sei. Keine Differenzierung zwischen barocken Affekten, klassischem Ausdruck, Expressivität, Identifizierung und Objektivierung, oder den zahlreichen Schattierungen, wie man sie schon damals in dem Buch „Denken und Spielen“ (1988) von Jürgen Uhde und Renate Wieland nachvollziehen konnte.

Nun also eine Wiederauferstehung: „Masterclass-Lesson“ von 1987 mit György Sebök, die eigentlich nur als zentrales Beispiel eines eher negativ besprochenen Werkes von Nicole Besse mit dem Titel „Musik als Kunst der Begegnung“ dienen soll. Dabei ist allerdings zu bemerken, dass die sich heute aufdrängende Kritik an dieser pädagogischen Begegnung der freundlich-autoritären Art völlig ausgespart ist. Ist es womöglich nur dem Zeitgeist geschuldet, wenn man sich auf das latente Genderproblem konzentriert? Es ist nicht die Länge der Vorrede (bei minimalem Sinn), die lähmend wirkt, in der sich aber schon das Machtgefälle manifestiert, sondern das begleitende Dauerlächeln des Masters und sein auf die junge Pianistin fixierter Blick. Sie hat nichts zu sagen, ja, sie hat nicht mal einen Namen.

Später wird sich zeigen, dass sie glänzend Klavier spielt, wenn man sie lässt, und dies ist überhaupt die Grundlage der scheinbar magisch gelingenden Unterweisung. Das nichtsahnende Publikum darf annehmen, dass die Fähigkeiten erst hier unter dem Zuspruch des väterlichen Magiers aufgeblüht sind.

Natürlich geht es um diese Musik (Haydn C-dur-Klaviersonate 2. Satz). Er ist bewundernswert, wie die Pianistin auf Störungen reagiert, Ab-lenkungen wegsteckt, z.B. bezüglich der Kopfdrehung in die Richtung dessen, der sie korrigieren wird, – wäre die Spiegel-Frage auch gekommen, wenn ein männlicher Könner den lernenden Part innegehabt hätte? – wäre auch dann der Lehrer hinter ihn getreten und hätte ihm überraschend den Kopf „verdreht“?

Durch seine Wunden sind wir geheilt

Während der Autofahrt

B.S. erinnert sich: „Durch seine Wunden…“

Zitat:

Händel entfaltet in der dramatischen Verdichtung auch einen großen polyphonen Reichtum, zum Beispiel in der chromatischen Fuge «Durch seine Wunden sind wir geheilt», in der schon das «Kyrie»-Fugenthema aus Mozarts Requiem deutlich veranlagt ist (Mozart hat sich eingehend mit dem «Messiah» beschäftigt und in Wien für die Pflege barocker Musik im Haus des Kunstförderers Van Swieten eine eigene, den instrumentalen und klanglichen Vorstellungen der Zeit angepasste Version hergestellt). (hier)

ab 4:49

Wikipedia hier

Ohne Pause (attacca) folgt die lebhafte Kyrie-Fuge, deren Thema – mitsamt dem Kontrasubjekt – ebenfalls von Händel übernommen ist (nämlich aus dem Schlusschor We will rejoice in Thy salvation aus dem Anthem for the victory of Dettingen HWV 265).[12] Mozart kannte dieses Thema gut aus seiner Bearbeitung von Händels Messiah (vgl. den Chorsatz And with his stripes we are healed aus dem Messiah).[13] Die kontrapunktierenden Motive zu diesem Fugenthema nehmen die beiden Themen aus dem Introitus wieder auf und variieren sie. Die zuerst diatonisch steigenden Sechzehntel-Läufe werden im Lauf der Durchführung zunehmend durch chromatische abgelöst, was eine Steigerung der Intensität bewirkt.

Auf der Webseite des Bachchors Tübingen stellt Ingo Bredenbach die Themen des Messiah-Chors und der Kyrie-Fuge einander gegenüber, mit einem instruktiven Notenbeispiel; siehe bachchor-tuebingen.de, nach unten scrollen. hier

(Fortsetzung folgt)

https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4ludium_und_Fuge_g-Moll_BWV_861_(Das_Wohltemperierte_Klavier,_I._Teil) hier darin Hinweis auf Keller und dort auf Max Seifferts „Ahnentafel“ des Themas.

Das Thema bei Haydn in opus 20 Nr. 5

Auch dieses Thema nicht vergessen:

„Es ist der alte Bund“ BWV 106

Kurdische Geige u.a.

Melodische Zellen erschließen (es ist nur ein Spiel). Sie können jedes andere Melodieinstrument verwenden, auch Ihre Stimme! Am besten ohne Zeugen.

Ein Beispiel in dem Band V „La Musique Arabe“ von Rodolphe d’Erlanger. Links die vollständige Skala des Modus, unterteilt in die Abschnitte, die der Reihe nach einzeln melodisch erschlossen werden. Darunter die Analyse und die Spielanleitung. Auf der rechten Seite die Darstellung einer möglich Entfaltung, soweit sie sich in Notenschrift darstellen lässt. Es empfiehlt aber , das was man tut, in Worten zu beschreiben, statt es in Notenschrift wiederzugeben, da es nicht wie eine detaillierte Übevorschrift genommen werden soll: man sollte sich an bestimmte Töne und Tonfolgen halten, aber rhythmisch und bogentechnisch völlig frei bleiben, auch Wiederholungen sind erwünscht und anheimgestellt. Die Impression ist: man tastet schrittweise voran in dem anliegenden Tonraum, jedes Detail auskostend, verändernd, umfärbend „bis zum Überdruss“, bzw. solange es Vergnügen bereitet.

Ich beschreibe, frei nach dem schriftlichen Vorbild d’Erlangers, wie ich voranschreiten möchte:

Beginn auf der A-Saite 1.Lage, mein erster Zentralton ist der Ton d“‘, mit Einstieg auf Leiteton cis, zugleich im Sinn: das leere A (a“) schwingt innerlich mit, dort werde ich zwischenlanden. Im Notenbeispiel sind das die ersten anderthalb Zeilen. Das Anspielen des Tones f“‘ ist schon ein „Angang“ (egal wie ich den kleinen Lagenwechsel mache), danach, das lange e“‘, ist sozusagen eine „Wiedergutmachung“, weil ich es am Anfang nur gestreift habe. Jetzt gebe ich seinem Ruf nach, es verlangt nämlich nach den tieferen Tönen, die noch gar nicht weiter „karessiert“ sind, in Richtung A-Saite vor allem cis und b. Zur Stärkung kann der untere Wechselton g“ kurz berührt werden.

Beispiele anderer Geiger, die den armen Nachahmer inspirieren, aber nicht indoktrinieren.

Für mich ist dies eine Erinnerung (im Sinne von Mahnung), die Geige loszulösen vom stupiden Technik-Üben. Mich zwanglos mit melodischen Formeln zu beschäftigen, die mir in schriftlicher oder praxisnaher Form gegeben sind.

 

Kunst der Fügung

Zu Bachs Spiegelfugen

Der Zufall wollte, dass es sich so gefügt hat: die Erinnerung an die Problematik der Bachschen Zusammenfügung der Fugen zu einem „Kunstbuch“, besonders im letzten Teil des Werkes. Meine Irritation, ob Zoltán Kocsis etwa die Rectus- und die Inversus Version nach der (irrigen) Leibowitz-Idee zusammengefügt hat, – alldies veranlasste mich, in aller Eile (ich hatte eigentlich anderes zu tun) die Belege zu sammeln, die ich so schnell greifen konnte. Der Zufall beruhte darauf, dass mich die Aufnahme mit Schaghajegh Nosrati sehr faszinierte, ihre Leichtigkeit plus Präzision, dass es mir keine Ruhe ließ, bis mir das ganz besondere Bach-Thema wieder präsent war.

Wikipedia:

Spiegelfugen

Beginn von Contrapunctus XII (Spiegelfuge)
Gespiegelte Fassung von Contrapunctus XII (Spiegelfuge)

Mit Contrapunctus XII erscheint die erste von zwei Spiegelfugen. Unter einer Spiegelfuge wird hierbei verstanden, dass der gesamte Satz anschließend mit umgekehrten Intervallen wiederholt wird (das Partiturbild lässt manchmal bei Laien die Vorstellung entstehen, beide Versionen sollten gleichzeitig erklingen). Das Thema besteht exakt aus den Tönen der Grundgestalt, erklingt jedoch hier im Dreiertakt; die rhythmische Gestalt mit Betonung auf der zweiten Zählzeit in den beiden ersten Takten erinnert an eine Sarabande. Wahrscheinlich ist die kontrapunktische Komplexität der Aufgabe dafür verantwortlich, dass dieses Stück (bzw. diese beiden Stücke) als einziges nicht durch einen einzigen Spieler auf einem Tasteninstrument spielbar ist (eine Ausführung auf zwei Cembali, die jeweils zwei Stimmen spielen, ist möglich).

Variante des Themas in Contrapunctus XIII

Die dreistimmige Spiegelfuge Contrapunctus XIII hat einen ausgesprochen tänzerischen Charakter im Sinne einer Gigue, bei der Bach fast immer zu Beginn des zweiten Teils das Thema umkehrt. Auch dieses Thema ist aus dem Urthema abgeleitet. Nach einem Oktavsprung, der schon in Contrapunctus IX auftaucht, geht es für drei Takte in eine Triolenbewegung über. Im weiteren Verlauf wechselt diese Triolenbewegung immer wieder mit punktierten Sechzehnteln ab (die nach den Regeln der damaligen Aufführungspraxis rhythmisch an die Triolenbewegung anzugleichen sind). Dieser Satz ist auf dem Cembalo nur spielbar, wenn ein Interpret über eine gewisse Virtuosität hinaus mindestens eine Dezime greifen kann (Ausnahme: Fermate in T. 59 der forma inversa). Der Umfang einer typischen Orgel der Bachzeit wird nach oben hin mit den Tönen d“‘ und e“‘ überschritten. Es existiert auch eine Fassung für zwei Cembali, bei der Bach die drei Stimmen durch eine freie vierte Stimme ergänzte.

Hier der Notentext meiner alten Graeser-Ausgabe (Juli 1956) – andere Zählung (XVI=12) / wenn Sie die Noten verfolgen, – die richtige Fuge ist der gespiegelten unmittelbar zugeordnet, und zwar ebenso in Partitur (3-stimmig) wie in „Klavierzusammenfassung“ (untereinander!); ich verfolge hier in jedem Block die unterste Doppelzeile. Jede Seite hat 2 Blocks. (Die Pianistin spielt die gespiegelte Fassung. Sie sehen die Kontur des Inversus-Themenanfangs also in der 4. Zeile bzw. 9. Zeile.)

Eine andere Druckeinteilung (nur jeweils 1.Seite) zum Vergleich

Boosey & Hawkes

die Doppelfassung à 2 Clav. (nur jeweils 1. Seite)

Kolneder: Kunst der Fuge Bd.I / II (betr. den Irrtum aufgrund der Druckanordnung, – fraglich ob Leibowitz von K. korrekt interpretiert wird )

Hier folgt die Fuge in der Fassung für 2  Cembali bzw. hier mit 2 Klavieren, ebenfalls in der Inversus-Fassung, jedoch hat Bach (!) zu den 3 Stimmen eine freie vierte hinzugefügt.

https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/bach-die-kunst-der-fuge/hnum/11625752 (Rousset) hier

Kunst der Fuge Reihenfolge nach dem „Schmieder“-BWV Verzeichnis

Zur Reihenfolge der Aufnahme 1984 + Text, Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel

Bemerkungen (aus der Henle-Ausgabe):
Ursprünglich schrieb Bach die dreistimmige Fassung (in kurzen Notenwerten) und arbeitete diese dann in eine vierstimmige Version für zwei Cembali um. Dann revidierte er die erste, dreistimmige Fassung für den Druck, wobei er die Notenwerte verdoppelte. Die Version für zwei  Cembali dient als Sekundärquelle für die dreistimmige Fassung für ein Cembalo. Ähnlich dient der inversus als Sekundärquelle für den rectus und umgekehrt, da ja rectus und inversus zwei Versionen desselben Stückes darstellen.
Es gibt für diese Komposition also insgesamt acht Quellen, die in der Reihenfolge ihrer Bedeutung vorgestellt wurden (s. o.).
Im Originaldruck ist keine Fassung der Fuge nummeriert – die Nummerierung hört ja, wie erwähnt, mit Cp 12 auf. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass diese Fuge die Nr. 13 sein sollte.
Einige Fachleute haben vorgeschlagen, sie vor Cp 12 zu stellen, da sie nur dreistimmig ist. Aber Bachs Autograph und die Druckausgabe platzieren sie übereinstimmend hinter die Nr. 12 – und, was schwerer wiegt, in kontrapunktischer Kunstfertigkeit übertrifft sie die Nr. 12 bei weitem.
Die Taktvorzeichnung lautet C für den rectus und X für den inversus. Der Vergleich mit anderen Fugen, die ursprünglich in 5 notiert waren und dann in ihren Notenwerten verdoppelt wurden (Fugen Nr. 8 und 11), ergibt, dass die Vorzeichnung für den inversus korrekt ist und für beide Versionen also X gelten muss. (Vgl. die Bemerkungen zu Cp 9.)
Ein Hauptproblem für die Erstellung einer modernen Edition sind die punktierten Noten. In zahlreichen Fällen hat Bach die Punktierungen vergessen oder die Notenbalken für die kurzen Noten nicht genau bezeichnet. Besonders in dieser Frage habe ich alle verfügbaren Quellen heranziehen müssen, um eine „Urfassung“ für die dreistimmige rectus-Fuge zu eruieren, von der alle Fassungen abhängen müssen. Bach kann keine rhythmischen Inkonsequenzen zwischen rectus und inversus beabsichtigt haben; und da die vierstimmigen Bearbeitungen für zwei Cembali unmittelbar aus den dreistimmigen Fassungen für ein Cembalo entstanden sind, bin ich davon ausgegangen, dass Bach alle Punktierungen, die in einer der acht Quellen vorkommen, grundsätzlich als für alle anderen Fassungen verbindlich erachtete. Ich habe jedoch Rhythmen, die in keiner der acht Quellen punktiert sind, auch unpunktiert belassen. (In
Takt 46 z. B. sollte der Spieler jedoch zweifellos die fehlenden Punkte selbst hinzufügen und die raschen Noten dem vorherrschenden punktierten, d. h. Triolen-Rhythmus anpassen; vgl. den inversus.) Die Dutzenden von kleinen rhythmischen Abweichungen zwischen den Quellen sind weiter unten nicht eigens aufgeführt, es sei denn, sie sind in anderer Weise von Belang. Hingewiesen sei auf die fehlende Übereinstimmung zwischen rectus (Bass) und inversus (So-
pran) in Takt 15.

Kunst der Fuge: das Rätsel, um das ich mich nie (wirklich) gekümmert habe:

Gräser-Ausgabe

Im Sinn behalten! Diese Interpretation (Kunst der Fuge Robert Hill, haenssler Classic 2000) ist also nicht identisch mit Tr. 20 auf der MAK-CD unter Goebel: dort spielt Andreas Staier solo (etwas langsamer). Robert Hill spielt solo nur den Contrapunctus 3 (Tr. 3). Es folgt dieser Canon in der Taschenpartitur-Ausgabe von Boosey & Hawkes. Meine Übung: in diesen Noten auch die direkt angeschlossene Version mit den vertauschten Stimmen mitzulesen und mitzudenken: jetzt beginnt also die linke Hand, die rechte folgt 4 Takte später.

Ausgabe Boosey & Hawkes

Dem entspricht:

Aber was ist dies?

1 gute Tat zum Jahresanfang (Fuge in D)

(Nicht dramatisch, gehört zu den normalen Vorsätzen)

Diese majestätische Fuge in BWV 850 ist nicht so einfach zu „verstehen“, wie es mir bisher schien, – und dann doch wieder sehr einfach.

Die Fuge in D-dur (BWV 850) aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers, – die Kroll-Ausgabe, ein anonymes Geschenk 1960 (bereitgelegt in der Berliner Hochschule auf dem Tisch der Garderobe); sie hat sich seitdem bewährt, nur nicht in dieser Fuge, die ich bis dahin aus der Czerny-Ausgabe meines Vaters geübt hatte. Diese neue Version (mit guten Fingersätzen) schien mir insgesamt unantastbar, ich habe sie neu binden lassen und im Laufe der Jahre alle Praeludien und Fugen daraus erarbeitet, gelegentlich auch die Integrität des Notentextes überprüft, – aber hier wollte ich keine Fehler entdecken, – und einfach weiterüben. Die Noten zerfallen allmählich, besonders der erste Teil. Neuer Vorsatz Neujahr 2024: neue Noten, kritische Urtext-Ausgabe mit guten Fingersätzen. Erster Schritt jedoch – Nachbesserung in der seit „Urzeiten“ geübten Fuge in D-dur. Sie ist nicht so einfach wie sie aussieht. Durchführung / Zwischenspiel / Durchführung / Zwischenspiel / „übersteigerte Scheindurchführung“.

Das Praeludium (siehe hier und vor allem hier) ist seit Jahren mein Prüfstein der Fingerfertigkeit, sowohl die rechte Hand allein (Fingersatz!), als auch dieselbe Stimme mit der linken Hand (Fingersatz!), dann auch in Oktaven (langsam). Dagegen erscheint die Fuge wie ein Kinderspiel. – Weit gefehlt. Jetzt erste entdecke ich meine mit Bleistift eingetragene Änderung unten auf der ersten Seite, Verweis auf Czazkes … hatte ich sie für gegenstandslos oder beliebig gehalten? Nein, ich fand es gut, wie hier im Bass die Themenversion des 1. Taktes zitiert (!) wird. „Vor-echo“ des Sopraneinsatzes. Endlich ein Punkt, in dem Czazkes mal nicht recht hat.

Ich gehe noch einmal mit Rotstift an seinen Text, sehe die alarmierende Anmerkung, und selbst die früher nicht geglaubte Analyse der Fuge will mir heute einleuchten, – was für ein Esel ich doch war! (Sogar die schwer lesbare, aber gerade an dieser Stelle gut entzifferbare Kopie des Faksimiles lag mir vor – dank Adlatus Wolfhard Wirtz: Anfang des dritten Systems. Später auch die kleine Taschenpartitur aus Budapest, letzter Takt unten rechts. Ich wollte es nicht sehen! und ließ es ungeprüft.)

Praeludium und Fuge hören:

Die folgenden analytischen Markierungen in der Fuge ( B, S, A = die realen 3 Stimmen Bass, Sopran und Alt, sowie die Durchführungen I,II,III,IV) verdanke ich zum Teil der Lektüre der recht komplizierten Gedankenentwicklung in der Analyse von Ludwig Czazkes, ziehe allerdings Folgerungen, die dort so nicht stehen. Sie entsprechen lediglich den formalen Vorstellungen, die mir beim Spielen hilfreich erscheinen. Z.B. der Hinweis auf die Mitte, der die Bedeutung des oben behandelten Oktavsprunges ins Licht hebt und auch der Sonderstellung der „überlangen“ Durchführung  IV entspricht. (Sie umfasst zugleich eine neue Verarbeitung des Zwischenspiels und eine gesteigerte „Reprise“ des Bassthemas in der Grundtonart.) Darüber wird noch zu reden sein.

Czazkes macht mit fremden Analysen meist kurzen Prozess, und meistens hat er recht:

Nachdem ich eingesehen habe, dass im Bass des Taktes 13 der Oktavsprung ein bemerkenswertes Signal darstellt (Mitte) – auch:  dass hier die Durchführung IV beginnt, obwohl dadurch die Durchführung III „zu“ kurz wirkt – auch: dass das „Vor-Echo“ in Takt 13 dem in Takt 11 entspricht -, erkenne ich auch, dass es nach der Themen-Folge der Durchführung IV (mit Kadenzerweiterung in Takt 16) einer bemerkenswerten Kraftanstrengung bedarf, den mit Hilfe des Zwischenspielmotivs gestalteten Höhepunkt der Fuge (Takt 24 +25) aufzurufen: sie ist markiert durch die Interjektion des Dezimsprungs im Sopran Takt 17, der den Oktavsprung im Bass des Taktes 13 überbietet und: eine Phase himmlischer Ruhe einleitet, indem er zugleich das Zwischenspielmotiv (aus Takt 9) in der Basslage anheben lässt…

Warum der Ausdruck „überlange“ Durchführung IV? So wie das Zwischenspiel, das den Takten 9 und 10 folgte, zu den Durchführungen I und II gehört, so gehört die Wiederkehr in den Takten 17 ff zu dem Gespann der Durchführungen III und IV, gewissermaßen (wie Czazkes andeutet) mit überzähligem Bass-Einsatz in Takt 24. Man kann in diesem Höhepunkt natürlich auch die krönende Coda der Fuge sehen!

Zu beachten der (revolutionäre) Quartaufstieg im Bass: H – E – A – D – G → , Fortsetzung folgt, ich möchte glauben, mir vertraut seit … wieviel Jahren?

Quelle Ludwig Czazkes: Analyse des Wohltemperierten Klaviers, Form und Aufbau der Fuge bei Bach, Wien I: 1956, II: 1956 (unveränderte 2.Auflage Wien 1982)