Archiv der Kategorie: Medien

Projekte, die nicht enden

Von den Dauerthemen im Blog

Es sind die, die einen fortwährend beschäftigen und an denen man arbeitet. Trotzdem ergibt der Blog durchaus kein „Psychogramm“ des Bloggers. Im Gegenteil, nur das, was sich in einer Form abarbeiten lässt, die für ihn selbst und für andere ergiebig ist, soll Eingang finden. Ich will es vor allem leichter auffinden, wiederlesen und weiter behandeln können. Viele Themen, die die Öffentlichkeit beschäftigen (und so auch mich) bleiben draußen, z.B. das Thema der Kölner Silvesternacht: es wird so extensiv und intensiv in den Medien diskutiert, mit Kommentaren, Analysen und Talkshows bedacht, es gibt keinerlei Grund, sich im Blog daran zu beteiligen, gewissermaßen jeglicher Diskussion enthoben, als könne man von hier aus im Alleingang die Welt verändern. (Zu rekapitulieren jedoch etwa das erste Bild: hier. Themenkreis erweitern, – z.B. betr. Regensburger Domspatzen…)

Man kann sich aber zu Jahresbeginn kaum der Tendenz entziehen zu resümieren oder vielmehr, unerledigte Themen fortzuschreiben: virulent zu halten. Sie sind nicht mit ein paar Blogeinträgen von der Seele, im Gegenteil. Sie sind allgegenwärtig, – auch wenn ich mit dem Zug nach Köln fahre, um das Musikgeschäft Tonger in der wieder einmal neuen Geschäftsstelle aufzusuchen (was waren das für Zeiten, als sie noch meinem Büro schräg gegenüber lag!), oder mit dem Auto – wie gestern – nach Bonn und mir eine bestimmte CD vorgenommen habe, z.B. Tetzlaffs Bach-Solosonaten. Diese aus einem bestimmten Grund: weil ich so viele neue Versionen auf youtube gehört habe (Sviridov, Kadesha etc.), dass ich seine Position rekapitulieren möchte. Vor allem aber das Bach-Thema: Gil Shaham brachte mich (mit seinem inspirierten CD-Text) auf die Kantate BWV  150, die ich heute Nacht um halb 4 hören musste, – wegen der Ciaccona -, obendrein in einer Aufnahme, die aus „meinen“ 80ern stammt: hier).

Also: was soll ich tun, und was auf Eis legen? Ein Beispiel: Geigeüben = täglich Brot, schon wegen der weiterlaufenden Quartett-Praxis, natürlich Klavierüben = ebenfalls Grundnahrungsmittel, das „Wohltemperierte“, und nach wie vor Chopins gis-moll-Etüde – fast täglich seit April 2015 (siehe hier). In diesem Jahr beginnt auch wieder ein Durchgang Beethoven und Wiederholung der späten Klavierstücke von Brahms.

Aber was ich weitertreiben müsste, wären die Themen Bach (solissimo), Indien (Shivkumar Sharma, Kala Ramnath), Kamanchay (in allen Formen), Rudolstadt Juli 2016, die Idee des Festivals (Vielfalt, nebeneinander), die Stilhöhen der Kulturen (incl. Country, Pop etc.) parataktisch, Fuge (barocke „Zeit“ = Tempus fugit), was auch bedeutet: Struktur, das von innen (aus der Zelle) Organisierte, das sich organisch Evolu(tion)ierende. Von hier zu Beethoven, Schubert.

Ein leichter Termindruck (morgen Quartettprobe) Schumann op. 41 Nr. 3, Fortsetzung (ab Satz 2)  anknüpfend an den Beitrag hier.
Die Stimme (zweite Geige) sagt wenig, das Ohr dagegen: über alle Maßen schön! (Partitur bei IMSLP bzw. Petrucci.) So auch Arnfried Edler (Seite 168):

Das dritte Quartett präsentiert den seltenen Fall eines scherzoartigen (jedoch nicht als Scherzo überschriebenen) Satzes (Assai agitato) in Variationenform, dessen harmonischer und rhythmischer Duktus gelegentlich an Schuberts Variationensatz aus dem d-moll-Streichquartett („Der Tod und das Mädchen“) gemahnt.

Schumann op 40 3 zweiter

Die größten Momente jedoch bietet der langsame Satz des dritten Quartetts durch sein fesselndes polyphones Wechselspiel über einem ostinaten punktierten Rhythmus im Mittelteil.

In der Tat! Und die Zweite Geige wird zum Geheimnisträger mit dem punktierten Rhythmus, der einem leisen memento mori gleicht.

Was ist anders bei Schumanns Quartetten, anders z.B. als bei Mendelssohn, dem er sie gewidmet hat, oder anders als bei Beethoven, seinem großen Vorbild?

Martin Geck schreibt:

Über ein kammermusikalisches Werk von Georges Onslow hatte Schumann einige Jahre zuvor in seiner Neuen Zeitschrift für Musik bemerkt, es sei „ein wahres Quartett, wo Jeder etwas zu sagen hat, ein oft wirklich schön, oft sonderbar und unklar verwobenes Gespräch von vier Menschen, wo das Fortspinnen der Fäden anziehend wirkt. Damit hatte er Goethes Charakterisierung des Streichquartettes als Unterhaltung unter vier vernünftigen Leuten zielbewusst eine Wendung in Richtung Fantastik gegeben, der er nunmehr selbst folgt. Seine Quartette sind daher vielleicht aufregender als die gleichzeitigen Mendelssohns, aber auch weniger eingängig; jedenfalls erschließen sie sich nicht unbedingt beim ersten Hören, da die vier Stimmen obligat behandelt werden. [Was heißen soll: jede hat Wesentliches beizutragen, keine ist „nur für Begleitung“ zuständig; sie sind gleichberechtigt. JR]

Quelle Martin Geck: Robert Schumann / Mensch und Musiker der Romantik / Biografie / Siedler Verlag München 2010 (Seite 191)

Es gibt unter dem Stichwort „Komponiermethoden“ ein paar hochinteressante Seiten in Peter Gülkes Schumann-Buch, die gerade dieses Streichquartett op.41,3  betreffen. Ich reiße nur zwei Sätze aus dem Zusammenhang, – man nehme sich Zeit, sie zu bedenken:

Schumanns Wahrnehmung der großen Formen bezieht ihre spezifische Intensität wesentlich daher, daß er „im Augenblick … sein“ und ihn perpetuieren will, die Formen aber Verknüpfungen oberhalb der Unmittelbarkeit des den Augenblick besetzenden Klingens erfordern, also nicht erlauben, ungestört dort zu verweilen.

(…)

Dem entspricht, daß er, der den Faden ungern abreißen läßt, Unterbrechungen oder durchschaubare Überbrückungen nicht mag und, wo er sie nicht vermeiden kann, drastische Ostensionen vorzieht – das jäh herumgerissene Steuer im Dritten Streichquartett, überdeutlich signalisierende Fermaten im ersten Satz oder die ihnen ähnelnden Barrieren (….) im Finale der Vierten Sinfonie.

Quelle Peter Gülke: Robert Schumann / Glück und Elend der Romantik / Paul Zsolnay Verlag Wien 2010 (Seite 166 f)

… drastische Ostensionen – das jäh herumgerissene Steuer:

Schumann op 41,3 Scharnier

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Weiteres Streichquartett-Ziel: 25. Januar 2016  Kölner Philharmonie Kelemen Quartett siehe hier. Mehr über Murray Schafer!

Murray Schafer Tuning 1977

Mehr von Murray Schafer: Hier !

Bemerkenswert: Klassik als Brimborium?

„Epochen der Musikgeschichte“ in ARTE

Ich finde es immer bemerkenswert, wenn der Kulturjournalist Wolfgang Schreiber über Musik schreibt, insbesondere, wenn auch er sich über die Lage der klassischen Musik in der heutigen Medienwelt Gedanken macht. So gestern in der Süddeutschen Zeitung, wo er auf einen Vierteiler im Fernsehen aufmerksam machte. Einer Generation, die noch den Beginn und die Verbreitung des Fernsehens in der Gesellschaft mitbekommen hat, steckt noch die gnadenlose Kritik des großen Musiksoziologen Theodor W. Adorno in den Knochen, schlagwortartig überliefert in der These „Musik im Fernsehen ist Brimborium“. Man kann das nachlesen in einem Spiegelgespräch aus dem Februar 1968: HIER. Schwer zu sagen, wie man sich heute, nach rund 50 Jahren systematischer Unterhöhlung des klassischen Musikgeschmacks, dazu verhalten will. Eine Möglichkeit ist die, journalistisch zu fördern, wenn in den Medien überhaupt noch etwas geschieht zugunsten einer Musik, die ihrem Wesen nach nicht massentauglich konzipiert ist, aber zugleich der regelmäßigen Subvention durch Staat und Öffentlichkeit bedarf. Man versucht den berühmten „Spagat“. So – mit großem Geschick und für jeden Insider durchschaubar – auch im aktuellen Beitrag auf der Seite MEDIEN der Süddeutschen Zeitung:

Die Gefühle der Welt Epochen der Musikklassik: Ein rasanter und gescheiter Vierteiler bei Arte. Von Wolfgang Schreiber. Quelle: Süddeutsche Zeitung 8. Januar 2016 (Seite 27)

Schon der Titel (Gefühle der Welt) orientiert sich an dem Dauerthema der Medien, „große Emotionen“, und beschwört Allgemeingültigkeit, also mindestens „weltweit“. Zudem „rasant“ – gewiss nicht langweilig – und „gescheit“, also nicht reißerisch und dumm popularisierend. Wer will nicht so bedient werden? Und der Artikel beginnt mit Worten, die man zunächst ironisch verstehen mag:

Wie großartig! Fein säuberlich in vier Epochen unterteilt, erscheint uns die Welt der klassischen Musik, wenn sie als  TV-Vierteiler „für junge Zuschauer, Einsteiger und Experten erlebbar, spürbar und verständlich“ serviert wird.

Nein, es ist freundlicher Ernst, der auf eine wohlwollende Inhaltsbeschreibung hinausläuft. Selbst die Moderne bzw. das letzte Jahrhundert kommt offenbar gut dabei weg. „Experiment und Unterhaltung triumphieren in TV-homöopathischer Dosierung.“ Das kann man deuten wie man will.

Und dieses Offenlassen einer Deutung (eines kritischen Urteils), verbunden mit einer leisen Apologetik, hat mich letztlich für den Artikel eingenommen und veranlasst mich, diesen ARTE-Vierteiler auf jeden Fall zu „konsumieren“. Ganz besonders auf Grund des letzten Absatzes, einem Meisterwerk der Diplomatie:

Grobes Fazit von vier Jahrhunderten: Die klassische Musik wird zum Event; was bleibt, sind die großen Komponisten, die Formen, die Gefühle der Welt. Es ist die Quadratur des Kreises. Die vermeintlich elitäre, museale und wirklich verzweigte, in tausend Facetten glitzernde Klassikmusik will im Fernsehen populär werden. Einem Medium, in dem sie ja eigentlich, von Talkshow über Tagesthemen bis Tatort, kaum existiert. Verdienstvoll: An ihren Bildoberflächen wird sie (be)greifbarer als erwartet. Hauptsache, die Musik selbst wird nicht verhökert an Firlefanz und Klischees.

Und wird damit auch nicht … zum Brimborium?

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Zur weiteren Information siehe HIER. Oder man beschränke sich auf die folgenden Texte:

Die Sendereihe wird durch ausführliche Klassik-Sessions mit Cameron Carpenter, Francesco Tristano, Gabriela Montero und Chilly Gonzales ergänzt. Mit ausgesuchten Klangbeispielen, Anekdoten und Analysen führen sie die Internetnutzer in die Musik und ihre Epoche ein.

Epochen der Musikgeschichte – Barock

Wird publiziert am 10.01.2016 – (90 Minuten) Pressetext ARTE:

Die Maxime des Barockzeitalters: „Mach es grandioser, reicher, bunter!“ gilt auch für die Musik. Die Komponisten schaffen ihre Werke zur Ehre Gottes und seiner absolutistischen Stellvertreter auf der Erde. Vivaldi wird zum ersten Star der Musik, Monteverdi erfindet die Oper, Lully feiert den Sonnenkönig, Händel macht Karriere in London – und mit der Musik von Johann Sebastian Bach vollendet sich eine Epoche, die schon weit über den „Barock“ hinausweist.
In dieser Folge zeigt der junge Pianist Francesco Tristano, weshalb die Musikwelt auch vom „Zeitalter des Generalbass“ spricht, wie eine „Fuge“ funktioniert und warum wir heute im „Neobarock“ leben. Interviews mit Musikstars wie Daniel Hope, Anna Prohaska und Alison Bolsom zeigen die auch heute noch ungebrochene Faszination dieser musikalischen Epoche und bringen die populären Werke des Zeitalters wie die „Vier Jahreszeiten“ von Vivaldi zum Klingen.

>> Ausstrahlung am Sonntag, 10. Januar um 17.40 Uhr auf ARTE

Siehe auch HIER.

Was mich skeptisch stimmt: ich sehe eine Reihe von Namen, die nachweislich mit Musik zu tun haben; manche nehme ich ernst, manche weniger, obwohl man auch ihnen eine gewisse Bedeutung für die klassische Musik nicht absprechen kann (Beispiel Cameron Carpenter). Ich sehe aber z.B. nirgendwo einen mir bekannten Namen aus der Musikwissenschaft. Das mag inhaltlich nichts Nachteiliges bedeuten, mindert jedoch das Vertrauen in die Kompetenz des Unternehmens. Ich werde versuchen, die Sache vorurteilsfrei auf mich wirken zu lassen, ohne am Ende die Ausflucht ins Massen-Pädagogische zu wählen: die Sendung war für mich unerträglich, aber „für die Leute“ bestimmt nützlich. (Ich muss keine Rücksichten walten lassen, die für die Presse gelten. Die Klick-Frequenz dieses Blogs ist mir – fast – gleichgültig.)

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Kurzes Fazit  (post factum):

Die Sendung war von Anfang bis Ende ein Vergnügen!  Gerade der Versuch, immer wieder das Alte und die Moderne zu verbinden, beides als unsere Gegenwart. Wunderbare Bilder und Szenenwechsel zwischen Venedig, Florenz, London (das Haus, in dem Jimi Hendrix wohnte, ein paar Sekunden später das, in dem Händel bis zuletzt gelebt hat), Potsdam. Sehr gute Passagen aus Filmen wie „Der König tanzt“, Heinrich Schütz und die Bedeutung des Westfälischen Friedens. Wunderbar die Szene aus Monteverdis „Orfeo“ und vieles andere. Am wenigsten akzeptabel die Reduzierung Vivaldis bei gleichzeitiger Hyper-Überhöhung (vgl. z.B. hier und hier), völlig unzureichend die Behandlung Bachs: als habe er eigentlich ein Opernkomponist sein wollen, unbefriedigend, aber immerhin ganz nett Francesco Tristanos Versuch, das Prinzip „Fuge“ an der zweiten aus dem Wohltemperierten Clavier zu erklären (warum denn sollen die Stimmen voreinander fliehen?) , unsinnig verkürzt die Geschichte vom „Musikalischen Opfer“: als sei Bach letztlich mit dem Versuch gestrandet, sich gegen den neuen Stil aufzulehnen. Er hat ihn vielmehr selbst virtuos angewandt, wo er ihn wirklich brauchen konnte (siehe H-moll-Messe). Er hat auch durchaus eine Fuge über das (angeblich) „königliche Thema“ improvisiert, wahrscheinlich in der Art des 3-stimmigen Ricercars, nur eben nicht die verlangte 6-stimmige, die er nachgeliefert hat, – nebst der Sammlung verschiedenster Stücke, einer wahren Wunderkammer das alten und des neuen Stils (Triosonate). Man hätte dazu nicht den Flötisten Pahud, sondern den (tatsächlich!) beteiligten Musikwissenschaftler Peter Wollny befragen sollen. Irreführend selbst noch die gutgemeinte Aussage von Laurence Cummings, Bachs Musik sei der direkte Weg zu Gott. Grundsätzlich ist klar: man setzt nur junge und schöne Künstler liebevoll ins Bild, eine blonde Augenweide in der Tat: die britische Trompeterin, deren Name mir entfallen ist. Skurill, aber wohl nicht ganz unmotiviert der Auftritt eines ziemlich intellektuellen Tätowier-Künstlers, der vom Barockgeist besessen ist… Ach so, wir leben ja im Neobarock.

Ansonsten: Wolfgang Schreiber hatte ganz recht!

Nächstes Mal bin ich wieder dabei.

HIER !

Zuviel Musik?

Fehleinschätzungen, die mit einem Überangebot zu tun haben

Jeder kennt die Situation, dass man sich das vielbändige Gesamtwerk eines Autors zulegt und dann kaum eine Seite darin vollständig liest. Früher, als seine Essays einzeln in Zeitungen oder Magazinen veröffentlicht wurden, hat man sie mit dem Farbstift durchgearbeitet, herausgetrennt und sorgfältig verwahrt. Man wollte sie nicht aus dem Sinn verlieren. Die leichte Verfügbarkeit heute mindert offenbar die Dringlichkeit. Wie oft höre ich noch eine vollständige Mahler-Sinfonie, – die ich früher in Einzel-LPs erwarb und mit gehöriger Ausdauer abnutzte -, nachdem ich mehrere CD-Mahler-Gesamt-Editionen besitze? Und da ich nun alles auf Knopfdruck bekomme, erst recht bei Spotify: Soll ich mir das Finale der Fünften in Erinnerung rufen? Oder lieber mal eben Lulus Todesschrei anspielen? – Ach was, von Popmusik ist die Rede. Von veritablen Gemeinschaftserlebnissen. Oder auch – von der schwindenden Bedeutung der klassischen wie der Popmusik?

ZITAT aus dem SPIEGEL

Tatsächlich setzen uns die Streaming-Dienste fast die komplette Musikgeschichte vor, sie geben uns Zugang zu einem Universum von Songs, wir können alle Lieder der Welt hören, aber am Ende hören wir nichts, weil die Musik selbst beliebig geworden ist und im Kosmos der totalen Verfügbarkeit kaum mehr mit Bedeutung aufgeladen werden kann.

Die Idee, dass Pop ein identitätsstiftendes Erlebnis für ganze Kohorten und Generationen sein kann, ist verloren gegangen. Zwar gibt es noch Popstars, aber niemand schafft heute, was Pop einmal konnte: die Menschen in einer bestimmten Haltung zu vereinen, so wie Elvis oder Bob Dylan, die Stones , die Supergruppen der Siebziger, die Sex Pistols oder Michael Jackson und Madonna. Heute verbindet nicht Popmusik die Menschen , sondern Snapchat, heute tritt im Zweifel eher Twitter eine Revolution los und nicht ein Song von Pharell Williams. Früher, so formulierte es der Autor Jason Tanz im US-Magazin „Wired“, wollten junge Menschen so sein wie der Led-Zeppelin-Gitarrist Jimmy Page. Heute sei ihr Vorbild Larry Page, der Gründer von Google.

QUELLE DER SPIEGEL 1/2016 30 Millionen Lieder Streaming-Dienste wie Spotify oder Apple Music bieten unbegrenzten Zugriff auf die Songs der Menschheit. Nun können alle alles hören und das jederzeit. Aber wer verdient damit überhaupt Geld? Und wie hat das die Musik verändert? Von Philipp Oehmke. (Zitat Seite 110)

Szenenwechsel

Die Süddeutsche Zeitung bringt heute einen Bericht über „Musik im Kopf“. Den Titel kenne ich seit 10 Jahren von Manfred Spitzer, dessen Musik-Kompetenz mir durchaus zweifelhaft erschien. Dieser Artikel ist aber offenbar gut recherchiert und zitiert Fachleute, die ich gern zu weiterer Information verlinke. Aber was mich nervt, ist die Tendenz, Musik immer auf die Emotionen festzunageln. Es handelt sich um – sagen wir – spannende Strukturen. Manchmal erregen sie mich, begeistern sie mich, meistens interessieren sie mich (nur) sehr. Nicht mehr und nicht weniger! Insofern gefällt mir der reduzierende Ansatz des Artikels, der sich auf den amerikanischen Musikästhetiker Leonard B. Meyer bezieht:

Er behauptete 1956 in seinem Buch „Emotion and Meaning in Music“, dass Musik durch die Art, wie sie aufgebaut ist, Emotionen hervorruft: Musik befriedige uns durch ein geschickt komponiertes Wechselspiel mit Spannungsaufbau und Auflösung.

„Beim Musikhören versucht unser Gehirn ständig vorherzusagen, wie die Musik weitergehen wird“, bestätigt Lutz Jäncke, Neurowissenschaftler an der Universität Zürich. „Wie entwickelt sich die Melodie? Wird die Musik lauter oder leiser? Wie verändert sich der Rhythmus? Sobald etwas kommt, das wir nicht erwarten, zum Beispiel ein Rhythmuswechsel, sind wir überrascht. Es entsteht eine Spannung, von der wir erwarten, dass sie später aufgelöst wird, zum Beispiel, wenn die Musik den vorherigen Rhythmus wieder aufgreift.“

Der Effekt ist vergleichbar mit einem Kriminalroman, in dem ein Autor einen sogenannten Cliffhanger einbaut: Ein Ermittler begegnet zum Beispiel einem bewaffneten Mörder. Aber statt einen Zweikampf zu schildern, wechselt der Autor die Szene, um die Spannung zu steigern. Wir lesen schnell weiter, weil wir hoffen, die Auflösung zu erfahren. In dieser Erwartungshaltung steigt sowohl beim Lesen als auch beim Musikhören die Dopamin-Ausschüttung, und unsere Handflächen produzieren Schweiß. Der Musikpsychologe Stefan Koelsch von der norwegischen Universität Bergen konnte in Experimenten nachweisen, dass unser Körper diese Symptome beim Musikhören selbst dann zeigt, wenn wir einen Wechsel in einem Stück nicht bewusst wahrnehmen.

Quelle Süddeutsche Zeitung 2./3. Januar 2016 Musik im Kopf Hören Menschen unbewusst Stücke, die zur Stimmung passen? Oder beeinflussen Lieder die Gefühle? Forscher blicken in das Gehirn, zum das Zusammenspiel von Musik und Emotionen besser zu verstehen. Von Boris Hänssler.

Im weiteren Verlauf geht es auf Stimmungen und subjektives Befinden etc. Ein entscheidender Punkt wäre jedoch:  dass jeder informiertere Musikhörer nicht Musik auflegt, um bestimmten Emotionen nachzuhängen, sondern – weil sie interessant ist. Die Emotion, die sie übermittelt, kann völlig nebensächlich sein. Man greift jedoch die Emotionen heraus, bzw. die dazu passenden Einzelstücke, weil sie leichter handhabbar sind: die Vorsortierung treibt die psychologische Musikforschung vielleicht bereits in eine Richtung, die vom musikalischen Standpunkt aus wenig ergiebig sind. Wozu hat denn eine Sinfonie 4 Sätze, warum changiert jeder Satz in verschiedensten Schattierungen und Techniken? Weil die Stimmungen, die man assoziiert, uns gar nicht in Besitz nehmen sollen, sondern allenfalls das Material bilden, mit dem … gespielt wird. Und das Spiel … fesselt uns. Der eine Contrapunctus aus Bachs „Kunst der Fuge“ ist ganz anders gearbeitet als der nächste, aber der „Ductus“ ist ganz ähnlich, man verfolgt das Spiel der Kräfte und Linien sehr aufmerksam, aber dass meine Handflächen mit der Absonderung von Schweiß reagieren, ist eher unwahrscheinlich. Auch das erhabene Gefühl, das manche Hörer vielleicht verbalisieren, ist relativ unerheblich. Unerheblich ist auch, wenn Lutz Jähncke sich im „Herbst“ der Vier Jahreszeiten von Vivaldi an den „Indian Summer“ in Boston erinnert, „die Herbstzeit mit ihren rotorangen und goldgelben Farben. Ich rieche bei der Musik sogar noch das Laub.“ (a.a.O.) Für andere Hörer ist nur noch entscheidend, dass das Werk bis zum Überdruss abgeklappert ist und für 10 Jahre in den Giftschrank gehört, mit dessen Essenzen man keine Emotion mehr überprüfen sollte.

Weit ergiebiger scheint mir die Vorgehensweise, die der SPIEGEL-Artikel anregt, gerade durch den nicht weiter spezifizierten Einsatz des Wortes „Bedeutung“.

ZITAT SPIEGEL 1/2016 (a.a.O. S.115)

Der Anspruch […] offenbart sich in dem Begriff, den Ek, Parks oder Iovine für ihre Arbeit reklamieren und den sie zur Sicherheit aus der Kunst geborgt haben: Kuratieren. Das Wort suggeriert, dass Bedeutung erzeugt wird, indem Dinge neu angeordnet werden. Die Aufgabe des Kurators sollen dabei immer weniger die Algorithmen übernehmen, die bei Amazon Bücher empfehlen, sondern menschliche Experten.

Und so strömt diese kuratierte Musik wie eine entwertete, hoch inflationäre Währung in unsere Telefone. Sie kommt aus dem 4G-Stream wie der Strom aus der Steckdose. „Je weiter wir im 21. Jahrhundert voranschreiten“, hat neulich Bill Drummond von dem Technoprojekt The KLF gesagt, „werden wir Musik hören wollen, die nicht immer und überall gehört werden kann. Wir werden anfangen, nach Musik zu suchen, die unmöglich einfach nur ein Soundtrack sein kann.

Während Popmusik als All-you-can-eat-Ware immer wertloser wird, steigt ihr Wert als historisch-museales Phänomen. Gruppen wie Kraftwerk präsentierten überwältigt von der eigenen historischen Bedeutung ihre Alben lieber in Museen: Als brauchte Pop inzwischen diesen institutionellen Rahmen, damit ihm überhaupt noch Sinn zugestanden wird.

Mainstream-Pop aber funktioniert heute am besten, wenn er sich aller Bedeutungen entledigt hat, bar aller Voraussetzungen und Verweise, frei von Referenzen und Ballast. Pop hört auf, Pop zu sein, wenn man ihm das Bezugssystem entzieht. Was bleibt, ist schöne Musik, die die Menschen vereint.

Wie bitte? Habe ich dahin gewollt? Mit all dem Bedeutungs-Ballast meiner Klassik, – die unser aller Klassik ist und eben auch einen Teil der Menschheit …  vereint? Qualitäten aller Länder und Kulturen – seid umschlungen! War es also gemeint, Mein rauschender Freund? Dein Singen, dein Klingen, War es also gemeint? Zur Müllerin hin! So lautet der Sinn.

***

Eine persönliche Erinnerung, die erst zwei Tage alt ist: auf der Rückfahrt von der Nordseeküste – mit einer chaotischen Ausgangssituation in Bensersiel, dann einer höchst konzentrierten Fahrt auf eisglatten Straßen über Esens, Aurich und Leer -, hörten wir endlich Bach: die zweistimmigen und dreistimmigen Inventionen bzw. Sinfonien und dazwischen die Chaconne (Ciacona). Natürlich ebenfalls bestimmte oder unbestimmte Erinnerungen auslösen: das Buch „Musikalische Formenlehre“ von Erwin Ratz, die Grundlagen motivischer Arbeit (auch bei Beethoven!), – und später die Sinfonia in f-moll, assoziierend das reale Üben der Sinfonia in g-moll , zuvor aber vor allem das Üben der Chaconne in Ftan im Unterengadin samt schriftlichem Protokoll 1985 (?), das ich einmal reaktivieren möchte. Und nun diese überwältigende Wirkung, an der einen Stelle, womit ich nicht gerechnet hatte und die ich während der anspannenden Autofahrt auch nicht brauchen konnte. Bloß keine Tränen. Lächerlich und gefährlich. Es geschieht dort, wo man der gewaltigen Anlage des Ganzen zutiefst gewahr wird, nicht erst bei dem Beginn des D-dur-Teils, sondern dort, wo sich die Figurationen in der Höhe zu verirren schienen (sie spielt es im piano!) und in dem „arpeggio“-Abschnitt wieder ins Strömen geraten, also etwa ab Takt 105: der genaue Mittelpunkt des Werkes steht noch bevor (128/129). Man ahnt, was kommen wird: Der ganze Weg in die Innerlichkeit, ins Triumphale (D-dur-Fanfaren!) und zurück ins Tragische.

Bach Jansen Chaconne

Für heute ist es die größte aller Aufnahmen. Aber es kann auch an der extremen Hörsituation mit angespannten Sinnen gelegen haben.

Bach Jansen Cover s.a. hier