Archiv der Kategorie: Kunst

Diebstahl oder kulturelle Aneignung?

So geht es mir oft (Stoffsammlung):

Ein Thema beschäftigt mich, oft aufgrund interessanter Lektüre, es übersteigt mich, ich halte das fest, was ich im Hinterkopf behalten will. Der (oder das) Blog ist mein Hinterkopf (-köpfchen), manchmal mehr ES, manchmal mehr ÜBERICH, und das ICH sagt: für alle Fälle aufbewahren, zur eventuellen Aufarbeitung. Es ist nicht von mir. Aber manches wusste ich längst. Anderes wollte ich immer schon gewusst haben. Ich schaue aus dem Fenster: die Sonne geht unter, sie zieht sich aus den Bäumen zurück. Morgen früh wird alles anders aussehen. Allerdings nur, wenn ich dies festgehalten habe.

Fensterplatz SG-Ohligs 5.8.22

Jens Balzer und Hansjörg Ewert

Was ist (dagegen) Zöglingsmusik?

Maximilian Hendler hier Musikästhetik und Grenzen im Kopf. Die politischen
Konsequenzen des Gefühlskults in der Musik

Kaser: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/RDFVYYETUCPFQLDPV64BCT5NFYJSQVWQ HIER

Eine Rezension: HIER

Bach, Vater und Sohn Beispiel: 2 mal Magnificat (s.a. Collegium aureum 1966)

https://www.zeit.de/2022/32/kulturelle-aneignung-kunst-musik HIER (Ewert)

https://www.zeit.de/zeit-geschichte/2013/01/Text-Essay-Dieb-oder-Neuerer-neu HIER (Balzer)

Die ganze Oper „Euryanthe“ HIER (Warum? siehe Ewert.)

Grünewalds Körper

Fragen vorm Isenheimer Altar

Neulich stellten sich angesichts einer Bildbetrachtung (siehe hier) scheinbar nebensächliche Fragen ein, die ich (mir) separat beantworten möchte. Man weiß ja, dass Leonardo da Vinci neben seinen berühmten Gemälden auch Kriegsgeräte für den praktischen Gebrauch hergestellt hat, also kann man wohl im Fall des Malers Grünewald bei zusätzlichen Berufsbezeichnungen ebenso davon ausgehen, dass er nicht nur gemalt, geschnitzt und gemeißelt hat, sondern dass er im Umgang mit der Materie noch ganz andere Fähigkeiten entwickelt hat. Aber es hat gedauert, ehe ich herausgefunden habe, wofür denn ein „Wasserkunstmacher“ zuständig ist. Inzwischen weiß ichs und halte die entsprechende Quelle für alle Zeiten fest, – siehe insbesondere einen der ersten Links im folgenden Text, von mir fettgedruckt:

Was ist ein Wasserkunstmacher? (Quelle: DeWiki Austria-Forum hier)

Wie bei vielen anderen Künstlern seiner Zeit umfasste das Berufsverständnis einen sehr weiten Bereich von Tätigkeiten. 1510 sollte er den Brunnen auf Burg Klopp bei Bingen am Rhein reparieren, er zählte daher zu den sogenannten Wasserkunstmachern (heute würde man wohl Wasserbauingenieur sagen). Als oberster Kunstbeamter bei Hofe hatte er aber auch Neubauten zu beaufsichtigen und leitete in dieser Funktion die Umbauarbeiten in der Aschaffenburger Burg, dem Vorgängerbau von Schloss Johannisburg. Seine dortige Tätigkeit wurde der Nachwelt wohl nur deshalb überliefert, weil die Arbeiten misslangen und es zu einem Prozess kam (Kemnatprozess 1514–16).

Die Prozessakte, die neben seinem Testament als eines der wichtigsten „Grünewalddokumente“ galt, jedoch im Zweiten Weltkrieg im Stadtarchiv Frankfurt verbrannte, ließ erkennen, dass der Künstler den Großteil der Zeit des Prozesses nicht selber anwesend war. Dies stimmt mit der überlieferten Entstehungszeit seines Hauptwerks, dem Isenheimer Altar, zusammen, den er wohl zwischen frühestens 1512 und spätestens 1516 schuf. Die jüngere Forschung hat ins Spiel gebracht, dass er in der genannten Zeitspanne nicht in Isenheim selbst, sondern der nächsten größeren Stadt, Straßburg, tätig war.

Danach, also etwa 1516, trat Grünewald als Hofmaler in den Dienst des neuen Erzbischofs von Mainz, Albrecht von Brandenburg. Für diesen war er erneut als oberster Kunstbeamter des erzbischöflichen Hofes in der Residenzstadt Halle an der Saale für die Überwachung von Bauvorhaben zuständig. In dieser Funktion wurde er beauftragt, als Wasserkunstmacher eine Wasserleitung von Haibach zur Stiftskirche in Aschaffenburg zu planen und deren Bau zu überwachen.

Um 1526 schied Grünewald aus dem Hofdienst und ließ sich in Frankfurt am Main nieder, was oft in Zusammenhang mit Sympathien für die rebellierenden Kräften des Bauernkrieges gesehen wird. In der freien Reichsstadt verdiente er seinen Lebensunterhalt als Seifenmacher; er wohnte in dem Haus Zum Einhorn bei dem Seidensticker Hans von Saarbrücken. Im Sommer 1527 übersiedelte er wieder an seine frühere Wirkungsstätte Halle, wo er eine Mühlenzeichnung für Magdeburg anfertigen sollte. Freunde des Künstlers teilten dem Magistrat der Stadt am 1. September 1528 mit, dass er verstorben sei.

Soweit so gut.

Aber was ist mit Grünewalds Körper? Mit seinem eigenen und mit seinem Gefühl für andere, z.B. den Körper Christi. Warum diese Frage gerade an ihn, den Ungreifbaren, den großen Unbekannten, von dem kein einziges, wirklich beglaubigtes Selbstportrait überliefert ist? Ich erinnere mich an die Theorie von den zwei Körpern des Königs (siehe hier) und an deren Erfinder (hier) Ernst Kantorowicz. Und hoffe, darüberhinaus dann zu meinem Ausgangspunkt, einer Seite der ZEIT vom 28. Juli 2022, zurückkehren zu können, wo sich eigentlich sehr bald musikalische Fragen eingestellt haben, nämlich zur „historisch informierten Praxis“.

von Jörg Scheller

Natürlich ist mir als erstes aufgestoßen, dass dieser Artikel – leicht schockierend – sofort signalisiert, dass er eine höchst moderne Sicht auf die abgebildete Kreuzigungsszene vermitteln will. Und zwar mit den Worten: „Es ist ja nicht so, dass Jesus immer so drauf war. Am Anfang seiner Laufbahn wirkte er cool.“ (Das Wörtchen „fit“ fehlt mir grad noch.)  Damit wird der imaginierte Blick zuerst auf eine andere Darstellung gelenkt, nämlich die erste überhaupt, die sich am 432 n. Chr. entworfenen Hauptportal der Basilika Santa Sabina auf dem Aventin in Rom befinden soll. Womit ein enormer Bildungsvorsprung des Autors umrissen ist, den ich ihm gern zugestehe und auch stante pede auszugleichen suche, indem ich das Internet bemühe, Wikipedia sei Dank!

siehe Wikipedia hier

Irre ich mich? hier soll die erste bekannte Kreuzigungsszene der Geschichte zu sehen sein? Es passt nicht ganz. Zitat:

Jesus steht, die durchbohrten Hände den Betrachtern zugewendet, in Gekreuzigtenpose mit schwer zu deutendem Gesichtsausdruck vor einer Mauer. Kruzifixe der Romanik wiederum präsentieren ihn als Triumphator. Souverän erwidert er vom Kreuz herab die Blicke der Betrachter. Von Todeskampf keine Spur. Der Gefolterte ist evident fit und lebendig.

„Evident fit“, könnte stimmen, ja, allerdings irre ich mich! dies (oben) ist das Fresko in der Apsis, es geht aber um den Eingang der Kirche, die gemeinte Szene befindet sich aber keineswegs „am Hauptportal der Basilika“, sondern auf der Flügeltür dieses Hauptportals (siehe hier). Das obige Bild stammt aus dem Jahr 1569. Auf der Holztür von 432 erkennt man irgendwie den Bezug zur Kreuzigung,  der „schwer zu deutende Gesichtsausdruck“ ist allerdings, wenn ich recht sehe,  weder zu deuten noch überhaupt als Andeutung zu ahnen. Man vergrößere nur nach Belieben…

Das Hineinlegen ist manchmal attraktiver als das Auslegen, und so geht es weiter:

Grünewald war mit hoher Wahrscheinlichkeit von frühen lutherischen Predigten beeinflusst und entsprechend bemüht, die Heilsgeschichte auch ästhetisch zu reformieren, das heißt: unmittelbar erlebbar zu machen. Das mag aus heutiger Sicht überraschen, wird die Reformation doch vor allem mit Bilderstürmerei in Verbindung gebracht. [usw.]

Wenn der Isenheimer Altar tatsächlich in die Zeit 1512-1516 zu datieren ist, die Reformation aber mit den 95 Thesen begann, die Luther 1517 an die Türe der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt haben soll, wie sollte Grünewald schon frühe Predigten Luthers gehört haben? Und wo?  Zitat:

Luther hatte sich klar gegen kunstfeindliche Reformatoren abgegrenzt und betont, »daß ich nicht der Meinung bin, daß durchs Evangelion sollten alle Künste zu Boden geschlagen werden und vergehen, wie etliche Abergeistliche fürgeben, sondern ich wollte alle Künste, sonderlich die Musica, gerne sehen im Dienst des, der sie geben und geschaffen hat«.

Das wäre schön gesagt, steht aber geschrieben erst im Vorwort des Geistlichen Gesangbüchleins von Johann Walther, das Luther mit einer Vorrede versehen hat: veröffentlicht im Jahre 1524. Mehr über die Wittenberger Ereignisse der Jahre vorher hier.

Die Leiden Christi mit großer Schärfe darzustellen, war in dieser Zeit aber seit etwa 1500 geradezu verbindlich geworden, wie man bei Altdorfer, Dürer, Cranach und anderen Meistern studieren kann. Neu war es vielleicht, die körperlichen Spuren der Leiden auch in Spitälern so drastisch zu demonstrieren, dass die kranken Menschen wirklich glaubten, damit nicht allein zu sein. Ein Sinn dahinter wurde unmittelbar nachvollziehbar. Das Antoniter-Kloster in Isenheim war eine durchaus katholische Einrichtung. Wenn der ZEIT-Autor auch an Luther anschließt:

Zudem richtete sich das ursprüngliche Retabel nicht nur an Kleriker, sondern auch an Kranke, die in der Antoniter-Präzeptorei von Isenheim, wo der Altar ursprünglich aufgestellt war, behandelt wurden. Vermutlich führte man sie vor die Bildwerke, um ihre physische Genesung metaphysisch zu unterstützen – Komplementärmedizin, wenn man so will. Im Gekreuzigten konnten sie eine veritable Identifikationsfigur finden: Schaut, auch der Messias hat gelitten! Und dieses Leiden war nicht abstrakt, sondern real. Entsprechend tut sich hinter Jesus ein innerweltlicher Himmel auf. Vor der Restaurierung schien sich dieser in weitestgehend homogenem Schwarz zu erschöpfen. Nun aber sind Graustufen erkennbar, die den realistischen Eindruck verstätken. Auf den übrigen Tafeln des Ensembles empfehlen sich Heilige wie Antonius, Sebastian, Maria und Paulus als charakterfeste Vorbilder.

Schließlich die Frage: Welchen Effekt hat die Restaurierung auf das komplexe Gesamtwerk?  Dieses Beispiel – so der Autor – beweist, dass erst die restauratorische Kärrnerarbeit, die naturwissenschaftlich informierte Untersuchung und Sorge ums Detail, seriöse und werkadäquate Deutungen ermöglicht. Inwiefern?

Dank des restaurierten Zustands kann man jetzt viel stärker Bezüge zur Gegenwart herstellen und diese mit dem ganzen Körper erleben. Trennende Schichten zwischen Gestern und Heute sind im buchstäblichen Sinne abgetragen worden – auf dem Kettenhemd eines Soldaten in der Auferstehungsszene etwa tritt ein Blutfleck zutage, den der Firnis verborgen hatte. Vor allem das Leiden am Kreuze erscheint in seiner direkten Drastik als unzeitgemäßes, aber gerade deshalb erhellendes Symbol in Gesellschaften, die sich den Kampf gegen Schmerzen aller Art auf die Fahnen schreiben. In der Begegnung mit Grünewald spürt man, wie der Versuch, Schmerz gänzlich zu eliminieren – sei es durch freizügigen Gebrauch von Opioiden oder im Bemühen, noch die subtilste »Mikroaggression« zu unterbinden, mit dem Verlust von Intensität, Ekstase und vielleicht auch mit dem Verlust zumindest zeitweiliger Erlösung einhergehen kann.

Der Autor verweist schließlich auf den Philosophen Leszek Kolakowski als Kritiker einer (christlichen) Religion, die den Wert des Leidens nicht mehr akzeptiert. Bei einer notorischen Ausklammerung von Leid und Schmerz fehlten einer Kultur elementare Erfahrungen. Kolakowski: „Im körperlichen Schmerz werde ich vom Körper, der ich bin, aufgegeben. Ich höre auf, er zu sein, und werde zur Erfahrung dieses Körpers, das heißt eben zur Erfahrung des Leidens.“  Der Schmerz bedeute, dass man nicht einfach Körper ist, sondern dass ein Unterschied zwischen dem Selbst und seiner Physiologie bestehe. Es ist leicht, dies kritisch auf unsere Gesellschaft und ihre Techniken der Schmerzvermeidung zu beziehen. Der Autor kommt am Ende zu einem Fazit, das nicht so sehr überrascht, wenn man an den Kosmos der barocken Affekte vorausgedacht hat:

Der Isenheimer Altar erschöpft sich eben nicht in der Betonung von Verwesung und Verfall, Leid und Schmerz. Nur in geschlossenem Zustand des Altars stehen diese im Vordergrund. Hinter ihnen, gewissermaßen in der Latenz,  explodieren in der zweiten und dritten Wandlung der Altarflügel Pracht, Luxus, Freude, Fantasie, Kreativität, Ekstase. Grünewald und Hagenau legen nahe, dass Schmerz und Freude, Leid und Sinnstiftung zwei Seiten derselben Medaille sind. Eliminiert man das eine, eliminiert man das andere.

Und wenn ich Bachs Weihnachtsoratorium neben seinen Passionen sehe, frage ich mich, worin der Unterschied in der Weltsicht besteht.

Des weiteren verliere ich mich in der seltsamen Sammlung eines Comic-Zeichners HIER. Dürer, Hans Baldung Grien, Lucas Cranach usw.

Zum Abschied ein besonders cooles Foto vom Isenheimer Altar HEUTE (Herkunft privat) :

… ach vorüber, Nacht der Liebe

Vom Lohengrin zum Tristan

Meine Assoziationen sind für Außenstehende vielleicht nicht interessant, mich dagegen begleiten sie unentwegt, und für Nahestehende waren sie schon vor 55 Jahren unvermeidlich. Ich beanspruche jedoch weiterhin mildernde Umstände, wenn ich auch die aktuelle ZEIT und das heutige Bayreuth egozentrisch historisierend lese und sehe.

Googeln Sie doch den ganzen Artikel, nachdem Sie den kleinen mittigen Abschnitt gelesen haben, der mit der Titelzeile beginnt. „Die Musik sagt ja alles“. Ich dachte an das, was ich mir bei den letzten Zeilen meiner Schulmusik-Staatsarbeit gedacht habe: dass dort nach dem letzten Liebestod-Akkord die wahre Mystik ihr Werk vollenden könnte, aber sicher nicht in Bayreuth. Oder was auch immer ich gedacht habe. Im Jahre 1967 änderte sich ja gerade die ganze Lebensausrichtung, wie ein Brief erzählt, der in dieser Arbeitskopie damals wieder an mich zurückkam. (Daher die Namen Hans Hickmann und Marius Schneider) .

Die Musik sagt ja alles. Auf dem Papier mag das ein wenig ideenlos wirken, im Zuschauerraum sorgt es (abgesehen von den notorischen Zuspätkommern nach den Pausen und vom kollektiven Klatschen in den Liebestod-Schluss hinein) für enorme Ruhe und Konzentration. Das ist nicht immer leicht auszuhalteb bei Außentemperaturen von bis zu 36 Grad, es wäre aber unfair, dies der Regie anzulasten. (ZEIT Florian Zinnecker)

Immerhin: neben Adorno – Simone de Beauvoir und Sir Galahad

Ja, und dann interessierte mich heute noch, was mir im Lohengrin der frühen Jahre nie aufgefallen war:

In den letzten Takten der Lohengrin-Generalprobe habe Klaus Florian Vogt in der Titelpartie librettogetreu das Wort »Führer« gesungen, zum Missfallen einiger Zuschauer, so wurde berichtet. Die Zeile »Führer-Skandal im Festspielhaus« mag der Zeitung einige Klicks beschert haben, auch wenn die Diskussion um die fragliche Stelle seit Jahrzehnten ergebnislos schwelt. Natürlich ließe sich ein Wagner-Text von 1853 verändern. Aber wo dann damit aufhören? Im Zweifel ist doch das Störgefühl an den fraglichen Stellen weit wichtiger als die Illusion, es gebe zwischen Wagners Weltbild und unserem heutigen nicht wenigstens ein paar kleine Differenzen. (ZEIT Florian Zinnecker)

Das finde ich auch und lese nochmals im Text-Buch nach. Tatsächlich, da spüre ich Differenzen.

Seite 172  Der König und die Edlen (Lohengrin umringend):

O bleib! O zieh uns nicht von dannen! / Des Führers harren deine Mannen!

Seite 174 Lohengrin:

Seht da den Herzog von Brabant! Zum Führer sei er euch ernannt!

Bitte nicht missverstehen! Ebensowenig wie Elsas abschließendes: „Mein Gatte! Mein Gatte!“

Cranach in Wien (1502)

Kleine Recherchen

aufgrund des heute – dank der SZ – betrachteten Doppelportraits (als Gastleser):

ich glaube, es waren die Augen, die mich fesselten, und wie sie im Artikel gedeutet wurden. Dann im Detail die Tiere und ihre Symbolik. Die Vögel (am Himmel, hier nicht mitgescannt). Auch der eigene Blick – unmittelbar – in eine ferne Zeit.

https://www.sueddeutsche.de/kultur/kunst-lucas-cranach-khm-wien-ausstellung-1.5627310 HIER

Kunsthistorisches Museum Wien (Flurplan u Bilder) HIER

(!!!) https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/ausstellung-cranach-der-wilde-die-anfaenge-in-wien-im-khm-18120935.html HIER Stefan Trinks hier und hier

Wikipedia-Artikel HIER

Zur Tier-Symbolik: hier (was mich an diesem Link stört: man findet nichts über seine Urheberschaft, also: eine gewisse Skepsis ist angebracht, in diesem Sinn weiter hier)

Weshalb mich Cranach schon lange interessiert? Weil ein alter Bildband im Regal meines Übe-Zimmers auf Augenhöhe steht: sein späteres Wirken als Propaganda-Maler des Protestantismus! Erhöhte Aufmerksamkeit heute – parallel zur „Bußfahrt“ des Papstes in Kanada betr. die geraubten und ermordeten Kinder in den Internaten indigener Christen.

Mindestens ebenso interessant ist ein anderer Artikel der heutigen Süddeutschen, der allerdings nichts mit dem hier im Blog angeschlagenen Thema zu tun, dafür mit vielen anderen:

hier, und noch mehr dazu hier

(nicht vergessen, folgendes zu rekapitulieren:)

  Suhrkamp 2011 Susan Buck-Morss

Apropos Zeitunglesen: mein Wort der Woche steht am Ende des Leitartikels „Morde mit Botschaft“ von David Pfeifer:

Die westliche Wertegemeinschaft kann schon jetzt beginnen, sich zu schämen.

End-Täuschung

Isenheimer Altar und anderes

Neu war mir der Altar damals nicht. Auch nicht am Tag meiner Konfirmation, als sogar aus Hamburg Verwandte eintrafen und ein großes, in Packpapier gehülltes Gemälde im Kinderzimmer abstellten. Wie lieb sie sind. Mein Herz klopfte, denn meine größte Hoffnung schien in Erfüllung zu gehen: das große bekannte Bach-Portrait von Haussmann. Wer beschreibt meine Enttäuschung, als sich bei der Enthüllung herausstellte – nein, der Komponist Schütz wäre zur Not akzeptabel gewesen – aber das Engelskonzert des Isenheimer Altars, das ging gar nicht, diese falsche Bogenhaltung und diese manierierte Verklärung einer dürftig zirpenden Musik. Kein Zufall, dass dieses repräsentative Bildwerk sich nicht über die Zeit meiner Jugend hinweg erhalten hat. Aber gemerkt habe ich’s mir, in Berlin und in Köln habe ich oft Museen besucht, alte Meister studiert (vielleicht in Anlehnung an Proust). Als Reproduktion zweifellos unzulänglich.

Kunst 1962

Irgendwann Ende der 60er Jahre – im Zuge der Begeisterung für Elsässer Wein – haben wir auch realiter vorm Isenheimer Altar in Colmar gestanden, ich weiß nichts von Erschütterung, aber die Bedeutung des Augenblicks war mir sicher klar. Und nun heute beim Aufblättern der Morgenzeitung: was für ein Zeitsprung über 60 Jahre rückwärts und weiter! Hinein in die farbige Realität des Mittelalters! Restauriert, natürlich wusste ich es längst aus anderen Medien. Aber im Solinger Tageblatt, das mich weiterhin – trotz meines Einspruchs –  mit den hirnlos zusammengestellten Sprüchen der Herrnhuter Brüder ärgert, – ein solcher Blickfang auf der heutigen Kulturseite!

und in Colmar mehr: hier

Und in Solingen wie immer AUCH dies:

  Original: 

Ich hoffe, dass bei den Herrnhutern auf der Rückseite des Kalenderblattes eine Erläuterung zu lesen ist. Denn: Auch wenn man die Bibel Vers für Vers als „Gotteswort“ liest, stehen doch die meisten Verse in einem dichten Zusammenhang, der dazugehört und vermittelt werden muss. Selbst stock-ungläubige Philologen verlangen danach. Deshalb hier das Original neben der privativen  Verfälschung.

Es war in Portugal an der Algarve 2010 oder 2011 – soweit ich weiß – als ich mich mit Beethovens Cellosonate op. 102 beschäftigte. Die Erinnerung saß „tief“. Siehe hier. Alban Gerhardt?

Ach, die Erinnerung trügt. Hier erkenne ich deutlich vor der Person, die ich sein könnte, die Intonationslehre von Doris Geller. Doch das ist nicht der Punkt: den erwähnten Beethoven hatte ich dort ja ebenfalls studiert, später jedoch erinnerungstechnisch vollkommen verdrängt, was jetzt nur mühsam zum Vorschein kam: soso, Webern hat er auch gespielt? Ich habe sogar die Ablaufzeiten beim Beethoven korrigiert, also oft gehört, und erinnere mich einfach nicht an den Ablauf, an die Thematik dunkel, genauer nur daran, dass die Interpretation sehr gut war? Ja, und der Name war falsch, ich wollte nur, dass es Alban Gerhardt gewesen sei. Das ist aber gar nicht so selten: Enttäuschung über sich selbst (statt über andere).

Und der Blick in den zweiten Band der Beethoven-Interpretationen (Riethmüller, Dahlhaus, Ringer, neu wieder im Laaber Verlag) verrät mir auch den Grund (die Ausrede). Es wäre interpretationstechnisch wirklich ein Thema gewesen!!! Ein Vergleich. Aber doch nicht in Portugal…

Text: Hermann Danuser

Die Aufgabe wartet noch. (Hier z.B. – live 1989! ) Dies nur als An- und Vorsatz. Aber: Muss es sein?

Ähnlich geht es mir heute mit einem philosophischen Buch, in dem ich nicht vorankomme. Soll ich darauf bestehen – oder anderen Verlockungen nachgeben? Solchen, die direkt zu eigener Praxis führen? Z.B – der neue Band Musik & Ästhetik mit unterschiedlichsten Angeboten, – ich gehe sie durch und bin gefesselt von Notenbeispielen: warum ausgerechnet Richard Strauss? Weil ich mich dann ans Klavier begeben darf. Auch ein Salome-Klavierauszug liegt dort griffbereit, vielleicht sogar „Ariadne“? Nicht zum Spielen, nur zur Realisierung der Akkordfolgen… (Ist es ein Zufall? Strauss habe ich in Berlin gehört, 1960, die Zerbinetta-Arie von Ilse Siekbach mit meinem Vater am Flügel, „Großmächtige Prinzessin“ in – Bielefeld, etwa 1955).

Autor: Robert Christoph Bauer (Bio u.a. hier) / Tatsächlich: diese Arbeit zu studieren, ist von A bis Z ein Vergnügen, wenn man es liebt, harmonisch ins Detail zu gehen. Warum? (Im Andenken meines Vaters, der mir einiges im „Louis-Thuille“ gezeigt hat.)

*     *     *

Habe heute (7.7.22) in aller Frühe die CD von Nicolas Altstaedt vollständig gehört (2007) und dabei – das sei zugegeben – die neue ZEIT durchgeblättert. Mein Eindruck von damals hat sich bestätigt, ein fabelhafter Cellist, aber es gibt nichts „Auffälliges“ im Beethoven-Werk, abgesehen von der Dynamik. Zuviel C-dur (a-moll usw., gewiss). Sehr ungeschickt in der Programmfolge: wenn man nicht aufpasst, setzt in Tr. 5 der Webern ein, G-dur-Akkord, und man zweifelt keinen Augenblick: Beethoven geht weiter, endlich harmonisch spannender. Pure Irritation, es ist ein früher Webern, aus dem Jahr 1899 (da war er kaum 16 Jahre), danach folgen die Stücke Op.11 (1914) und eine Cello-„Sonate“ von nicht 2 Minuten Länge, aus demselben Jahr, aber vom Komponisten offenbar keiner Opuszahl gewürdigt. Das alles schreit nach Kommentar, stattdessen ein ziemlich unergiebiges Gespräch mit Norbert Ely, – wenn man absieht von der Bemerkung zur Bach-Suite: ob man es überhaupt bemerkt hätte, dass da in Scordatur gespielt wird? (Ist doch egal, sagen Sie, wenn es nur klingt???) Aber man schämt sich, wenn man nicht bemerkt hat, dass da eine (nachträglich aufgenommene) zweite Stimme hinzugefügt wurde (in Gigue und Gavotte 2). Dann Ligeti, um die Moderne noch einmal zu Wort kommen zu lassen, allerdings auch hier „ein eher untypisches, frühes Stück“. Ich habe damals mit offenen Augen geschlafen, wollte wohl eher nebenbei den Beethoven knacken, hörte durchaus imponierendes  Cellospiel, habe mich aber nicht mal so aufgeregt, dass ich mich daran erinnere. Vom Bach blieb erst recht nichts haften. Gerade auch nicht die – übertrieben im ppp, extrem „transzendierende“ – Sarabande.

So geht es einem 10 Jahre danach. Man wird radikaler. Oder das Gegenteil. Bin ich vielleicht nur deshalb niedergeschlagen, weil ich nachts – statt Frühlingsluft an der Algarve – die Lanz-Sendung in Solingen-Ohligs erlebt habe? den Moderator endlich relativ kleinlaut, um so erschütternder Habeck (Globalisierung!) und Theveßen (USA am Ende?). Ich kann das nur empfehlen, wenn man eine gewisse psychische Stärke aufbauen bzw. der Gefahr ins Auge schauen will. HIER. Ein Jahr lang verfügbar, bis 6.7.23. Wie wird es dann um uns stehen?

*     *     *

Ariadne auf Naxos : es ist nur ein kompositorisches Detail, um das es geht. Um es dingfest zu machen, höre ich hier hinein ab 5:05 den Text beachten: „da mischt sich im Herzen leise betörend“.  Dann etwas großräumiger den Zusammenhang erfassen. Als nächstes denselben Text  hier nach 5:20 aufsuchen, die Noten beachten, also die Stelle zwischen Ziffer 115 und 116 identifizieren, „da mischt sich im Herzen leise betörend“, es ist genau diese Stelle, die im Aufsatz von Robert Christoph Bauer behandelt wird, Seite 45 f, Beispiel 3 und Beispiel 4.

Auf der Seite vorher geht es um die Stelle fünf Takte nach Ziffer 107, in unserm Youtube-Beispiel ab 2:55 (nach den Worten „ohne Grenzen!“) folgt „Eine kurze Nacht, ein hastiger Tag, ein Wehen der Luft, ein fließender Blick verwandelt ihr Herz! Aber sind wir denn gefeit gegen die“ Ziffer 108  „grausamen, entzückenden …“

Damit hätte man als Musiker die Werkzeuge in der Hand, den Text Seite 44 zu verstehen. Zugegeben: leicht ist es nicht. Hier der entsprechende Text von Robert Christoph Bauer:

Ich hätte wohl nur genauer bedenken sollen, was ich da unterstrichen haben (über „Umkehrungsakkorde“). Die Frage bleibt, was der Autor mit einem „kurzen, unaufgelösten E-Dur-Quartsextakkord“ meint. Meint er den (unmittelbar vor Ziffer 108) auf Fis stehenden in H, der Dominante von E-dur? (Nein, siehe Nachtrag 28.7.22 hier).

Mir scheint hier lösen sich Rätsel auf, die ich 1955, als mein Vater mit der Sängerin genau dieses Koloraturkunststück probte, nur  dunkel ahnte. Die Musik der permanenten Modulation verwirrte mich nicht weniger als der Text über „flatterhafte“ Liebe…

*    *    *

Zwei andere Artikel des Journals „Musik und Ästhetik“ Juli 2022 habe ich mit besonderem Interesse gelesen, den über Neue Musik (von Clytus Gottwald) und den über Alte Musik (von Jörg-Andreas Bötticher). Den einen Autor (Generation Altväter) kannte ich, weil ich gegen ihn 1985 polemisiert habe, als er sich im Adorno-Slang über den Boom Alter Musik mockierte; den andern (Generation Nachwuchs) kannte ich nicht, obwohl er sich auf neue Art zur Alten Musik bekennt. Beide aus Insider-Perspektive sprechend, der eine nach wie vor hochtrabend-wichtig („Schlüsselloch“), der andere nachsichtig-kompetent („Sympathieträger“). Letzterer vorbehaltlos zu empfehlen, obwohl er Sloterdijk (statt Adorno) zitiert; manches konnte man ahnen, aber nicht, dass der jetzt eine Traurede für Christian Lindner und Zweitfrau auf Sylt halten würde. Den Böttcher-Beitrag empfehle ich Musiker:innen jeglicher Couleur (ich selbst werde als nächstes seinen MGG-Beitrag über Generalbass lesen, passend zum oben hervorgehobenen Strauss-Artikel).

MGG-Beitrag 1995 mit seinem Mentor und Kollegen Jesper B. Christensen, unerhört instruktive Notenbeispiele!

Zur Erinnerung, – ich dachte damals, es sei schon spät, aber es war noch früh genug für einen teils polemischen teils pädagogischen Artikel (aus den Anfängen der Zeitschrift Concerto 1984):

Finale dieses Artikels (12.07.22)

Wochenendbesuch in Bielefeld (im Anschluss an die Lohe bei Bad Oeynhausen): anders als die Melancholie einem einflüstert, – alles ist schöner geworden. Ohne Ironie: wirklich! Ich werde einen Teil des Schulwegs nachzeichnen, aber er endet nicht an der ehrwürdigen Schule, sondern im herrlichen Museum, gleich dahinter. Allerdings bringen wir es nicht übers Herz, Zeit für die Ausstellung zu opfern, wunderbar: dem Thema Wasser gewidmet. Ich weiß: Bielefeld hatte die Teiche am Tierpark Olderdissen und einen Bach namens die „Lutter“, der damals irgendwo unterirdisch verfrachtet war; man wusste davon, aber man sah sie nie (vgl. hier). Und bis heute wusste ich nichts Weiteres, abgesehen von dem, was sich in der Nähe unserer Schule verändert hat (mehr darüber hier).

Blick zur Neustädter Kirche (längs der Lutter!)

Die Perspektive spielt verrückt. Die Kastanie aber war damals schon riesig.

   

Hier, nicht weit von der gewaltigen Kastanie, stand in der Anfangszeit ein Bismarck-Denkmal, das irgendwann von Schülern der Oberstufe farblich verunstaltet wurde. Skandal à la Feuerzangenbowle! Später stand dort die Kopie der Rodin-Skulptur „Der Denker“, neben der ich mich einmal, ironisch-komisch geduckt, in ähnlicher Pose ablichten ließ, als es um ein Foto für die Wahl des Schulsprechers 1958 ging. Dieses Foto wurde nicht dafür verwendet, aber gewählt wurde ich tatsächlich, obwohl die Chancen für einen Altsprachler nicht optimal standen. Die Kunsthalle Bielefeld ist der Firma Oetker zu verdanken, die mir – ein nicht ganz vergleichbarer Vorgang – schon ab 1960 mit einem monatlichen Zuschuss von 200.- DM beim Studium half. Den Ort wählte ich in größtmöglicher Entfernung vom Heimatort: nicht in Detmold, was im doppelten Sinne nahelag, sondern in Berlin. Erst 1962 (wegen der Geige) in Köln (statt des angestrebten Wunschziels Wien), was letztlich eine neue Weichenstellung fürs ganze Leben brachte.

s.a. hier – Einen Widerspruch gibt es noch aufzulösen: die Kopie der Rodin-Skulptur soll es – dort in der Nähe des Gymnasiums – gar nicht gegeben haben, als ich noch zur Schule ging (vgl. hier). Sondern erst 1966. Spielt mir die Erinnerung einen solchen Streich? Ist auch hier eine Ent-täuschung fällig? Fortsetzung folgt vielleicht…

(Alle Fotos JR, Portugal: E.Reichow)

Epilog 

Plakat

CD Cover

Was steht auf dem Plakat – rund um das Bild – geschrieben?

I am convinced that almost all great men who, because of their accomplishments, are
recognized as leaders even of small groups share the same ideals. But they have little
influence on the course of political events. It would almost appear that the very domain of
human activity most crucial to the fate of nations is inescapably in the hands of wholly
irresponsible political rulers.
Political leaders or governments owe their power either to the use of force or to their
election by the masses. They cannot be regarded as representative of the superior moral
or intellectual elements in a nation. In our time, the intellectual elite does not exercise any
direct influence on the history of the world; the very fact of its division into many
factions makes it impossible for its members to co-operate in the solution of today’s
problems. Do you not share the feeling that a change could be brought about by a free
association of men whose previous work and achievements offer a guarantee of their
ability and integrity?

Es handelt sich um einen Ausschnitt aus dem Brief, den Albert Einstein 1931 an Sigmund Freud geschrieben hat. Das Plakat oben stammt aus der Bielefelder Kunsthalle. Design: Goshka Macuga „Pavillon for [an] International Institute of Intellectual Co-Operation“ (2016). Mehr dazu hier.

Die musizierende Gruppe aus dem Iran hat damit zunächst nichts zu tun. Ich habe mich bei der Betrachtung des Plakats ihrer erinnert (ebenso wie des Abendmahls von Leonardo da Vinci). Wunderbare Melismen, die einstimmig wirken, aber durch die aufeinanderfolgenden Einsätze der Stimmen ein vielstimmiges, parallel und zugleich in sich verschoben ablaufendes Muster schaffen. Ich möchte nicht, dass solche Musik je in Vergessenheit gerät: Hossein Alizadeh.

Razé No

Und wünsche mir, dass ihr Geist nicht im Widerspruch steht zu dem, der im Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud 1932 zum Ausdruck kam. Mir geht es um Tr.3 (Homayun), aber Tr. 10, der hier greifbar ist, vermittelt auch einen schönen ersten Eindruck.

Große Gefühle, türkisch

Wo war eigentlich der Orient? (Begegnungen)

Teheran im Lauf der Tournee April 1967

Der östlichste Punkt der „Orient-Tournee“ 1967

Istanbul 1967

Istanbul, unser Hotel & die Umgebung

Was schlimm war: fast einen Monat getrennt zu sein von der gerade erst entstandenen Familie (Marc *1.4.66). Und was malte er 5 Jahre später? Eine orientalische Stadt…

1971 1972

20 Jahre später:

Wir waren gewarnt worden: die massentaugliche Präsenz von Theodorakis würde den feinen Musiker Livaneli erdrücken. Und noch viel mehr, aus ganz anderen Gründen, wurden wir vor Ibrahim Tatlises gewarnt. Das entspreche einem deutschen Konzert in Istanbul, bei dem Fischer-Dieskau gemeinsam mit Heino auf der Bühne stehen müsste. Wir kannten das unten zitierte Verdikt von Fazil Say noch nicht. Und es hätte uns auch nicht irritiert. Ich persönlich war es gewöhnt, von Freunden, denen ich meine liebste arabische Musik vorspielte, ausgelacht zu werden. Ich wusste, dass solche Geschmackswelten nicht einfach durch gute Worte überbrückt werden können. Das „Gefühl“ spielt nicht mit. Bzw. der Schritt vom „ganz großen Gefühl“ zur Lächerlichkeit ist winzig. In der Show von Harald Schmidt wird all dies listigerweise zur Unkenntlichkeit vermengt. Man kann schlecht sagen, dass ein vor Begeisterung rasendes Publikum sich irrt. Jedenfalls nicht, wenn man Chef der Show ist. Man fühlt sich unbehaglich und weiß nicht warum…

55 Jahre später in Solingen: Konzert der Bergischen Symphoniker 7.6.22 (vorige Woche)

siehe hier

Istanbul Sinfonie beim hr mit Einführung des Komponisten Fazil Say:

Hilfe auf Youtube, wenn man Einzel-Sätze anklicken will (Helfer: Ath Samaras vor 8 Jahren)

For better accessibility: Fazil Say – Istanbul Symphony (1. Sinfonie) 00:00 Intro by Fazil Say
07:10 I. Nostalgie 17:20 II. Der Orden 21:25 III. Sultan-Ahmed-Moschee 28:55 IV. Hübsch gekleidete junge Mädchen auf dem Schiff zu den Princess-Inseln 33:10 V. Über die Reisenden auf dem Weg vom Bahnhof Haydarpaşa nach Anatolien 37:16 VI. Orientalische Nacht 44:18 VII. Finale 50:42 Applause
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Fazil Say Wikipedia / Zitat:

Ebenfalls für heftige Diskussionen sorgte seine offen zum Ausdruck gebrachte Ablehnung des in der Türkei bei bestimmten Gesellschaftsschichten populären Arabesk-Pops. Arabesk-Musik sei „eine Last für Intellektualität, Modernität, Führungskraft und Kunst“ und weiter: „ich schäme, schäme, schäme mich für das Arabesk-Proletentum beim türkischen Volk“.

Über Arabeske hier / Wikipedia über Ibrahim Tatlises hier Harald-Schmidt 1998

Wie lautet noch eine der größten menschenfreundlichen Lügen? „Ich liebe euch alle!“

Eine frühe Radio-Sendung über kulturelle Relativität; heute würde ich wohl anders herangehen:

usw. Was aber hätte ich als erstes lesen sollen?

Licht aus Indien? 1997 (Foto E.Reichow)

Ein neues Buch!

Am Anfang war das Tier (erzählt mit den mir damals eigenen Worten) :

Text:JR1949 Foto:JR2021

Mit 12 Jahren etwa versuchte ich, mir aus ungeeigneten Büchern eine eigene Form von Musikgeschichte zusammenzustellen, musikalische Wissensgebiete, die womöglich auf mich warteten. Römische, griechische, indische, chinesische Informationen. Ob ich diese mit irgendwelchen klanglichen Vorstellungen verband, – keine Ahnung. Schallplatten dazu gab es natürlich noch nicht. Ob es meine eigenen Worte waren? Ich habe Zweifel.

1953Am Ende eines kleinen Tagebuches ließ ich Platz für politische Ereignisse und für eigene musikalische Einfälle, die zu bedeutenden Kompositionen anwachsen sollten.

„Mit eigenen Worten“ …

… oder mit den mimetisch nachempfundenen Anderer, mit einem Bild oder dem Verlauf einer intensiv erfahrenen Musik, welcher auch immer. Wenn ich nur einen Begriff davon habe. Oder zu bekommen begehre. Wie kam ich heute darauf?

Diese letzten Worte haben mich Überwindung gekostet. Jedes Wort. Insbesondere das letzte, bei dem ich an Hegel und den Bedeutungsumfang seines Begriffs der Begierde gedacht habe.

Bei den „eigenen Worten“ stand mir ein wohlmeinender Lehrer vor Augen, vielleicht auch schon „Fräulein Brenner“ von der Bielefelder Melanchthon-Volksschule, 4. Klasse, ja, die ganze Schulzeit, als ich es allerdings immer schwerer fand, eigene Worte in die Welt zu setzen, statt solche von Nietzsche – oder später: Adorno – nachzubeten. Immer standen Bücher im Vordergrund, die ich natürlich nicht selbst geschrieben hatte. Mein Medium, dachte ich, ist das Radio, das gesprochene Wort, umgeben von der ganzen Vielfalt der Musik. Wobei mir in den letzten Jahren auch der naiv emphatische Hinweis auf die „Vielfalt“ suspekt wurde. Je mehr man sich in einzelne Werke oder tönende Aufführungen versenkt, um so umfassender erscheint jede(s) einzelne, um so schwerer auch das Weitergehen zum nächsten, ganz anderen.

Auch diesmal ist es ein Buch, das mir mal wieder unumgänglich erschien, zumal es gegen Ende genau das in Worte fasst, was ich gern mal mit eigenen Worten gesagt hätte:

Das Medium der Philosophie ist der Begriff, und einen philosophischen Gedanken zu verstehen, heißt, ihn in eigenen Worten wiedergeben zu können, was zugleich bedeutet, ihn in seinen Konsequenzen, weitergehenden Interferenzen und so fort durchdenken zu können. (Seite 289)

Ein Kunstwerk zu verstehen, heißt nicht, es zu übersetzen und zu paraphrasieren, sondern seinen Konturen interpretativ nachzufahren; Adorno hat hierfür den Begriff des mimetischen Verstehens geprägt. Wer Kunst erfährt, ist ganz bei sich und doch bei etwas anderem als sich, indem er oder sie die Konstitutionen des hier geformten Materials und der hier materialisierten Form nach- und mitvollzieht. (Seite 290)

Quelle:

  Daniel Martin Feige Werke / ? Weiterlesen?

Inhalte Ausblicke

Ich lese nachts um drei und lese morgens ab acht, und um zehn Uhr müht sich der Briefträger, die gewichtige Post in den schmalen Schlitz des Briefkastens zu entlassen, – da ist das neue Buch, auf das ich wartete. 360 Seiten. Nicht schwer. Und ab sofort muss alles andere warten.

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Es handelt sich um die Dissertation der Autorin, gedruckt 1997. Verlag J.B.Metzler. Einziger (verkaufsbehindernder) Nachteil: der Untertitel, – der Name Nelson Goodman wirkt (auf mich) heute nur einschränkend, es sollte einfach heißen: eine Studie zur Symboltheorie. Mein erster (und sich beim Lesen verstärkender ) Eindruck: dieses Buch, wie zuvor der rezente Aufsatz (siehe hier), betrifft ja mich persönlich! So scheint es beim ersten Aufschlagen und zwar bei dem einzigen großen Notenbeispiel, zwei in der Mitte des Buches ausgebreitete Seiten, ein Ausschnitt aus Schuberts Klaviersonate c-moll, D 958, Takt 117 bis 159, und es geht dort um Zeitlichkeitsstrukturen. In Wahrheit betrifft das Buch natürlich nicht nur mich persönlich in aller Zufälligkeit, ebensowenig wie die Musik und die Erkenntnis, um die sich alles dreht.

Ich darf übertreiben, weil ich begeistert bin… Und für Leute, denen der Lese-Zugang fehlt, verlinke ich an dieser Stelle die Klaviersonate von Schubert. Um dergleichen Symbolsprache also geht es, eben nur mit philosophischen Worten, mit einer großangelegten Studie zur Symboltheorie.

Ab (Anfang natürlich!) 1:09 bis 4:12 / Mahrenholz Seite 142-143

Wie schade, dass ich so spät auf dieses Buch komme und z.B. nicht schon viel eher den Bezug auf ein Buch reflektiert hätte, das ich seit 1991 nicht mehr vergaß, aber wegen leichten Verdachts auf Mystizismus nicht immer wieder beherzigte: George Steiner „Von realer Gegenwart“.  Wie gern wäre ich Simone Mahrenholz gefolgt, die 1997 gerade im Zusammenhang mit Schubert bei Steiner anknüpft.

Mahrenholz‘ Verweis auf Steiner

gerade dort mein neues Déjà-vu-Erlebnis

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Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, betone ich meist in der Frühzeit, wie sich das Hauptinteresse von der Biologie zur Musik, von den Tieren zu den Komponisten verlagerte, leicht ablesbar an den kindlichen Geschichten, in denen gar keine Menschen vorkommen, nur Käfer, Grille, Regenwurm, Reh, Hirsch, Wildschwein („Eber oder Bache“) usw. Im Grund lief aber dieser ganze Themenkreis auf andern Ebenen lebenslang parallel: Am Ende standen dann die Bücher z.B. von Richard Dawkins, aber nicht „das egoistische Gen“, sondern die unglaubliche Auffächerung der Arten in den „Geschichten vom Ursprung des Lebens„. Die Komponisten dagegen liefen noch eine Weile parallel mit Weltreisenden wie Marco Polo, James Cook, Alexander Humboldt, – und Albert Schweitzer und Nietzsche. Bis in die Gegenwart zu Harald Lesch oder Dirk Steffen. Daher berührt mich der erste Teil des Buches von Daniel Martin Feige, als werde dort versehentlich – auch im Widerspruch – „meine Sache“ betrieben (die Relativierung der neodarwinistischen Weltbilder, bzw. der Soziobiologie u.ä.) im Namen der Philosophie und einer neuen Anthropologie. Daher die exemplarische Herausstellung der folgenden beiden Zitate aus dem Buch über „Die Natur des Menschen“:

Mit naturwissenschaftlichen Mitteln lässt sich nicht alles in der Welt in den Griff bekommen, weil die menschliche Welt wesentlich eine Welt des Sinns ist: eine Welt, in der sich Menschen etwas als etwas zeigt und in der sie im Lichte ihrer Orientierungen darum streiten können, was sie sind und was es heißt, die Welt angemessen zu sehen. Menschen sind Lebewesen, die der Welt gegenüber in anderer Weise geöffnet sind als Tiere, die sich nicht in einer Welt, sondern einer Umwelt bewegen. Heißt, sich in einer Umwelt zu bewegen, differentiell und zuverlässig auf Aspekte derselben zu reagieren, so bedeutet, sich in einer Welt zu bewegen, sich selbstbewusst auf deren Aspekte im Denken und Handeln zu beziehen. Diese Reflexivität als konstitutiver Aspekt des Denkens und Handelns geht den Tieren ab. Ein selbstbewusstes Verhältnis zur Welt ist dahingehend ein rationales Weltverhältnis, dass es potentiell kritisierbar ist und auf die Frage nach dem »Warum« einer Überzeugung oder Handlung mit Begründungen antworten kann. (Seite 43f)

Die Kunst ist deshalb relevant für die Grundfrage der Anthropologie, weil in ihr meines Erachtens besonders und in besonderer Weise deutlich wird, was wir sind: In ihr scheint eine andere Natur unserer Selbst derart auf, dass in ihr ein Anderes gegenüber einer herkömmlich verstandenen Natur des Menschen aufscheint. (Seite 14)

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Noch ein privates Relikt aus der Zeit des Übergangs zwischen zwei Kindheitsphasen: da musste doch noch etwas sein außerhalb der Welt der Schülerkonzerte für Violine von Seitz und Rieding…

(folgt)

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Nur noch etwas zum Vormerken: MICHEL LEIRIS: Phantom Afrika / Rezension F.A.Z lesen ! HIER

Schon wieder Bach

L. Kavakos und F. P. Zimmermann

Rheinische Post Düsseldorf 9. April 2022

Ich bin etwas spät dran. Das interessiert mich natürlich, bei aller Bewunderung für den Geiger Leonidas Kavakos habe ich mich von seinem Solissimo-Bach ganz vorsichtig distanziert (siehe hier). Jetzt aber musste ich mir eilends die von Frank Peter Zimmermann eingespielte CD bestellen (ich warte). Gegen inneren Widerstand werde ich sogar den Klang der Stradivaris vergleichen, obwohl ich die Provenienz der Geigen im Fall Bach für völlig unwichtig halte. Nicht der Ton entscheidet die Interpretation, sondern die Gesamtheit der Töne. Jedenfalls: von einem Duell zweier Stradivaris kann keine Rede sein! Immer wieder diese Sucht, eine Konfrontation zu konstruieren, wo es um bloßes Verstehen (Verständnis, ja, Einfühlung) ginge. In einer Rezension fände ich zunächst einmal angemessen, die Titel der Stücke bzw. die Bezeichnung als Sonata oder Partita ernstzunehmen, siehe gleich in den ersten oben wiedergegebenen Zeilen: in a-Moll geht es zweifellos um eine Sonate, in E-Dur dagegen zweifellos um eine Partita. Einfach zu erkennen: mit Fuga = Sonata, mit Tänzen = Partita. In d-Moll (von Allemanda bis Ciaccona) lauter Tanzformen, also korrekt „Partita“ oder sogar „Partia“, wie es bei Bach steht. Soviel Zeit muss sein. Auch wenn man als Geiger oft etwas salopp von Bachs „Solosonaten“ spricht und damit die „Sonaten und Partiten“ meint oder – mit Bachs Worten – alle „Sei Solo“ …

Zum Reinhören → jpc hier

Zum direkten Vergleich (Kavakos) → → → jpc hier

Bewerten Sie nicht, registrieren Sie nur: kann man bei soviel Hall-Anteil (Kavakos) überhaupt den Klang einer Geige beurteilen? Je nach Raum-Anteil verändert er sich – zumindest subjektiv – für das hörende Ohr enorm. Es kann nur also um Tempowahl, Phrasierung u.dgl. gehen. Abphrasierung (A-moll-Fuge) der Themen-Einsätze, eingestreute Atempausen oder striktes  Tempo (Beat)? Modellierung der Dynamik?

Allerdings, – ein fairer Vergleich ist auf diese Weise kaum möglich, da die kleinen Kostproben nicht die gleichen Ausschnitte wiedergeben: bei Zimmermann immer die Anfänge, bei Kavakos jeweils mitten im Stück. Vor allem aber: Kavakos hat die Geige einen Ton tiefer eingestimmt („alte Stimmung“), d.h. seine E-dur-Partita hören wir im Anschluss an Zimmermann in D-dur. Im übrigen sind seine „Kostproben“ technisch leicht übersteuert (einfach schlecht kopiert).

Endlich:

Donnerstag 12.5.22, 18 Uhr:  Die Version mit Frank Peter Zimmermann ist angekommen, und die Wirkung ist frappierend. Ich beginne mit E-dur. Tonlich (und aufnahmetechnisch) so zurückgenommen, dass man es kaum glauben will. Ein E-dur-Preludio, fast möchte man sagen: durchweg im Pianobereich, nirgendwo die virtuose Siegerpose, – hier stehe ich mit meiner Stradivari und zeig es euch! -,  stattdessen ein Glanz von innen, ein Vexierspiel von Akkorden und Läufen, überall durchsichtig, man ist verblüfft, wenn es (leider) schon vorbei ist. Die Loure um so lieblicher, überquellend von Liebenswürdigkeit und Grazie, ein Tanz, den Bach nur wenige Male in seinem Leben komponiert hat, vielleicht weil nur die Franzosen ihn erfüllen konnten, und er, Bach, an anderer Stelle wohl nur noch in der Französischen Suite G-dur, – zweimal einzigartig. Gewöhnungsbedürftig dagegen für mich: die Wiederholungsteile mit ihren variierenden Protuberanzen, warum nur? Ja, er kann das auch, wie die historisch Informierten, und vielleicht will man es eines Tages auch nicht mehr entbehren. Ich werde es wohl im Zusammenhang noch oft hören. Und mit unausweichlichem Vergnügen.

Eine andere Überraschung sei hier schon angedeutete: ein Booklettext, den es zu lesen lohnt, ich weiß nicht, wo ich das schon mal erlebt habe: keine Mystifizierung und keine Plattitüden, Signifikantes zum Hörverhalten, auch wenn man glaubt, die Kompositionstechniken seit langem zu kennen, selten wird es so präzise, einfach und so neu gesagt:

Es ist dieses Ineinandergreifen der Dimensionen der Melodik, der Rhythmik, der Harmonik und der Kontrapunktik, welche den Sei Soli spürbar Ausgewogenheit, Vielschichtigkeit und strukturelle Offenheit gewähren. Am deutlichsten tritt diese Verknüpfung der komplementären Dimensionen in den Fugen der drei Sonaten hervor. Dabei offenbart sich ein wesentlicher Grundzug des gesamten Bach’schen Komponierens. Seine subtile Balance zwischen den diversen Komponenten des Klangsatzes führt dazu, dass Töne, welche auf der einen Ebene bloß schmückende Funktion besitzen, auf einer anderen durchaus zu unverzichtbaren Elementen werden, dass also Strukturelles und Ornamentales in ein komplexes dialektisches Verhältnis zueinander treten.

Genau so ist es (und so wird es auch in der dritten Sonate sein, der in C-dur, die uns noch auf einer weiteren CD bevorsteht, mit der großartigsten Fuge, die je geschrieben wurde). Diese CD beginnt mit dem überwältigenden A-moll-Satz der Trauer – „Grave“ – der dem Adagio in G-moll, dem Portal der 6 Werke, so merkwürdig ähnlich ist – mit den drei zur Fuge überleitenden Schlusstakten, überzeugend, wenn auch mit der konventionellen Gestalt des Sexten-Trillers, der zu einem Bogen-Vibrato einlädt. Die Fuge mit dreimal präsentiertem Thema, dreimal mit einer Kunstpause vorweg, als gelte es Matthesons Wort des Staunens zu illustrieren:

Wer sollte wohl dencken, daß diese acht kurtze Noten (…) so fruchtbar wären, einen Contrapunctus [=Fuge] von mehr, als einem gantzen Bogen [= fast 4 Seiten], ohne sonderbarer Ausdehnung, gantz natürlich hervorzubringen?

Tatsächlich spielt FPZ diese 7 Minuten lange Fuge mit einer faszinierenden Natürlichkeit, im stetig dahingleitenden Tempo, mit winzigen agogischen Anpassungen an die Gliederungskadenzen der Großform. Ein Wunder, gerade wenn man etwas ahnt von den Griff-Problemen der linken Hand, verbunden mit der Schwierigkeit, die Brechungen der vierstimmigen Akkorde bogentechnisch elegant zu meistern. Ein Wunder ist auch der leichter überschaubare dritte Satz, das Andante, ein Traum, dessen makellose melodische Linie durch einen gleichmäßig getupften „Bass“ begleitet und getragen wird, die Illusion der zwei oder sogar drei Stimmen auf dem eng begrenzten Raum des Melodieinstruments, das ist vollkommen, der Raum öffnet sich. Das abschließende Allegro durcheilt ihn in alle Richtungen, lotet ihn aus, nach Höhe und Breite und in den Diagonalen; trotzdem kein Virtuosenstück, schon die feinen Echowirkungen signalisieren Zeit und freie Entfaltung. Wie die Fuge, die auch durch solche stehenden Echo-Takte, durch ausgespannte Dreiklangsgirlanden, und immer wieder durch die gleichförmig gestalteten Sequenzen der Zwischenspiele für weite, formbildende Ausblicke sorgt.

Die Ciaconna

Die Wirkung ist enorm, was eigentlich erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass man diese Wirkung seit ungefähr 60 Jahren kennt (auch wenn ich in den Anfängen glaubte, es sei so ähnlich wie mit der Vitali-Chaconne). Sobald ich heute darüber nachdenke, fällt mir immer als erstes Janine Jansen ein, – und ich habe der Neigung widerstanden, jetzt ihre Aufnahme „zum Vergleich“ zu hören. Es kann nicht darum gehen, wie ergriffen ich bin und wo am meisten. Ich werde mich hier auf ein paar Besonderheiten konzentrieren und ansonsten genau diese Zimmermann-Aufnahme als unüberbietbar in Erinnerung behalten. Zunächst aber habe ich nicht genau erkennen können, ob er den Sarabanden-Rhythmus überall mit Doppelt-Punktierung spielt, oder ein Mittelding wählt, am Anfang schärfer punktierend als – vom Dur-Teil geläutert –  am Ende. Was diesen Abschnitt so wunderbar macht, ist die Tatsache, dass Zimmermann hier einfach nichts macht, außer schön spielen. Wie weich er Akkorde relisiert, wenn es von der Zwei- zur Dreistimmigkeit übergeht, und wie er in dem darauffolgenden 16tel- Abschnitt die Fanfaren-Töne herausarbeitet, in einer milden Steigerung, zuerst wie aus der Ferne, dann immer mächtiger. Irgendwie liegt es in der Logik des Aufbaus, im Arpeggio-Teil, der in die Wiederkehr des tragischen Tonfalls von D-Moll mündet, alle artistischen Ambitionen zu entfesseln und auch noch ornamentale Blitzlichter einzubauen, es wird mich bei wiederholtem Hören gewiss mehr begeistern. Übrigens auch die geringfügige, aber suggestive, ja zwingende Temposteigerung im letzten Teil vor der abschließenden Themen-Apotheose – es ist überwältigend – gerade darin auch die Idee, es nicht zu weit zu treiben, auf dem Cis der verminderten Septakkordes im drittletzten Takt ein Piano-„Memento“ zu setzen, keinen Schlusstriller zu ergänzen, sondern eine leere Quinte zu präsentieren, dieselbe wir vorher im Ausklang des Dur-Themas. Und ein Schlusston, der die Verdopplung des Tones D nicht benutzt, um die Stradivari aufblühen zu lassen… Unspektakulär wie in Bachs Handschrift. Mehr kann nicht gesagt werden, und es ist deshalb auch noch nicht ALLES gesagt.

Ob es wirklich etwas zu bedeuten hat oder nicht: Man sieht unwillkürlich den hintergründigen Zusammenhang des verminderten Cis-Akkordes in der dritten Zeile mit dem am Ende der sechsten Zeile:  ………………..  ⇓

(Fortsetzung folgt)

Alfred Lorenz

Zur Analyse der großen Form

Seit ich mich mit Wagners Werken hörend und spielend beschäftige, inbesondere aber, seit ich mich bei der sogenannten Staatsarbeit zum Abschluss des Schulmusikstudiums (1964) längere Zeit ausschließlich mit „Tristan und Isolde“ beschäftigte und auf die große Form aufmerksam wurde, die – wie ich meinte – im Parallelismus der drei Aufzüge deutlich zutage trat, plante ich, mich intensiver mit den Arbeiten von Alfred Lorenz zu den gigantischen Bögen bei Wagner zu beschäftigen. Doch das Misstrauen begann, als mir klarer wurde, wie tief er in die NS-Ideologie verstrickt war, und als ich am Ende der beiden Bände RICHARD WAGNER Ausgewählte Schriften und Briefe (1938), die ich antiquarisch für 18.-DM erstanden hatte, auf den folgenden Ausblick stieß, war ich schon einigermaßen kuriert. So sehr, dass ich mich nicht mehr um das Hauptwerk dieses Propheten kümmern mochte: „Das Geheimnis der Form bei Richard Wagner“ in vier Bänden. Aber eine kürzere Version hätte ich mir durchaus gewünscht. Falls etwas „dran“ war. Eine Recherche über die Nazizeit des Autors war damals ungleich schwieriger als heute, und als die 68er uns aufweckten, war ich schon mit den großen Formen der indischen Musik beschäftigt.

Alfred Lorenz (1938)

Wikipedia (engl) hier zu Alfred Lorenz.

Zu seiner NS-Geschichte im Detail HIER

Aber ich blieb wachsam, wenn es um einen neuen Wagner ging: Adornos „Versuch über Wagner“ 1966 und diese erstaunliche Schrift von Dahlhaus, den ich in Darmstadt kennengelernt hatte (wo auch Adorno über Form sprach) und Rudolf Stephan uns (d.h. das Klaviertrio de Bruyn) täglich ins Gespräch zog.

Carl Dahlhaus 1971

Und nun erst die Entdeckung eines neuen Ansatzes für Lorenz bei Jens Wildgruber:

    Quelle Festschrift Heinz Becker 1982, darin Jens Wildgruber: Das Geheimnis der ‚Barform‘ in R.Wagners Die Meistersinger von Nürnberg. Plädoyer für eine neue Art der Formbetrachtung Seite 205 – 213 / Laaber-Verlag 1982 ISBN 3 9215 1870-9

Bar-Form (AAB) Bogen-Form ( ABA = dreiteilige Liedform)

Die Behandlung der Bar-Form im Lexikon MGG (neu): der Artikel beginnt und endet interessanterweise mit Wagner:

  … ein weitgehendes Korrespondenzverhältnis erkennen lassen und somit als Stollen einer Riesen-Barform dem 2. Akt als Abgesang gegenüberstehen (Mey 1901, S.363; Lorenz 1966 Bd.3, S.10ff).

Quelle MGG (neu) Die Musik in Geschichte und Gegenwart  Sachteil 1 „Barform“ /  Bärenreiter Metzler Kassel Basel etc. 1994 / Autoren: Johannes Bettelbach (Kurt Gudewil)

Man mag es als bloße Sentimentalität abtun, wenn ich mich an die Staatsarbeit von 1964 erinnere, die mich zum ersten Mal auf solche Großformen aufmerksam machte; auch der Name Lorenz fehlt nicht und immerhin war dieser Abschluss des Schulmusikstudiums (danach folgte das reine Violinstudium bis 1967, dann die  Orient-Tournee und die Promotionsstudien über arabische Musik bis 1970) dafür verantwortlich, dass ich mich bis heute für das Phänomen Wagner interessiere, obwohl es den neuen musikethnologischen Arbeitsgebieten zu widersprechen  schien. Es gehört alles zusammen. Das Thema lautete: „Die literarischen und philosophischen Anregungen zu Wagners Tristan und ihre Wiedergabe bzw. Umbildung in diesem Werk.“

Reichow 1964

Wie gesagt: eine Sentimentalität vielleicht, aber es wäre auch heute noch keine Strafarbeit für mich, ein Jahr lang aufs neue „Tristan und Isolde“ zu studieren. Damals soll mein früherer  Geigenlehrer Raderschatt in Bielefeld geäußert haben: „ich dachte, er hätte endlich die Pubertät hinter sich“. Ein Irrtum, – ich wollte, ich könnte sie heute als erledigt betrachten.

Rudolf Stephan sagte uns damals: Lesen Sie Adornos Analyse zur Lohengrin-Instrumentation, überhaupt den „Versuch über Wagner“! Wie kam er darauf? Ich habe das erst im April 1966 umgesetzt und stieß wieder auf Lorenz, neue Fragen tauchten auf.

Ich wusste wohl, wie ungenügend mein Ansatz zu einem Überblick des Tristanstoffes war. Was nicht heißt, dass ich heute soviel schlauer geworden wäre. Vielleicht wüsste ich nur besser, wie ich weiterarbeiten müsste. Wenigstens hinsichtlich der Lektüre würde ich wie folgt beginnen, also durchaus bei Lorenz und bei meinem Wunsch, musikalische Riesenformen zu überblicken und nicht bei „schönen Stellen“ hängenzubleiben… wie oft wohl habe ich damals Wotans Abschied incl. Feuerzauber gehört, wie oft in meinem „Einzelhaft“-Zimmer in Köln-Niehl das Tristanvorspiel (erleichterte Fassung) am Klavier gespielt? Wie oft wohl? Auch Besucher*innen waren nicht sicher.

MGG  Mahnkopf

Quellen

MGG (neu) Die Musik in Geschichte und Gegenwart Personenteil Band 11  Artikel „Alfred Lorenz“ Autor: Werner Breig

Richard Wagner Konstrukteur der Moderne (Hg.) Claus-Steffen Mahnkopf, darin: Wagners Kompositionstechnik S.159-182 Klett-Cotta Stuttgart 1999

Letzteres ein besonders maßgebendes Buch, aus dem ein bezeichnender Satz zitiert sei:

Die Wagnerliteratur ist so vielseitig wie unüberschaubar. Ein jeder, gleich, ob musikalisch fachkundig oder nicht, glaubte, sich zu Wagner äußern zu können und zu müssen. Betrachtet man sie aber etwas genauer, folgt die erste Überraschung: Der Anteil der Literatur zur Musik Wagners ist verschwindend gering.

(Sein guter Hinweis auf Ernst Kurth: Romantische Harmonik und ihre Krise !!!)

Einstweilen begnüge ich mich, die Arbeit von Jens Wildgruber zu studieren, zumal sie nirgendwo in der Wagner-Literatur beachtet und zitiert wurde, auch wohl schwer aufzufinden war  – ich weiß nicht, warum das so ist, auch nicht, warum man im Internet kaum Triftiges über den Autor und seine weiteren Arbeiten findet.

Weshalb Alfred Lorenz ansonsten fehlt (auch in meinem Bücherschrank), ist klar, obwohl man es selten so simplifiziert ausdrückt: er war ein unangenehmer Nazi (gestorben 1939!). Aber natürlich kann man sich mit ihm auseinandersetzen, ohne mit seinem weltanschaulichen Hintergrund zu sympathisieren. Das geht einem ja bei Wagner genauso!

(Fortsetzung von oben, Wildgruber)

Was mir hier besonders gefällt, ist sicher auch das, was mich an die frühen 80er Jahre erinnert, eine linke Haltung, die der Utopie zuneigte, dabei immer den positiven Zielpunkt der Geschichte ahnen ließ, die Moderne (siehe Mahnkopf); für mich immer im latenten Widerspruch zu meinen parallel realisierten „orientalischen“ oder „ethnischen“ Interessen. Ich zitiere aus Wildgrubers Artikel, um es leichter repetierbar zu machen:

Das ‚Geheimnis‘ der Barform liegt tiefer, zumal es nicht zum Gegenstand der ‚ästhetischen Vorlesung‘ gemacht wird; es liegt verborgen in der Frage, warum denn die Meister [der „Meistersinger“] im Bar die einzig statthafte Form künstlerischer Äußerung erblicken. Es gibt nur einen Hinweis darauf, daß Wagner darüber nachgedacht hat, und zwar unter einem geschichtsphilosophischen Aspekt. Die Ausgangsbasis ist zu schmal, um daraus eine komplette Theorie abzuleiten; die folgenden Ausführungen sind daher eher spekulativer Natur.

Dialektisches Denken, wie es sich im Strukturprinzip des Bars niederschlägt, ist immer auch geschichtliches Denken, das Geschichte versteht als einen fortschreitenden Prozeß, in dem von Konfliktlösung zu Konfliktlösung immer höhere Ebenen der gesellschaftlichen Organisation und des menschlichen Bewußtseins erreicht werden: Geschichte hat ein Ziel, dessen formelhafte Umschreibungen als ‚Aufhebung der Selbstentfremdung‘ oder ‚Neues Paradies‘ in ihrer Abstraktheit auf die Utopie verweisen. Wenn Wagner den Bar als dialektische Struktur interpretiert, so sieht er in ihm den Niederschlag des teleologischen Geschichtsbewußtseins seiner Schöpfer, d.h. des frühen Bürgertums, dem ein klares Ziel vor Augen lag, nämlich die Aufgabe, sich gegen das Feudalsystem durchzusetzen. Das vermittelnde Element zwischen einer Gesellschaft und ihren repräsentativen musikalischen Ausdrucksformen wäre demnach in der beiden gemeinsamen Strukturierung der Zeit zu sehen.

Speist sich das Selbstverständnis des Bürgers im ausgehenden Mittelalter aus dem teleologischen Bewußtsein, daß sein Ziel, die Selbstverwirklichung, in greifbarer Zukunft zu erreichen sei, so beruht das Feudalsystem auf genau entgegengesetzten Prinzipien. Es leitet seine Existenzberechtigung aus Vergangenem ab, aus einem in mythischen Bildern verklärten Ursprung, der dem Menschen anschaulich wurde in der Zugehörigkeit zur Blutgemeinschaft der edlen Sippe, im Besitz von Grund und Boden und in der Zugehörigkeit zu einem sozialen Stand. Die Rechtfertigung des Systems aus dem Ursprung steht in ersichtlichem Gegensatz zu teleologischem Bewußtsein: wo der Ursprung herrscht, kann Geschichte nur erfahren werden als Wiederholung dessen, was schon immer war, die Zeit steht unter demselben Gesetz des Kreislaufs wie das vegetative Dasein.

Elemente dieses Bewußtseins werden an zahlreichen Stellen im Ring des Nibelungen artikuliert, doch wäre es verfehlt, seine Konzeption aus dem ursprungsmythischen Bewußtsein ableiten zu wollen: es ist nur Stoff, nicht Strukturprinzip ( nur in Tristan und Isolde gewinnt es die Form beeinflussende Kraft).

Eine der denkbaren Formen, in der sich ursprungsgebundenes Bewußtsein niederschlagen kann, ist ganz offensichtlich der Bogen. Wenn die Meister also Walthers Prüfung abbrechen, tun sei es aus einem guten Grund: nicht etwa, weil ihnen eine altmodische Dacapo-Arie vorgetragen wurde, die für die historischen Meistersinger allenfalls eine allzu moderne Form gewesen wäre, sondern weil in der Bogenform das feindliche Prinzip seine Maske fallen ließ; der Junker sang nichts anderes vor, als die mißtrauischen Meister von ihm erwarten konnten.

Wenn Wagner gleichwohl Walther zu demjenigen Künstler macht, der den Bar zum wahren Ausdruck bürgerlichen Bewußtseins entwickelt, dann muß er Walther aus dem Bereich des Ursprungsmythos herauslösen. Genau dies – und darin liegt der Hinweis, daß Wagner vergleichbare Überlegungen angestellt haben muß – geschieht für alle drei Ursprungsbindungen, die das Gesetz des Ursprungs konkretisieren, wenn er Pogner über ihn sagen läßt:

Als seines Stammes letzter Sproß / verließ er neulich Hof und Schloß / und zog nach Nürnberg her, / daß er hier Bürger wär‘.

Es ist der Überlegung wert, ob dieser – Wagner unterstellte – Ansatz neue Wege zur Betrachtung musikalischer Formen erschließt.

Soweit Jens Wildgruber 1981. (Quelle siehe oben a.a.O.) Es waren die Überlegungen jener Zeit, die mich heute geradezu „heimatlich“ berühren.

17./18. April 2022

Übrigens habe ich vor Jahren (2016) im Blog schon einmal versucht, der Wagnerschen Kompositionsweise näherzukommen und bin nun quasi zufällig aufs neue an denselben Punkt geraten, wie man hier sehen kann. Allerdings im Parsifal. Und das passt nicht schlecht: der Blick zurück und auch voraus, immerhin haben wir heute schon Ostersonntag. Der Vollständigkeit füge ich noch einen weiteren Link hinzu, zu dem Artikel, der damals den Ausgangspunkt (Fluchtpunkt?) darstellte: hier zum 25. Juli 2016.

Und jetzt soll heute auch noch einmal der Link zur Youtube-Aufnahme folgen (ab 24:28),

Kundry 1992 Waltraud Meier, Poul Elming (Barenboim, Kupfer)  HIER 

darüberhinaus unten der entsprechende Notentext aus dem Parsifal-Klavierauszug meines Vaters, der ihn in seinen Kapellmeister-Jahren (in Schwerin erworben und) in Stralsund studiert haben wird, in den 1920er Jahren, noch optimistisch vorausschauend, womit wir heute – zurückschauend – ziemlich genau 100 Jahre im Blick hätten, – zugleich eine nahe Zukunft, die wenig Anlass zum Optimismus gibt.

Tristans Blick

im Vorspiel

er schlägt die Augen auf, sie schenkt ihm das Leben, er stirbt, sie anblickend

Leben Tod

(folgt: Walküre: „Todverkündigung“ 2.Aufzug, 4.Szene (s.o. Bar-Form MGG)

Hören? Z.B. HIER (Solti 1957), a) bis 9:45 b) bis 13:07 / c) bis Ende / Im Textbuch auf Wiederkehr Motiv 32A achten (Seite 100 und Seite 101)

Wer war Wagner? († 13. Februar 1883)

15. Januar 1882 / ZITAT:

Man muss schon abgebrüht sein, um in diesem späten Porträt nicht das Antlitz eines Jenseitigen zu erblicken. Alles Blut scheint daraus gewichen, nur die blauen Augen tragen rot geäderte Ränder, der Teint wirkt kreidig, teigig, ungesund, Haar und Backenbart fast struppig, und besonders die lachsfarbenen Lippen lassen mehr eine Steckbriefzeichnung vermuten als das Werk eines renommierten Malers. Januar 1882, Palermo, Grand Hôtel et Des Palmes, der 41-jährige Auguste Renoir porträtiert den 68-jährigen Richard Wagner. Der Meister, so berichtet der musikbegeisterte Maler hinterher, sei »sehr fröhlich« gewesen, wenngleich nervös. 35 Minuten dauert die Sitzung, nicht eben lang, und Renoirs Einschätzung des Resultats lässt tief blicken. »Wenn ich vorher aufgehört hätte, wäre es noch besser gewesen.« schreibt er, »denn mit der Zeit war mein Modell nicht mehr so fröhlich und wirkte steifer. Ich habe die Veränderungen zu sehr übernommen.«

Noch mehr Flüchtigkeit im Skizzieren hätte somit ein noch echteres, authentischeres Wagner-Bild besorgt? Der Gedanke leuchtet ein. Wo die Pose fehlt, liefert der Mensch sich aus. Vor allem aber ist die Mühe interessant, die es [den] Komponisten offenbar kostet, sich in Pose zu werfen – und nichts als diese Mühe fängt Renoir ein. Ausgerechnet Richard Wagner, dem Virtuosen der Selbstinszenierung und -stilisierung, entgleiten hier die Züge, und wären da nicht die altbekannte Silhouette, nicht die opulente Seidenschleife am Hemdkragen und der schwere, pelzbesetzte Mantel (als sei der sizilianische Winter einer der härtesten), man würde ihn kaum wiedererkennen. Renoirs Malerkollege Paul Gauguin wertete die Physiognomoe des Deutschen hellsichtig als eine transparente, durchlässige: ein bleiches »Doktorengesicht, dessen Augen dich nicht fixieren, nicht ansehen, sondern zuhören«. Zwanzig Jahre später drehte der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe den Spieß programmatisch um, ohne groß auf Wagner einzugehen. Das im Pariser Musée d’Orsay hängende Bild, schreibt er, sei »ein merkwürdiges Dokument. Es gibt gewisse Seiten Wagners mit verblüffender, fast erbarmungsloser Psychologie. Es steht dahin, wie weit sie dem Maler bewusst war, jedenfalls beweist das Bild, wie frei sich der Künstler vor dem Gegenstand seiner Verehrung fühlte.«

Quelle Rüdiger Schäpe und Christine Lemke-Matwey: Die Sächsischen Olympier / in: Richard Wagner Max Klinger Karl May WELTENSCHÖPFER / Hatje Cantz  (Austellung Leipzig) Ostfildern 2013 (Seite 24f)

(JR) Ich erinnere an meine obige Verknüpfung des Wildgruber-Artikels mit meinen Hoffnungen um 1980, an die geheime Rolle der Moderne, und finde sie – ich mag Unrecht haben – auch in der Einschätzung des Wagner-Porträts von Renoir wieder, der offenbar für den Umschlagspunkt der Moderne (nach Wagner) einstehen soll, wie ich ihn auch nach dem eben zitierten Text avisiert sehe. Ohne dabei zu frohlocken. Ich habe vor zwei Tagen den Renoir-Film gesehen, war ernstlich berührt und hätte ihn gern noch einmal gesehen… Es würde zu weit führen, darüber nachzudenken (sein Alter und auch: das Altern der Moderne). Hier ist die Fortsetzung des Zitates:

Schön für Renoir, möchte man sagen – und nicht ganz so schön für Wagner? Von der Moderne, die sich hier am Horizont abzeichnet, ist der deutsche Überkünstler gegen Ende seines Lebens mindestens so weit entfernt wie der französische Impressionismus vom Bärenfell Jung-Siegfrieds auf der wagnerschen Opernbühne des 19. Jahrhunderts. Das eigentlich Aufregende aber ist, dass Wagner sich dessen bewusst war. Auch das enthüllt Renoirs Porträt: Indem es einen sich Verabschiedenden zeigt, einen, der bereits Platz gemacht hat. All die Zukunftsorgelei, die Wagner stets lautstark betrieben hatte, in Wort und Ton, in seinen Schriften wie in seinen Musikdramen, sie muss vor einer Zeit, die nicht nur an Gott, sondern auch an der Stellvertreterschaft des Künstlers für dass Göttliche auf Erden zweifelt, notwendig verstummen. Die Schwelle zum nächsten Jahrhundert kann und will Wagner, der Visionär und Utopist, nicht überschreiten – zumal er sich von seinem Selbstbildnis, seinem künstlerischen Rollenverständnbis offenbar nicht zu lösen vermag. Dabei wären Wagner und Sigmund Freud gewiss ein famoses Dioskurenpaar geworden.

ZITATende

(JR) Mit dieser zuletzt genannten Paarung wären wir schon fast bei Thomas Mann und seinem großartigen Essay aus dem Jahre 1933, den ich aufs neue anschaue. Für mich als Leser jedoch steht – sinnvollerweise, aber rein zufällig – erst recht auf der Liste das neue Buch von Volker Hagedorn: FLAMMEN Eine europäische Musikerzählung 1900 – 1918 (Rowohlt 2022). Siehe hier.

Wer genau den gleichen Weg gehen will wie ich, könnte sich schon mal … etwas einhören (die Vorstellung beginnt genau bei 2:20) HIER (Pelléas et Melisande)

Idiota de mente

Ein Sonderthema, das nichts mit Demenz zu tun hat

Schloss Bruneck (Wikimedia)

Hier  und Hier Etwas zum Lesen (für JR, mit Zusicherung meinerseits: die Lektüre des Originals ist von Bedeutung, wenn auch sehr alt; ein äußerer Anreiz für mich: es hat mit Brixen/Südtirol zu tun, ist assoziativ noch in statu nascendi, und es entgeht mir nicht, dass die Hausarbeit nicht sehr weit führt, wobei aber gerade das Manko produktiv wirkt).

Nikolaus von Kues (Wikipedia-Artikel) Von Kues an der Mosel nach Umbrien…

– Fortsetzung folgt –

Sie folgt, gewiss. Aber woran ich anknüpfe, sollte ich auch andeuten: private Abgründe, hier.

ZITAT

In dem Dialog Idiota de mente treffen die beiden erneut aufeinander. Diesmal aber kommt ein Philosoph hinzu, welcher durch den Redner von den unkonventionellen Gedanken des Laien erfahren hat und sich nun ebenfalls Erleuchtung durch ein Gespräch mit diesem erhofft. Der Redner und der Philosoph treffen den Laien bei seiner Arbeit in einem Kellergewölbe an, als dieser einen Löffel schnitzt. Während sich der Redner schämt, den Philosoph in solch eine Umgebung gebracht zu haben und fürchtet, was dieser nun von ihm denken könne, reagiert dieser mit weltoffener Sicht und kann nichts Schlechtes daran finden, dass der Laie der Kunst des Löffelschnitzens nachgeht8. Der Philosoph wünscht, über den menschlichen Geist belehrt zu werden und erfährt durch den Laien, ,,dass der Geist zum einen den Geist im Körper, die Seele, bezeichnet und zum anderen unendlicher göttlicher Geist ist.9 „Der Laie veranschaulicht am Löffel, wie die ,,mens humana“ Abbild des göttlichen schöpferischen Geistes ist. ,,Die gebildeten Begriffe kann der Geist für sich anblicken, etwa wenn er den Kreis als eine Figur erfasst, bei der alle vom Mittelpunkt zum Umfang gezogenen Linien gleich sind“.

Autorin: Lena Joana Bernotat (Hausarbeit 2020)

Die Wissenschaftlerin  Renate Steiger nennt in ihrer Einleitung zum Dialog „Der Laie über die Weisheit“ den Namen Raimund von Sabunde, aus dessen Wikipedia-Darstellung ein Satz zitiert sei:

Offenbarung (Bibel) und Natur stimmen in seinem Verständnis überein, da sie beide von Gott stammen. Der Naturerkenntnis (durch die von der Erbsünde befreite und vom Glauben erleuchtete Vernunft) gibt er den Vorzug, da sie nicht nur den Klerikern, sondern auch den Laien zugänglich sei und nicht verfälscht werden könne.

Ein erstaunlicher Hinweis, und erst im Fortgang wird ersichtlich, dass die Autorin (und Herausgeberin) mit Blumenbergs Sicht auf „den Cusaner“ kritisch verfahren wird. Die Grundlage des christlichen Denkens ist und bleibt ja ein Buch, an dessen Buchstaben nicht zu rütteln ist, auch wenn sie in Widerspruch mit unserer Erfahrung geraten, andererseits liegt die Natur (scheinbar) unvermittelt vor unseren Augen, beides kommt von Gott, das eine dank Offenbarung, das andere dank unmittelbarer Erfahrung. Eine speziell christliche Falle, – wenn man sich fragt, ob die Abstraktionen des Geistes wirklich ebenso existieren wie die Vielzahl der Dinge -, ist die der Dreifaltigkeit, die dogmatischerweise als Einzahl ebenso vernünftig erscheinen soll wie als Dreizahl: man hilft sich, indem man das Paradox selbst für gottgegeben (natürlich) erklärt. Per ordre de Mufti. Ein Trick wäre, zunächst die Welt der Dinge auch für ein Buch zu erklären, in Konkurrenz zum Buch der Bücher…

So etwa erkläre ich mir, dass man sich (vorläufig) wirklich noch mit dem auseinandersetzen muss, was unter dem Namen Nominalismus – in Abgrenzung vom Rationalismus – zu verstehen ist. Und warum zeitweise der Inhalt des einen Begriffes mit dem des anderen ausgetauschen werden muss. (Private Folgerung: GEDULD – bis endlich die Aufklärung zum Durchbruch bereit ist).

ZITAT Renate Steiger (Anmerkung in der Einleitung Seite XIII)

Siehe u.n. 4,8-10. Dazu H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M.2 1983. Nach Blumenberg enthüllt die Metapher vom Buch der Natur »ihren rhetorischen Gehalt erst als Paradox in der Stoßrichtung gegen die Scholastik“, die Bücherwelt der Kleriker (S.58). Für den Cusaner sei – vorbereitet durch Raymund von Sabunde, von dessen Theologia naturalis Nikolaus sich 1450 eine Abschrift verschafft hat (cod. Cus. 196 I – der Laie eine Figur der Unmittelbarkeit (S. 60). »Der Laie ist der Sprecher der Weisheit, die nicht nur das Pathos der größeren Tiefe gegenüber der Wissenschaft vom scholastischen Typus angenommen hat, sondern … sich einen skeptischen, sogar polemischen Ton gegenüber allem zulegt, was Wissenschaft heißen will. Das hat immer zwei Seiten: Es moniert die Erfahrungsdistanz der scholastischen Begriffsspekulation, und es rekurriert auf den theologischen Hintergrund in den Formen einer schlicht gewordenen Mystik, für deren Typus die Devotio moderna steht.“ (S. 63)

So wird die Unmittelbarkeit der Erfahrung von Wirklichkeit vom bloßen Lesen oder Hörensagen über sie abgesetzt (s.u.n.19).

Autorin: Renate Steiger (1988)

Das Blumenberg-Buch, das sich seit 2021 in meiner wachsenden Blumenberg-Sammlung befindet, entstammt der 11. Auflage des gleichen, mehr als 400 Seiten langen Werkes, dessen Inhaltsverzeichnis einiges über „Die Lesbarkeit der Welt“ erahnen lässt.

Ein anderes, vom Volumen her eher unscheinbar, im Format eines Reclamheftes, lese ich seit jenem Urlaub auf Texel im August 2020 bis heute immer wieder, und ganz allmählich hat der Bezug auf Nikolaus von Kues auch bei mir eine so zentrale Stellung eingenommen, wie von Hans Blumenberg schon 1956 aufgedeckt. Je öfter ich mich in seinem Aufsatz „Nachahmung der Natur“ festlese, Untertitel: „Zur Vorgeschichte des schöpferischen Menschen“, desto wesentlicher erscheint es mir. Nicht nur als Wissenstoff, sondern als Lebensmittel. Und als geheime geistige Wunderwaffe habe ich ein Buch bereitgelegt mit dem schlichten Titel „Handwerk“. Ein anderes wird morgen früh um 11 Uhr bei dem Buchhändler meines Vertrauens eingetroffen sein und wird in kürzester Zeit hier abgebildet sein.

Aber was muss ich feststellen: der Dialog des Löffelschnitzers fehlt. Es muss noch einen anderen Band geben, und wirklich, jetzt erst entdecke ich ihn hier, kann aber immerhin, wenn ich die Funktion „Im Buch blättern“ wähle, einiges nachlesen, im oben angekündigten Kues-Dialog „Idiota de mente“ :

: (Screenshots)

Aber was nun? Soll ich endlich ganz von vorn beginnen? Statt darauflos zu recherchieren? Hier sind die Blumenberg-Seiten, die mich auf Nikolaus von Kues brachten, ihn unentbehrlich machten, so dass ich ihn „im Original-Kontext“ sehen und lesen musste:

Seit Aristoteles wird in Bezug auf Kunst (bzw. auf den schöpferischen Menschen) unablässig ein Thema mit unzähligen Variaten wiederholt: dass es sich um Nachahmung der Natur handelt. Und unter Natur kann man ebernso den Gottesbegriff verstehen, je nachdem welche weltanschaulichen Vorgaben herrschen. Mich begann Blumenbergs frühe Abhandlung zu faszinieren, nachdem mir die folgenden Sätze eingeleuchtet hatten, – mir fiel Leonardo ein, dessen schöpferisches Genie sich nicht nur in Abendmahl und Mona Lisa dokumentierte, sondern auch in Kriegsmaschinen und Fluggeräten, ohne dass man alldies zusammendenken mag:

„Es ist vor allem ein Phänomen der »Sprachlosigkeit« der Technik.“ Und vor allem: „Für die herankommende technische Welt stand keine Sprache zur Verfügung.“ Wenig später fällt der Name Leonardo da Vinci, aber verkappt kritisch, da er sich mit der alten Traumvorstellung von der Nachahmung des Vogelflugs beschäftigt hat, während das Problem schöpferisch nur mit einem absolut neuen Prinzip zu lösen war, der Verwendung einer Luftschraube, denn „rotierende Elemente sind von reiner Technizität“ . An dieser Stelle kommt Nikolaus der „Cusaner“ ins Spiel, und was sein Beispiel des löffelschnitzenden Laien hätte bedeuten können, des „Idiota“ (lat.). Mit meinem alten Griechisch-Lexikon kann ich leicht erklären, warum wir uns in der Schule gern schon mal mit der Anrede titulierten: Na, du gemeiner Soldat. Heute kaum noch zu belächeln.

Aber nun zur Sache:

Man kann die einzelnen Sätze gar nicht bedeutungsvoll genug nachlesen. Gott ist eine so selbstverständliche Grundlage alles „alten“ Denkens und Fühlens, dass wir es nicht mit einem Lächeln abtun können, um z.B. den Rationalismus des Bachschen Weltverständnisses mit unserm eigenen zu vermischen. Man verstehe nur, weshalb ein Bach-Jünger wie John Eliot Gardiner in seinem großen Buch von der „Himmelsburg“ ein ganzes Kapitel dem „Räderwerk des Glaubens“ widnete. Und nun einen solchen Satz (s.o.):

Aber die Berufung auf den schon vorhandenen und das Fluggeschäft gottgegebenerweise ausübenden Vogel hat gar nicht soi sehr die Funktion einer genetischen Erklärung. Sie ist vielmehr der Ausdruck für das mehr oder weniger bestimmte Gefühl der Illegitimität dessen, was der Mensch da für sich beansprucht. Der Topos der Naturnachahmung ist eine Deckung gegenüber dem Unverstandenen der menschlichen Ursprünglichkeit, die als metaphysische Gewaltsamkeit vermeint ist.

Erlauben wir uns einen Seitenblick auf J.S.Bachs „weltlichen“ Zeitgenossen Johann Mattheson, über den wir bei Wikipedia folgendes erfahren:

Im Gegensatz zum Zeitgeist zu Beginn des 18. Jahrhunderts vertrat Mattheson die Auffassung, dass die Musik nicht theologisch, sondern sozial sein sollte. Die Musik soll nach Mattheson ihren eigenen Regeln folgen und nicht von außen auferlegten kontrapunktischen Regeln unterliegen, die sie in ein scheinbar wohlgestaltetes Korsett zwängen. Sie soll nicht allein zu Gottes Ehre (Soli Deo Gloria) komponiert und gespielt werden, sondern vielmehr um den Menschen zu gefallen und sie u. a. zum Tanz zu bewegen. Mattheson prägte daher ein für seine Zeit untypisches, gesellschaftlich ausgerichtetes Musikverständnis – ganz nach dem Vorbild des in Frankreich aufkommenden galanten Stils, der dabei stets von einem elitären, exklusiven Menschenbild ausging.

Ziehen wir keine übertriebenen Rückschlüsse: offiziell wird Mattheson immer wieder den Zeitgeist bekräftigen. Man muss nur zur Kenntnis nehmen, mit welcher Emphase er den himmlischen Ursprung jeglicher Musik beschwört und sich darauf beruft, dass die Engel selbst sich der musikalischen Werkzeuge der Menschen bedienen. Spricht so ein großer Aufklärer in unserm Sinne?

Quelle: Johann Mattheson: Versuch einer systematischen Klang=Lehre wider die irrigen Begriffe von diesem geistigen Wesen, von dessen Geschlechten, Ton=Arten und auch vom mathematischen Musikanten nebst einer Vor=Erinnerung wegen der behaupteten himmlischen Musik / Hamburg 1748 / Nachdruck DDR Leipzig 1981 für Bärenreiter Kassel

Man bedenke, dass Nikolaus von Kues seine Schriften zum Lob des Laien als ein getreuer Kirchenmann, wenn auch nicht unangefochten, 300 Jahre vor Mattheson und Bach verfasst hat! Der aufklärerische Kern schlief im Innern der kirchlichen Lehre, und genau das will Blumenberg in allen Verästelungen nachvollziehen. Und wir können uns nicht darüber erheben und sagen: erst um 1800 oder seit der Französischen Revolution brach urplötzlich die Vernunft aus dem  wirren abendländischen Denken hervor, wie die Sonne aus der Nacht des Mittelalters. Neu war die Sprache, die man dafür entwickelte, was nicht bedeutet, dass es vorher keinen Sprache gab. Im Gegenteil:

Das Unformulierbare ist das Unvertretbare. Das Paradies war: für alles einen Namen zu wissen und durch den Namen sich geheuer zu machen.

Siehe im letzten Blumenberg-Text oben Seite 14 unten. – Was aber war nochmal „Nominalismus“ ?

(Fortsetzung folgt)