Archiv der Kategorie: Kunst

A wie Adorno

Eine Rückkehr

Adorno (Theodor Wiesengrund-Adorno) hat mich begleitet seit 1960, genauer: seit 1959 – mit „Dissonanzen“, das Buch gehörte meinem Bruder, es muss es in der Mainzer Musikwissenschaft bzw. Schulmusik Pflichtlektüre gewesen sein. Fast gleichzeitig entlieh ich – noch zuhaus – aus der Bielefelder Stadtbücherei die „Philosophie der Neuen Musik“ und ließ mich davon nicht entmutigen. Ein eigenes Exemplar las ich in Berlin, mit Rot- und Blaustift versehen, endlos Zeile für Zeile, im Café Kranzler, immer wieder mit lichten Augenblicken, aufflammender Begeisterung. Ich ließ mich durch seine Position gegen Strawinsky nicht beirren. Danach kam jedes Jahr mindestens ein weiteres Buch dran. Auch Rundfunkvorträge, von denen ich glaubte, dass sie im Äther verlorengehen könnten, verschriftlichte ich nach den Tonbandaufnahmen in stundenlangen Sitzungen (in Köln-Niehl und in Gummersbach, wo ich unterrichtete und manchmal übernachtete). Ich habe die Anfänge schon einmal rekapituliert. HIER. Auch in Visp (Visperterminen), wo er gestorben ist, habe ich seiner gedacht, auf langen Wanderungen. Mein Zimmer in der Solinger Wohnung Querstraße war mit einem langen Zitat aus dem „Getreuen Korrepetitor“ tapeziert, das ich täglich betrachtete. Was mich nicht schreckte: wie er Bach gegen seine Liebhaber zu verteidigen suchte, wie er mit dem Jazz verfuhr, mich störten eher seine Imitatoren. Ich polemisierte gegen Clytus Gottwald, dessen Verdikt über Historische Aufführungspraxis mich ärgerte, da wollte ich seine Neue Musik auch nicht hören. Manfred Gräter, den ich als späteren Kollegen im WDR nie kennenlernte, aber sein frühes Buch hat mich durchaus beschäftigt, zu Zeiten wo mir Hindemith noch das Maß der Moderne bedeutete.

Um so willkommener der neue Anstoß.

https://lenitiv.notion.site/Adorno-Audiothek-2f95092d2b2645d7a1d82b11df50bce0

Zur Adorno-Audiothek Hier !!!!

Ein Beispiel:

Adorno über Popmusik

Die ästhetischen Grausamkeiten der Beatles

hier

Tage des Durchblicks

Beispiele aus dem Leseleben

Es ist vielleicht so, dass man es nun mal braucht, in Tagen größter Verunsicherung eine höhere Aktivität zu entfalten, auch in Bereichen, die jeder Außenstehende für abseitig halten wird, und ich könnte nicht einmal zugeben, dass es nur zur eigenen Versicherung geschieht. Niemand bedarf meiner Arbeit an der Bach-Fuge BWV 865 (seit Dezember 2021!), und nur ich möchte diese Erfahrung nicht missen, wie ich meinen eigenen Widerstand, mein Missfallen, meine Blindheit des Gehörs  ganz allmählich überwunden habe.

glorreiches Ende – wer spricht von Siegen?

Es passt: die störende Cookies-Banderole am unteren Bildrand dieses Blogs, die ich nicht heraufbeschworen habe und auch nicht beseitigen kann, und wenn man sie anklickt,  ärgert sie einen doppelt durch sinnloses Bedauern.

Seit einer Woche die fortwährende parallele Beschäftigung mit dem Ukraine-Krieg, die Skrupel, sich überhaupt mit ferner liegenden Themen zu beschäftigen. Was bedeuten mir Tonleitern auf der Geige? Technische Grundlagen? Und was aus anderem Blickwinkel? Nichts. (Wenn jemand das hört? jämmerlich! Strickleitern!) Ich gehe durchs Haus, viele Stufen, ich kann Treppensteigen, abwärts, aufwärts, ich lebe noch. Das Klavier will belebt werden. Chopins E-dur-Etüde im legatissimo. Ich kenne die schweren Stellen der Bach-Fuge, die an sich eine Zumutung ist. Er war ein junger Mann, als er sie schrieb, rücksichtslos in seinen Forderungen, wieso muss er alle kontrapunktischen Künste durchziehen, alle auf einmal, und nachher klingt es nach Berserker, aber man freut sich, es endlich in den Griff zu bekommen. Wozu?

1988

Wann hatten wir das Nagasvaram-Ensemble aus Madras auf dem Domplatz zu Gast? Was für ein Sieg des Fremden über die Fernsehästhetik. Von wegen „näselnd“. Psychologisch steht die Zurna eher in der Nähe unserer Trompete. Auf der Seite der Sieger.

Ich beschäftige mich immer noch mit Oboen, „Reeds“ heißt die CD, die ich auflege, wenn ich die „Ohrwürmer“ hinter mir habe. Und Christians Bücher, die mich herausfordern. Alles wie neu. Und mit der ZEIT geht es noch weiter zurück, WDR 70er Jahre, der große Bericht von/über Désirée Nosbusch, die Redaktion Kinderfunk, da sah doch alles nach Aufbruch aus, Krings sprach mit leuchtenden Augen von Georg Bossert, –  alles sollte anders werden, besser natürlich, aus „Volksmusik“ sollte gerade  „Musik der Völker“ werden -, auch Lieder für Kinder spielten eine Rolle. Ich wusste bis heute nicht, dass der eben erwähnte, damals so provozierend jugendbewegte Mann 1995 von seinem Sohn erstochen worden ist.

Resilienz beginnt damit, dass man seine eigene Gesellschaft kennt. Wie man sagt, sinken große Schiffe auf dem Meer nicht wegen des Wassers um sie herum, sondern wegen des Wassers, das in sie eindringt. Gesellschaften können auf unterschiedliche Weise verwundbar sein, die gefährlichste ist es aber, wenn eine Regierung ihre eigene Gesellschaft falsch versteht und auf ihre eigene Propaganda hereinfällt. Putins Krieg in der Ukraine entwickelt sich zu einem klassischen Beleg dafür.  Der russische Präsident ist felsenfest überzeugt, dass Russen und Ukraine ein Volk sind, hat aber die Ukrainer nie dazu befragt. In Putins Fantasie sieht seine »Spezialoperation« wahrscheinlich wie die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 aus. Aber die Teilung der Ukraine ist das genaue Gegenteil der Einheit. Und die Ukrainer wehren sich, sie kämpfen um ihre Freiheiten und ihre Unabhängigkeit.

Ivan Krastev

Heute ist der Tag, an dem in aller Frühe die ZEIT im Briefkasten steckt, und mir scheint, das voluminöse Blatt kam nie gelegener. Ich werde die wesentlichen Artikel gleich auflisten, in der Rangordnung ihrer Wesentlichkeit.

Alexander Kluge Der wichtigste Artikel heute.

»Sieger ist nicht, wer die Schlachten gewinnt« Der Krieg ist zurück in Europa. Ein Gespräch mit Alexander Kluge über das Böse und die Möglichkeit eines Frieden. Interview: Peter Neumann

Fritz Habekuss: Der Zweifel Schwächelnder Homo Sapiens (Seite 39)

Tobias Hürter: Da und gleichzeitig nicht da Werner Heisenberg revolutionierte die Physik mit seiner Unschärferelation. Sein Einfluss reicht bis in die Zukunft

Stefan Schmitt: Was für immer verloren geht, ist für immer verloren. Naturschutz verträgt keinen Aufschub. (Seite 1)

Giovanni di Lorenzo: Wie können wir uns wehren? Von einem Tag auf den anderen scheint das Land politisch ein anderes geworden zu sein. Die Frage aber ist, ob die Gesellschaft da mitgeht. (Seite 1)

Alexander Kluge:

Wir können auf keinen Fall eine Übersichtsposition für uns beanspruchen: so als könnte jeder ein Richter in dieser Sache sein. Mir kam es natürlich auch bizarr vor, wie Putin da mit Macron oder Scholz an diesem langen Tisch zusammensitzt. Oder wie er seinen eigenen Geheimdienstchef abkanzelt. Aber ist es Theater, ist es Darstellung von Macht wie im 18. Jahrhundert, ist es Verrücktheit oder Kalkül? Das kann ich nicht beurteilen. Als Jurist weiß ich, dass der Rechtsprechung, dem Urteil von zwanzig Zeilen, oft dreißig Seiten Sachverhalt vorausgehen. Und die haben wir nicht.

Man muss den ganzen Apparat resetten. Und zwar auf beiden Seiten.

Sieger ist nicht, wer die Schlachten gewinnt – Sieger ist, wer einen Frieden herstellt.  (Beispiel:)

JR Ich hatte noch etwa eine lange Seite weiter abgeschrieben, während das Räsonnieren in mir immer lauter wurde: „Er versucht das flammende Unrecht zu relativieren“, und ich las alles aufs neue, versuchte ihn besser zu verstehen und wusste am Ende: es ist mir unmöglich, neutral zu verhandeln, wenn sozusagen der Teufel im Gerichtssaal gleiches Stimmrecht oder auch nur Mitspracherecht haben soll. Ich bin ungeeignet. Ich will mich gar nicht einigen. Ich will einen Schuldspruch, sofort. Ich gebe noch einen Teil der Abschrift, bevor ich pausiere:

Das Völkerrecht ist entstanden im Umkreis von Münster und Osnabrück 1648. Dort wird damals ein achtzigjähriger Krieg zwischen den Niederlanden und Spanien und zeitgleichg ein dreißigjähriger Krieg in Mitteleuropa in einem fünf Jahrer dauernden Verhandlungsprozess beendet. Das Entscheidende an diesem Westfälischen Frieden ist die Feststellung des »Normaljahrs«. Man einigt sich darauf, dass der evangelische und katholische Besitzstand so bleiben odfer wiederhergestellt werden soll, wie er am 1. Januar 1624 war. Dies ist der Schnittpunkt der Schmerzlinie für alle Parteien, der einzige Zeitpunkt, an dem nicht die eine Seite mehr gesiegt hatte als die andere. Dieser Punkt ist ein kleiner Möglichkeitsraum. Diesen Möglichkeitsraum zu finden und auszuverhandeln, das war der Schlüssel zum Frieden. (Was heißt das in Bezug auf den Krieg in der Ukraine?)

Zuerst: keine Politik oder Redeweise der Selbstgewissheit. In der derzeitigen Debatte behauptet jede Seite, jedes Gremium, die Übersicht zu haben. Die gibt es aber gar nicht. Wir sprechen mit dem großen Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz von den »Nebeln des Krieges«. Sowie der Krieg ausbricht, ist alles unbestimmt. Dieses Nebelhafte, dieses Unbestimmtheitsfeld, ist die Herausforderung, auf die wir antworten müssen. Und deswegen können wir mit einer Psychologisierung Putins oder mit einer moralischen Haltung, die wir im Westen alle teilen, keine Sicherheitsstruktur gewinnen. Immanuel Kant hat einmal sehr schön gesagt: Selbst eine Welt von Teufeln, sofern sie die Regeln der Vernunft anwenden, könnte eine Republik gründen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin in keiner Frage gleichgültig. Meine Urteilsbasis ist: Wo wäre selbst für einen Verrückten oder einen Bösen der Punkt, an dem er sich aus Realitätsgründen einigen kann? (…)

Die Hoffnung auf einen gerechten Frieden verengt den Möglichkeitsraum. Der Krieg ist ein Monster. Sein erstes Element ist, wie gesagt, die Nebelhaftigkeit.

Soweit Alexander Kluge. (DIE ZEIT SEITE 59)

Liegt der Fall heute nicht ganz anders? Es geht nicht in Richtung Republik, sondern David gegen Goliath, und diesmal zum Nachteil des ersteren. Wie es Giovanni di Lorenzo in seinem Leitartikel sagt:

Es sind nicht »wir«, die Frieden in die Ukraine oder nach Russland oder an irgendeinen anderen Ort der Welt tragen müssten. Den Krieg führen doch Putin und seine Soldaten. Es ist nicht nur für Deutschland, aber besonders für die Menschen hier, eine brutale Konfrontation mit der Realität. Was tun, wenn jemand weder durch gute Worte noch durch gute Taten, noch durch Konzessionen zu besänftigen ist? Wenn er aus Machtstreben und Verblendung das Böse in die Welt trägt? Wenn er Völker überfällt, Menschen tötet und ihre demokratisch gewählten Vertreter von tschetschenischen Killerbanden jagen lässt? (…)

Der Korrespondent der BBC in Moskau, Steve Rosenberg, hat (…) gerade in einem fulminanten Text dargelegt, wie Putin bislang alle Drohungen wahr gemacht hat, obwohl sich das im Westen keiner vorstellen wollte. Und dass er bereits 2018 kundgetan hat, mit schärfsten Waffen auf jeden »Entschluss« zu reagieren, »Russland zu vernichten« – was auch immer er darunter versteht. Putin sagte damals: »Ja, das wäre eine Katastrophe für die Menschheit und die Welt … Aber warum bräuchten wir eine Welt ohne Russland?« Man kann nur hoffen, dass Putins Ankündigung dieses Mal wirklich nur eine Drohung ist, obwohl er mit einiger Sicherheit davon ausgehen kann, dass der Westen selbst auf einen Nuklearschlag militärisch nicht reagieren würde. Er weiß, was von einer Welt übrig bliebe, die sich mit Atomwaffen bekriegte.

Quelle DIE ZEIT 2.3.22 Seite 1 Giovanni di Lorenzo Wie können wir uns wehren? Von einem Tag auf den anderen scheint das Land politisch ein anderes geworden zu sein. Die Frage aber ist, ob die Gesellschaft da mitgeht.

Seltsam, wie man dazu neigt, nach solchen aktuell bezogenen Artikeln alles andere auch damit im Zusammenhang zu sehen. Was uns droht, ist absolut anders als zu Napoleons oder Hannibals Zeiten, und auch die Tabula rasa nach dem Dreißigjährigen Krieg sah immerhin noch nach Zukunft aus.

Und so lese ich den Habekuss-Artikel als eine Wende der Evolutionsgeschichte:

Bisher deuteten fast alle Funde darauf hin, dass Homo sapiens vor 43.000 bis 45.000 Jahren auf dem Kontinent ankam. Der war damals Heimat der Neandertaler, die kurz darauf ausstarben. Die Schlussfolgerung lautete: Der moderne Mensch war dem Neandertaler haushoch überlegen, sodass er ihn binnen kurzer Zeit verdrängte. Es war nicht gerade eine Erzählung der Bescheidenheit.

Nun zeigen Funde in einer Höhle in Südfrankreich ein viel komplexerer Bild. In der Grotte Mandrin, von der aus man das Rhônetal überbvlickt, fanden die Archäologinnen und Anthropologen in verschiedenen Schichten Steinwerkzeuge und Zähne. Die meisten stammen von Neandertalern, einige jedoch von modernen Menschern. Das Besondere: Die Funde wechseln einander ab. Vor 80.000 Jahren lebten hier Neandertaler, bis vor 54.000 Jahren Homo sapiens auftauchte – wenngleich nur für 40 Jahre. Dann übernahmen erneut Neandertaler. Rund 10.000 Jahre später lassen sich wieder Homo-sapiens-Spuren nachweisen.

Diese Forschungsergebnisse datieren die Ankunft des modernen Menschen in Europa gut 10.000 Jahre nach vorn – ein gewaltiger Sprung. Das heißt, seine Ausbreitung ging langsamer vonstatten und war weniger geradliniug als vermutet. Homo sapiens scheint sich zunächst so schwergetan haben im neuen Lebensraum, dass er wieder verschwand. Die Funde sind spannend, weil sie zeigen, dass die Welt nie so simpel gewesen ist, wie es uns die Erzählung von Homo sapiens in Europa glauben machen wollte. Kein Zweifel: die kommenden Jahre werden das Bild noch weiter verfeinern.

Quelle Fritz Habekuss: Der Zweifel Schwächelnder Homo sapiens / DIE ZEIT 2.3.22 Seite 39

Siehe auch Wikipedia die Grotte Mandrin, Artikel zuletzt bearbeitet am 13. Februar 2022.

Was will ich als nächstes notieren? Heisenbergs Physik der Unschärferelation oder die Geschichte von Désirée Nosbusch, die im WDR begann, weltenfern, aber nicht weit von den Eckpunkten meiner Arbeitswelt, die damals durch Budengasse, Heinzelmännchenbrunnen, Musikhaus Tonger, Wallrafplatz, Funkhaus, Sendesaal, Domplatz und Hauptbahnhof bezeichnet werden konnte.

Die Theorie bestimmt, was man beobachten kann. Wenn nun die Quantenmechanik eine prinzipielle Grenze dafür setzt, wie genau sich Ort und Geschwindigkeit eines Teichens messenb lassen, dann sind diese Größen eben unbestimmt: Es ist nicht nur so, dass man sie nicht genau kennt. Die Welt selbst verschwimmt. Nicht nur unser Blick auf sie. Das ist der unerhörte Kern jener Formel, die Heisenberg damals hinschreibt: die Unschärferelation. (…)

Auch der Begriff Unschärfe lässt Spielraum für die Antwort auf die Schlüsselfrage: Was ist unscharf? Unser Bild von der Welt? Oder die Welt selbst? Hat das Elektron in Heisenbergs Gedankenversuch tatsächlich keinen eindeutigen Ort und keine eindeutige Geschwindigkeit – oder kennt die Beobachterin diese Größen nur nicht?

Für einige Kollegen Heisenbergs ist die Vorstellung, die Welt sei irgendwie unscharf und die Kausalität außer Kraft gesetzt, nicht akzeptabel. »Wenn schon, dasnn möchte ich lieber Schuster oder gar Angestellter einer Spielband sein als Physiker«, erklärt Albert Einstein. Er und Erwin Schrödinger, die beide an der Entstehung der Quantenmechanik mitgewirkt hatten, werden zu Dissidenten. Einstein versucht jahrelang, die Unschärferelation zu widerlegen und eine »schärfere« Beschreibung der Welt zu finden. Vergebens.

Die Quantenmechanik ist so erfolgreich, dass sich auch Wissenschaftler anderer Disziplinen darum bemühen, von ihrem Erfolg zu profitieren. So gab es Versuche, die Unschärferelation in die Anthropologie und die Filmtheorie zu übertragen. Die Anwesenheit ethnografischer Beobachter beeinflusst die beobachteten Menschen. Die Präsenz einer Kamera beeinflusst die gefilmten Ereignisse.

Physiker sind selten erfreut, wenn ihre Unschärferelation zweckentfremdet wird, um Trivialitäten wie »Alles ist irgendwie ungewiss« Gewicht zu verleihen. Sie reagieren alleergisch auf jede Form von »Quantenpoesie«. Aber sie sind nun mal das Vorbild dafür, wie man sich in einer unscharfen Welt zurechtfindet.

Quelle DIE ZEIT 2.3.22 Seite 46 Tobias Hürter: Da und gleichzeitig nicht da / Werner Heisenberg revolutionierte die Physik mit seiner Unschärferelation. Sein Einfluss reicht bis in die Zukunft.

Ganz neu ist mir das alles nicht, vorn in dem Heisenberg-Band steht der Eintrag: August 1956. Gekauft wohl in den Ferien auf Langeoog. Unsere Welt galt uns als harmonisch, wie man sieht, – auch das ein unscharfes Bild:

Unter Brüdern

Heute ist sie auseinandergefallen. (Andererseits: sie bildet sich neu, und es blieben Kinder und EnkelInnen.)

Am Klavier

Blumenberg lesen

Die Realität des Leibes

Ein Thema, das es in sich hat. Gerade weil es nur um die Einschätzung des Äußeren geht. Kann ich einem Menschen ansehen, was für einen Charakter er zeigen wird, wenn wir uns genauer kennenlernen? Oft genug habe ich festgestellt, dass er oder sie schon nach einem ausgiebigen Gespräch ganz anders aussieht. Keine Einbildung, unsere Einschätzung der Anderen – auch äußerlich – beruht auf den Erfahrungen, die wir machen oder revidieren, ob nach einem Gespräch oder einer Anzahl von Begegnungen. Lebenserfahrung heißt das. Man muss das gelernt haben, denkt man, aber es gab doch immer wieder Menschen, die sich zum Beispiel auf den ersten Blick verliebten. Oder dies  von sich behaupten: es habe sie wie ein Blitz getroffen. Aber wenn mich nun der Blitz fortwährend trifft, aber der/die andere merkt es nicht, – was dann? Lavater hieß ein Mann des frühen 19. Jahrhunderts, der fest daran glaubte (und Geld damit verdiente), dass er Menschen, die er nicht kannte, nach Bildern präzise einzuschätzen vermochte, und er hat das angeblich oft unter Beweis gestellt.

Ich benutze die Tatsache, dass ich mit diesem Problem aus dem täglichen Leben vertraut bin, dafür, dass ich einen Philosophen, den ich lese, auf seine Verständlichkeit prüfe. Was verlangt er von mir? Ich setze dort rote Schrägstriche, wo ich stocke; gebe aber die Anmerkungen seines Textes nur wieder, wenn ich es unbedingt brauche. Oder gehe darüber hinaus, um restliche Unklarheiten zu beseitigen.

TEXT Blumenberg Seite 686

Die Realität als real anzunehmen, das ist also nicht das Selbstverständliche, auch nicht hinsichtlich der Realität des Leibes. Man muß etwa vergleichen, wie Sokrates und Lichtenberg mit dem Bewußtsein ihrer eigenen Häßlichkeit als Index für die Überwindbarkeit des Leibes angesehen, in gewissem Sinne also als Merkmal seiner Irrealität. Wenn das Gesamtleben der Seele zwischen Präexistenz und Unsterblichkeit nach dem Totengericht die leibliche Dauer zur Episode degradiert, dann darf eben dieser Leib nicht so ernst genommen werden, wie es seine Einschätzung durch andere dem Subjekt aufzuerlegen scheint. Der Ausweg in Unsterblichkeit oder Metempsychose war dem Antiplatoniker Lichtenberg versperrt. Er verwandte all seinen polemischen Scharfsinn darauf, die Physiognomik aus dem Spiel zu bringen. Vom Äußeren des Leibes Schlüsse auf den Wesenskern des Individuums zu ziehen, wie es Lavater und andere Scharlatane der Zeit lehren zu können behaupten, sollte unter dem strikten Verbot der Vernunft selbst stehen. Einer der vielen theoretisch verwendeten Blindgeborenen der Zeit, den Cheselden in den »Philosophical Transactions« behandelt hatte, entsprach genau / der Herrschaft des Wunsches über die Vernunft: Er hatte vor seiner Heilung erwartet, die Personen sollten am schönsten aussehen, denen er am meisten gewogen war, und die Speisen auch dem Auge am angenehmsten sein, die am besten geschmeckt hatten. (17) / Aber nicht anders ergeht es dem Meister der Physiognomik mit seiner singulären Chance, den Erwarteten vor sich zu sehen: Lavater trifft zum ersten Mal Goethe in Frankfurt und verrät im ersten Augenblick durch einige sonderbare Ausrufungen, daß er mich anders erwartet habe, so daß ihm Goethe nach seinem angeborenen und angebildeten Realismus versichern muß, / daß sie es nach dem Gefallen Gottes und der Natur, ihn so zu machen, auch dabei wollten lassen bewenden. / (18) Das Wort Realismus fällt hier nicht umsonst.

(18) Goethe, Dichtung und Wahrheit XIV, ed. Scheibe, 502. Immerhin hatte Lavater schon vor der Bekanntschaft mit Goethe das verwechselte Bildnis als solches erkannt und verworfen (a.a.O. 499). Noch der sehr alte Goethe verhält sich ›physiognomisch‹: Leider deutet mir so fratzenhaftes Äußeres auf eine innere Verworrenheit. (Tagebuch 17.5.1831 über den Maler Preller, der 1832 den toten Goethe zeichnen wird).

Nähere Erkundigung an Ort und Stelle bei GOETHE Dichtung und Wahrheit XIV

Es dauerte nicht lange, so kam ich auch mit Lavatern in Verbindung. Der / »Brief des Pastors« an seinen Kollegen hatte ihm stellenweise sehr eingeleuchtet: denn manches traf mit seinen Gesinnungen vollkommen überein. Bei seinem unablässigen Treiben ward unser Briefwechsel bald sehr lebhaft. Er machte soeben ernstliche Anstalten zu seiner größern Physiognomik, deren Einleitung schon früher in das Publikum gelangt war. Er forderte alle Welt auf, ihm Zeichnungen, Schattenrisse, besonders aber Christusbilder zu schicken, und ob ich gleich so gut wie gar nichts leisten konnte, so wollte er doch von mir ein für allemal auch einen / Heiland gezeichnet haben, wie ich mir ihn vorstellte. Dergleichen Forderungen des Unmöglichen gaben mir zu mancherlei Scherzen Anlaß, und ich wußte mir gegen seine Eigenheiten nicht anders zu helfen, als daß ich die meinigen hervorkehrte.

Die Anzahl derer, welche keinen Glauben an die Physiognomik hatten, oder doch wenigstens sie für ungewiß und trüglich hielten, war sehr groß, und sogar viele, die es mit Lavatern gut meinten, fühlten einen Kitzel, ihn zu versuchen und ihm wo möglich einen Streich zu spielen. Er hatte sich in Frankfurt, bei einem nicht ungeschickten Maler, die Profile mehrerer namhaften Menschen bestellt. Der Absender erlaubte sich den Scherz, Bahrdts Porträt zuerst statt des meinigen abzuschicken, wogegen eine zwar muntere aber donnernde Epistel zurückkam, mit allen Trümpfen und Beteuerungen, daß dies mein Bild nicht sei, und was Lavater sonst alles, zu Bestätigung der physiognomischen Lehre, bei dieser Gelegenheit mochte zu sagen haben. Mein wirkliches nachgesendetes ließ er eher gelten; aber auch hier schon tat sich der Widerstreit hervor, in welchem er sich sowohl mit den Malern als mit den Individuen befand. Jene konnten ihm niemals wahr und genau genug arbeiten, diese, bei allen Vorzügen, welche sie haben mochten, blieben doch immer zu weit hinter der Idee zurück, die er von der Menschheit und den Menschen hegte, als daß er nicht durch das Besondere, wodurch der einzelne zur Person wird, einigermaßen hätte abgestoßen werden sollen.

(…)

Unser erstes Begegnen war herzlich; wir umarmten uns aufs freundlichste, und ich fand ihn gleich, wie mir ihn so manche Bilder schon überliefert hatten. Ein Individuum, einzig, ausgezeichnet wie man es nicht gesehn hat und nicht wieder sehn wird, sah ich lebendig und wirksam vor mir. Er hingegen verriet im ersten Augenblick durch einige sonderbare Ausrufungen, daß er mich anders erwartet habe. Ich versicherte ihm dagegen, nach meinem angeborenen und angebildeten Realismus, daß, da es Gott und der Natur nun einmal gefallen habe, mich so zu machen, wir es auch dabei wollten bewenden lassen. Nun kamen zwar sogleich die bedeutendsten Punkte zur Sprache, über die wir uns in Briefen am wenigsten vereinigen konnten; allein dieselben ausführlich zu behandeln, ward uns nicht Raum gelassen, und ich erfuhr, was mir noch nie vorgekommen.

Weitere Erkundigungen über das Verhältnis Lavater / Goethe bei Rüdiger Safranski (da er sich ‚physiognomisch‘ verhält: war der Dichter wirklich so skeptisch gegenüber dem „Scharlatan“?).  Der „Brief des Pastors“ sagt mir nichts, (schau doch nach, z.B. hier), auch wüsste ich gern, ob Goethe für ihn im Ernst einen „Heiland“ gezeichnet hat. (Ja, er hat!) Dann kann die Distanz zu Lavater nicht so gravierend gewesen sein…

Quelle Rüdiger Safranski: GOETHE Kunstwerk des Lebens Biographie / Carl Hanser Verlag München 2013

Man sollte es bei Goethe selbst nachlesen (a.a.O. hier)

Was ihm [Lavater] dagegen die größte Pein verursachte, war die Gegenwart solcher Personen, deren äußere Häßlichkeit sie zu entschiedenen Feinden jener Lehre von der Bedeutsamkeit der Gestalten unwiderruflich stempeln mußte. Sie wendeten gewöhnlich einen hinreichenden Menschenverstand, ja sonstige Gaben und Talente, leidenschaftlich mißwollend und kleinlich zweifelnd an, um eine Lehre zu entkräften, die für ihre Persönlichkeit beleidigend schien: denn es fand sich nicht leicht jemand so großdenkend wie Sokrates, der gerade seine faunische Hülle zugunsten einer erworbenen Sittlichkeit gedeutet hätte. Die Härte, die Verstockung solcher Gegner war ihm fürchterlich, sein Gegenstreben nicht ohne Leidenschaft, so wie das Schmelzfeuer die widerstrebenden Erze als lästig und feindselig anfauchen muß.[20]

Lavater-Links hier und hier

Erholung der Augen, in Erwartung eines näheren Einblicks in das Wesen des Leibes (JR)

Foto: E.Reichow

Was mich am meisten beschäftigt, ist der Wirklichkeitsbegriff, und der steht hier im Hintergrund, wenn vom „Leib“ die Rede ist. Trotzdem bleibe ich mit Blumenberg lieber beim Leib. (Blumenberg a.a.O. Seite 658)

Im Horizont des so ausgegrenzten Wirklichkeitsbegriff erscheint der Leib als Dunkelkörper. Auf den ersten Blick hat er die solitäre Stellung im Pflegeverhalten des Individuums, das sich mit ihm stehen und fallen weiß, präsentiert er sich in zentraler Wichtigkeit und auf der höchsten Dringlichkeitsstufe als unübersehbare Wirklichkeit. Trotzdem bedarf es keines großen deskriptiven ASufwands, um den Befund zu sichern, daß in komoarativer Betrachtung die Realität des Eigenleibs unter dem Niveau derjenigen fremder physischer Körper – und unter diesen vor allem fremder Leibkörper – liegt. Sie affizieren die Aufmerksamkeit als mögliche Hindernisse, im Fremdleibesfall als Freund und Feind, Hilfe oder Gefahr, dazwischen einzustufebn auch als: nicht bewertungsbedürftig.

Fremdkörper und Fremdleiber sind primär undurchsichtig für die Aufmerksamkeit, und von ihnen her wird auch der Eigenleib als primär undurchsichtig oder in den Stand der Undurchsichtigkeit versetzbar eingeschätzt. Für das Ich ist der Eigenleib, auf dem Niveau der Normalität, schlechthin durchsichtig; so durchsichtig, daß es sich immer schon außerhalb seiner befindet. Der Grund dafür liegt nahe: Der Eigenleib ist der Inbegriff derjenigen Organe, die uns Zugang zur Realität alles dessen, was nicht wir selbst sind, verschaffen. Es ist für das Bewußtsein das, worüber hinaus es durch es selbst gelangt.

Die ständige Mittelhaftigkeit des Eigenleibs gibt ihm eine Qualität, die wir auch für andere Medien kennen, in denen es so etwas wie ›ständigen Aufenthalt‹ gibt und deren Empfindung sich dabei verliert. Daß Luft etwas ist und nicht nichts ist, ist Kindern nicht leicht klarzumachen, und noch Erwachsene können sich verhalten, als ob es nicht so wäre. Der Leib als das, was empfindet, was tastet oder sieht, ist seinerseits leicht das Übersehene, das selten Getastete, obwohl oft Bearbeitete, und als solches der Wahrnehmung längst Entglittene. das Unempfundene. Das geht sogar ins Normative. Gesundheit und Wohlbefinden lassen sich definieren als Erfüllung der Anordnung, der Leib habe sich nicht bemerkbar zu machen.

Ich erinnere mich an einen weit zurückliegenden Spiegelartikel, in dem der prägnante Satz vorkommt: „Gesundheit ist das Schweigen der Organe“. Was ich nicht ganz gelungen fand, weil es auch tückisch schweigende Krankheiten gibt, die warten bis es zu spät ist. Dazu passte irgendwie der Satz: „ob man gesund ist oder krank, ist nur eine Frage der Gründlichkeit der Untersuchung“. Kurz: ich erinnere mich meines Körpers, während ich vom Leibe lese, nachts wach werde und an Blumenbergs Worte denke, besonders, was er über den Boden, auf dem ich stehe oder liege, geschrieben hat, oder von der Luft, die ich als kleines Kind kennengelernt habe, als wir Drachen steigen ließen, oder jetzt, wenn ich wieder einschlafen möchte, was mir ganz gut gelingt, wenn ich mich an Hararis Empfehlung halte (siehe hier), ich – ich – ich, ja, was sonst? ich bin Luft für mich.

Weiter mit Blumenberg (und Goethe).

Zwischenstopp 

Zitat (Seite 660)

Über den gealterten Goethe schreibt Wilhelm von Humboldt aus Karlsbad an seine Frau Charlotte am 15. Juni 1812: Allein man sieht, daß er oft an seinen Körper erinnert wird. Das ist, als Beobachtung wie als Formulierung, eine Errungenschaft.

(…) Worauf es mir ankommt, ist die prämodale Gleichgültigkeit von Lebenswelt und Eigenleib. Gleichgültig sind sie durch Unauffälligkeit, durch die Unmöglichkeit, nach ihrer Realität ›von innen‹ auch nur zu fragen. Der Durchsichtigkeit des Leibes von innen, seiner Undurchsichtigkeit von außen, entspricht derselbe Doppelsachverhalt bei Lebenswelten: Weil sie von innen durchsichtig sind, sind sie von außen unzugänglich, als solche selbst nicht präsent. Darauf beruht der eigentümliche Sachverhalt, daß bei Hochkulturen mit sehr bewußten Ritualen – also meist im Besitz von so etwas wie ›Theologien‹ – theoretisch durchschaubar und analysierbar sind, primitive Lebenswelten dagegen nicht. Woher soll auch in sie hineingesehen und abgelesen werden können, was etwas bedeutet, das niemals auf seine Bedeutung hin befragungsbedürftig geworden ist, also nicht einmal den Anflug einer Rezeptur erhalten hat? Daß es der Andere ist und nicht wir selbst, erfahren wir gerade an der Undurchsichtigkeit.

(Fortsetzung folgt)

Nachtrag 21.07.2023 Ein neuer (alter) Blumenberg ist angekommen(1999)

Die Situation der Klassik im Entertainment

Inas Nacht

Wenn ich bedenke, dass die Bach-Sonaten und -Partiten mit Leonidas Kavakos (wie so vieles anderes) bei Sony Entertainment herausgekommen sind, überlege ich, womit die „große Klassik“ eine solche Rubrizierung verdient hat. Ich weiß: Hofmusik, Tanzboden und was man da alles beschwören kann. Geschenkt.

Ich habe etwas übertrieben: das Label heißt Sony Classical, immerhin, und ist nur unter dem großen Dach von Sony Music Entertainment im weiten Sinne beheimatet, wie das Leben insgesamt ja nichts anderes ist als Unterhaltung, sagen wir,  im allerweitesten Sinne.

Wenn ich mich nun selbst selbst tief in der Nacht entertaine und das Fernsehen eingeschaltet habe, lande ich nicht ungern bei Inas Nacht und bin bereit, sowohl Ina Müller als auch Peter Heinrich Brix zur Kultur zu zählen, hoch oder tief, ich weiß es nicht. Speziell musikalisch sind sie durchaus, und besonders der Gast ist dazu noch für diese Sendung ein Idealfall an Witz und Verschmitztheit. Ich lache mindestens ebensoviel wie der mitwirkende Shantychor, der die entsprechenden Gags mit der Unisono-Strophe „What shall we do“ bedenkt, die wie der Tusch in der Büttenrede fungiert. Dankbar für diese Lach-Anlässe notiere ich quasi als Volkes Stimme, was die beiden Protagonisten einander und mir über Klassik mitteilen.

Inas Nacht mit Peter Heinrich Brix und Anja Kohl NDR 19.02.22, 00:30 Uhr, HIER ab 15:09

Müller: Lieber zum Heavy Metal oder zum Open-Air-Festival gehen?

Brix: Da geh ich mal zum Heavy Metal. Weil, ich muss zugeben, die Hochkultur ist für mich auch in weiten Teilen … nicht erschlossen. (Lachen im Hintergrund) Bildungsmangel! (Nee nee!) Aber manch einer, der (Händeklatschbewegung) da sitzt (klatscht + vielsagendes Lächeln).

Müller: … das ist einfach nicht Bildungsmangel, sondern es ist, finde ich, einfach Geschmacksache. Ich saß neulich in einem Liederzyklus-Abend und dachte, ich glaube der Liederzyklus wird mich nicht schaffen! (Lachen) also – das ist dann die Elbphilharmonie, die kennt man dann irgendwann und steht da einer mit dem Flügel und singt Musik, die du nicht kennst … Frühlingszyklen, ich weiß nicht was, alles hört sich „geht-so“ an, und es dauert zwei Stunden…

Jaja, ich sach ja,

… das kannst du heute nicht mehr machen!

Ja, aber es gibt auch Leute, die das — die damit durchaus was anfangen können, die da mehr drüber wissen, die das noch erreicht, wie soll ich das erzählen, äh, ich glaub, dass — du hast keinen Zugang!

Kuckst du dir denn mal so ne Mozart-Oper an (er hebt das frischgefüllte  Bierglas) in der Hamburger —

Nee! (beide prosten sich zu)

Lachen, Einwurf Shantychor „What shall we do with the drunken sailor“, bis etwa 16:32

Was mag es gewesen sein, was Ina Müller in die Elbphilharmonie getrieben hat? Vielleicht die Veranstaltung zum Internationalen Welt-Mädchen-Tag hier ? Oder gab es „Die schöne Müllerin“? Da könnte sie geschmackvollerweise eine Karte geschenkt bekommen haben.

Bei der Imagination der Szene in der Elbphilharmonie jedenfalls, ob großer oder kleiner Saal oder irgendwo noch viel kleiner, fiel mir ein Satz aus Thomas Manns Novelle „Tristan“ ein. Da wird in einer Gesellschaft Musik am Klavier dargeboten, Nocturnes von Chopin, es ist die klassische Salon-Situation, und dann endlich: Tristan, vermutlich Vorspiel und Liebestod.

Unterdessen hatte bei Rätin Spatz die Langeweile jenen Grad erreicht, wo sie des Menschen Antlitz entstellt, ihm die Augen aus dem Kopfe treibt und ihm einen leichenhaften und furchteinflößenden Ausdruck verleiht. Außerdem wirkte diese Art von Musik auf ihre Magennerven, sie versetzte diesen dyspeptischen Organismus in Angstzustände und machte, daß die Rätin einen Krampfanfall befürchtete.

Nein, der Liebestod erfolgt erst viel viel später, Hörnerklang, offenbar der ganze zweite Akt bis zu Brangänes Habet-Acht-Gesang. Ach Ina, wer das kennte! Es ist Geschmackssache, aber wer will schon so lange bei der Rätin Spatz sitzen…

Es hilft nichts, ich muss mehr von der Geschichte preisgeben, die ich mir damals, am 22. November 1963 für die Ewigkeit vorgemerkt habe, wohl auf einer Bahnreise, denn ich habe, vielleicht für den Fall, dass ich den voluminösen Band irgendwo liegen lasse, vorn die vollständige (studentische) Heimadresse eingetragen: 5 Köln-Niehl / Feldgärtenstrt. 154 bei Heinen.

Quelle Thomas Mann: Sämtliche Erzählungen S.Fischer Verlag Frankfurt am Main 1963

Der folgende Link nur für den Fall, dass ich vergesse, wie die Klassik heute als Erfolgsunternehmen zugerichtet wird:

BERLIN Opus Klassik: Hier https://www.zdf.de/kultur/opus-klassik/opus-klassik-2022-100.html hier

Delacroix Farbenmusik

Chopin, Salon und Konversation

Zur Aufmunterung: Live (und als „Konserve“ hier) – und Artur Rubinstein op.24 Nr.1 hier.

Was den Stein ins Rollen brachte:

Siehe auch hier. Und hier (nach Kleist-Abschnitt).

ZITAT

Zu Chopins Zeit wurden in Paris etwa 850 Salons geführt, halb private, in großen Häusern übliche Zusammenkünfte von Freunden und Kunstsinnigen, die sich mit gewisser Regelmäßigkeit, wöchentlich oder monatlich, zum Abendessen, Gesprächen und Musik trafen. Wer in diesen Zirkeln der Pariser Großbürger verkehrte, der hatte es zu gesellschaftlicher Reputation gebracht. Am wohlsten dürfte sich Chopin in den Künstlersalons gefühlt haben, wo er unter seinesgleichen verkehrte und Musizieren und Gedankenaustausch intellektuelles Niveau sicherten.

Quelle Wikipedia Chopin hier

  … ein kleines, neues, übersichtliches, anspruchsvolles und (trotz allem) praktisch anregendes Buch:  Thomas Kabisch „Chopins Klaviermusik. Ein musikalischer Werkführer.“ C.H.Beck München 2021 128 Seiten. ca. 10,00 €

Eine Vorbemerkung oder sogar Vorwarnung erweist sich jedoch als notwendig: Es gibt kein einziges Notenbeispiel im Buch, wodurch die Lektüre keineswegs erleichtert wird: es ist ganz unmöglich, die Analysen zu verstehen, ohne sie Takt für Takt im Notentext dingfest zu machen. Das ist eine schwere Arbeit, für Laien wohl überhaupt nicht zu leisten. Und ich kann im Augenblick auch für mich nicht entscheiden, ob sich das Unterfangen lohnt. Es ist die Übertragung in ein anderes Denken, das sicherlich auf einer abstrakten Ebene „Sinn macht“, das ich mir aber selbst erst wieder in eine Sprache zurückübertragen müsste, die ich als musikalisch empfinden könnte. Am Ende wäre ich gewiss reicher, würde aber keinem Pianisten je diese Art von Studium zumuten. Ich vermute, dass Chopin selbst den Kopf schütteln würde. (Sobald ich Zeit habe, werde ich die Ausführungen über die Klavierkonzerte im Detail es geht nur um Abschnitte der ersten Sätze! – untersuchen und synchron immer wieder mit den klingenden Ereignissen vergleichen; vielleicht ändert sich meine Meinung. Dann werde ich mit öffentlichen Selbstvorwürfen nicht sparen.)

Und noch einmal Kunst, Farben und alles was Chopin betrifft…

.    .    .    .    .

Im folgenden Text ab Mitte „Die Romantik und alles…“ bis auf nächste Seite „…Zeit und Ewigkeit so eins wie hier.“

Quelle René Huyghe: DELACROIX Beck’sche Verlagsbuchhandlung München 1967

Seite 257

Denn auf der einen Seite sieht sich der Mensch gleich der Barke Don Juans in der Endlosigkeit des Ozeans ausgesetzt, der sein Spiel mit ihm treibt und ihn in die Tiefe zieht, wo alle Leidenschaften über ihm zusammenschlagen. Baudelaire hatte sich eines ähnlichen Bildes bedient:

Und meine Seele trieb, hinfällige Gabarre, haltlos auf grausig- unbegrenztem Meer.

Les Fleurs du Mal (Fischer 1962 S.148ff)

Die Barke Don Juans 1839, Salon von 1841

Chopin, gesehen von Delacroix

Soeben erreicht mich auf wundersame Weise folgende Abhandlung (versehen mit dem Hinweis: 110 Minuten Lesedauer ♥ ) :

Philipp Teriete
Frédéric Chopins Méthode de Piano: eine Rekonstruktion –
Zur Ausbildung der »Pianistes Compositeurs« des
19. Jahrhunderts

 *    *    *

Thomas Kabisch:

Verhängnisvoll ist ein Fehler auf Seite 26, wo zweimal die Mazurka op.33 Nr.4 genannt wird, so dass man eine Weile im Dunkeln tappt: denn das erste Mal ist die Mazurka op.33 Nr.2 (!) gemeint, man merkt es nur nicht gleich, weil die Taktzahl-Angaben in beiden Fällen sinnvoll wirken; denn die bezeichneten Abschnitte beginnen in beiden Mazurken „zufällig“ an denselben Punkten, z.B. Takt 49 und Takt 65. Ärgerlich.

Zugleich hatte ich mich aufgrund des Kabisch-Hinweises (Seite 28) auf die Suche nach der empfohlenen Horowitz-Wiedergabe der Mazurka h-moll op.33 Nr.4 begeben (der Youtube-Link gilt nicht mehr). Man schaue stattdessen hier  beim Klavierabend (1987) „Vladimir Horowitz. Goldener Saal, Wiener Musikverein“, man kann dort die Mazurka 33,4 direkt anklicken oder auf 1:08:10 gehen (bis 1:12:57). Wer will, kann versuchen, sich mit Hilfe der obigen Analyse zu orientieren; oder sich auf den Fragesatz zurückziehen, den ich rot markiert habe, :

Die musikalische Analyse erweist das klangliche Minimum der Mazurka als denjenigen Punkt, an dem sie die größte Fülle musikalischer Bedeutung erreicht. Doch was soll ein Ausführender mit dieser Auskunft anfangen?

Die Mazurka endet folgendermaßen:

Kein Zweifel: die Klavierkunst des alten Mannes ist bewundernswert. Es handelt sich um ein großes Live-Konzert! Uns geht es trotzdem nur um Chopin und diese eine Mazurka. In der vorletzten Zeile steht ein langes Diminuendo, aber kein stringendo. Und woher nimmt Horowitz das fortissimo des letzten Taktes? In einer Kopie von Fontana steht dort – ohne dynamische Angabe (!) – das Wort risvegliato (aufgewacht), Rubinstein schläft ebenfalls nicht ein, er erwacht aber auch nicht spektakulär, effekthaschend, sondern – sagen wir – mit einem innigen Abschiedsgruß.

Nebenbei: Arturo Benedetti Michelangeli (1971) entscheidet sich – wie Horowitz – für ein „Machtwort“ am Schluss. Ich finde es nicht angebracht: nach 5 Takten diminuendo, 6 Takten provokativer (?), resignativer (?) Stagnation auf dem Quintfall g – c (C-dur-Nachklang) wird der Ton C bei einem letzten, weiteren Quintfall akzentuiert, „weil“ er zum letzten Mal kommen soll, dabei umgedeutet wird in einen „Neapolitaner“ von h-moll und mit einer entsprechenden h-moll-Kadenz beantwortet. Eher zärtlich als triumphal. Man vergleiche diesen allerletzten Takt (rhythmische Reminiszenz der 5 wiederholten Takte diminuendo) mit ähnlichen Übergangstakten an anderen Formanschnitten (vor Takt 69 – s.o. aufliegend in den Youtube-Noten, und vor Takt 113) : man erwartet vielleicht wieder ein „gesundes“ forte, aber gerade das dürfte am finalen Ende nicht kommen, ob risvegliato oder nicht. (Rubinstein hat recht! – falls man hier noch rechthaben will…)

Nochmals nebenbei: finde ich verfehlt, ausgerechnet Friedrich Gulda als Chopin-Pianisten zu bemühen, wie es Kabisch tut (ab Seite 109), nur weil es frühe Aufnahmen davon gibt. (Der angegebene Link funktioniert allerdings gar nicht, siehe notfalls hier.)

Es sind ein paar ideologische Momente, die mich beim Lesen der Analysen irritieren und – fast möchte ich sagen – ein bisschen (fast) rühren. 1 die Tendenz, Chopin um jeden Preis der Moderne zuordnen zu wollen, was damit beginnt, dass der Fremdwortgebrauch mindestens mit dem Theodor W. Adornos wetteifern kann. 2 dass man bewusste Folklore-Reminiszenzen gern mit dem Wort „Trällern“  abwertet, 3 lieber von Intervallen spricht als von emotionalen Charakteristiken und die Reduktion auf Minimalismen begrüßt, besonders wenn man sie auf Boulez beziehen kann, 4 dass man sich (etwa in den Klavierkonzerten und den Impromptus) auf die Sinngebung des Ornamentalen anhand partieller Formteile capriziert, da dies offenbar einer Rechtfertigung bedarf.

Der geformte Einzelton zeigt sich, wenn bunt massenwirksame Dramaturgie ausgeschlossen ist, als Kern der Musik. Musik ist Bestimmung des Einzeltons, und der bestimmte Einzelton ist Musik. (Seite 12)

Aber das ist nicht alles, der Rahmen bleibt ungeheuer:

Einerseits Kalkbrenner („Usancen des Virtuosentums“), andererseits Bach (der „Schöpfer einer großen Vielfalt satztechnischer Zustandsformen, die durch kontrapunktisches Denken auch dort geprägt sind, wo auf der Oberfläche eine harmonische Progression oder die Außenstimmen dominieren“). Seite 87

Nachwort 26.01.22

Angesichts des Titels, den ich bei der Planung dieses Artikels voreilig gespeichert hatte, befürchte ich, falsche Erwartungen geweckt zu haben. Zwar würde ich viel geben, Näheres über die Gespräche zwischen Chopin und Delacroix zu erfahren, Nachschriften, Gedächtnisprotokolle. Ich habe auch immer mal über das Novalis-Wort nachgedacht, dass die Ästhetik der einen Kunst auch die der anderen ist, weil es offenbar für Schumann wichtig war. Aber ich habe es nie für richtig gehalten. Das umfangreiche Buch mit dem entsprechenden Titel habe ich nie gründlich durchgeschaut. Ich gehe gern in Ausstellungen, vertiefe mich in Kataloge und „Bilderbücher“, lese interessiert Analysen wie die von Horst Bredekamp oder Kia Vahland, aber nie, wenn ich eine Ausstellung wie die in Düsseldorf mit Bildern von Zurbaran oder Edvard Munch sehe, und zwar gründlich und langsam, wenn auch nicht fachkundig, – nie höre ich innerlich dabei Musik oder denke auch nur an musikalische Vorgänge. Während ich glaube (und in Einzelfällen auch weiß), dass Künstler beim Malen von Klängen inspiriert sind. Deshalb will ich nicht versäumen, auf dieses Werk hinzuweisen, das mir ein gut befreundeter Musiker vor rund 40 Jahren geschenkt hat. Gründe genug, es täglich zu Rate zu ziehen. Das sagt sich leicht, es hat nie längere Zeit aufgeschlagen auf meinem Tisch gelegen. Es könnte daran gelegen haben, dass darin für die Musik Grete Wehmeyer zuständig zu sein schien, die schon in frühen Jahren eine originelle „Nachtmusik im WDR“ über Satie gemacht hat und der ich des öfteren im Kreis um Kevin Volans begegnete; dieser war es auch, der mir die Perlenkunst der Volkskunst in Lesotho nahebrachte, und ähnliche Strukturen wohl auch in seiner Musik realisierte. Aber G.W. war mir endgültig suspekt durch ihren Einsatz für eine neue (krampfhafte) Verlangsamung in der klassischen Musik. Ich erinnere mich an die Nachtmusik-Plakate von Heinz Edelmann, an seine zuweilen sehr sonderbaren Motive der Folkfestival-Werbung  („Brot für die Welt“). Dennoch hätten mich ja wenigstens Namen wie Hans-Heinz Stuckenschmidt oder die WDR-Kollegin Dorothee Eberlein bewegen müssen. Nichts. Meine Schuld. Auch jetzt der Entschluss, das Inhaltsverzeichnis neben die Veranstaltung von 1981 zu legen

 

ISBN 3-7913-0727-4

Ex improviso: Kleist, Beethoven und Anton Kuh

Wie improvisiert kann die freie Rede sein?

In der klassischen Redekunst geht es offenbar um den freien Vortrag eines – in der Gedankenführung – detailliert vorbereiteten Textes (Quintilian). Das berühmte Beispiel des imaginierten Gebäudes, das man gemächlich durchschreiten kann, nachdem man in jedem Raum gedanklich bestimmte Themen bildhaft deponiert hat: man ruft sie der Reihe nach ab. Es ist eine effektive Gedächtnishilfe.

Cicero gegen Catilina (Wiki hier)

Der scheinbar neue Gedanke, den Kleist einem Freund per Brief entwickelt, wird bei Wikipedia folgendermaßen wiedergegeben, nämlich:

Probleme, denen er durch Meditation nicht beikommen kann, zu lösen, indem er mit anderen darüber spricht. Dabei ist nicht wichtig, dass dem Gegenüber die Materie bekannt ist, sondern der ausschlaggebende Punkt ist das eigene Reden über den Sachverhalt. Mit dieser Methode könne man sich selbst am besten belehren: „Die Idee kommt beim Sprechen“. Kleist selbst habe diese Idee gehabt, als er beim Brüten über eine algebraische Aufgabe nicht weiter kam, aber im Gespräch mit seiner Schwester darüber eine Lösung fand. Die bereits vorhandene „dunkle Vorstellung“ wird durch das Gespräch präzisiert, da man sich durch das Reden zwingt, dem Anfang auch ein Ende hinzuzufügen (also die Gedanken zu strukturieren). Zwar kann man einen Sachverhalt auch sich selbst vortragen, doch ist das Gegenüber insofern wichtig, als es dazu zwingt, strukturiert zu reden. Zudem kann es förderlich sein, wenn der Gesprächspartner zu erkennen gibt, dass er einen „halb ausgedrückten Gedanken schon […] begriffen“ habe – Kleist geht es also nicht um die Mäeutik im Sinne Sokrates’.

Sehr einleuchtend. So ähnlich hatte ich es auch in Erinnerung, als ich dem Essay jetzt in einem Reclambändchen wiederbegegnete und den Vorgang falsch gedeutet fand: als handle es sich um eine Art Improvisation. Schon der Ansatz schien mir verfehlt, da es doch insgesamt um die Praxis des Gespräches gehen soll. Jeder weiß, dass zumindest ein gutes Gespräch unter Freunden nicht nach einem geschriebenen Leitfaden abläuft, es sei denn, das Gespräch findet vor Publikum statt und soll dicht an der vorgegebenen (!) Thematik bleiben. Aber auch ohne einen solchen Leitfaden wird man nicht von „Improvisation“ sprechen, wenn etwa Freunde einander erzählen, was ihnen so einfällt – in Rede und Gegenrede. Sprechend und zuhörend. Es ist dabei ganz selbstverständlich, dass sie reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, einander zuhören, emotionale Interjektionen einfügen („Ach!“ und „Oh!“), sich sogar ins Wort fallen („eh ichs vergesse“), unterbrechen, das Thema wechseln, assoziieren, ausschweifen, lachend zur Rückkehr mahnen („komm bitte zur Sache!“): es handelt sich keineswegs um eine Reihe von (Solo-) Improvisationen, sondern eben um ein normales Gespräch, und das sollte kein Theater sein, natürlich auch keine Talkshow. Erst wenn einer sich produziert, sich vorführt, in den Vordergrund drängt, könnte man von einer (unerbetenen) Improvisation reden. Aber weshalb diese Unschärfe der Begriffe, wenn am Text ausdrücklich ein Philosoph beteiligt ist? Er sollte dafür sorgen, dass der Begriff „Begriff“ nicht nach Belieben seinen Bedeutungsumfang verändert. Selbstverständich gibt es verschiedene Typen und „Stilhöhen“ des Gesprächs, das Telefonat, das Dienstgespräch, die Diskussion, das Steitgespräch usw. (siehe Wikipedia hier). – Kurz: das Wort Improvisation, das letztlich sein Prestige aus der Musik erhalten hat, ist in seiner Allgemeinheit relativ ungeeignet, menschliches Normalverhalten zu nobilitieren. Und bei Kleist handelt es sich offensichtlich um eine „Idee“, die jederzeit auftreten kann, auch beim Spazierengehen im Wald; sie kann beim Zwiegespräch vielleicht eher stimuliert werden und besonders willkommen sein. Der wesentliche Vorgang besteht aber darin, dass man durch das Gegenüber veranlasst wird, „die Gedanken zu strukturieren“, ein Kontinuum zu schaffen, in dem gewiss auch ein punktueller Einfall inszeniert werden kann oder beiläufig eingeflochten wird, was gerade den Charme ausmacht. Aber nicht der Geistesblitz, sondern das weiter“plätschernde“ Gespräch ist atmosphärisch die Hauptsache, was nicht despektierlich gemeint ist: Es ist nicht konfus, sondern hat – bei aller Leichtfüßigkeit – Hand und Fuß.

Fachgespräch: Seymour Bernstein – Ben Laude Fachgespräch: Rubinstein – Neuhaus

Fotos: Screenshot JR Youtube Bernstein/Laude „Chopin & Pedagogy“ / Astrid Schmidt-Neuhaus: Heinrich Neuhaus, Die Kunst des Klavierspiels, edition gerig Köln 1967 (Seite 6c)

Der Hauptfaktor, der das vielbeschworene „Köln Concert“ zu einem Paradigma gemacht hat, ist nicht dieses oder jenes Thema oder Motiv, sondern die Tatsache, dass ein sinnvolles großes Kontinuum geschaffen wurde, wie es im Jazz bis dahin vielleicht noch nicht existierte. Es war ja auch kein Gespräch, sondern allenfalls eine freie Rede am Klavier.

Berühmt wurde das Paradigma vom Streichquartett als  Gespräch unter vernünftigen Leuten (Goethe). Sie reden nicht durcheinander, sondern in wechselnden Rollen, wobei das Zuhören eben auch tönt. Selbst das Durcheinanderreden könnte eine dramatisierende musikalische Funktion haben. Andererseits gibt es auch die Erfahrung, dass dem einzelnen Spaziergänger gar keine vernünftige Gedankenfolge durch den Kopf geht, sondern ein kopfloses Gewirr wiederkehrender Bilder und Phrasen, ein obstinates Mühlrad. Und erst das Gegenüber schafft den grundierenden Ernst, der verhindert, dass man nur herumalbert, eine Improvisation könnte von A bis Z aus Spiel bestehen, und das Publikum hätte seinen Spaß. Aber im Gespräch zu zweit muss man sich – bei aller Unterhaltung – gegenseitig ernst nehmen.

Man lese nach dieser improvisierten Vorbereitung die Zusammenfassung des Kleistschen Gedankengangs in Wikipedia HIER . Danach die folgenden, von mir etwas ratlos mit dem Stift durchpflügten Buchseiten:

 

Den Originaltext von Kleist findet man im „Projekt Gutenberg“ , nämlich  hier

Tatsächlich steht nirgendwo ein Wort oder ein Vorgang, aus dem sinngleich ein „Improvisieren“  oder „aus dem Stegreif reden“ abzuleiten wäre – vielleicht am ehesten der Ratschlag, einfach mal „draufloszureden“. Man könnte auch sagen: den erstbesten Einfall, der sich aus der unvorhergesehenen Situation ergibt, beim Schopf zu fassen. Wenn man Glück hat, kann man daraus etwas machen. Der quasi öffentliche Druck, der zur sofortigen Reaktion zwingt, sorgt für ein Gewicht in der Aussage. Jeder weiß, dass es danebengehen kann, man kann ins Stottern kommen, sich verhaspeln und blamieren. Man erinnert sich aber nur, wenn es gelingt. Anders als geplant, aber man muss ja mit den Folgen leben. Unter Umständen kann man den vielleicht in der Not gewählten unverschämten (?) Ausdruck nachträglich überzeugend als bewusst und gezielt gewählt interpretieren.

Wenn man sich einmal geärgert hat, wie bei einem einsamen Spaziergang die Gedanken sich im Kreise drehen, „als gehe ein Mühlrad im Kopf herum“, und man sehnt sich danach, mit einer anderen Person ein Gespräch zu führen, das aus Reden und Reagieren besteht: man hält sich schon aus Respekt an einen Gesprächsfaden. Dann versteht man auch, weshalb die indischen Weisheitslehren uns raten, Konzentration zu üben, indem wir die Aufmerksamkeit auf eine einzige Sache, ein Ding, ein Wort richten und nichts anderes hereinlassen. Das berühmte „OM“ zum Beispiel. Oder einen Krug, eine Blume, eine Ganesha-Figur. Das wäre in Ordnung, zumal ich vielleicht nicht zum Beten aufgelegt bin: Konzentration hat Wert.

Zu den Menschen aber, von denen ich am wenigsten einen persönlichen Rat annehmen würde, so sehr ich sie aus anderen Gründen schätze, gehören Rousseau und Kleist. (Der eine hat den schärfsten Denker der Geschichte zutiefst beeindruckt, ich meine Kant, den der andere so gründlich missverstand, dass er – wie behauptet wurde – nur noch im Freitod eine Lösung sah.)

Jedenfalls war es nicht Kleist, der sich durch die Klarheit des philosophischen Gedankens profilierte, wie etwa Schiller. Sondern durch geschriebene Texte. Und dieser eine Text über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden ist kein Teil einer kontinuierlichen lebenslangen philosophischen Arbeit, ebensowenig wie der Text über das Marionettentheater. Es sind halt gute Einfälle, Gesprächsthemen. . .  Ein Lieblingsthema war für Kleist auch das rechte Deklamieren seiner Texte, er war selten zufrieden und

„fand es unverzeihlich, daß man so wenig tue und jeder, der die Buchstaben kenne, sich einbilde, auch lesen zu können, da es doch ebenso viel Kunst erfordere, ein Gedicht zu lesen, als zu singen, und erhegte daher den Gedanken, ob man nicht, wie bei der Musik, durch Zeichen auch einem Gedichte den Vortrag andeuten könne. Er machte sogar selbst den Versuch, schrieb einzelne Strophen eines Gedichtes auf, unter welche er die Zeichen setzte, die das Heben, Tragen, Sinkenlasse der Stimme usw. andeuteten, und ließ es von den Damen lesen.“

Vonwegen: Improvisation! Der Vortrag war auch sein eigenes Problem, des öfteren ist sogar von Stottern die Rede…

Gern las er seine Werke den Freunden vor, und Frau [Hedwig] von Olfers, die Tochter Staegemanns, erinnert sich noch, »Penthesilea« und den »Prinzen von Homburg« von ihm gehört zu haben: er begann meist zaghaft, fast stotternd, und erst allmählich ward sein Vortrag freier und feuriger.

Quelle Dichter lesen / Von Gellert bis Liliencron / Marbach am Neckar 1984 / ISBN 3-7681-9978-9 / Seite 144 u. 147

Was las ich doch da oben noch? Kleist und die französische Salonkultur? Das ist wohl nur so improvisiert, belegt ist dagegen etwa folgendes:

Aus Paris schreibt Kleist am 28./29. Juli 1801, überfordert und enttäuscht von der riesigen, unpersönlichen Stadt, den so genannten Bekenntnisbrief an Adolphine von Werdeck, eine Freundin der Familie. Er ist entsetzt über die empfundene Kälte in den Beziehungen der Menschen und beklagt die Jagd nach Genuss und Vergnügen. Die Pariser Großstadtwelt mit ihren hohen Häusern, stinkenden Straßen und verschmutzen Gassen ekelt ihn an. Die Einwohner erscheinen ihm als ein Haufen von lauten, hastenden und rücksichtslosen Individuen. Die Entfremdung droht in eine persönliche Krise zu münden. Nur an der ausgestellten Kunst und dem Marmor des Louvre kann er sich „erwärmen“.

Quelle Anke Klare: Kleist in Paris  hier

Über die Salonkultur in Berlin gibt es eine fabelhafte Dissertation, aus der man schon in der Internet-Vorschau soviel Wissenswertes entnehmen kann, dass man äußerst vorsichtig wird mit abwertenden oder verkürzenden Urteilen: siehe Petra Wilhelmy Der Berliner Salon im 19. Jahhundert: 1780 -1914 hier.

Bevor wir den Blick auf die Musik richten, noch einmal der Kleist-Text: hier Max-Planck-Gesellschaft hier

Manche Deutungen des Textes beziehen ihre Faszination aus den vagen Vorstellungen, die man beim Musikhören gesammelt hat: da blieb es nie bei einer 5-Sekunden-Formel, sondern man erlebte etwas durch deren Fortspinnung, Wiederkehr, erneute Fortspinnung, veränderte Wiederkehr usw., diese Dauer ist wesentlich, und die unleugbare Wirkung von Bagatellen hängt damit zusammen, dass ihnen eine übertriebene „Sprengkraft“ zugeschrieben wird. Niemals würde man nach einem Konzert von 10 Minuten zufrieden nach Hause gehen, mit der Versicherung, dass der Komponist oder der Improvisator bekannt dafür sei, dass er mit einem Tonhauch die Welt aus den Angeln zu heben vermag. Trotz Schönbergs Vorrede zu Anton Webern. Wer improvisieren kann, muss es durch eine gewisse Dauer der Vorführung beweisen, nicht gleich sein Pulver verschießen. Es hat seinen guten Grund gehabt, dass Bach – ein Wundermann der Improvisation – sich weigerte, ein kompliziertes Thema aus dem Stegreif  für den preußischen König in eine 6-stimmige Fuge umzusetzen. Das Ansinnen war peinlich dilettantisch.

Man kann davon ausgehen, dass Beethoven große sonatenhafte Sätze bei guter Laune auch öffentlich improvisiert hat. Es gibt Beispiele, die er Fantasie genannt hat, er hat bekanntlich auch schriftlich ausgearbeitete Sätze „quasi una fantasia“ überschrieben. Dilettantisch war die Annahme, dass eine solche Improvisation für immer verloren war. Beethoven war ja nicht in Trance, er wusste, was er tat und konnte es zweimal nacheinander, in quasi identischer Form. Es wird auch einiges Formelwesen darin gewesen sein, geübte Techniken, samt Überschreitung jedes formelhaften Wesens. Man hat über dieses Vermögen nachgedacht, z.B. Paul Bekker (1911) und August Halm (1927), die hier beide zitiert seien. Und dem ist nichts hinzuzufügen.

Beethoven als Improvisator:

       

Quelle Paul Bekker: Beethoven / Verlag Schuster & Loeffler Berlin 1911

Quelle August Halm: Beethoven / Berlin 1927 / Reprint: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1976

Die folgende Karikatur hat Überleitungsfunktion und soll nicht etwa Beethoven in Frage stellen:

  mehr über Cham hier

Wer war eigentlich Anton Kuh? Ich habe von ihm zum ersten Mal durch den Kollegen Rainer Peters erfahren, der über den ganzen Wiener Umkreis der frühen Moderne schier alles wusste. Aber damals war es noch nicht so, dass man nach Hause kam und alles am PC recherchieren konnte, was einen neugierig gemacht hatte. So wusste ich über Jahrzehnte über diesen großen Improvisator eigentlich nur, dass seine Kunst irgendwas mit Karl Kraus zu tun hatte, dessen Buch über „Die Sprache“ ich seit August 1966 besaß und im Gespräch mit meinem kleinen Sohn nicht aus den Händen legte.

(Foto)

https://de.wikipedia.org/wiki/Anton_Kuh hier

Ich erwähnte schon die „Bagatellen“ in der Musik, man könnte sie vielleicht in die Nähe der Aphorismen bringen, über deren Sammlung Anton Kuh 1922 anmerkte:

Die vorliegenden Aphorismen haben den Vorzug, keine zu sein. Da sie sich gegen die Sprache als Formschutz der Lüge und Kristallschliff der Eitelkeit richten, ist die Ungeschliffenheit ihre halbe Parole. Man betrachte sie im übrigen als Anfangs-, End- oder Mittelsätze von Essays, die der geneigte Leser nach Intelligenz und Neigung hiemit zu schreiben aufgefordert wird. Entstammen sie doch entgegen dem Brauch weder der Aufpeitschung des Gehirns zum Zweck ihrer Abfassung, noch intensiver Schreibtischfeilung, sondern der jahrelangen, konsequenten Faulheit ihres Autors, Bücher zu schreiben.

Quelle Anton Kuh: Von Goethe abwärts. Essays in Aussprüchen, Leipzig-Wien-Zürich, E.P.Tal & Co. 1922 / online siehe hier

Gegen Ende der Sammlung steht ein Ausspruch, der besonders gut zum Verfahren des Autors Anton Kuh selbst passt:

Die Wenigsten wissen, daß auch das Nichtschreiben die Frucht langer und mühseliger Arbeit ist.

Die Stegreif-Rede vom 25. Oktober 1925 „Der Affe Zarathustras“  hier einfacher (als pdf): hier

Vielleicht fragen Sie am Ende: was ist denn das für eine Rede, ist sie wirklich von Nietzsche? Oder ist es eine Parodie? Erfunden von Anton Kuh, Nietzsche in den Mund gelegt? Seite 49, da beginnt es mit den Worten:

Friedrich Nietzsche nämlich hat einst in einer Nacht eine
Vision
gehabt: Kraus ist ihm erschienen. Nicht bloß als Person.
Kraus mit seinem „Fackel“-Deutsch, wie er leibt, ohne zu
leben!
Und nun hören Sie zu und versuchen Sie, nicht davon
erschüttert zu sein, was Nietzsche, Krausens Nietzsche-Angriff
ahnend, über Kraus und Wien schrieb. Die große Stadt, die
hier vorkommt, ist Wien. Wer Kraus ist, werden Sie erraten.
Jetzt geben Sie genau acht (liest):

(liest) steht da… er hat sich Geschriebenes mitgebracht. Und er liest es vor:

Man kennt es heute nicht mehr. Die Ausgabe von 1930. Meine Mutter (*1913) hat es wohl als Schülerin erstanden, sie schenkte es mir, und dann hat es sich jemand angeeignet, mit dem ich noch nicht gerechnet hatte.

Schräges Feuilleton

DIE ZEIT Seite 40 WISSEN  22.12.21

Ich bin nicht so glücklich, wenn die ZEIT Musikthemen behandelt, weil allzu selten, und dann mit Vorliebe zu Pop-Größen. Oder die Musikjournalistin Christine Lemke-Matwey hat wieder einmal das Wort, durchaus interessant, aber zweimal in einer einzigen Ausgabe wie heute – das sieht nicht nach Vielfalt aus.  Ihr Tagebuch zum „Boosterglück“ spare ich mir, die ausführlich behandelte „Ausbrecherin“ Elisabeth Kulman (Seite 57) erträgt nur mit Vergügen, wer vorher live mindestens dies hier geliebt hat. Weitergeblättert also. Doch wenn es um die Musik im Großen und Ganzen geht, erscheint unter der Rubrik Musikwissenschaft ein anerkannter Nicht-Fachmann, der zweifellos vielseitige „Stimmt-das?“-Autor Christoph Drösser, – warum nur? Weihnachten ist nahe, und „Schräge Töne“ passen offensichtlich ganz gut zum Artikel auf der gegenüberliegenden Seite, wo die Kantorin Barbara Fischer über die Kraft des gemeinsamen Singens und »O du fröhliche« in der Pandemie spricht. Vor mehr als einem Jahrzehnt gab es schon mal heftigen Widerspruch aus dem Lager der Neuen Musik, die nach Drösser nicht massentauglich ist, und dann kam auch noch das passende Buch heraus:

2009 Rowohlt ISBN 978 3 498 01328 8

Und heute wieder dieselben Themen, dazu als ethnischer Blickfang – um nicht wieder einmal mit den Knochenflöten der Schwäbischen Alb anzufangen – die wilden Querflöten vom Mount Hagen Sing Sing Festival in Papua Neuguinea – und der provokative Hinweis auf den angeblichen Streit der Forscher, wozu Musik eigentlich gut sei. Schließlich wird zum Glück Melanie Wald-Fuhrmann genannt, s.a. hier, und ganz am Ende gibt es das geradezu kathartische Fazit: ein Defizit. Worin mag es bestehen?

Der Forscherstreit ist also noch lange nicht entschieden. Helfen könnten dabei musikethnologische Studien, denn immer noch wird die Debatte geprägt von einem sehr westlichen Musikverständnis, das Musik als »von Menschen organisierter Klang« auffasst. In anderen Kulturen werde nicht zwischen Klang und Bewegung unterschieden, dort sei Musik ein ganzheitliches, auch körperliches Erlebnis, sagt Melanie Wald-Fuhrmann vom MPI [hier]. Auf dieses Defizit immerhin können sich inzwischen alle beteiligten Wissenschaftler einigen.

Siehe auch ZEIT online (hinter Bezahlschranke) hier. Über Forscherstreit – eine angebliche „Kakofonie der Wissenschaft“ siehe – im Pandemie-Zusammenhang – Christian Drosten, zitiert in diesem Blog am Ende des folgenden Artikels: Corona Bedenken!

Wie wäre es, zuerst dies zu verstehen:

Was ist „Humanly Organized Sound“ ? – mit dem Ausblick auf „Soundly Organized Humanity“ …

1973

Ich kann gar nicht ausdrücken, wie genial ich das Konzept finde, das hinter einer Abbildung steckt wie der folgenden. Genial die Menschen, die es in Musik leben, und genial der Mensch, der es uns plausibel macht. Am Ende ist es aber gar nicht genial, sondern einfach – menschlich:

Beispiel auf Seite 29

Eins, zwei, viele?

Mein vorläufiger Kommentar

Ein Orchester kann bedeuten: eine Menge, die von Einem geführt und instrumentalisiert wird, oder: die angeleitet wird zusammenzuwirken, sich auf allen Ebenen zu ergänzen, damit sind symbolisch Millionen gemeint und von Liebe, Mut, Widerstand, gemeinsamer Freude ist die Rede. Es ist mehrdeutig, einer kann – auf unterschiedliche Art – alles auf sich beziehen (Ludwig XIV, Napoleon, Mozart, Beethoven, Wagner) oder: alle Mitwirkenden oder Zuhörenden können sich gleich wichtig finden, (Individuen in einer Gemeinschaft). Oder – angefangen mit einer Dreiergruppe – jeder kann einen Rhythmus vorgeben, sie können gemeinsam den gleichen Rhythmus produzieren, oder: sie können ihn kooperierend auf drei verteilen, so dass sich ein komplexeres Gefüge ergibt: nicht als hörbare Klanggestalt, sondern als spürbarer Sinngehalt.

Unvorhergesehen!

Ex improviso – ein Lob der Ungewissheit

Ein so handliches Buch kann man unmöglich bis Weihnachten unangerührt lassen, ein Muss für alle Musiker/innen. Oder ganz allgemein: für Menschen? Selbst wenn sich durch Monate mangelnder Initiativen einiges an Frust und Kritikbereitschaft angesammelt hat: nichts kann willkommener  sein, als ein Angebot zur Improvisation, auch ohne Publikum, ohne Schaubühne. Gerade in dieser Zeit: Ein neues offeneres Leben beginnen. Nein, keine Anleitung, Gottseidank, – ein Angebot darüber nachzudenken. Sich in der Ungewissheit einzurichten…

ISBN 978-3-15-014164-9 Euro 6,00

Das Stichwort Fußball gefällt mir – auch im Blick auf Sohn und Enkel/in…

Zur Abwechslung lieber etwas hören (als lesen)? Bitte HIER (Radio Ö1)

Den vorgelesenen Text findet man in dem Kapitel „Das improvisierende Gewohnheitstier“ S.67 bis 74.

So froh gestimmt ich im Gesamttext herumstöbere und überall Anlass finde, mich festzulesen und den Anregungen zu folgen, so stocke ich doch, ehrlich gesagt, bei der strikteren linearen Lektüre und zwar gleich am Anfang des Büchleins: über das Gendern. Da geht es um das platonische Höhlengleichnis: demnach sei unsere Existenz umgeben von flackernden Schatten, die da vor den Höhlenbewohner*innen an die Wand geworfen werden (Seite 10), was mich sofort veranlasst nachzuschauen, ob Platon (oder seine Dolmetscher*innen) tatsächlich das gedachte menschliche „Publikum“ so ultramodern differenziert hat (haben). Oder ob hier bereits improvisiert bzw. paraphrasiert wird, so wie auf der nächsten Seite mit den Chirurg*innen. Nein, Plato variiert zwar in engen Grenzen, er spricht von „Gefangenen“ oder „Menschen“, wollte uns aber ganz gewiss nicht in vordergründige Diskussionen verstricken.

Ich hätte vielleicht einfacher begonnen, etwa bei dem lateinischen Spruch „variatio delectat“, aber wenn es nun derart streng zugehen soll, repetiere ich zunächst einmal die Deutung des Höhlengleichnisses bei Wikipedia hier. Ob der Mensch etwa, wenn er über einem ostinaten Grundbass Variationen entfaltet, in Wahrheit erkundet, wie er sich dabei an Bestimmungen zu halten vermag, die ihm Sicherheit geben. Oder eher Vergnügen? Freiheit? Und konstatiere bei mir selbst womöglich ein bürgerliches Sicherheitsdenken, das in der Kunst wenig zu suchen hat. „Ein Lob der Ungewissheit“ – zweifellos brauche ich dafür vor allem Geduld.

Ziemlich irritierend schon auf den Seiten 32/34, wenn davon die Rede ist, dass nur ein winziges Publikum das »Köln Concert« von Keith Jarrett am 24. Januar 1975 live in der Oper Köln erlebt hat, dass es dann auf der nächsten Seite heißt: „Niemand, der in der Kölner Philharmonie zugegen war, und niemand, der die Musik von der Aufzeichnung her kennt“ – (Eröffnung der Philharmonie bekanntlich 1986).

(Fortsetzung folgt – nach weiterer Lektüre)

Geduld! Nach einem Tag Lektüre weiß ich, wie dehnbar der Begriff „Improvisieren“ ist, die Musik fehlt mir immer mehr. Ein großartiger Effekt, – keine improvisierten Sprengkörper mehr, keine improvisierenden Chirurginnen, keine verfehlte Klimapolitik, aber viele nützliche Anregungen zum Weiterdenken, z.B. eine neue Orientierung an den zum Jazz führenden Links – und an den wenigen, hier ausgesparten Klassikern des Nachdenkens über Improvisation, z.B. den, auf den Georg Knepler schon 1969 hinwies, als der Jazz offenbar noch nicht zur Debatte stand, Ernst Ferand: Die Improvisation in der Musik / Eine entwicklungsgeschichtliche und psychologische Untersuchung / Rhein-Verlag Zürich 1938:

Ich werde dazu einen Extra-Artikel versuchen, übend und mit Bangen improvisierend. Und was für eine Herausforderung wäre es erst, die ausgefeilte Methodik der indischen Improvisation darzustellen, absolute Voraussetzung: „Riaz“ – die strenge Disziplin des Übens. Eine globale Welt der Improvisation, angedeutet in den wenigen Zeilen:

Entscheiden Sie doch bitte: was ist im folgenden wunderbaren Beispiel komponiert, was improvisiert?

Zurück zum Jazz: Im Anmerkungsteil des Büchleins findet man auf der ersten Seite zwei unglaubliche Webadressen: ein Wunderland der sichtbar gemachten Musik, Transkriptionen und der klingenden Beispiele. Eine Datensammlung „von knapp 500 digital gespeicherten, monophonen Soli. Sie lassen sich online auf ihre Strukturen hin analysieren.“ Zitat Anmerkung 3. / Hier ein winziger Einblick:

Zugang hier

Die zweite Web-Adresse ist für Laien (wie mich) vielleicht noch aufregender: eine Liste von tausend Jazz-Standards zum Sehen, Hören, Lernen. Ein sensationeller Zugang, eine Verlockung, ein Suchtmittel, ich finde keine Worte für ein solches Angebot!

Zugang hier Zugang hier

Mit einem Schlag ändert sich mein Blick auf dieses unscheinbare Reclam-Heft: was mag mir noch entgangen sein, an diesem Tag und in meinem bisherigen Leben? Kaum zu glauben: 6 € für eine Essaysammlung und den Gratis-Zugang zu zwei Schatzkammern der Jazz-Geschichte!

*    *    *

Ja, noch etwas liegt mir am Herzen (seit gestern Mittag 18. Dezember bei Mamma Rosa): eine schmale, aber gewichtige, hinreißend geschriebene Monographie über den Pianisten Walter Gieseking. Sie stammt aus der Feder eines ehemaligen Kollegen (Redakteur im WDR und SWR):  Rainer Peters. Und wie spannend er zu erzählen weiß, habe ich nicht nur bei vielen gemeinsamen Eisenbahnfahrten zum Arbeitsplatz in Köln genossen, sondern auch in seinen Moderationen zur Neuen Musik oder in den glänzenden Essays zur Einführung der Bartók-Kammermusik-Reihe im WDR-Funkhaus. Seine wissenschaftliche Akribie bewies er in geradezu gewaltigen Werken über den Komponisten Bernd Alois Zimmermann (siehe hier und hier). Rainer Peters wusste ALLES über die Geschichte der Neuen Musik, Lieblingsthema damals die Wiener Schule und ganz besonders: Alban Berg. Das Buch von Soma Morgenstern war gerade herausgekommen. Und heute – in einem weiten Sprung zurück, lange vor Beginn unseres Studiums und der gemeinsamen Arbeit in Köln – erinnert er mich an die Erschütterung, die der Tod Giesekings 1956 bei meinem Vater auslöste. In dessen Bücherschrank hatte ich damals gerade die unauffällige Schrift über die Methode Leimer-Gieseking entdeckt, um dann – auf ein Wunder hoffend – mit Bachs E-dur-Stück eine Probe aufs Exempel zu versuchen: leider strandete ich auf ganzer Linie, aber immerhin: die ersten Takte sitzen bis heute, und zwar im Kopf, nicht unbedingt in den Fingern. Ich ahnte allerdings, dass dem Gedächtnisgenie Gieseking nicht mit einer bestimmten Lehrmethode beizukommen war…

(bitte anklicken)

1953 (ist das nicht  James Dean? was hat er dort zu suchen? „auch das Schöne muss sterben „…)

Das Buch von Rainer Peters umfasst auch eine wunderbare Auswahl alter Fotos und endet ebenfalls mit James Dean: er sitzt gemeinsam mit Gieseking am Klavier, beide habe je eine Hand auf den Tasten und wenden sich einer fröhlichen Runde zu, – wenn man den mit Gläsern und Flaschen bedeckten Tisch im Vordergrund so deuten kann. In der Tat, es ist wohl derselbe Gästetisch, den man oben auf dem Youtube-Video in der Gegenrichtung sieht, mit den beiden Protagonisten vor oder nach der pianistischen Kollaboration.

Ich möchte mich von diesem Thema nicht trennen, ohne Ihnen einen Blick in das Verlagsprogramm zu bieten, in dem allerhand musikalische Kostbarkeiten dieser Art versammelt sind: HIER.

Vorschau & Rückblick leben

Zufall nach 65 Jahren

Variationen über alte oder neue Themen (s.a. hier oder hier)

Franz Kafka: Die Verwandlung / Text: hier Wikipedia: hier

Damals in der ersten Fischer-Buch Serie 1956

 

Alle in dieser Serie umkreisten Titel stehen heute noch in meiner Nähe (im Regal hinter mir). Mein Arbeitsplatz im Jahre 2000 (87. Geburtstag meiner Mutter, deren Urenkelin sich schreibend und malend dem 2. Geburtstag näherte).

Und wo ist der Zusammenhang, historisch oder privat, mythologisch, ökonomisch, individuell? Anfang und Ende, ich zitiere Bruno Latour, der übrigens Emanuele Coccia zitiert:

und ich zitiere online weiter, bevor ich mit Begeisterung analog weiterlese:

Paradoxerweise … bewirkte ausgerechnet die Episode der Pandemie, dass der Geist der Eingeschlossenen befreit und ihnen einen Augenblick lang erlaubt wurde, der langen Haft im »stählernen Gehäuse« der »ökonomischen Gesetze« zu entrinnen, in dem sie geschmachtet hatten. Wenn man sich je von schlechter Emanzipation emanzipiert hat, dann in diesem Fall.

Von Michel Callon habe ich gelernt, dass der Glaube an die Selbstverständlichkeit des ökonomischen Beziehungsmodus sich nur ausbreiten kann, wenn Lebensformen in eine Welt übertragen werden, in der sie nicht zu Hause waren. Dabei ist wieder einmal der Unterschied zwischen dem Leben »im Präsenzmodus« und dem Zugang »online« im Spiel. Das Seltsame an der Ökonomie ist nämlich, dass sie sich zwar mit den gewöhnlichsten, wichtigsten, unseren täglichen Sorgen aufs Engste verbundenen Dingen abgibt, diese aber hartnäckig so behandelt, als seien sie denkbar weit entfernt und spielten sich ohne uns ab, so, als würden sie vom Sirius aus und völlig interesselos erfasst – manchmal benutzt man dafür das Adjektiv »wissenschaftlich«.

Quelle Bruno Latour: Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown / edition suhrkamp SV Berlin 2021/ ISBN 978-3-518-12771-1

Lesehinweis: Die einzelnen Kapitel im Zusammenhang mit ihren Quellen-Explikationen betrachten: so zu Kapitel 1 Seite 174, zu Kapitel 2 Seite 175 usw.

Dort (S.174) auch der Link zur Oper von Michaël Lévinas (Ausschnitt) hier

Betr.: Netzwerkdenken aktuell hier und hier

Siehe auch (S.198) den Link zur Verzögerung des Earth Overshoot Day im Frühjahr 2020 hier !

Siehe auch Akteur-Netzwerk-Theorie hier. / Dank an JMR 6.12.21 (bzw. 12.12.21)

Lebenslust Mozart

Die Quintette

Ich glaube, dass diese Worte, für sich genommen, selten gepaart werden. Seltsamerweise. Daher dieser Blogtitel. Bei Mozart vergisst inzwischen kaum noch jemand, von Melancholie oder Todesahnung zu sprechen. Ganz besonders, wenn es sich um „späte“ Werke handelt. Und die Werke, die mir dank dieser Aufnahme in kürzester Zeit unentbehrlich geworden sind, stammen aus seinen beiden letzten Jahren. Zum Glück wusste er das nicht, als er sie schrieb. Und zu meinem späten Glück gehört noch etwas anderes: ein neues Buch, das ich ab sofort zu meinen schönsten zähle, das mich am Computer immer wieder  zwingt, Namen einzugeben, die das Glück des Südens evozieren, meinetwegen auch das von Untergang und Tod, Pompeji, Herculaneum, Paestum – nein, der letzte  Name passt nicht ganz. Oder nur so wie die Ballons zu den Schnecken der Streichinstrumente. Paestum verschwand nicht sang- und klanglos, ein griechisches Kleinod in Kampanien. Es versandete und versumpfte erst 500 Jahre nachdem der Vesuv die anderen Städte ausradiert hatte. Es wurde nur etwa zur gleichen Zeit wiederentdeckt, ein Wunder der Archäologie und der antiken Mittelmeerkultur.  Paestum 1752. (Mozart war noch nicht geboren.)

(siehe hier)

Wie der Taucher mir auf die Sprünge half…

Und was beim Mozart-Hören erst recht zu denken gab:

Zunächst natürlich die schiere Musik, aber das frühere Quintett KV 593 vor dem späteren, sobald ich begriff, warum es auch in der 3-teiligen CD-Folge den abschließenden Höhepunkt bildet (Tr.5-8). Der Ideenreichtum liegt auf der Hand, aber das rauscht nicht in vollkommenem Gleitflug vorüber, als opake Gestalt, sie ist vielfältig durchbrochen, gruppiert und aufgefächert. Um das Offensichtliche noch einmal hervorzuheben, hier 2 Seiten aus dem langsamen Satz, die die „gruppendynamischen“ Verhältnisse ins Licht rücken:

Alldies vermischt sich in der täglichen Lektüre merkwürdigerweise mit der eigenen Biographie (die Neigung zum Griechischen, die von meinem Vater stammt, leider auch die Vernachlässigung der neuen Sprachen), die frühe Begeisterung für Nietzsches „Geburt der Tragödie“ mit dem Sprung zu Wagners „Tristan“. Die verrückte Möglichkeit einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen„. Als Steigerung einer „ewigen Wiederkehr“ !

*    *    *   

Der Autor des Paestum-Buches, Tonio Hölscher, zieht Parallelen von dem griechisch besiedelten Ort Paestum im antiken Kampanien zu der griechischen Insel Thasos, wo es uralte steinerne Belege über bestimmte Treffpunkte der Jugend gibt:

Auf Thasos, an der Südküste der Insel, weit von dem städtischen Hauptort entfernt, stürzt die Küste bei der Örtlichkeit Kalami mit einer Felsterrasse in das Meer ab (…). Zum Wasser hin sind in die Felswand Dutzende von Inschriften in Buchstaben des 4. Jahrhunderts v. Chr. eingeschrieben, die mit einem ungewöhnlich reichen Vokabular schöne Epheben preisen: kalós und hōraíos, schön; hēdýs, süß; eúcharis, anmutig; euprósōpos und kalliprósōpos, von schönem Gesicht; euschémōn, von guter Haltung; eúrythmos, von schöner Bewegung; chrysoús, golden; argyroús, silbern glänzend, und so fort. Es sind emphatische Zeugnisse homoerotischer Beziehungen: geschriebene Komplimente erwachsener Liebhaber an ihre favorisierten jungen Geliebten, nicht nur flüchtig ausgesprochen oder aufgeschrieben, sondern in anspruchsvoller Schrift, in aufwändigen technischen Akten des Eingravierens mit Meißel und Hammer zum Ausdruck gebracht. Teils waren die Inschriften von der Terrasse aus zu lesen, teils aber nur vom Wasser aus, mit ihren großen Buchstaben sogar aus einiger Entfernung: also entweder für Insassen von Booten oder für Schwimmer im Meer. Die sorgfältig in den Fels gehauene Schrift, sicher durch Farbe in ihrer Lesbarkeit verstärkt, lässt erkennen, dass es ein etablierter Adoleszenz-Treffpunkt der höheren Gesellschaft war: ein Ort, an dem die städtische Jugend, zusammen mit ihren Bewunderern, sich auf den Klippen am Meer traf, in weiter Distanz zum Zentrum der städtischen Lebensordnung. Die Terrasse bot Raum zur Anknüpfung von Beziehungen, an einzelnen Stellen konnten die Jugendlichen vom steilen Felsen ins Meer springen und die trainierte Eleganz ihrer nackten Körper zeigen, andere konnten mit Booten auf spielerischen Fischfang gehen – und die erwachsenen Liebhaber konnten ihre Zuneigung in Inschriften am Felsen manifestieren. Alles erinnerte an die Tomba della caccia e pesca. Es wird sich zeigen, dass dies nicht nur spielerischer Zeitvertreib, sondern eine bezeichnende Situation der antiken Jugendkultur war, in der homoerotische Beziehungen eine starke, heute der Erklärung bedürfende Bedeutung hatten.

Quelle Tonio Hölscher: Der Taucher von Paestum / Jugend, Eros und das Meer im antiken Griechenland / Klett-Cotta Stuttgart 2021 / Seite 41f / Weiteres siehe hier, Rezensionen hier.

Die „starke, heute der Erklärung bedürftige Bedeutung“ der homoerotischen Beziehungen in der griechischen Antike war schon in meiner Schulzeit ein Thema, blieb allerdings in Andeutungen und humoristisch gemeinten Bemerkungen stecken. Es wäre eine Chance gewesen, den damals noch geltenden Paragraphen 175 ernsthaft zu analysieren. Unvorstellbar jedoch in einer Zeit, als die Sexualität ganz allgemein unter einem verbalen Tabu stand, das überall wirkte; das Wort „Lebenslust“ hätte man damals gemieden. Dabei buchstabierten wir Platons „Gastmahl“, entzifferten Catulls Verse an Lesbia. Aber ich erinnere mich an einen Tag, als mein Vater (ausgerechnet er, der bekennende Altsprachler) das englische Wort „Sex Appeal“ gebrauchte. Mir stockte der Atem.

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Riemann-Kauf mit frischer Tinte besiegelt…

Darüber hätte ich mit meinem Vater – glaube ich – reden können. Ich vermute, er hat sich das Quartett im Mai 1921 in Berlin zum Partiturspiel-Üben zugelegt, als angehender Kapellmeister, sein Riemannsches „Handbuch der Orchestrierung“ trägt die unkorrigierte Signatur vom 24.V.1921. Das Lerchen-Quartett. Ob er deren Gesang jemals bei Ausflügen aufs Land identifiziert hat? Er kannte keinen einzigen Singvogel, war aber zweifellos ein begeisterter Schwimmer und erinnerte sich zeitlebens an die Ostsee bei Kolberg oder in Wieck bei Greifswald , nahm später fürlieb mit dem Freibad Wiesenstraße in Bielefeld. Der neueste Stempel mit der Adresse Paderborner Weg 26, weitab dort oben am Waldrand (heute Furtwänglerstraße), galt erst ab 6. Dezember 1957, mein Vater genoss das eigene Haus keine zwei Jahre. 9 Monate nach seinem Tod begann – im Frühling 1960 – mein Studium in Berlin, wo er 40 Jahre vorher das seine begonnen hatte. Muss das denn sein, soviel Geschichtlichkeit in eigener Sache? Natürlich, wenn es ohne Jammern abgeht. Wir bezeichneten uns ironisch und zukunftsfreudig als Epheben. Und empfanden keine Defizite.

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„Das hat er vom Vater“ war in meiner Jugend eine oft gebrauchte Formel, die ich nicht gern hörte. Ich bewunderte ihn, traute mir aber mehr zu, und zumindest in der Körperlänge erfüllten sich meine Erwartungen früh. Wenn mir gesagt wird, dass Details eines Mozart-Quintetts aus dem „Lerchen-Quartett“ von Haydn abgeleitet seien, ohne dass man freilich die enge Verwandtschaft spürt, bin ich skeptisch. Wie kommt es, dass ein Kenner wie Charles Rosen das Quintett KV 593 seitenlang analysiert (S.321-326), aber eine intime Nähe zu Haydn allenfalls beim letzten Quintett KV 614 konstatiert? Je kleiner die betrachteten Motive, desto ähnlicher, – und desto unmotivierter, sie zu vergleichen.

Quelle Charles Rosen: Der klassische Stil / dtv Bärenreiter 1983

Das inspirierendste Kapitel in diesem Buch ist und bleibt für mich das über Haydns Erschließung des Konversationstons im Streichquartett, der u.a. seine „Erfahrungen als Komponist komischer Opern widerspiegelt“, auch wenn ihm dort der Erfolg versagt blieb (S.131). Hier zunächst wieder ein Blick auf das „Lerchenquartett“:

Inspirierend zugleich beim Blick auf Mozart, den Opernkomponisten auch in seinen Quintetten, deren Lust an der bloßen (?) Musik jedoch Haydns Konversationston überbietet.  Eine Entfaltung psychologischer Netzkonstruktionen – über Abgründe hinweg. Zum Beispiel im ersten Satz KV 593, wenn die Introduktion am Ende wiederkehrt und magisch die ganze Spannweite der Mozart-Musik-Welt aufleuchten lässt. Das mindert nicht im geringsten den Eindruck des „Lerchen“-Quartetts, lässt nur jede Familienähnlichkeit unwesentlich werden.

*     *     *     *

Man macht sich keine Vorstellung, wie streng, ritualisiert und andersartig die Adoleszenz in andern Zeiten und Kulturen abläuft. Pauschale Begriffe und Urteile sind nicht angebracht. Und genau das haben wir damals nicht gelernt, wenn wir mit sonderbarem Widerstand das Gastmahl von Plato lasen und glaubten,  die Liebe mehr oder weniger „platonisch“ auffassen zu sollen. Allzu „weichlich“ erschienen uns die Gespräche. Was für ein Müßiggängerleben,- wir kannten wohl auch schon das Wort „Sklavenhaltergesellschaft“. Immerhin studierte man gelegentlich Jacob Burckhardts schonungslose Analyse „Zur Gesamtbilanz des Griechischen Lebens“ – seltsamerweise bei den Neusprachlern. 10 von 80 Seiten darin behandeln den Selbstmord… Umso freimütiger folge ich heute Tonio Hölschers „Taucher von Paestum“:

Die Prüfungen waren zum Teil hart, besonders in Sparta. Dort mussten die Epheben lernen, sich in dem weiten Territorium durch Stehlen die Nahrung zu sichern und Mordterror unter der unterworfenen Landbevölkerung zu verbreiten. In Kreta war es etablierter Brauch, dass die Epheben von einem erwachsenen Liebbhaber in die Berge entführt wurden, wo sie zwei Monate lang zusammen lebten, sich von den Produkten der Natur ernährten und sich auf die Anforderungen des Krieges vorbereiteten. Die homoerotischen Aspekte dieser Verbindungen hatten eine prägende gesellschaftliche Funktion: Die Epheben sollten in der Gemeinschaft mit einem erwachsenen Gefährten, der zugleich Partner und Vorbild war, die Kräfte ihres männlichen Körpers kennen lernen und in die Verhaltensformen der volljährigen Männer eingeführt werden. Dabei war man sich sehr wohl der Gefahren und Risiken homosexueller Erotik in frühem Alter bewusst: Es gab streng kontrollierte Normen des gebührenden Verhaltens: Bedrängende Übergriffe auf den jüngeren Partner wurden hart geahndet. Am Ende dieser Zeit machte auf Kreta der ältere Liebhaber dem jüngeren drei symbolische Geschenke für seine künftige Rolle als Mitglied der Gemeinschaft: einen Becher für das Gelage der Männer, ein prachtvolles Gewand für die Teilnahme an den öffentlichen Festen und ein Opfertier für den gemeinschaftlichen Götterkult. In ähnlicher Form müssen die Jugendlichen auch in anderen Stadtstaaten diese Lebensphase als Umherstreifende, perípoloi, und „schwarze Jäger“ in der freien Natur mit Fangen von Kleintieren und Sammeln von Kräutern verbracht haben: Die Ausbildung der Epheben für den Eintritt in die Welt der erwachsenen Männer war überall eine zentrale Aufgabe. Und auch anderenorts war dabei die Führung der Jugendlichen durch erwachsene Männer in homoerotischen Verbindungen von entscheidender Bedeutung. Grundsätzlich war diese Form der Homoerotik keine einseitige sexuelle Disposition, sondern ging in aller Regel mit heterosexueller Einstellung zu Ehe und Familie zusammen.

Quelle Tonio Hölscher: Der Taucher von Paestum / Jugend, Eros und das Meer im antiken Griechenland / Klett-Cotta Stuttgart 2021 / Seite 66f

Es mag uns heute befremden, die griechische Antike von dieser Seite anzugehen, die in früheren Generationen vielleicht verschwiegen, idealisiert, cachiert wurde, so dass wir Jung-Humanisten, „das Land der Griechen mit der Seele suchend“, keine Ahnung hatten, in welcher Weise sie ihre wilde Welt in absolut „körperlichen“ Modellen erfassten, visuell und taktil in Kunst übertrugen, die der Gewalt und dem Chaos abgerungen war. Unser Befremden ist das eines Ethnologen, der von der Universität zur Feldforschung übergehen will und nicht einkalkuliert hat, dass er die neuen Eindrücke nicht einfach „verarbeiten“ kann, sondern dass sie ihm einen Kulturschock verpassen, der ihn lähmt und blockiert.

Wir haben oben von Mozarts Ideenreichtum gesprochen, von der opaken Gestalt, die sich vielfältig durchbrochen, gruppiert und aufgefächert gerade in den Streichquintetten auftut, von den wechselseitigen Einflüssen zwischen Haydn und Mozart nichts mehr weiß. Etwas unglaublich Neues ist in die Welt getreten, und das darf man nicht weglächeln. Martin Geck hat – konventionell beginnend – den Prozess angedeutet:

Auf dem Feld des Quintetts ist Mozart seinem Lehrmeister in der Quartettkomposition, Joseph Haydn, unbedingt voraus: Wird diesem die Äußerung zugesprochen, »daß er die fünfte Stimme nicht finden könne«, so fühlt Mozart sich in der »fünften Dimension« – derjenigen des klangräumlichen Komponierens – ganz zu Hause.

Nicht nur dem Liebhaber, auch dem Kenner ist es immer wieder rätselhaft, wie nichts anderes als eine zweite Bratsche eine neue Welt der Kammermusik für Streicher aufzutun vermag. Und tritt uns im C-Dur-Quintett KV 515 eine unangestrengte, reife Klassizität entgegen, welche die Buntheit der Haydn-Quartette hinter sich lässt, so jagt uns die bittere Süße oder süße Düsternis des Quintetts KV 516 in g-Moll – eine von Mozarts Schmerzenstonarten – Schauer über den Rücken.

Quelle Martin Geck: Mozart Eine Biographie / Rowohlt Reinbek bei Hamburg 2005 (Seite 161f)

Noch einmal:

ZITAT (Der Taucher von Paestum)

Die Bilderwelt der griechischen Kunst in archaischer Zeit ist erfüllt von einer glanzvoll schönen Lebenskultur – aber im Hintergrund wird immer wieder das Bewusstsein der Vergänglichkeit und Endlichkeit des Glanzes sichtbar. Die überwältigende Diesseitigkeit der Griechen erhält dadurch ihre Tiefendimension. Nirgends wird das so prägnant deutlich wie in der Inschrift für einen jungen Athener, die den vorbeikommenden Wanderer anspricht:

»Sieh an das Grabbild des Kleoitas und klage, Wie schön er war und doch sterben musste!«

Friedrich Schiller, Mozarts Zeitgenosse, schrieb viele Jahrhunderte später seine Nänie, die mit den Zeilen beginnt:

Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.

Nachtrag 2. Januar 2022

Nach dem Mozart-Tag gestern – immer wieder mit unverhofften Einblicken (man kann nicht alles konsumieren), zum Schluss vollständig die großen Sinfonien (samt Chor-Einschüben und „Zugabe“ der Arie Donna Anna!!!) mit Currentzis, heute noch einmal zum Tagesbeginn das Streich-Quintett D-dur KV 593, Auryn / TACET – unvergleichlich. Danach entdeckt, dass es einen großartigen Text darüber gibt, wie so oft bei Villa Musica (Dr. Karl Böhmer): besonders treffend die Verbindung zwischen musikalisch nachvollziehbaren Sachverhalten und biographischem Kontext.

All dies – der Abschied von Haydn, die geplante kleine Konzertreihe, der neue Schaffenselan – sind in das D-Dur-Quintett eingeflossen. Es ist ein Werk von höchstem Anspruch zwischen übermütigem Scherz und tiefer Melancholie – eines seiner großen Meisterwerke in der majestätischen Tonart D-Dur.(…)

Auch für den zweiten Satz könnte man eine Äußerung des englischen Mozartforschers zitieren: „Er bringt die wahre Essenz des ersten Satzes zum Vorschein. Die Vermischung von Heiterkeit und Traurigkeit ist deutlicher, das Licht heller, der Schatten tiefer. Die Nachbarschaft von Lächeln und Tränen ist enger, in der Musik wie im Leben, und ihre gemeinsame Wurzel in der Seele des Komponisten sichtbarer.“ In der Tat hat sich Mozart in diesem G-Dur-Adagio rückhaltlos ausgesprochen: im erhabenen Ernst seines Hauptthemas wie in der tiefen Verzweiflung der Molleinschübe, die nicht zufällig an das Andante der „Jupitersinfonie“ erinnern. Zunächst singt die erste Violine eine ätherische Arie, die mit einer Kette von Seufzerfiguren schließt. In der Durchführung werden diese Seufzer durch die Stimmen und durch die Tonarten geführt, um in einer der schönsten Stellen von Mozarts gesamter Kammermusik zu gipfeln: einer Kette zart-schmelzender Vorhalte über Pizzicato, die zur Reprise zurückleiten. Zunächst aber hat Mozart dem Hauptthema einen Molleinbruch gegenübergestellt: Pochende Triolen der Mittelstimmen grundieren ein Geigensolo, das von schierer Verzweiflung kündet. Das Cello antwortet mit Trillern, die wie dumpfe Paukenwirbel klingen. Die Welt des Requiems ist hier nicht mehr weit (…).

Die Lektüre führt zwangsläufig zu erneutem Hören, – intelligenter, musikalischer, olympischer, – ich muss heute auch den „Taucher von Paestum“ zuendelesen. Ich bin reif… vielleicht fast wie der junge Mozart. (Hierher gehört ein belustigtes Emoji.) 🙂 (Danke!)