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Jan Reichow: Erinnerung an Fritz Neumeyer (Teil II)

(Fortsetzung von HIER)

Katalog Bad Krozingen Katalog der Sammlung Bad Krozingen

TEXT DES VORTRAGS II

Übrigens darf man sich die Entdeckung und Entfaltung der historischen Aufführungspraxis in den 30er Jahren durchaus nicht als einen Siegeszug vorstellen, der nach dem Krieg einfach fortgesetzt wurde. Diese Musik war ja in gewissen Zirkeln zu Hause, die sich abgrenzten und von den Außenstehenden ignoriert oder belächelt wurden. Man scherte sie über einen Kamm mit Mittelalter-Freaks und Multi-Instrumentalisten der Jugendbewegung wie Peter Harlan, der sich mit der gnadenlosen Verbreitung einfacher Blockflöten und leicht handhabbarer Fideln Freunde und Feinde gemacht hat.

Das berüchtigte Laien- und Kinderinstrument Blockflöte hatte natürlich wenig zu tun mit dem kostbaren Flauto dolce oder gar der Traversflöte der Barockzeit, die man mit Fleiß wiederbelebte, und die Fideln nichts mit den komplexen Viola-d’amore-Typen, die allerdings auch in der neuen alten Aufführungspraxis merkwürdig überrepräsentiert waren. Weshalb eigentlich? Vielleicht dank einer zufälligen Vorliebe im Saarbrücker Freundeskreis. Vielleicht auch nur, weil sie eine gewisse exotische oder auch esoterische Besonderheit ausstrahlten, die von den einen goutiert, von den anderen als blutleer empfunden wurde.

In der Zeit nach dem Krieg, in „meinen“ 50er Jahren galt tatsächlich die Alte Musik, in welcher Form auch immer, als nicht „up to date“, heute würde man sagen als „un-cool“. Große Ausnahme: Bach, in allen Formen, vielleicht auch Händel, und ich hielt meine Telemann-Sonatinen in Ehren. Aufführungspraxis? Man hatte eine vage Ahnung von der Bachtrompete, die eine ganze Aufführung verderben konnte. Man sagte „Terrassendynamik“, es gibt nur laut und leise, ein Bach-Allegro ist „motorisch“, die Geiger lernen den Bachstrich, d.h. Sechzehntel breit, Achtel kurz usw., und wenn man ein Cembalo dabeihaben muss, spricht man gern von einer Nähmaschine. Damals kursierte auch der als humorig empfundene Satz: Cembalo klingt, „wie wenn Ameisen auf Glas pinkeln“. Für mich begann eine neue Dimension, als ich Albert Schweitzers Bach-Buch aus der Stadtbücherei entlieh, wodurch die Kleine Chronik der Anna Magdalena Bach im Handumdrehen entthront war. Ich hörte vom Bach-Bogen, den ich glaubte eines Tages besitzen zu müssen, wenn ich die Solosonaten ordentlich spielen wollte. (Ein Mythos, den Schering und Schweitzer aufgebracht haben.) Und irgendwann hörte ich eine Aufnahme mit Emil Telmanyi, der einen sogenannten Bach-Bogen verwendete, und dachte: so möchte ich nie spielen. Dann begeisterte mich eine Aufnahme des dritten Brandenburgischen Konzertes, ganz besonders der Mittelsatz, da wusste ich noch nicht, dass es den gar nicht gibt: Bach hat ja zwischen die beiden schnellen Sätze nur eine Überleitung von zwei Akkorden geschrieben, die man – so glaubte man – zu einer kleinen Kadenz erweitern kann. Und hier hörte ich nun eine riesige Cembalo-Kadenz, hochromantisch, wie ich fand, gewaltigster Bach, dachte ich, – aber es war – Eduard Müller aus Basel (siehe hier). Jahrzehnte habe ich geglaubt, es müsse Fritz Neumeyer gewesen sein, aber aufgrund der modernen Internetrecherche kann ich mit Bestimmtheit sagen: es war die Archiv-Produktion Februar 1954, Schola Cantorum Basiliensis, Leitung August Wenzinger, und auf dem Cover stand sogar: Cembalo-Kadenz Eduard Müller, aber das besagte für mich nichts, – er war halt der Interpret. (Zu seinen Schülern gehörte übrigens Gustav Leonhardt.) Jedenfalls hörte ich zum erstenmal ein Cembalo, das mir gefiel. Vermutlich habe ich den Klang des Cembalos beim damaligen Stand unserer Wiedergabetechnik gar nicht recht beurteilen können, mir hat die ungewöhnliche Machart gefallen, der Ausbruch aus dem barocken Schema. Vielleicht das, was man später Agogik nannte. Ich habe die Aufnahme wieder aufgetrieben und werde dies Beispiel nachher noch anspielen. Wenn man rückblickend feststellen will, was eigentlich revolutionär war an der Aufführungspraxis alter Musik, wie sie seit den 30er Jahren umgesetzt wurde, war es vor allem der Klangkörper, nicht die Spielart, am auffälligsten bei den Cembali und später bei den Hammerflügeln. Das Verteufelte war: es gab ja dem Namen nach jede Menge Cembali, sogar in jedem Theater, aber nur solche der Firma Neupert, und die waren dem modernen Klavierbau angepasst. Und allgemein war man wohl der Ansicht, „der typische Cembaloklang offenbare sich vor allem in der klanglichen Differenzierung durch die verschiedenen Registrierungsmöglichkeiten“. (Gutknecht S.128). Was ein Irrtum war.

Neumeyer Wege zur Alten Musik Neumeyer Wege Inhalt

Auch Neumeyer stand in direkter Verbindung mit Neupert, jedoch: um an schönere Instrumente zu kommen. Als er 1932 nochmal ein Konzert mit modernem Cembalo erlebte, meinte er dazu genau das, was in unseren 50er Jahren in der Regel unbeirrt weiterlief:

„Was mich gestern abend noch so störte war das dick und roh klingende Cembalo, und die aufdringliche Art, wie es gespielt wurde. Wie froh bin ich, den Kasten los zu sein! Auf diese Weise kommt es, daß das Cembalo so viel Feinde hat: der knallige, drahtige, reizlose Ton der modernen Konzertcembali zerstört alles Feine, Singende, was den alten Instrumenten eigen ist.“

Bemerkenswert finde ich, dass Neumeyer immer vom Singen der alten Cembali spricht, und zwar so, als sei es dem Instrument selbst eigen, und nicht unbedingt abhängig davon, wie es behandelt wird. Das ist kein Zufall: es war in der damaligen Situation fast das schwierigste Problem, original erhaltene Instrumente perfekt zu restaurieren, mit den alten umsponnenen Saiten und mit weichen Lederkielen auszurüsten, und man konnte von den klanglichen Ergebnissen schon jenseits aller „Aufführungspraxis“ begeistert sein.

Das Ideal eines singenden Tasteninstrumentes war ja bis dahin das Clavichord, das Neumeyer besonders liebte. Also ein Instrument, dessen Saiten nicht angerissen, sondern gewissermaßen tangiert wurden, man bleibt über die Taste gewissermaßen mit ihnen in Verbindung. Es hatte allerdings einen schweren Nachteil: man konnte es kaum hören. Es war selbst für einen Raum wie diesen kaum geeignet, man musste mit dem Ohr so nahe sein, wie der Spieler selbst.

MARC:
Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788)2. Andante aus: Sonata VI G-dur Wq 55/6 H 187 
(1765?) 6 Sonaten für Kenner und Liebhaber, 1. Sammlung Leipzig 1779)
Bundfreies Clavichord von Johann Christoph Georg Schiedmayer
(unsigniert), Neustadt an der Aisch um 1785

Der Übergang zu den alten Streichinstrumenten war – auf andere Weise – noch schwieriger, denn jeder glaubte ja, ein altes zu besitzen. Natürlich waren aber alle zu Beginn des 19. Jahrhunderts umgebaut worden! Vielleicht noch wichtiger waren jedoch die Bögen. Neumeyer erwähnt ein Kammerkonzert mit dem bekannten Cellisten Paul Grümmer, der Gambe spielte und zwar – wie Neumeyer hervorhebt – „mit einem richtigen Gambenbogen“. Auf einem Foto, das Grümmers Tochter zeigt, ist allerdings zu erkennen, dass sie den Bogen mit Obergriff fasst, also wie beim Cello. Und zu dieser Art von Tongebung passt, dass der Viola d’amore-Spieler – so Neumeyer wörtlich – spielte wie ein Kaffeehausgeiger. Überhaupt sei alles zu schwülstig und zu dick im Ton gewesen. Ich will keine pauschale Verdächtigung äußern: aber die Streicher waren noch jahrelang himmelweit entfernt von den Konsequenzen, die sich allein aus dem Gebrauch von Darmsaiten und Barockbogen hätten ergeben müssen: Artikulation im kleinmotivischen Rahmen und viel weniger Druck. In Dieter Gutknechts Aufsatz über die Saarbrücker Vereinigung las ich mit Erstaunen, dass der Geiger Ulrich Grehling, später Konzertmeister der Cappella Coloniensis, in Saarbrücken den „bald vollzogenen Schritt vom herkömmlichen zum historischen Instrumentarium“ nicht mitmachte. Man hätte aber auch beobachten können, dass selbst die Leute, die umrüsteten, oft im Prinzip genau so weiterspielten wie bisher. Für mich gab es allerdings ein Schlüsselerlebnis – als wir im Collegium Aureum längst „historisch“ spielten, also zumindest mit Darmsaiten und mit Barockbögen. Es war um die Wende der 70er Jahre, als parallel zu uns im Fuggerschloss Kirchheim das Alarius-Ensemble mit den Gebrüdern Kuijken Aufnahmesitzung hatte. Mit dem Fetisch Klang ging man ja inzwischen fast hausieren, „der goldene Klang des Collegium Aureum“ hieß es in den Werbeprospekten der Schallplattenfirma. Aber dieser Alarius-Klang, dachte ich, ist wirklich unerhört, und meinte wohl doch mehr die Spielweise, den entspannten Klang, die Behandlung des Tempos, die leeren Saiten, die Reduzierung des Vibratos, die Abstrichbetonung, alles was dazugehörte, das war absolut neu – immerhin 40 Jahre nach der Wende der 30er hin zu den alten Cembali.

1) Beispiel-CD Alarius-Ensemble 1973 Rosenmüller Sonata e-moll (3:08), auf youtube hier.

Alarius rück links Alarius rück rechts  Rosenmüller

Foto: Daniela Maria Brandt

1968 hatte es immerhin schon eine Vivaldi LP gegeben, bei der Gustav Leonhardt am Cembalo saß, der 24jährige Sigiswald Kuijken neben dem Konzertmeister Franzjosef Maier, der übrigens mein Lehrer war, und Günther Lemmen, der Mann der ersten Saarbrücker Pioniertaten spielte Bratsche neben Franz Beyer aus München, der holländische Cellist Anner Bylsma war solistisch beteiligt, ein Ensemble aus Vergangenheit und Zukunft, nicht ganz konfliktfrei, – es hielt vielleicht nur dank Dr. Alfred Krings, dem Ideenträger von WDR und Harmonia Mundi, und nur für diese eine Aufnahme zusammen.

Kirchheim Collegium a vorn: Franz Beyer und Franzjosef Maier

Günther Lemmen hatte übrigens auch dafür gesorgt, dass das Collegium Aureum in Saarbrücken in der renovierten Martin-Luther-Kirche auftrat oder zumindest probte, das weiße Gestühl ist mir noch gut in Erinnerung, vor allem, weil der Mann an der Orgel, der mir auch durch seinen Schäferhund auffiel, zu Anfang mit erhobener Hand dastand und rief: „Und hier auf diesen weißen Stühlen / sollen unsre Steiße wühlen?“

Fritz Neumeyer. Später noch einmal, als er seinen alten Freund Günter in den Bratschen erblickte: „Unter all den Luther-Memmen / sieht man auch die Mutter Lemmen!“

Neumeyer gelangen die unvergesslichen und vielzitierten Zweizeiler. Im übrigen ist aber dieser Drang mit Worten zu spielen, Buchstaben oder Reime auszutauschen, Zitate zu verdrehen, das ist unter Musikern so verbreitet, dass man es nicht für Zufall halten kann. Solche Momente ergaben sich gar nicht so selten. Ein Beispiel: Franzjosef Maier sagt: Könnt ihr da etwas mehr dolce spielen. Und Werner Neuhaus aus Köln hakt nach: Franz, was wolltest du mit dem Dolsche, sprisch!? Fritz Neumeyer aber war unschlagbar. Und wenn der Witz herauswill, kommt er, ohne Geschmacksgrenzen, zuweilen gendermäßig völlig unkorrekt: am bekanntesten wurde Neumeyers Anspielung auf eine bekannte Kollegin: „Picht nackend – nicht packend“, besonders wenn man bedenkt, wer das sagt! Oder, wenn er die vibratofähigen Instrumente persiflierte, bei einem Konzert in der Schweiz: „Morgens der Berge schimmernde Weiße, abends der Streicher wimmernde Scheiße.“ Wir wissen, dass Mozart es oft genug noch viel ungenierter trieb, dieser Trazom, wie er sich schon mal selber, rückwärts gelesen, nannte, wenn nicht grade „Ritter von Sauschwanz“. Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil brachte 1987 das Buch heraus „Mozart im Innern seiner Sprachen“, in dem er zeigte, wie sich beim Komponisten im Umgang mit Worten und Sätzen die gleiche spielerische Kreativität äußert, die sonst vom musikalischen Genie in Sonaten und Sinfonien ausgetragen wird.

Mozart Ortheil

Bevor wir zur ersten Klaviersonate kommen, die Mozart geschrieben hat, möchte ich drei Klangproben aus einer Aufnahmeserie von Haydn-Sonaten geben, die Fritz Neumeyer in den Jahren 1959 bis 1961 für die Firma VOX in den USA eingespielt hat. Im Beiheft abgebildet sind zwei Instrumente, die wir heute noch hier in der Sammlung vorfinden: welches Cembalo bleibt unklar, das Clavichord jedenfalls stammt von Carl Schmahl aus Regensburg, gebaut im Jahr 1800, (restauriert von Adolf Hartmann aus Berlin und Martin Scholz aus Basel), der Hammerflügel gehörte einst Nannette Streicher, der Tochter von Andreas Stein, dem berühmten Pianoforte-Bauer der Haydn- und Mozart-Zeit. Rainer Peters hat im April hier darüber gesprochen. Also 3 Zitate: Cembalo – Clavichord – Hammerflügel – aus Fritz Neumeyers umfangreicher Einspielung von Haydn-Sonaten 1960 .

2) Beispiel-CD Fritz Neumeyer Haydn 1960 Cembalo Side 1 Tr 2 C-dur / Clavichord Side 3 Tr 4 G-dur / Hammerflügel Side 5 Tr 2 0:18 / 0:30 / 0:14

Natürlich alles zu kurz, aber auch länger wäre nicht lang genug, um sich wirklich einzuhören. Hier ist der Ort, sich auf einen wunderschönen Flügel aus der Sammlung live einzulassen: Mozarts 1. Sonate, Salzburg 1774.

MARC:
Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)Sonate Nr.1 C-dur KV 189d (279) (Salzburg 1774) 
Tangentenflügel von Christoph Friedrich Schmahl, Regensburg c.1801

Nun muss man bedenken: nicht jeder liebt diesen Klang, der Mozart vorgeschwebt hat: die Durchsichtigkeit, die Balance zwischen Links und Rechts, Hoch und Tief. Wenn die meisten Pianisten heute auf die Kraft und die Fülle eines modernen Flügel nicht verzichten mögen, dann kommt meist der berühmte Satz: „Wenn Mozart sowas gekannt hätte, wäre er glücklich gewesen.“ Das ist aber völliger Quatsch. Er brauchte für Räume wie diese und für eine Musik, wie er sie auf Tasteninstrumenten hervorzauberte, gerade diese wunderbarsten Klangwerkzeuge seiner Zeit. Dieses Ideal trifft man natürlich nicht, wenn man normalerweise mit Steinway-Schlachtrössern umgeht, man würde ein so empfindliches Instrument nicht zum Sprechen und Singen bringen, sondern nur ruinieren. Es ist eine verrückte Fein- und Klein-Arbeit, die man als moderner Pianist auf sich nehmen muss.

Das gilt übrigens auch für jeden Geiger, und wenn er die teuerste Stradivari besitzt, sie spielt einfach nicht von selbst sauber und leicht, und er kann sich anstrengen, wimmern und vibrieren, dass niemand mehr an die schimmernde Weiße der Schweizer Bergwelt denken mag.

Und in der Aufführungspraxis fingen ja die Diskussionen eigentlich erst richtig an, als man die Instrumente einigermaßen korrekt rekonstruiert hatte, Oboen und Flöten mit nur zwei oder gar keinen Klappen, Hörner und Trompeten ohne Ventile, – wie das geklungen hat, ehe man sie hochschulreif beherrschte! Es waren Riesenhürden zu überwinden.

Dann die Stimmung der Instrumente: wenn man den Flügelstimmer der Cappella Coloniensis fragte, wie er denn die feine mitteltönige Temperierung erzielt, sagte er: „Och, ich stimme das Ding wie jedes Klavier, und am Ende hebe ich es seitlich ein bisschen vom Boden ab und lasse es aufs Podium krachen, – dann ist es mitteltönig gestimmt.“ Wie weit der Scherz von der Wahrheit entfernt war, kann ich nicht sagen. Es war halt schwer, wenn man es genau nahm. Für die Streicher wurde die Intonation eine Riesenaufgabe in dem Moment, wo man auf Vibrato verzichten und die leeren Saiten, fast provokativ präsentieren sollte, auch die E-Saite, die nun nicht mehr aus Stahl war. Das aber kam erst im Laufe der 60er Jahre. In den 50er Jahren hätte ich nirgendwo eine Darm-E-Saite kaufen können. Leittöne wurden nicht mehr – wie früher – zu hoch gespielt. („Lieber zu hoch als falsch“, sagte man früher.) Insgesamt wurde der tiefere Kammerton des Barock eingeführt, so auch in unserem Collegium Aureum, weshalb wir gern selbstironisch von Schlappseilartisten sprachen. Und gerade weil das Hören eine neue Rolle spielte, nannten wir uns schon mal das „Gehörlosenorchester“.

Merkwürdigerweise wirkte sich der neue Elan im Laufe der Jahre auch dahingehend aus, dass die Tempi schneller wurden. Zum Leidwesen Fritz Neumeyers – oder auch umgekehrt: seiner Mitstreiter, die ihn ebenfalls zu beschleunigen suchten. Ich zitiere aus dem Büchlein „Texte zur Alten Musik“ von Eduard Gröninger, dem Vater, oder einem der Väter der Cappella Coloniensis, in der Neumeyer nicht nur für den Generalbass zuständig war, sondern auch für generelle Fragen.

„Gröninger bevorzugte in der Regel für seine Zeit relativ rasche Tempi, während der vermutlich wichtigste Gegenpart im Ensemble, Fritz Neumeyer, ein Mann von außerordentlicher Autorität und Durchsetzungskraft, der hinter seinem Cembalo fast zu schlafen schien, um dann unvermittelt energisch das Geschehen zu bestimmen, immer für einen ruhigen Angang plädierte – eine Einstellung, die sich mit zunehmendem Alter zum Extrem steigerte.“ (Seite 38)

Und dann steht da (es ist die Einleitung der Gröninger-Texte von Robert von Zahn):

„Häufige Meinungsverschiedenheiten gab es auch mit dem unermüdlichen August Wenzinger, die schließlich, noch in den fünfziger Jahren, in offene Streitigkeiten ausarteten, nach denen Wenzinger die Cappella verließ.“

Gröninger Schriften

Ich möchte Ihnen die Extreme des Zeitraums von rund 60 Jahren Aufführungspraxis, die ich miterlebt habe, in zwei kurzen Beispielen demonstrieren, das eine habe ich vorhin schon angekündigt: 1954. Mein damaliger Lieblings-Bach mit Wenzinger und Eduard Müller. Danach Reinhard Goebel und Musica Antiqua Köln.

3) Beispiel-CD 1954 Bach III.Brand.Konz.Wenzinger Adagio (Kad.!) 1:18 + (5:15) ca 0:30

4) Beispiel-CD 1986 Bach III.Brand. Konz. Goebel Adagio (2 Akk.!) 0:09 + „Allegro“ 0:38

Weltrekord! Übrigens hat sich auch Eduard Gröninger mit dieser Entwicklung schwergetan, die er sozusagen selbst mit angestoßen hatte. Ich begegnete ihm noch in den letzten Jahren vor seinem Tod 1990 fast täglich, da er sich auch als Pensionär von seinem WDR-Büro nicht lösen konnte, das von mir aus nur ein paar Türen weiter lag. Und er wusste, dass ich auch bei Goebel eine Weile mitgespielt hatte.

Man vergesse nicht, dass dieser Satz auch wirklich ein Extrem-Beispiel ist und dass Goebel nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass er sich nicht nur eine hervorragend informierte Aufführungspraxis angeeignet hatte, sondern dass er auch Inkrustationen auflösen wollte.

Man hört auf Anhieb, dass dieses Tempo nichts mehr mit der unbeugsamen Motorik zu tun hat, die man seit Anfang des Jahrhunderts für Bach-typisch hielt. Zwar nicht ganz zu Unrecht. Aber die Auffassung dieser rastlosen Bewegung verändert sich vollkommen, und zwar geradezu jahrzehntweise. 1950 schrieb Friedrich Blume im Lexikon MGG: „… erst der Spätbarock entwickelte jene Motorik, die … durch ihre unbarmherzige Einprägsamkeit den Hörer überwältigen ließ.“ (MGG I – 1311)

Unbarmherzig?

1960 erschien als Jahresgabe der Internationalen Bach-Gesellschaft Schaffhausen Rudolf Steglichs Schrift über „Tanzrhythmen in der Musik Johann Sebastian Bachs“. Er war nicht der einzige, der die wahre rhythmische Komponente des Barock erkannte, die vom Musiker verlangte, „zur zweckmäßigen und leichten Handhabung der mannigfaltigen Rhythmen zu gelangen“. (Forkel nach Steglich S. 10)

Das sind Tanzrhythmen, Betonungsordnungen, Akzentfolgen, die den Charakter der Musik ausmachen. Sie kennen sicher die Sinfonia aus dem Weihnachtsoratorium, eine Engelsmusik im Siciliano-Rhythmus. Ich sage das nur, damit Sie den leichtfüßigen Tanzcharakter im Ohr haben. Und nun dies: „Alla Siciliana“ im Jahre 1963. Das Saarländische Kammerorchester unter Karl Ristenpart mit Bachs Konzert für drei Cembali, am ersten Fritz Neumeyer.

5) Beispiel-CD Bach 3 Cembali d Ristenpart „Siciliana“ Ristenpart / Neumeyer, Berger, Burr / Orch. 0:34 + Cemb. bis 1:08 (Siehe youtube ab 6:39)

Bach 3 Cembali Siciliana

Die Botschaft von den Tanz-Akzenten hat sich erst sehr langsam durchgesetzt. Als wir mit dem Collegium Aureum und dem Tölzer Knabenchor im Jahre 1973 das Weihnachtsoratorium aufnahmen, sprang er geradezu in Gestalt eines Betonungswahns auf uns über, er kam vermutlich mit den Tölzern direkt aus der Wiener Arbeit mit Nikolaus Harnoncourt, und selbst die Choräle wurden nun von Schwerpunktakzenten durchlöchert. Aber die Sinfonia im 12/8 Takte klang in den Streichern doch schon nach schwebenden und tanzenden Engeln. Und hören Sie nun, in welche Richtung das letztlich ging. Der Beginn desselben Bach-Satzes „Alla Siciliana“ – Sie haben ihn noch im Ohr – mit dem Ensemble Parlando aus Saarbrücken, gut 40 Jahre nach Ristenpart.

6) Beispiel-CD Bach 3 Cembali d „Alla Siciliana“ Ens. Parlando / Codreanu / J.Laukvik / Oster (siehe jpc hier Tr. 11)

Das klingt heute so selbstverständlich,- aber Sie glauben nicht, was für Auseinandersetzungen es gegeben hat, die hier im Hause wahrscheinlich nicht stattfinden mussten: das Triumvirat der Freunde Neumeyer – Junghanns – Tracey war autark.

Ich hatte es schon erwähnt, die holländischen und belgischen Gäste begannen uns in Unruhe zu versetzen, und besonders die Ideen Gustav Leonhardts wirkten wie Zündstoff. Es gab intern z.T. erregte Diskussionen. Und draußen war die Konkurrenzsituation ohnehin ziemlich heftig, wir registrierten, was in Wien geschah, und die Jungen, die nachrückten und eigene Ensembles gründeten, hatten mehr gelesen, von Beginn an ausschließlich „historisch orientiert“ gespielt, sie waren keine Liberos, wie ich mit alter und neuer Geige, romantischer und barocker Spielweise, waren radikaler in ihren Vorstellungen vom Originalklang, erwarteten ihn jedoch viel mehr von der Stilistik als von den kostbaren alten Instrumenten, die einfach selbstverständlich wurden.

Die „Klangrede“ war plötzlich in aller Munde, die Alte Musik, die bisher Originalklang sein sollte, und in Neumeyers Cembalo quasi von selbst zu singen schien, sollte nun vor allem den Mund auftun, um deutlicher zu reden.

Ich erinnere mich an zwei Wendepunkte in meiner Einschätzung: der eine, als wir Wieland Kuijken beim Gamben-Konzert von Telemann begleiteten (Köln Gürzenich) und erlebten, in welcher Weise er ein nicht-romantisches, aber schrankenloses Espressivo oder Affetuoso oder wie auch immer man das nennen kann, zelebrierte und uns dazu animierte, es ihm gleich zu tun.

Das andere war, viel später den jungen Andreas Staier zu erleben, der mit uns ein Mozart-Konzert spielte – und wir kannten „einschlägiges“ Hammerklavierspiel durch gemeinsame Aufnahmen mit Jörg Demus oder Paul Badura Skoda – jetzt aber wie aus einer anderen Welt: ein unerhörtes Rubato, von dem schon oft die Rede gewesen ist, also diese Flexibilität im Takt, bei Mozart wie bei Chopin, aber noch nie so überzeugend umgesetzt wie von Staier. Und ein Drittes, das mir für immer eingegraben ist, als ich in Goebels Musica Antiqua Köln mitspielte, das war am Anfang von Telemanns „Hamburger Ebb‘ und Flut“ die Reinheit der Bläser, diese ungeheuerlich ehernen Klänge, markerschütternd und ins Herz dringend.

Und des weiteren würde ich Robert Hill nennen, der das agogisch befreite Spiel zur Grundlage seines Unterrichts machte und es auch theoretisch durchdachte (Musik & Ästhetik 2015 – siehe hier), wie es letztlich bis ins späte Klavierwerk von Brahms Gültigkeit hat.

Hiill Musik & Ästhetik0001 Musik & Ästhetik Hill Quelle

Es ist für mich eine merkwürdige Koinzidenz, dass Robert Hill, ein Schüler von Gustav Leonhardt, hier in Freiburg seit 1990 als Professor für historische Tasteninstrumente und historische Aufführungspraxis lehrt, wo Fritz Neumeyer 22 Jahre lang als Professor in der gleichen Position gelehrt hat, und dass Hill 1982, ein Jahr vor Neumeyers Tod, den Erwin Bodky Award für Alte Musik erhielt. Ich denke dabei auch an meinen Vater, Neumeyers Studien- und Zeitgenossen, der schon Ende der 50er Jahre an Krebs starb, als er noch immer gehofft hatte, neben der Schule als Pianist, Kammermusiker und Sänger-Begleiter zu reüssieren, während Neumeyer 5 Jahre später sein Waterloo erlebte, als er in Freiburg gerade den Zug bestieg und der Schaffner hinter ihm die Tür zu früh zuwarf, die ihm die rechte Hand fast zerstörte.

Was hat ihn gerettet? Natürlich, der junge Mann aus Gotha, der unbedingt sein Schüler werden wollte, Rolf Junghanns. Aber auch sonst war er bei der eben erwachenden Neuen Alten Aufführungspraxis wieder überall begehrt. So auch von Dr. Alfred Krings, WDR Köln und Harmonia Mundi Freiburg, ein seltsamer Menschenfischer, der wusste, dass Neumeyer auch komponieren konnte und sich für Lothringer Volksweisen begeistert hatte, die ein Pfarrer namens Louis Pinck seit 1914 gesammelt und bis 1940 veröffentlicht hat. Neumeyer war mit ihm befreundet und kannte sogar noch einige der alten Sänger und eben diesen unerhörten Schatz von Liedern. Krings ermöglichte die erste Produktion, den Text zur Schallplatte schrieb Rolf Junghanns und auf dem Cover ist ein handschriftlicher Zettel abgedruckt: „Herrn Fritz Neumeyer, dem ersten und besten Bearbeiter der Lothringer Volkslieder, in Erinnerung an den Sammler, Dr. Louis Pinck. Angelika Merkelbach-Pinck. Im August 1941.“ Das war die jüngere Schwester des im Jahr zuvor verstorbenen Sammlers.

Neumeyer LP Lothringen Cover Holzschnitt von Henri Bacher (1890-1934)

Eins meiner Lieblingslieder vom ersten Tag an war die Ballade vom Lindenschmied, die auf eine seltsame Weise mit dem aufrechten Menschen Neumeyer kontrastierte und – harmonierte. Gesungen wurde es von Altmeyer, Theo. Nur ein kurzer Ausschnitt daraus, bemerkenswert in all diesen Bearbeitungen ist die Instrumentation

7) Beispiel-CD Lothringen: Lied vom Lindenschmied 5:17 (gekürzt 2:13)

Eine sehr merkwürdige Sache ist es mit Neumeyers eigenen Kompositionen, den spartanisch gesetzten Marienlieder etwa, oder dem Zyklus „Das Herz des Wortes“ , nach den seltsam-frommen Versen seines Freundes Konrad Weiß. Es gab böse Zungen, die gesagt haben, der Dichter sei schizophren. Worauf Fritz Neumeyer auf seine Art reagierte: „Ist er wirklich schizophren? Macht ihn doch Onkel Fritz so schön!“

Von Konrad Weiß stammt auch der Text „Das Linnen“, hier gesungen von Magdalene Schreiber, Sopran, Ulrich Grehling spielt Violine.

8) Beispiel-CD Fritz Neumeyer: „Das Linnen“ 3:09

Ich muss Ihnen noch eine Geschichte erzählen: Es wäre sicherlich übertrieben, wenn ich mich als alten Freund von „Onkel Fritz“ bezeichnen wollte. Aber irgendwann hat er mir in seinen letzten Jahren das Du angeboten und die Lizenz, „Onkel Fritz“ zu sagen, in Holland, bei der Nachfeier eines Collegium-Konzertes, wir haben alle gut getrunken, und er hat immer wieder, wenn er mit jemandem anstieß, auf eine bös verschliffene Weise gesagt (was ich jetzt nicht nachmache): Ich heiße Onkel Fritz. – Ein letztes Mal habe ich ihn getroffen, als meine Frau und ich ihn nach einem Collegiums-Konzert in Brühl, mit anschließendem Empfang, zurück ins Kölner Hotel brachten. Er hatte nicht viel getrunken, dazu war gar keine Zeit, aber er war in Hochstimmung und begann – ich weiß nicht, wie er dazu kam – von seiner Mutter zu schwärmen. Sie habe die Schönheit angebetet, und das habe er von ihr geerbt. Sie selbst sei wunderschön gewesen, und auch ihr Dienstmädchen. Er geriet in gesteigerte Emphase und sprach in einem feierlichen, und doch fast weinerlichen Ton, im gleichen Ton hat er übrigens in einer WDR-Sendung die Texte zu den Lothringischen Volksliedern vorgetragen. Wir waren etwas ergriffen oder gerührt und verstanden ihn gut.

Ich weiß nicht, ob ich das angemessen wiedergegeben habe. Damals hatte ich einiges über Psychologie gelesen, und es war naheliegend, sich etwas über Mutterbindung und ähnliches, über die Bedeutung der Jungfrau Maria in der Christlichen Weltanschauung zusammenzureimen usw., aber das schien mir alles unbedeutend, angesichts dieser fast kindlichen Gedenkrede eines alten Mannes auf seine Mutter, während einer Autofahrt.

Eines seiner Lothringischen Lieder, das ich besonders liebe, hat er in Oktaven singen lassen, Männerstimme und Frauenstimme: „Ist das nicht der Morgenstern, der vor dem Tag aufgeht? Er leuchtet so manchem Jungknaben, der so heimelich freien geht. „Wo gehst du denn hin freien / Mit deinem stolzen Gang?“

9) Beispiel-CD Lothringen: Der Morgenstern 4:38 (gekürzt 2:59)

Ein vorletztes Wort noch zum Originalklang bzw. Original-Instrument. Es kommt nicht von mir, sondern von Reinhard Goebel, Gründer und jahrzehntelang Erfolgsgarant der Musica Antiqua Köln, einem der bekanntesten Ensembles der historisch informierten Aufführungspraxis, jetzt ist er Dirigent und arbeitet mit jedem guten Orchester, ob original, originell oder konventionell, und er sagt:

10) Beispiel-CD Statement von Reinhard Goebel: „ Aber man kann in keiner Weise sagen, dass … alte Musik an das Instrumentarium gebunden ist. Nach wie vor ist es der Musiker, der die Musik macht, und nicht das Instrument! Und es gibt sicherlich Kompositionen, Zeiten zwischen Monteverdi und Bach, die sicherlich mehr des Originalinstrumentariums bedarf [bedürfen] als die Musik nach 1750. Also meine Toleranzschwelle ist da jedenfalls relativ groß.“ 1:06

Man kann das so sagen, besonders wenn man Dirigent ist und das Sagen hat. Vom Tasteninstrument her sieht man die Sache ganz anders: es ist gut, sich gerade vom Originalinstrument belehren zu lassen. Neumeyer sprach vom Singen des Instrumentes, andere betonten das Rubato, die agogische Freiheit, das Rhetorische gegen das Motorische. In der Musik-Geschichte und -Gegenwart ist heute eigentlich Raum für alles: kürzlich habe ich mir eine Opern-Aufnahme mit dem Collegium aureum aus 1969 wieder zugänglich gemacht, „La Serva Padrona“ von Pergolesi, nur um mir den Cembalisten Neumeyer in Erinnerung zu rufen und sein teuflisches Lachen zu hören — hier ist die Szene; am Ende sagt Serpina:„E di serva divenni io già padrona!“ – „Und von der Magd wurde ich so zur Herrin!“ Und Neumeyer vollendet das Resümée mit einer zierlichen Tonleiter aufwärts.

11) Beispiel-CD Zitat aus „La Serva Padrona“ von Giovanni Battista Pergolesi. Nach Umbertos Aria (38:00) beginnt „Onkel Fritz“ zu trampeln, bei 41:06 „or io la sposerò! / Mi dia la destra“ hört man ihn lachen. 42:12 Tonleiter aufwärts im Cembalo (nach den Worten „E di serva divenni io già padrona!“ – „Und von der Magd wurde ich so zur Herrin!“) Zur Musik geht es hier!

Und nun ein letzter Sprung von Pergolesis „La Serva Padrona“ 1733 zu Carl Maria von Weber im Jahre 1812, sechs Jahre vor dem „Freischütz“: das wunderbarste Espressivo seiner ersten Sonate und dann – als Antidepressivum und Vorahnung eines motorischen Zeitalters – das Finale derselben Sonate, ein Perpetuum mobile.

MARC:
Carl Maria von Weber (1786-1826) 2. Andante 4. Presto (Perpetuum mobile)
aus: Sonate Nr.1 C-dur op.24 J. 138 (1812) 
Hammerflügel von Conrad Graf, Opus 1068, Wien 1826/27

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NACHTRAG 6. Juli 2016

Im neuen Heft der Zeitschrift Musik & Ästhetik gibt es einen in unserm Sinne besonders bedenkenswerten Nachruf auf Nikolaus Harnoncourt. Autor: Gustav Falke. Ich zitiere die Einleitung:

In kaum einem Gedenkartikel und kaum einer Konzertkritik fehlte der Bezug auf einen Gedanken, den Nikolaus Harnoncourt seinerseits in fast jedem Interview und fast in jedem Aufsatz betonte: Wir können alte Instrumente nachbauen und Spieltechniken rekonstruieren, aber wir können nicht mit den Ohren der Alten hören; der Musiker ist ein Mens ch der Gegenwart, er kann überzeugend nur vortragen, was ihn selbst überzeugt; wer Musik macht, interpretiert. Wohl die meisten Kritiker, zumindest in früheren Jahren, haben das so aufgefasst, als ob er, Harnoncourt, doch selber zugäbe, auf die historische Aufführungspraxis komme es doch gar nicht an. Das wirkte dann schnell, als ließen sich bei Harnoncourt auch Darmsaiten und Glockentöne ertragen, weil es eben gute Interpretationen seien. Aber so hatte Harnoncourt das gewiss nicht gemeint. Selten mitzitiert wurde, womit er seine Ausführungen beschloss: ein heftiger Widerwille gegen das scheinbar untrügliche Gefühl der ausführenden Musiker. Indem er Instrumente, Spieltechniken, gar die Ausführungsbedingungen zum Notentext hinzunahm, wollte er diesem Gefühl Hemmnisse in den Weg legen, sich sein Verstehen schwer machen – eben weil er davon ausging, in den Werken gebe es mehr zu verstehen als das, was wir ohnehin schon wissen.

Worin aber bestand dann die Interpretation? (…)

Quelle Gustav Falke: Zum Tod von Nikolaus Harnoncourt. Musik & Ästhetik Heft 79 Juli 2016 Klett-Cotta Stuttgart (Seite 69)

Jan Reichow: Erinnerung an Fritz Neumeyer (Teil I)

Schloßkonzerte Bad Krozingen

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Schloßkonzerte Bad Krozingen Termine Screenshot

26. Juni 2016

Vortrag und Konzert

Was ist aus der Vorstellung vom Originalklang geworden?

(J.Marc Reichow an den Clavieren)

Text JR

Ich muss mich vorweg entschuldigen:

Wenn ich hier über Fritz Neumeyer reden werde, dann nicht, weil ich ein ausgewiesener Neumeyer-Kenner bin oder mich zum Biographen aufschwingen will. Unsere Wege haben sich verschiedentlich gekreuzt, allerdings nur innerhalb eines engen Zeitraumes von etwa 10 oder 15 Jahren. Trotzdem werde ich auch über mich selbst reden müssen, einfach als lebendes Beispiel, nicht um mich im Schatten des Namens Neumeyer mit Bedeutung anzureichern.

Ich habe Rolf Junghanns persönlich gekannt, wenn auch nur flüchtig. Bradford Tracey begegnete ich bei einer Italien-Tournee des Collegium Aureum, in dem ich als Geiger mitwirkte, er spielte brillant das Cembalo-Solo im 5. Brandenburgischen Konzert. Auch an einige lustige Gespräche erinnere ich mich deutlich, z.B. als er von Bachs Fingersätzen sprach, die er mit seinen Studenten in Berlin erarbeite. Und ein Geigen-Kollege rief mutwillig dazwischen: „Bachs Fingersätze spielst du, ohne Daumen? Ja, das hört man!“ Und er parierte schön: „Nein: mit!! Bach war es doch grade, der den Daumengebrauch propagierte, mein Lieber. Saubere Töne auf der Geige, ohne Daumen mit nur 4 Fingern, sind viel seltener, pass auf, ich sitze ganz in Deiner Nähe.“ Er hatte genauso wie Fritz Neumeyer Sinn für Späße, und er nahm es nicht übel, dass wir ihn statt Bradford Tracey schon mal „Forcy Trittbrett“ nannten. –

Er war weiß Gott kein Trittbrettfahrer, sondern ein hochbegabter Cembalist, der eine vielversprechende Zukunft vor sich hatte. Und nicht älter wurde als Mozart. – Doch zunächst ein Auftakt mit Musik: eine Toccata von Jan Pieterson Sweelinck. Marc, mein Sohn, spielt auf einem Spinett… es ist der sorgfältige Nachbau eines Typs von etwa 1550… also nicht Marc, sondern dieses Spinett, das der Komponist gewissermaßen noch selbst gespielt haben könnte. Die Saiten werden wie beim Cembalo mit einem Kiel angerissen, „il spino“ heißt „der Dorn“, es soll aber auch einen venezianischen Instrumentenbauer namens Spinetti gegeben haben…

MARC:
Jan Pieterszoon Sweelinck (1562-1621) Toccata 5. toni (C3)  SwWV 284

Für mich ist dies ein besonderes Ereignis, dass Marc hier auf Instrumenten mit einer solchen Geschichte spielt, und ich habe fast ein schlechtes Gewissen, dass ich auch zum Reden verpflichtet bin. Aber dieser Wechsel der Generation gehört ja sozusagen zur heutigen Dokumentation. Denn erstens spielt Marc bei sich zuhaus nicht nur Cembalo oder Hammerklavier, sondern auch den alten Bechsteinflügel meines Vaters. Ich habe darauf verzichtet, jawohl, und zwar – leichten Herzens, weil es bei ihm einfach viel besser läuft und besser klingt. Außer vielleicht in den allerersten 5 Jahren, als er noch mein Schüler war.

Fritz Neumeyer gehörte zur Generation meines Vaters, Jahrgang 1901, Neumeyer ein Jahr davor. Und ich war völlig überrascht, als ich bei der Durchsicht alter Ordner entdeckte, dass die beiden sich beim Studium in Berlin begegnet sein könnten. Und zwar genau zwischen November 1921 und Juni 1923, beide mit Berufsziel Kapellmeister, sogar beim gleichen Klavier-Professor James Kwast und beim gleichen Dirigier-Professor, der zugleich Direktor des Stern’schen Konservatoriums war: Alexander von Fielitz. (Siehe im Detail hier!)

Sie müssen sich also begegnet sein, aber ich vermute, sie lebten in verschiedenen Sphären, vor allem, wenn Neumeyer das Gespräch auf die eigne kompositorische Arbeit gelenkt hätte: seine geistlichen Gesänge, seine Marienlieder. Als Neumeyer 1923 seinen Theaterdienst in Saarbrücken antrat, war er zwar zunächst begeistert:

„Ich bin jetzt Solorepetitor am Stadttheater und sitze in den Proben hinter dem Kapellmeister und schaue in die Partitur und gebe aufs Dirigieren acht.“ Im Februar 1924 schreibt er über eine Aufführung von Mozarts Don Giovanni:

„Ich habe die Recitative am Klavier begleitet [am Klavier!]. Man muss höllisch aufpassen. Ein bissel zu improvisieren macht mir riesigen Spaß. Durch etliche musikalische Spässe in den Buffo-Szenen habe ich unsere Musiker zum Schmunzeln gebracht.“ (Seite 63)

Da ahnt man schon den späteren Neumeyer. Aber als im Herbst die Theatersaison wieder beginnt, meint er:

„Das ganze ‚Musikleben‘ in seiner Sinnlosigkeit ist mir mehr und mehr zuwider. Ausnutzen lasse ich mich nicht mehr, von 10 bis 1 Proben, was darüber ist gegen Bezahlung, auch der Bühnendienst.“ (Seite 71)

Dazu kam die wirtschaftliche Notlage in jener Zeit, wenige Jahre nach Kriegsende [das Saargebiet blieb ja 1920 bis 35 zwecks Kohlegewinnung aus dem Deutschen Reich herausgelöst]:

„Der Frank steht 100, der Dollar 1200 [lies:12hundert], daß die Welt noch steht mich wundert. (…) Überhaupt: Zustände sind hier, Zustände! Berlin ist noch ein Paradies gegen die Saarmetropole. Die Atmosphäre treibt Giftblasen. Wenn die mal platzen. Wohl dem, der den Atem lange auszuhalten vermag, d.h. wer den wirtschaftlichen Niedergang übersteht. Zum Kaufmann tauge ich nicht, da braucht man wieder einen besonderen Riecher, der mir fehlt, sonst bliebe ich überhaupt hier. – [Anspielung auf die Weinhandlung seines Vaters!] (…) der Himmel schenke mir klavierspielbedürftige Chinesinnen. Es dürfen auch Amerikanerinnen oder Jüdinnen sein. Aber deutsche – ! Ich meine, das Mal der Knechtschaft müsse uns allen auf der Stirn zu lesen sein! Diese vertiert-stupid-brutal-gierig-verängstigten Gesichter, die man hier sieht! Ein Brot kostet 135 Mark (gestern, heute sicher mehr) …“

Das war Ende 1923. Meinem Vater ging es wenig besser, obwohl oder weil er sich auch auf den Kapellmeisterberuf fixierte; seine Stationen waren die Theater in Bielefeld, Lübeck samt Kurbetrieb in Travemünde, und schließlich Stralsund. Wahrscheinlich bot sich keine echte Perspektive. Aus welchen Gründen er sich dann entschloss, noch einmal zum Studium nach Berlin zu gehen, wurde in unserer Familie etwas geheimnisvoll umschrieben. („Damals begann ja die Tonfilmzeit…“, was wohl heißen sollte, dass die Leute nicht mehr ins Theater gingen?) Zudem kam 1929 die Weltwirtschaftskrise. Mit fast 30 Jahren begann er Schulmusik zu studieren, er wollte festen Boden unter die Füße bekommen. Auch das Klavier trat wieder in den Mittelpunkt, er begleitete den berühmten Leo Slezak in verschiedenen Konzerten.

Neumeyer hatte sich von Anfang an, neben dem Komponieren, mehr aufs Begleiten konzentriert, das Theater nervte ihn, und mir scheint, er hat mindestens ebenso wenig reüssiert; er war Mädchen für alles und schreibt an seine mütterliche Freundin Cläre Massatsch:

„Du fragst, wievielter Kapellmeister ich bin, ich habe am Theater keine Nummer. Man hat es gewagt, mich mit der schwierigen (bitte nicht schmierigen zu lesen, was aber vielleicht doch nicht so unsinnig wäre) Musik zu „Peterchens Mondfahrt“ zu betrauen (oder zu belästigen).“ Und in demselben Brief vom 17. Nov. 1924 sagt er’s unverblümt: „Der Nutzen dieser Theatertätigkeit ist finanziell und in Bezug auf Lernen gleich Null. (…) Mir ist, als müsse ich jeden Tag in einer Jauchegrube baden.“ 1926 erwähnt er, dass er am Theater die ganze Arbeit macht – „bis aufs Dirigieren, das die Anderen besorgen“. Gerade als er wieder eine Sängerin zur Extraprobe erwartet, am 16. Mai 1926, beendet er seinen Brief mit folgenden Worten: „Gleich muß ich mit Frl. Geil, die ihren Namen mit Recht führt und mich recht gern verführen möchte, ein bissel ‚Carmen‘ arbeiten für 15 fr die Stunde. Mir wird übel und ich schließe…“

Die arme Sängerin!

Ende der Spielzeit hört Neumeyer tatsächlich auf. Seine Wanderjahre als Liedbegleiter beginnen. Er zieht wieder nach Berlin, und es wird allmählich ernst mit der Alten Musik, wenngleich auch er als Klavierbegleiter dankbare Auftritte hatte, etwa mit der berühmten Sängerin Emmi Leisner, oder mit dem Wagner-Sänger und Star der Berliner Staatsoper, Fritz Soot, z.B. im Brahms-Zyklus „Die schöne Magelone“.

Ausschlaggebend wurden zwei Berliner Begegnungen: einerseits mit Curt Sachs, einem der Väter der Musikethnologie und vor allem: Direktor der Staatlichen Instrumentensammlung, unter dessen Anleitung sich Neumeyer mit alten Instrumenten und deren Spieltechniken befassen konnte. Andererseits durch den Unterricht bei der Cembalistin Alice Ehlers, einer Schülerin der berühmten Wanda Landowska, die inzwischen in Paris lebte und arbeitete.

Aus Johann Kuhnaus sechster Sonate der Reihe „Musicalische Vorstellung einiger biblischer Historien“, 1700 veröffentlicht, hören wir jetzt „Jacobs Tode und Begräbniß“ , die ersten zwei Stücke: „Das bewegte Gemüthe der Kinder Israel bey dem Sterbe=Bette ihres lieben Vaters“ und „Ihre Betrübniß über seinem Tode / ingleichen ihre Gedancken / was darauff folgen werde.“ Ein originales Cembalo florentinischer Schule um 1726.

MARC:
Johann Kuhnau (1660-1722) Suonata sesta: Jacobs Tod und Begräbniß
aus: Musicalische Vorstellung einiger biblischer Historien in 6 Sonaten
(Leipzig 1700)

Die Fortsetzung mit der „Reise von Ägypten in das Land Canaan“ folgt später.

Wir waren im Jahre 1930 angekommen, und jetzt bekommt das Wort Aufführungspraxis einen neuen modernen Sinn, ausgerechnet in den Zirkeln der Alten Musik. Und nicht nur dort: mein Vater studierte aufs neue, insbesondere bei Erwin Bodky, dem Verfasser eines berühmten Buches über den Vortrag alter Klaviermusik. Aufführungspraxis! 1932 wird das monumentale Buch dieses Titels erscheinen, das bei den Alten Griechen und im fernen Orient beginnt und bei Toscanini endet, der Autor heißt Robert Haas. (Das Exemplar meines Vaters liegt hier auf dem Tisch!) Praktische Pionierarbeit aber leistet die Saarbrücker Vereinigung für Alte Musik. Im Mai 1930 schreibt Neumeyer an Dr. Günther Lemmen, den ausgezeichneten Violaspieler, der später hauptamtlich als Augenarzt tätig war:

„Die Stunden, die ich bei Alice Ehlers nehme, sind riesig interessant, nicht nur fürs Cembalo, sondern auch für die Aufführungspraxis der Alten Musik überhaupt. Sie riet mir dringend, ja nicht in Berlin zu bleiben, wo solche Überfüllung ist, sondern von Saarbrücken aus den Boden für die Sache urbar zu machen.“

Genauso geschah es, in verschiedenen geographisch gesegneten Orten entwickelten sich revolutionäre Zellen der Alten Musik, in Saarbrücken und in Basel etwa, und es gab die Kabeler Kammermusik, aber überall waren die gleichen emsigen Pioniere am Werk: Neumeyer, Scheck, Wenzinger und Freunde. Zu diesen gehörte z.B. auch der Hagener Papierfabrikant Hans Eberhard Hoesch – „Kabeler Kammermusik“, das bedeutete nichts anderes als Musik in Hagen-Kabel, Hoesch war nicht nur ein Enthusiast der Alten Musik und der alten Instrumente, er gab auch Geld dafür aus und ließ Kopien nach den Vorstellungen der 20er Jahre herstellen. August Wenzinger siedelte eigens von Bremen nach Hagen über.

Vieles ist in Vergessenheit geraten. Die 1954 gegründete Cappella Coloniensis übrigens, so wird erzählt, verdrängte den Hagener Hintergrund, ihr großer Gründungspate sollte allein der WDR in Köln sein, während kein Geringerer als Nikolaus Harnoncourt später den Hagener Industriellen als den „vielleicht größten Mäzen der aufblühenden Originalklang-Bewegung“ rühmte.

Ich erinnere mich an die 60er Jahre, als ich selbst in solchen Nachfolge-Ensembles in Schwerte oder Lüdenscheid mitspielte, wo noch Manna Hoesch am Cembalo saß, die Tochter des Hagener Mäzens. Oder auch wieder Fritz Neumeyer. Die Musikfeste in Lüdenscheid wurden protegiert von der Firma Hueck. In der Villa der Witwe Gertrud Hueck wurden wir – für unsere Verhältnisse – fürstlich bewirtet; dort begegnete ich also Fritz Neumeyer, und einer seiner legendären Schüttelreime bezog sich auf die lukrative Bewirtung des Hauses: „Erst spielen sie den Buxtehude, dann stürmen sie bei Huecks die Bude!“

Nun sollte man nicht glauben, dass die Alte Musik erst um 1930 und allein durch die genannten Musiker entdeckt wurde. Wanda Landowska hatte bis 1919 in Berlin gelehrt, und auch von Paris aus Furore gemacht mit einem maschinenähnlichen Riesen-Cembalo, das sie bei Pleyel in Auftrag gegeben hatte. Solche Monster mit Stahlrahmen wurden dank der enormen Autorität der Künstlerin zum Standard.

Ihre Schülerin und Nachfolgerin in Berlin, Alice Ehlers, habe ich erwähnt. Und auch Erwin Bodky, der seit 1928 in Berlin Klavierprofessor war, beschäftigte sich – ebenfalls beraten von Curt Sachs – mit der Sammlung des preußischen Instrumentenmuseums, er hat ein originales Ruckers-Cembalo gespielt, er selbst und seine Schüler – unter ihnen mein Vater – spielten Biblische Sonaten von Kuhnau, 1932 veröffentlichte er die Schrift „Der Vortrag alter Klaviermusik“, die ich Mitte der 50er Jahre im Bücherschrank meines Vaters entdeckte: da wurde das Vierhändigspielen der Bachschen Werke am Klavier empfohlen. Vielleicht hat sich auch Neumeyer daran erinnert, als er nach seiner Handverletzung 1964 wieder begann, mit seinem Schüler Rolf Junghanns gemeinsam Konzerte zu geben. Erwin Bodky jedenfalls entdeckte – anders als die auf Konzertsaalwirkung bedachte Wanda Landowska – auch das zarte Klavichord für sich; es gibt Tondokumente von ihm in der Reihe L’Anthologie Sonore, die von Curt Sachs 1934 in Paris begründet wurde. Alle drei gehörten zu den bedeutenden Persönlichkeiten des Berliner Musiklebens, die wegen jüdischer Abstammung nach Hitlers Machtergreifung davongejagt worden.

Bodky 1932 1932  Bodky 1933 1933

Hier folgt nun die Fortsetzung der Biblischen Sonate von Kuhnau: „Die Reise von Egypten in das Land Canaan“ dann „Das Begräbniß Israelis und die dabey gehaltene bittere Klage.“ Und: „Das getröstete Herz der Hinterbliebenen“.

MARC (Forts.):
Johann Kuhnau (1660-1722) Suonata sesta: Jacobs Tod und Begräbniß
aus: Musicalische Vorstellung einiger biblischer Historien in 6 Sonaten
(Leipzig 1700)

Kuhnau Titel Kuhnau Vorrede

(Fortsetzung des Vortrags folgt HIER)

Auf Wiedersehen & Auf Wiederhören!

Wie kam ich darauf? Ich hatte im Hotel in Bad Krozingen ein Bild mit einer Felsformation gesehen und fotografiert, bei der ich an eine seltsam abweisende Landschaft von Cézanne gedacht habe; diese wiederum war mir vor vielen Jahren in  einem Buch begegnet, in dem sie als Vergewaltigung der Natur gedeutet wurde. Und das suchte ich eilig (warum nur?) hervor, bevor ich heute morgen zur Quartettprobe abgeholt wurde. Nein, die Landschaften hatten keinerlei Ähnlichkeit, aber dann schlug sich plötzlich wie von selbst dieses ebenfalls nicht ganz angenehme (und dadurch faszinierende) Porträt auf, das ich vor einiger Zeit rekapituliert habe: nämlich hier. Ich ließ es aufgeschlagen … sagen wir … im Badezimmer liegen.

Gainsborough a Gainsborough b

Beethovens Quartett op. 127 ist von seinen späten Werken das, was ich am wenigsten kenne, nein: das ich sogar verdrängt habe, obwohl ich den langsamen Satz besonders liebte; damals, als ich alle Quartette dank des Zyklus mit dem Alban-Berg-Quartett mit Partitur und CDs studierte. Aufführung am 8. März 1989 in der Philharmonie. Es löste sich wahrscheinlich auf hinter meinem absoluten Lieblingswerk, das damals nach der Pause folgte: op. 59 Nr. 1. Jetzt habe ich manches nachgeholt und im Blick auf die Probe während der Krozingen-Reise unentwegt im Auto gehört (CD Auryn Quartet TACET 2004 Vol. 3), und je mehr es mir wieder näherrückte, desto besser verstand ich, weshalb es mir fremd geblieben war. Ich Esel! Ich habe trotz des langsamen Satzes den Gesang, das fortwährend singende Parlando, nicht verstanden. Und die vollkommene Leichtigkeit, den „Frohsinn“. Erst beim Spielen ging mir allmählich ein Licht auf. Und dann durch die Hinweise in der Literatur. Merkwürdig, dass man ohne die verbale Benennung dessen, was geschieht, oft sich selber im Wege steht. Es ist aber wie bei der Bildbetrachtung: man sieht vieles nicht. Sehen Sie zum Beispiel, was ich nie gesehen habe: sehen Sie, dass die vornehme Dame auf dem Bild von Thomas Gainsborough einen toten Vogel im Schoße hält?  (Vorsicht, vielleicht ist dies eine listige Falschinformation; benutzen Sie doch die Klickfunktion!)

Übrigens handelt es sich um ein durchgehendes Bild, die Unterteilung in der Mitte hat nur drucktechnische Gründe.

***

Zu Beethovens Streichquartett op.127: Es gibt so viele lesenswerte Interpretationen, dass ich jedes Resümee vorläufig unterlasse. Zu verarbeiten sind neben Gerd Indorfs beiden Veröffentlichungen zu Beethovens Quartetten (abgesehen von den Kapiteln der Monographien von Riezler, Dahlhaus, Solomon) vor allem William Kinderman, Martin Cooper, Basil Lam (!), Joseph Kerman.

Gute Zusammenfassung im Text zu „Auryn’s Beethoven“ von Thomas Seedorf:

In keinem seiner vorangegangenen Quartette hat Beethoven jedoch dem langsamen Satz ein solches Gewicht und eine solche Ausdehnung gegeben wie in den Variationen in op. 127; nie zuvor hatte Beethoven im Kopfsatz eines Streichquartetts auf äußere Dramatisierung des musikalischen Geschenehens zugunsten einer alle Stimmen des Ensembles erfassenden Kantabilisierung verzichtet; kein anderes Scherzo war bislang aus so minimalistisch miteinander verstrickten Kleinstelementen erwachsen, kein Schlusssatz schließlich hatte je eine solche innere Ruhe bei äußerer Bewegtheit.

Nebenentdeckung: die Behandlung von op.128 „Der Kuss“, – ausgerechnet nach Lektüre der heutigen ZEIT betr. Sexualstrafrecht-Diskussion („Nein bedeutet Nein“), sehr besonnen: Sabine Rückert -, woraus folgen könnte: jetzt aber Schluss mit lustig, auch bei der Werk-Betrachtung!!! Wenn es nicht auch lustig wäre, sich dergestalt abzulenken. Bedenken wir doch Beethovens „strukturelles Konzept“.

Beethoven Der Kuss

Originalgedicht  hier

ZITAT

Grundlegender für Beethovens strukturelles Konzept und zugleich von essentieller Wichtigkeit für die Interpretation des Gedichts ist die Wortwiederholung, die Beethoven ausgiebig verwendet. (…) Dieser Vorgang der Ausspinnung einzelner Worte des Gedichts im Sinne einer größtmöglichen musikalischen und dramatischen Wirkung setzt sich in der zweiten Gedichthälfte fort. Vielsagend ist beispielsweise, wie grell und schrill die Worte „trotz ihrer Gegenwehr“ vertont sind.

Am wirkungsvollsten aber ist die Behandlung der beiden Schlußzeilen, die im Gedicht als Motto des gesamten Textes dienen. Chloe macht tatsächlich ihre Drohung wahr und schreit, allerdings erst lange, nach dem der Anlaß der Drohung, nämlich der Kuß, vorbei ist. Sie ist, natürlich, genauso erpicht auf den Austausch von Zärtlichkeiten wie der Dichter selbst, kann es sich aber nicht erlauben, auch so zu wirken. Diese Sprödigkeit und die Entlarvung weiblicher Kniffe enthalten ein ordentliches Quentchen Humor – und zugleich ein beträchtliches Problem für den Komponisten, der die Verse in Musik zu setzen versucht. Denn die Pointe des Gedichts wird weniger direkt durch die Worte erreicht, sondern vielmehr durch den Gedankenstrich, durch den der Dichter die vorletzte und die letzte Zeile voneinander trennt.

Quelle Beethoven Interpretationen seiner Werke (Hrsg. Riethmüller, Dahlhaus, Ringer) Wissensch. Buchgesellschaft Darmstadt 1996 Band 2 Seite 294: Ewan West: Klavierlied „Der Kuß“ op. 128

Der Kuß op 128

Für mich besonders bemerkenswert, weil hier der punktierte Auftakt vorkommt, den ich – jetzt ironisch akzentuiert – im Zusammenhang mit der „Marseillaise“ sehen möchte. Wie auch im dritten Satz von op.127. Von dort ein weiterer Gedankensprung: zu Bartóks Streichquartett Nr.VI, Satz II und darin die „Marcia“…

***

Makowski Natur & Mensch Kindler 1983

(Vom toten Vogel S. 64 Autor: Bernhard Buderath)

Die verschlungen auslaufenden Beine des Bänkchens, die knorrigen Wurzeln, die sich in die Erde krallen, die Pfoten des Jagdhundes und Roberts Schnallenschuh zeigen das gemeinsame Formgefühl, dem die künstliche Einheit von Mensch, Tier und Landschaft entspringt. In der Art, wie der Hund, ebenfalls im Wechselschritt überkreuzt stehend und nach dem toten Vogel in Frances Schoß witternd, mit den Formen Roberts korrespondiert, verdeutlicht Gainsborough auch die Unterordnung des Tieres unter seinen Herrn. Die Richtung der witternden Hundeschnauze kreuzt die gesenkte Flinte, die äußerlich Robert als Jäger und damit Beherrscher seines Wildbestandes ausweist. Sie stimmt aber auch mit den verklausulierten erotischen Anspielungen des Bildes zusammen. In Verbindung mit den gebündelten Ähren, die ein Sinnbild der Fruchtbarkeit sind, der lässig geneigten Flinte und dem toten, leider nicht ausgeführten Vogel in Frances‘ Schoß mag der Maler auf die vollzogene Ehe anspielen. Dafür spricht auch, wie zwischen den beiden Bäumen rechts, die auffällig als Entsprechung der Vermählten die Balance des Bildes halten, ein drittes kleineres Bäumchen sich mit den beiden verzweigt und als Aufforderung zu oder Voraussetzung von bevorstehendem Nachwuchs gelten darf. Darin wird der Fortbestand der Familientradition gesichert. Denn auch das noch junge Leben der beiden wird einst hinfällig sein, woran Gainsborough durch den toten Vogel und die beiden abgestorbenen Bäume neben den kräftigen Baumgruppen in der Bildmitte gemahnt.

Quelle Henry Makowski / Bernhard Buderath: Die Natur dem Menschen untertan / verlegt bei Kindler, München 1983 / ISBN 3-463-00869-6 /

Vom „Originalklang“

Eine Veranstaltung in Bad Krozingen 

Krozingen Screenshot 2016-04-02 08.14.15 Bad Krozingen

Pressetext

Dr. Jan Reichow, ausübender Musiker, Musikwissenschaftler, Ethnologe, Pädagoge,

hat als Violinist in verschiedenen historisch orientierten Ensembles mitgespielt (Collegium Aureum, La Petite Bande, Musica Antiqua Köln), viele Jahre als Musikredakteur und Abteilungsleiter im WDR gearbeitet, Spezialist für arabische und indische Musik, mitverantwortlich für die CD-Reihe World Network, Jury-Mitglied Preis der Deutschen Schallplattenkritik. Zahlreiche Veröffentlichungen und Radiosendungen zur westlichen Klassik und zu orientalischen Musikkulturen.

Der Vortrag soll einen kleinen Streifzug durch die Geschichte der historischen Aufführungspraxis bieten, von der mühsamen Wiederbelebung der originalen alten Clavierinstrumente bis zu ihrer selbstverständlichen Präsenz im modernen Konzertleben.

Fritz Neumeyer gab mit seiner Sammlung kostbarster Instrumente die Richtung an und prägte den Anspruch der nächsten Generationen. Das Klangbild von einst war kein zufälliges Gewand, sondern gehörte zum Wesen der Musik von Bach bis Beethoven und darüber hinaus. Die großen Werke klingen anders, fordern besondere Spieltechniken und ermöglichen neue Einblicke

Krozingen Programm vorn Krozingen Programm rück

Krozingen Programm

Krozingen 16 Mai 2016

J. Marc Reichow in Bad Krozingen

(Vortragstext wird höchstwahrscheinlich hier folgen)

Breisach b   Breisach a

Reise nach Krozingen 25. Juni 2016: „Breisach“ Handy-Fotos JR

Krozingen 160626 d Auf dem Weg ins Schloss

Besprechung Badische Zeitung 30. Juni 2016  HIER

Krozingen 160626 f Claviere im Konzert Polygonales Spinett

Krozingen JMR aa Krozingen JR b

Neue CDs – wahllos, nicht grundlos

1) Korea – Leseproblem oder Hörproblem

Korea Jambinai beide Die ganze CD

Korea Jambinai Titel gr Nur Interpreten und Titel lesbar

Dann eben so:

2) Morton Feldman – 76 Minuten am Stück

Feldman Cello Klavier Geduld und Stille

3) Gabriel Fauré – auf Empfehlung

Fauré Cello Sonaten Fremdartig trotz Nähe

4) Bach bis zu 3 Cembali 2009 – durch Vergleich

Bach Cembalo Konzerte Ensemble-Klang

5) Onslow Quintette 1994 – warum vergessen?

Onslow Quintette Vera Beths, Anner Bylsma

(Anmerkungen folgen)

zu 5) Mein Verdacht beim Hören – bei allem Staunen über die Virtuosität und den geschickten Wechsel zwischen den Instrumenten: es ist vollkommen quadratisch gebaut: Viertaktgruppe folgt auf Viertaktgruppe. Und es gibt kaum ein Thema, das wirklich „zu Herzen geht“. Man kann den Komponisten keineswegs an Beethoven oder Schubert messen. Es gibt „Einfälle“, aber sie kommen vom Kopf her.

zu 4) Es ist genau diese Aufnahme, die man braucht, um die Bach-Konzerte für mehrere Cembali intensiv zu hören, man kann wirklich alles durchhören, es ist wunderbar artikuliert, tänzerisch, wo es sein soll, zehrend-süß, galant oder schwungvoll in den Streichern, klanglich – zum darin Baden schön. (Vergleichen? Mit der alten Ristenpart-Aufnahme: man begreift, was die Alte-Musik-Bewegung tatsächlich bewirkt hat. Es altert nicht mehr…)

zu 3) Es gibt einige Merkwürdigkeiten in den Sonaten: dazu gehört, dass über das Tempo des Finales der ersten Sonate keine Sicherheit erzielt werden kann, daher gibt es auch in dieser Aufnahme zwei Versionen (Allegro commodo Tr. 3 Länge 7:28 und Tr.12 Länge 5:54). Paul Tortelier zum Beispiel, der den Satz im langsamen Tempo eingeübt hatte, ließ sich von Éric Heidsieck noch am Tage ihrer Einspielung überzeugen, den Satz schneller zu spielen…. Mehr dazu im Beiheft.

Warum ein „Opus“ keinem Schloss gleicht

… aber im Einzelnen wie im Ganzen erschlossen werden muss.

JR Mannheim_Schloss_Ehrenhof

Der Vergleich mit Musik ist beliebt, ebenso der Hinweis auf den Spruch, dass Architektur gefrorene Musik sei. Und die formale Abrundung einer symmetrischen Form wirkt so unmittelbar einleuchtend, dass man sie für universal gültig hält. Sie scheint ihre perfekte akustische Entsprechung zu finden, wenn ein Musikstück von einem kontrastierenden Mittelteil abgelöst wird und danach unverändert wiederkehrt: bekannt als ABA-Form, wie man sie z.B. im barocken Dacapo-Satz findet, oder im Marsch mit einem „Trio“ als Mittelteil. („Trio“, weil dieser Mittelteil im Gegensatz zum Tutti-Hauptteil oft von nur drei Instrumenten ausgeführt wird.) Ein entscheidender Unterschied gegenüber schlossähnlichen Bauwerken besteht darin, dass die identischen Außenteile musikalisch gewichtiger sind als der Mittelteil, während beim Schloss alle sekundären Gebäudeabschnitte links und rechts auf den zentralen Bau bezogen sind, der auch alle Seitenteile überragt. Man „liest“ dieses Gebäude von der Mitte aus, und jedes Detail zusammen mit der ihm gegenüberliegenden Entsprechung, jede Abweichung würde irritieren;  eine Musik, auch wenn man sie sich nur vorstellt, von links nach rechts. Die Wiederkehr des Gleichen wird wahrgenommen, aber eine Abweichung würde nicht irritieren, vielleicht sogar gar nicht wahrgenommen.

Eine Musik aber, die insgesamt so „simpel“ konstruiert wäre wie dieses Gebäude, mit diesen Fensterfronten, Flächen und Dächern, hätte vielleicht wenig Kunstanspruch. Ein schematisches Gebilde ohne charakteristische Motive ergäbe allenfalls eine einfache Art Minimal Music. Sollte man von vonherein in Betracht ziehen, dass die Innenräume dem Auge (dem Ohr) Überraschungen bieten, die der Besucher zu schätzen wüsste? Kaum. Sie hätten keinerlei zwingende Verbindung zur äußeren Form, was etwa der Folge von Zimmern und Sälen pro Stockwerk einen Sinn gäbe. Als Musik hätte jeder einzelne Raum eine Ausgestaltung, die mit der äußeren Form in Wechselwirkung stünde.

Man vergleiche die Wiederholungen einer Fensterfolge mit der relativ  sinnlosen Wiederholung einer Silbenfolge und deren höchst sinnvoller Wiederholung, sobald sie von Musik getragen wird (die Idee stammt von Victor Zuckerkandl):

Wenn Wälder und Felsen uns hallend umfangen,
Tönt freier und freudiger der volle Choral:
Trallala lala, trallala lala,
Trallala! Trallala! Trallalala lalala lalala lalala!
Lala, trallala! Trallalala lalala lalala lalala!
Trallalala! Trallalala! Trallalala lala!

Stimmt die Silbenfolge? Oder gibt es irgendwo ein „lalala“ zuviel? Schwer zu entscheidende Frage, – in der entsprechenden Musik jedoch wäre ein ähnlicher Zweifel an der richtigen Zahl der Motiv-Wiederholungen ausgeschlossen. (Siehe im folgenden Beispiel – passend zum wiedergegebenen Text – ab 0:31).

Ein scheinbar einfaches Opus, genial erfunden, strophisch, nicht symmetrisch gebaut, musikalisch sinnvoller Unsinn:

Carl Maria von Weber: Jägerchor aus „Der Freischütz“

Vielleicht kann nur ein größer gestaltetes, vielfach gegliedertes Musikwerk als Ganzes – von außen gesehen und von ferne erinnert – das Wort vom „opus perfectum et absolutum“ evozieren. Im Fall – sagen wir – der Ciaccona für Violine solo von J.S.Bach könnte man in der Reihung der Variationen und der großen Dreiteiligkeit der „Blöcke“ in d-moll / D-dur / d-moll auf die Idee kommen, dass es einem Bauwerk gleicht, einer Kathedrale etwa. Trotzdem ist das ein völlig unzureichendes Bild. Jeder macht einmal die Erfahrung, dass „Die Chaconne“ jeden Rahmen zu sprengen scheint, was ja dazu geführt hat, dass sie isoliert wird. Manche Geiger spezialisieren sich auf dieses „Opus“, Busoni hat nur diesen Satz für den Konzertvortrag am Klavier bearbeitet, und viele Musikkenner schenken den übrigen Sätzen der zweiten Partita kaum besondere Beachtung. Der Mensch neigt dazu, Dinge aus ihrem Zusammenhang zu lösen, um sie als Einzel-Dinge handhabbar zu machen, auch wenn sie leben, – Chamissos Riesentochter vergleichbar, die einen Bauern samt Pferdegespann und Pflug in ihr Tüchlein packt und als niedliches Spielzeug nach Hause trägt. (Siehe hier.)

Man unterscheide zwischen dem, was man fühlt und hineinlegen möchte, und dem, was man sieht und hört…

Strand De Slufter 160616

(Foto E.Reichow)

Der schwarze senkrechte kleine Strich auf dem Foto, das bin ich. In Wahrheit – wenn man ihn anklicken und aufklappen würde – stünde dort das Mannheimer Schloss, an das ich fortwährend dachte, zugleich im Sinn den Lerchengesang und die Seevögelschreie, die ich bis eben – noch auf grasiger Fläche wandernd – von allen Seiten gehört hatte.

Zur Frage der großen Form und der (entscheidenden) Binnenstruktur lese man auch im Bach-Blogartikel hier ab Seite 417.

Wildes Geflecht Texel 17062016 (Foto: E.Reichow)

Es könnte ein Garten sein, ein Urwald, auch ein Gebäude, ein Labyrinth, oder besser ein Luftschloss, dessen Räume sich verändern, wenn man erst Eingang gefunden hat. Sind es Wesen, die einem begegnen, Geister oder Tiere, die zu sprechen beginnen, wenn man sie anschaut? Da gibt es niemanden, dem all dies gehört, vielleicht wohnen sie hier oder sie lösen sich in Nichts auf, nachdem sie ihre Spuren hinterlassen haben. Vielleicht kehren sie plötzlich wieder. Vielleicht sind wir es, die weiterwandern. Das eine steht fest: das Gebäude steht nicht einfach da, – was da steht und geht und sich wandelt, muss durch unsere innere Bewegung erschlossen werden. Da ist kein Besitzer. Der einzelne Raum, die weiteren Sphären, die Wege, der Garten, das Blumenbeet, die gesamte Anlage, der Blick in den Sternenhimmel.

Um der Beliebigkeit auszuweichen, behaupte ich, dass die Umschreibung, ein Pianist, der ein großes Werk vorträgt, sei einem Schlossherrn zu vergleichen, der den Besuchern stolz seine Schätze präsentiert, hier einen kostbaren Leuchter, da einen edlen Gobelin und dort oben die schmucken Stuckarbeiten, schlicht ehrenrührig ist. Das Wort „Schloss“, das die immanente Gewichtigkeit des musikalischen Kunstwerks andeuten soll, steht für nichts anderes als dessen Verdinglichung, der Präsentator für nichts anderes als den dümmlichen Erben, der anderen vorführt, was ihm selber fremd geblieben ist. Das genaue Gegenteil aber verkörpert jeder Pianist von Rang: seine Arbeit changiert zwischen Interpretation und Identifikation. Und er versucht, sein Publikum auf den gleichen Trip zu bringen. Sonst würde er nicht da vorn auf der Bühne sitzen. Alles andere ist Unterstellung oder Projektion.

Vielleicht kommt der absurde Vergleich mit dem Gebäude aus der klassischen Rhetorik: wo man den Inhalt einer Rede, um sie besser im Gedächtnis zu behalten, thematisch geordnet in den Räumen eines Hauses verteilt, die man dann beim freien Vortrag nur systematisch abzuschreiten braucht. Das bedeutet aber durchaus nicht, dass es für das Verständnis der Rede notwendig sei, an ein Gebäude zu denken.

Worauf haben vielmehr die barocken Meister selbst die Phantasie des Fürsten, der höfischen Gesellschaft oder des aufstrebenden Bürgertums am ehesten zu lenken versucht?

Im Zusammenhang mit Bachs „Kunst der Fuge“ verweist Peter Schleuning auf das Vorbild der Kunstbücher, die oft auch „Kunststück“-Sammlungen waren.

Viele von ihnen geben im Titel und (…) auch in der Titelabbildung Hinweise auf Gärten und Blumen – „Hortus musicus“, „Musicalischer Blumenstrauss“, „Hortulus violinicus chelicarum modulationum floribus curioso amoenus“, „Musicalisches Blumen-Büschlein“, „Giardino del piacere ovvero Raccolta di diversi fiori musicali“, Musicalischer Lustgarten“, „Fiori musicali“ – um durch deren Symbolik „eine dem „Captum nostrum“, dem althergebrachten Wissensgut, entsprechende Einbindung des Neuen in das Bewährte, Alte zu demonstrieren“ (Defant, 148).

Schleuning fragt sich, ob Bach nicht auch einen solchen Titel im Sinn gehabt haben könnte, zumal der Erstdruck der „Kunst der Fuge“ mit Blumenornamenten geschmückt war. Also vielleicht: „Musikalische Pflanzschule“ oder „Musikalischer Blumengarten“? Wobei er quasi augenzwinkernd hinzufügt: Manche Analysierenden würden gewiß eher zu „Musikalischer Urwald“ raten… (S.229)

Quelle Peter Schleuning: Johann Sebastian Bachs ‚Kunst der Fuge‘ / dtv Bärenreiter Kassel 1993

Schleuning Bach Blumen

Eins der Beispiele, die Schleuning in seinem Kapitel „Blumen und Patriotismus – Ideologie III“ wiedergibt.

Wenn all dies für Bach gilt, um wieviel mehr für den Romantiker Schumann, eines seiner Lieblingsbücher von Jean Paul – „Siebenkäs“ – trug den barockisierenden Untertitel „Blumen-, Frucht- und Dornenstücke“. Nichts da von symmetrischen Fensterreihen und hohlen Schlössern, die vielleicht als Ruinen wieder interessant würden. (Den ersten Satz seiner monumentalen C-dur-Phantasie hatte Schumann ursprünglich mit „Ruinen“ überschrieben.) Nicht selten kam ihm bei Meisterwerken pflanzliches Wachstum in den Sinn:

Beethoven, der bis zum letzten Atemzuge rang, steht uns als ein hohes Muster menschlicher Größe da; aber in den Fruchtgärten Mozarts und Haydns stehen auch schwerbeladene Bäume, über die sich nicht so leicht hinwegsehen läßt …

Aus einer Rezension Schumanns über ein Streichquartett von Herrmann Hirschbach (1842).

Um den besonderen Fall der Schumannschen großen Form zu beleuchten, könnte man Bach, Beethoven, Jean Paul und Eichendorff heranziehen, aber einfacher wäre der Einblick nicht zu haben.

Das „opus perfectum et absolutum“ darf – anders als der provinzielle Kantor aus dem 16. Jahrhundert, der die Formel aufbrachte, meinte – muss nicht unveränderlich stillstehen und ein für allemal austariert sein wie ein Schloss des absolutistischen Monarchen. Horst Bredekamp hat ein wunderbares Buch geschrieben über „Leibniz und die Revolution der Gartenkunst“ , Untertitel: Herrenhausen, Versailles und die Philosophie der Blätter (Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2012).

ZITAT (Seite 130):

Der Große Garten von Herrenhausen (…) bietet darin einen Sonderfall, dass er gegenüber dem ihn bedingenden Schloss von Beginn an einen eigenen Rang entwickelt hat. Die Spannung zwischen Bestimmung und Autonomie ist in Herrenhausen in einer Weise auf die Seite des Gartens verschoben, dass dem Schloss ein eher begleitender denn dominierender Status zukommt. Damit konnte der Große Garten zum Gegenmodell der zeremonialen Gestaltung werden. Indem er die Unendlichkeit der Schöpfung als interne Entfaltung zeigt, ist er von künstlicher Natürlichkeit, und seine geometrische Anlage vollzieht nicht etwa eine Bändigung von Einzelformen, sondern einen Ausschnitt theoretisch unendlicher Möglichkeiten. Er verkörpert nicht den Zwang, sondern die Freiheit, und seine technischen Finessen suchen die Natur nicht zu überwältigen, sondern die in ihr wirkenden Kräfte als Ineinander von Geometrie und Vielfalt zu aktivieren.

Robert Schumanns Opus 17 hier:

Zum Vergleich: Svjatoslav Richter – hier. Wunderbar, klar und ergreifend.

Zeitsprung: La Serva Padrona 1969

La Serva Padrona Mitwirkende (zum Lesen bitte anklicken)

Ich wollte nichts anderes als das Datum eruieren, das jetzt oben im Titel steht. Harmonia Mundi hat es damals noch nicht auf der Schallplatte vermerkt. Leider kann ich auch die alten LPs nicht mehr hören. Und finde nun die gesamte Aufnahme im Internet, was für ein Glück!!! (Der Anlass des Suchens war Fritz Neumeyer, an dessen Dabeisein ich mich gut erinnere. Alles kaum zu glauben: Ich war damals 28 Jahre alt. Mein Sohn gerade 3; vielleicht hat er bei den Proben im Saal gesessen.) Unvergesslich: ab etwa 26:00 Maddalena Bonifaccios Arie „A Serpina penserete“ – fast zu schön um wahr zu sein!

Hier ist das ganze Werk (bitte anklicken!). Wo lacht Neumeyer so teuflisch? Ausgerechnet das habe ich nie vergessen. Nach Umbertos Aria (38:00) beginnt er zu trampeln, dann bei 41:32 hört man ihn. 42:20 Tonleiter aufwärts im Cembalo (nach den Worten „E di serva divenni io già padrona!“ – „Und von der Magd wurde ich so zur Herrin!“)

La Serva Padrona Titelseite

Das Foto des Collegiums – wahrscheinlich eine Verlegenheit, weil kein anderes vorzeigbar war – stammt aus Saint-Maximin in Süd-Frankreich (1967?), ich war dabei, sitze aber links außerhalb des Fotos (darauf von links nach rechts: Günter Vollmer, Brigitte Seegers, Günther Höller, Franzjosef Maier, Alfred Sous, Doris Wolff-Malm, Edward Tarr, Gerhard Braun, Wolfgang Neininger, Robert Bodenröder, Friedrich Held, Ruth Nielen, Werner Mauruschat, Gustav Leonhardt, N.N.).

Die bei La Serva Padrona tatsächlich Mitwirkenden stehen oben auf dem abgebildeten Cover.

La Serva Padrona Coll Foto

Und so wurde das Collegium im Schallplattentext glorifiziert:

La Serva Padrona Coll Text

WIKIPEDIA-Information zu „La Serva Padrona“ Hier. Die angegebenen Links zu Text und Übersetzung sind nicht recht praktikabel. Jetzt nach fast 50 Jahren möchte ich alles genau mitlesen… (Was ich damals versäumt habe. Mir genügte die Musik und der ungefähre Inhalt. Es könnte schon etwas mehr sein, sage ich heute.)

La Serva Padrona Text 1 2 La Serva Padrona Text 1a                                                             3 La Serva Padrona Text 2 4 La Serva Padrona Text 4  5La Serva Padrona Text 5

6La Serva Padrona Text 6  7La Serva Padrona Text 7  8La Serva Padrona Text 8

9La Serva Padrona Text 9 10 La Serva Padrona Text 10

11La Serva Padrona Text 11 12La Serva Padrona Text 11a

Leider fehlen mir – und meiner Quelle – Angaben zur Herkunft der Übersetzung. (JR)

Barbarische Tonart

Aus meinem Notenschrank

Es war mir völlig entfallen, dass ich dies Stück besitze. Es ist lange vor Bartóks gleichnamigem Klavierstück entstanden, das ich einmal fleißig geübt habe. Man weiß offenbar nicht genau, ob Bartók dies hier gekannt hat. (Siehe hier). Nur ein paar Blätter. Es verlegt sich leicht. Bemerkenswert finde ich, dass es als F-dur-Werk gilt, weil es ein b vorgezeichnet hat, das aber im Notentext überall aufgelöst ist. Also lydisch F? Ein Rätsel.

Alkan Barbaro Titel Alkan Barbaro Text

Eine Veröffentlichung aus dem Jahr 1953 mit internationalem Copyright?

Kann ich mir nicht vorstellen: die Noten sind leicht einzusehen in der Petrucci Music Library HIER

Ich möchte sie aber nicht üben müssen. Lassen wir doch andere für uns spielen!

Er kennt sein Piano, aber kein piano, das allerdings in den Noten steht. Die ich bekanntlich besitze. (Er hat keine!) Aber ehrlich gesagt: ich vermisse das piano nicht.

An dieser Stelle könnte ich mal beiläufig erwähnen, dass ich kein echter Pianist bin, nur mein Leben lang gern Klavier gespielt und auch ernsthaft geübt habe. Von Haus aus bin ich Geiger, vom Leben her auch Wissenschaftler und Radio-Redakteur (gewesen). Ich habe jetzt zufällig nicht nur diese Noten, sondern auch alte Dokumente wiedergefunden: das Zeugnis meines Klavierlehrers Rummel, das ich brauchte, weil ich einen Studienzuschuss von der Firma Oetker bekam und dort in Bielefeld regelmäßig meine Leistungen belegen musste.

Rummel Bescheinigung 1963

Hiermit bestätige ich, dass ich inzwischen nach weiteren Jahrzehnten regelmäßigen Übens bemerkenswerte Fortschritte nachweisen kann. Die Firma Oetker dürfte mir eigentlich noch viel Gutes tun! Vor allem bin ich ja immer noch fleißig und interessiert. Aber von all denen, die mir eine Bescheinigung mit Stempel der Hochschule ausstellen könnten, lebt leider keiner mehr. Außer Wolfgang Marschner, der zuletzt nicht mehr so gut auf mich zu sprechen war, weil ich ihm nicht als erklärter Geiger nach Freiburg folgen wollte. Und das war die beste Entscheidung meines Lebens.

In Zeitlupe üben!

An manchen Tagen hat man Glück, und schon hagelt es alltägliche Einsichten, die man nur vergessen hat, täglich penibel umzusetzen.

Zwei Beispiele der letzten 2 Stunden:

a) Beim Geigeüben – in den leichteren Dont-Etüden (die ich gar nicht genug loben kann, gerade gegenüber den schweren und bekannteren, die „24 Vorübungen zu Kreutzers und Rodes Etüden für die Violine“ von Jacob Dont, Op. 37, revidiert von Hans Sitt. Verlag C.F.Peters Frankfurt/M, London, NewYork) die Nr. 7 in a-moll „Vivace“, hier die Schlusszeilen:

Dont Bogenwechsel

Es gibt darin immer wieder Saitenwechsel, die eine heftige (?) Bewegung hin zur E-Saite erfordern, und dieser Aufprall gerät oft zu heftig, weil der Bogen dann zu einer Springbewegung neigt, die abgefangen werden muss. Besonders auffällig im zweiten Takt der zweiten Zeile, zweite Sechzehntelgruppe: man befindet sich in der 4. Lage, den Ton c“ (3. Finger D-Saite) erreicht man im Aufstrich, und unmittelbar danach folgt im Abstrich das hohe e“‘. Wenn man es in Zeitlupe ausprobiert, weiß man genau, was passiert: der Aufprall geht zu sehr im rechten Winkel auf die Saite, dadurch wackelt die Bogenstange und erzeugt ein unschönes Geräusch. Abhilfe: man hält inne nach der Bewegung zur E-Saite und lässt den Bogen nicht senkrecht auf die Saite prallen, sondern „schräg“, statt des rechten Winkels denkt man sich die Linie der Winkelteilung, sozusagen in den Abgrund zwischen E-Saite und Unterarm.

Das Anhalten und die Zeitlupe wirken Wunder.

b) Beim Klavierüben  – Chopin-Impromptu Nr. 1 As-dur op.29

Chopin Impromptu Triller

Dass man nach der Leggiero-Girlande die Trillerkette der rechten Hand ebenso intensiv aber anders übt, liegt „auf der Hand“, auch, dass es um Stärke und Brillanz geht. Weniger vielleicht, dass die linke nicht irgendwie arpeggiiert, sondern – genau wie rechts der Trillerton a“ nach den Vorschlägen (Achtung: kein b“ einfügen!) – mit dem Basston ES auf die Zeit beginnt, den nächsten Ton A ruhig und stark folgen lässt, dann den linken Daumen mit Schwung auf den obersten Ton GES wirft, der durchaus nach dem Trillerakzent der Oberstimme kommen darf, als leicht verspätete Zählzeit (der Basston ES war pünktlich), die Verspätung gibt ihm besonderes Gewicht, ihm und der Zweiergruppe, die er mit dem folgenden C bildet. Genau so in den beiden Zweiergruppen des nächsten Taktes, und erst im übernächsten Takt wird der stärkste Ton – Zählzeit 1 mit Akzent! – noch überboten durch das Weiterbinden auf den dritten Ton, das AS, das zusammen mit dem Melodieton des“‘ als Fortissimo herausragt: das Intervall Quart+Oktave im ff wirkt wie eine Überdissonanz – durch Leere.

All dies zu üben, pedantisch in Zeitlupe, nicht „erregt“, sondern rein technisch, mit Pedal genau zu den Phrasierungen der Zweiergruppen… das macht riesig Spaß. (Während die Musik zugleich etwas ganz anderes als Spaß ausdrückt. Die junge Generation wird an dieser Stelle mit einem gewissen Recht das Wort „GEIL“ benutzen.)

Musikanalyse fürchten?

Jeder weiß: man kann nicht erwarten, dass die Analyse genau so attraktiv ist wie das Musikstück selbst, dessen rätselhafter Schönheit man vielleicht gerade durch genauere Betrachtung näherkommen will. Greifen wir ein Bruchstück heraus: Wird am Ende herauskommen, dass dieser Dschungel aus Tönen übersichtlich wird?

Bach cis-moll Fuge Detail

Mit Bestimmtheit wäre zu antworten: Ja, ganz gewiss! Auch wenn ich es noch nicht neu geübt hätte, könnte ich sagen: Bach Wohltemperiertes Clavier II Fuge cis-moll, „irgendwo in der Mitte“. (Genau: die Takte 32 bis 47  aus einer Gesamtzahl von rund 70 Takten.) Die längeren Notenwerte oben am Ende der ersten Zeile sind das zweite Thema der Fuge. Als ich sie in den 80er Jahren zum ersten Mal geübt habe, hat mir mein Sohn heimlich in die Spielnoten eine Mahnung geschrieben, weil ich lange Zeit nicht mehr von vorn begann, sondern immer hier auf der zweiten Seite, wo zum erstenmal dieser chromatische Abstieg thematisch wird (er hatte wohl heimlich nachgeschaut, ob dies das Thema der Fuge sei):

Bach cis-moll Fuge Seite 2 Detail

Nein, das zweite Thema, – aber wo genau beginnt es? Die durchgehenden Sechzehntel jedenfalls gehören zum ersten Thema… Ich muss analysieren und vorläufig aufhören zu spielen… Aber soll ich mich etwa in eine graphische Analyse wie die folgende versenken? Das braucht doch eine Stunde mindestens. Soll ich nicht lieber weiterüben???

Bach cis-moll Fuge DÜRR

Quelle Alfred Dürr / Bärenreiter ISBN 3-7618-1229-9 Seite 278

Und wo steht in der Analyse, wie schön die Fuge ist? Natürlich nirgendwo. Das ist nicht die Aufgabe der Analyse. Es ergibt sich ja auch nicht beim Blick auf die Noten. Sondern erst wenn sie erklingen, und nicht schon beim ersten Mal, sondern erst nach zwanzig Mal hören und (am besten) Spielen, – und dann erst entstehen die Fragen nach dem Warum.

***

Ich stehe nicht allein mit meiner Verwunderung darüber, dass mich die eigenen Fragen nerven. Peter Schleuning schreibt einmal in seinem Buch über die Brandenburgischen Konzerte von Bach:

Es ist eine Binsenweisheit, wenn immer wieder – anklagend oder entschuldigend – beteuert wird, dass eine Analyse nicht den Eindruck der Musik wiedergeben kann. Dazu ist sie auch nicht da. Sie soll ergründen und darzustellen suchen, was sich unter der unmittelbar hörbaren Oberfläche an Beziehungen und Zusammenhängen tut und wie dieses sich auf den Höreindruck auswirken oder diesen gar bereichern kann. Selbstverständlich kann keine noch so einleuchtende Analyse und ebenso wenig eine noch so schöne Tabelle einen Eindruck von der unermüdlichen Kraft und Frische dieses Konzertsatzes vermitteln, von diesem quasi-naiven, munteren Ernst, mit dem die Musik uns fortträgt.

Er schreibt das anlässlich des dritten Konzertes in G-dur und erwähnt wenigstens in seiner Analyse die Spannung, die von diesem „munteren“ Satz ausgeht. Und in diesem Sinne ist die Fuge – zwar nicht munter – aber doch auch unablässig in Bewegung und entwickelt ebenfalls eine außergewöhnlich Spannung.

Im Fall des Brandenburgischen Konzertes gibt es noch ein separates, geradezu unlösbares psychologisches Problem: da gibt es drei Instrumentengruppen, und jeweils drei einzelne Instrumente, die dasselbe spielen, einen ganzen Satz lang, viele viele Töne, und Bach schreibt dreimal diese selbe Sache untereinander. Warum??? Warum nicht nur einmal und an den Anfang ein „alle drei“? Aber das ist ein völlig anderes Problem, das lese man bei Schleuning nach. In unserer Fuge ist kein Takt mit einem anderen identisch, und selbst die Themen und die Relationen wandeln sich.

Noch einmal zu Chopin (ergänzend zu diesem Beitrag)

Was der analytische Blick zum Beispiel zutage fördert, – in meinem Fall erst nach Jahrzehnten -, ist folgende Auflösung für den Schluss des Impromptus in As-dur. Früher habe ich es einfach als schöne aber irgendwie beliebige Idee hingenommen, wie diese choralähnliche Formel sich auflöst und quasi in der Ferne entschwindet, im letzten Terzklang Unendlichkeit andeutend.

Chopin Impromptu As Schluss

Die „choralähnliche Formel“ – das ist doch nichts anderes als der Abschied von der Melodie des Mittelteils! Die aufsteigende Linie g – as – b – c ist übriggeblieben, sie ist das Ziel der Linie gewesen, das die Cantilene des Mittelteils so oft vergeblich oder jedenfalls stockend angestrebt hat. Sehen Sie hier den rasanten Abgang und dann die 4 Takte mit der Melodielinie (vereinfacht  gesagt:)  c – f – g – as –  b  – c  (und dann das Verweilen, das Nichtzurechtkommen mit diesem Ton c, die Rückkehr und das Zurückfallen auf den Ausgangston c und Neubeginn derselben Melodielinie mir neuem Scheitern). Und nun betrachten Sie, wie das harmonisiert ist: es ist bereits das Gerüst des abschließenden Chorals, wenn wir einmal bei der willkürlichen Benennung bleiben wollen. Die Behandlung des Tones c , sowohl in Takt 38 als auch in Takt 46 mit der vorangehenden bedeutungsverstärkenden Figur, und dann die Riesen-Corona vor dem großen c in Takt 49: das alles will uns doch eine Geschichte erzählen! Eine Geschichte, in der es scheinbar nur um bestimmte Töne geht. Ich breche ab… sonst erzähle ich sie noch, in wortreicher Attitüde. Da spiele ich sie doch lieber!

Chopin Impromptu As Mittelteil

Ich habe noch einmal die Beschreibung dieses Stückes bei Tadeusz A. Zielinski gelesen (Chopin 1999 Seite 524) und finde sie völlig inakzeptabel. „Brillante Eleganz“? Ist es nicht eher die Unrast eines Verzweifelten, die dieses Stück umtreibt? Alles andere ist nur Maskierung, die für Salonfähigkeit sorgt. Oder soll ich doch sagen, an welche Geschichte ich denke? Stellen Sie sich doch einfach mal vor, dass der Ton c nicht nur ein Ton ist, sondern ein Mensch, eine Person. Ich phantasiere. Angenommen, sie hieße Caroline. Wie spannend wäre alles, was um ihren Ton herum geschieht, – wie er inszeniert wird, wie sich ihr Gesicht verändert…

Ach, ich ahne es: jetzt wollen Sie plötzlich viel mehr Analyse als mir lieb ist … ich ziehe die Reißleine, also Schluss damit! Nur noch ein kurzer Blick auf die Widmung des Werkes … wie bitte? A Mademoiselle … Caroline de Lobau… Nein!!!!!!!!!!