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Musik, Physik, Politik

Lockdowngedanken

Manchmal frage ich mich, warum gewisse Werke, die mich erschüttern oder begeistern, im öffentlichen Bewusstsein keinerlei Brisanz zu haben scheinen. Ich spreche von Musikwerken und ihrer Aufführung, – es ist halt nur Musik. Das gilt aber ganz ähnlich von gedanklichen Leistungen, sagen wir von den Konfessionen des Augustinus oder von Immanuel Kants kleinster Schrift „Zum ewigen Frieden“ oder von Thomas Nagels grundlegender Einführung „Was bedeutet das alles?“ Warum kann man diese bedeutenden und dabei relativ kurzen Werke nicht in öffentlichen Diskussionen als bekannt voraussetzen? Ach, das ist doch klar! sage ich , – aber nur, um hier keine Zeit zu verlieren. Der Artikel, über den ich schreiben will, ist lang genug, gehört aber zu denen, die mich mal wieder sagen lassen: „Dafür allein hat sich der Preis der ganzen Zeitung gelohnt!“ (5,70 € : DIE ZEIT 17. Dezember 2020 Dossier Seite 15-17). Dabei wäre die Essenz relativ schnell erzählt, aber gerade die Tatsache, dass ihr unwesentliches Drumherum so ausführlich dargestellt ist, macht den Artikel so wertvoll und – ja! – lebensnah. Niemand kann den Kampf gegen Corona ungestraft ignorieren. Man nimmt also zur Kenntnis, wenn es jemandem gelingt, eine wissenschaftliche Leistung in ihrem Bedeutungshorizont vor Augen zu führen, deutlicher als es der persönliche Auftritt der Wissenschaftlerin in der meistbeachteten Fernseh-Talkshow  zu tun vermöchte. Es geht uns alle an, ob wir es zulassen oder nicht, wir haben den Lockdown, schlimm genug. Eine Katastrophe dieses Ausmaßes, so heißt es,  gab es noch nie in der Menschheitsgeschichte. Ja, es ist ein Lehrstück, und ich lerne daraus auch, warum große Musik kein Tagesthema sein kann, – es sei denn, sie wird in einem künstlichen Hype, der ihr auf Dauer schadet, auf die Schaubühne geholt und mit magischen Wunderkräften aufgeladen („Mozarteffekt“). Da gibt es keine zwingende Notwendigkeit.

Aber es kann doch nicht wahr sein, dass es so schwer ist, bei führenden Politikern mit einer physikalischen Wahrheit durchzudringen!? Ich sehe es erst ein bei der Beobachtung, dass es auch nur durch Zufall gelang, mich dazu zu bringen, diesen Artikel von Anfang bis Ende, Wort für Wort durchzulesen, 3 oder (Bilder abgerechnet) 2 voll bedruckte ZEIT-Großformatseiten, und zwischendurch immer wieder staunend auf den Namen des Autors zu schauen (Malte Henk), nie vorher gelesen, und auf den der Hauptfigur und ihr Foto, nie gesehen — oder doch? bei Markus Lanz? und doch nicht wiedererkannt? Ich – als typischer Konsument auf der Nachrichten-Wildbahn, wo bleibt er als erstes hängen? Bei der Vorstellung eines Zebras! Das ist doch Kalkül, aber eben auch interessant!

ZITAT

(…) Sie könnte auf diesem Kennenlern-Spaziergang gleich über die Dinge reden, mit denen sie sich seit acht Monaten beschäftigt, Ansteckungsraten, Kontaktnachverfolgungsraten, Dunkelziffern.

Sie fragt: »Wie kommt es, dass Zebras schwarze und weiße Streifen haben?« Ähm. Weil das genetisch so festgelegt ist? »Das erklärt noch nicht, wie die Natur es schafft, diese regelmäßigen Muster zu bilden.«

Die Lösung des Streifen-Rätsels, die Priesemann aus dem Ärmel schüttelt, ist auf eine merkwürdige und für ihr Denken typische Weise beides auf einmal, verwickelt und simpel. Die Muster gibt es, weil es im Körper des Zebras zwei chemische Stoffe gibt. Der eine regt die Produktion schwarzer Farbpigmente an, der andere versucht sie zu unterdrücken. Wie diese beiden Gegenspieler pingpongmäßhg aufeinander reagieren, wie die Zunahme des einen eine Zunahme des anderen zur Folge hat, was wiederum den ersten zu einer Reaktion veranlasst – all das kann man mit Gleichungen berechnen. Es war kein Serengeti-Forscher, der das Streifen-Rätsel in den 1950er Jahren löste, kein Tierarzt im Gehege und auch kein Zoologe mit seinem Sezierbesteck. Es war ein Mathematiker an seinem Schreibtisch.

*    *    *

Es gibt einen Begriff, den Viola Priesemann gern benutzt. Er ist nicht neu, man hört ihn oft, wenn es um das Theme Klimawandel geht. Kipppunkt. Erwärmt sich die Erde, dann schmelzen zum Beispiel die Gletscher, und dadurch gerät vieles aus dem Gleichgewicht. Die Oberfläche der Erde reflektiert weniger Sonnenlicht, es wird noch wärmer, wodurch noch mehr Eis verschwindet, und so weiter. Priesemann hat das Konzept in die Covid-10-Forschung übertragen. In der Pandemie sind die Gletscher die Gesundheitsämter.

Beim Zoom-Treffen beschließen sie, über das Diagramm noch ein Symbolbild zu stellen. Damit es wirklich jeder verstehen kann. »Was nehmen wir?«, fragt Priesemann. Niemand hat eine Idee. Einer erklärt sich bereit, darüber nachzudenken.

Nach dem Mittagessen schalten sie sich wieder zusammen, wieder die Debatten, sehr lang und sehr basisdemokratisch, wieder die Kurven. Einer aus der Gruppe hat sie grafisch verbessert. Der Kipppunkt ist jetzt klarer erkennbar.

Priesemann: »Peng!«

»Was bedeutet das hier?«, fragt jemand. »Ah, die Testkapazität bricht zusammen.«

»In the end, it’s Fleißarbeit«, verkündet Priesemann und möchte wissen, was ein Symbolbild ist. »Ja, ähm…«, sagt ihr Mitarbeiter. »Man kann nur einmal im Monat ein Genie sein«, sagt sie tröstend. Gelächter. Sie einigen sich schnell auf eine simple Metapher für ein metastabiles System, eine Waage mit zwei Schalen. Die geraten auch leicht aus der Balance.

»Ich bekomme den berühmten Heinz Ehrhardt nicht aus dem Kopf«, sagt einer. »Ritter Fips.« Kunstpause. »Falls fallend du vom Dach verschwandest, so brems, bevor du unten landest.«

Legt man Priesemanns abstrakte Schaubilder in Gedanken über die deutsche Realität seit dem Ende des ersten Lockdowns, ist da ziemlich viel Übereinstimmung. Der virenarme Sommer, Monate mit trügerischer Sicherheit, Frieden im Sandkasten. Das Überschreiten des Kipppunktes im September, zunächst unbemerkt, dann der steile Anstieg im Oktober. Mit ihrer neuen Veröffentlichung will sie die große Frage dieses Winters beantworten, wie das System wieder ins Gleichgewicht zu bringen ist.

*    *    *

Was war das mit dem Frieden im Sandkasten? Das war eine andere zwischendurch erzählte Geschichte, sie passte zu einem bestimmten Diagramm:

Es hat die Überschrift »Metastabil«. So nennen Physiker ein System, das zwar stabil ist, aber leicht aus dem Gleichgewicht gerät. Zwei Kleinkinder, die miteinander im Sandkasten spielen, bilden so etwas wie ein metastabiles System. Eigentlich ist alles friedlich. Entdeckt das eine Kind im Sand eine Schaufel und möchte das andere Kind auch unbedingt diese Schaufel haben, wird das System schnell instabil.

Dieses Diagramm fasst eine Erkenntnis zusammen, die Priesemann und ihre hoch spezialisierten Zahlenmenschen schon im September veröffentlicht haben. In der Mitte ist eine Linie eingezogen. Das ist die Grenze, ab der Ärzte, Labore und Gesundheitsämter nicht mehr mit dem Virus mithalten, sie können ja nicht unendlich viel testen und Kontakte ermitteln. Unterhalb der Grenze sind die Pfeile waagerecht, die Fallzahlen sind scheinbar stabil. Übersteigen sie die Grenze, wird das System instabil. Die Pfeile drehen sich nach oben. Immer mehr Menschen, die nicht wissen, dass sie infektiös sind, gehen jetzt arbeiten, besuchen Freunde, steigen in die Bahn. Sie stecken immer mehr andere Menschen an. Die Entwicklung verstärkt sich selbst. Exponentielles Wachstum. Kontrollverlust. Am Ende sind die Kliniken voll. Aber der Weg dahin beginnt viel früher.

*    *    *

Der Text ist einfach gut gemacht. Was ich zitiert habe, ist natürlich nur ein Bruchteil, aber ich finde, es reicht, um die unglaublich lebendige Arbeit mit den toten statistischen Zahlen der Wissenschaft anzudeuten.

Nicht um Angst zu schüren. Sondern dazu anzuregen, die Arbeit der schöpferischen Menschen hochzuschätzen und auch in anderen Bereichen der Kunst und Wissenschaft zum Vorbild zu nehmen.

Und dann erst folgt die größte Arbeit, nämlich: diese Leistungen den Politikern, die am Hebel sitzen, und der weiten, breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Den Zuschauern, die vor dem Fernsehapparat sitzen und Talkshows verfolgen, um am Ende zu sagen: „der Lanz oder die Anne Will, das war ja wieder ganz unterhaltsam, nur diese eine Wissenschaftlerin da, die war mir doch etwas zu abstrakt. Wissenschaftler kommen einfach aus ihrem Elfenbeinturm nicht heraus, die sitzen in ihren Laboren und quälen weiße Mäuse, aber was da draußen los ist bei einem Lockdown, davon haben die keine Ahnung!“

Was tun, um Ignoranten die Ohren zu öffnen? Man kann sie ja nicht allesamt einsperren mit diesem ZEIT-Artikel und sich die ganze Geschichte Punkt für Punkt nacherzählen lassen.

Ich hätte es nicht abschreiben müssen, es ist keine Mühe, alles online nachzulesen, die Kosten sind minimal (hier). Was werde ich also tun, um meine Enkelin, die begeistert mit dem Physik-Studium begonnen hat, zusätzlich für ihr Studienfach – und den zugehörigen Journalismus zu begeistern? Ich fahre zum Bahnhof und kaufe für 5,70 €  DIE ZEIT und schicke dieses Dossier per Post zu der Kleinen (?) nach Hause, weil ich immer noch an die analoge Übermittlung selbst der digitalsten Stoffe glaube. Nicht am Telefon („ist nur der Opa!“), – auf Papier!

Wenn man aber nach der ZEIT-Lektüre noch etwas Zeit investieren will, findet man in manchen Talkshows noch genügend Denkstoff zur Relation von Wissenschaft, Politik und journalistischer Praxis. Oft erst beim zweiten, selektiven Zuhören. Genügend Anlass auch – sich aufzuregen. Hauptsache, es dient der Wahrheitsfindung.

Hier: LANZ ZDF 9.12.20 (etwa ab 19:10) und hier: ANNE WILL 30.11.2020 (etwa ab 11:50).

Screenshot LANZ 9.12.2020

ZITAT (Die Zeit)

Als der harte Lockdown kommt, denkt Viola Priesemann schon weiter.

Ihr schwebt ein mathematisches Modell vor, mit dem man untersuchen könnte, wie das Virus zwischen den Ländern Europas zirkuliert und mal hier, mal dort für Ausbrüche sorgt. Irgendwann in der Zukunft, wenn das alles vorbei ist, könnte sie sich auch ein ganz neues Forschungsthema vorstellen. Sie würde gern die Machtkonzentration in der Gesellschaft analysieren, mit den Mitteln der Mathematik. Ein Zebra-Rätsel für unsere Zeit: Schwarz die Macht, Weiß die Ohnmacht, wie vermischen sie sich, welche Muster bilden sie? Wie formen sie eine Gesellschaft und die Entscheidungen, die in ihr getroffen werden?

(Autor: Malte Henk, Mitarbeit: Miriam Lau)

Und die Musik? Gab es da noch einen Vorsatz, als die Überschrift dieses Artikels entstand?

(Ja!)

Der Lockdown reagiert auf die blinde Notwendigkeit, die wir analysieren müssen. Oder in der Analyse mithilfe kluger Journalistik nachlesen dürfen. Die Musik (ob scheinbar oder nicht) lebt vom freien Spiel der Kräfte, ihre Notwendigkeit ist Freiheit. Man erfährt sie zum Beispiel, wenn man eine Bach-Fuge penibel geübt hat, als verlaufe sie in zwingender Notwendigkeit: am Ende ist es ein Spiel der freien Kräfte. (Die Politik dagegen ist kein Spiel.)

Bach Fuga in Cis (WTKII)

JR Achtung, ganz nebenbei: Physiologisches nicht vergessen (Physik privatissime), z.B. Geige üben. Zu bedenken: Mechanik ist wichtig, nicht allein der Musikalität vertrauen! Z.B.gutes Ricochet (ein langer Weg). Fühle dich nicht erhaben über die Grundübungen: Hier (ein kurzer Weg). Corona ist eine kreative Zeit für fleißige Eremiten!

  Der geigende Eremit (Böcklin)

(Nur ein Scherz zum Abschluss: es weihnachtet halt, und dieser alte Herr übt bestimmt kein Ricochet! Es sei denn, das Engelchen kommt zu Hilfe. Vielleicht würde es mit ihm zunächst etwas an der Haltung arbeiten.)

Als der Krieg zuende ging

Was fühlte man vor 75 Jahren? 

 Ende November 1943

Sieht so eine glückliche Familie aus? Der Kleine in der Mitte ist gesund, wird aber Ende des Jahres erkranken und am 28. Januar an Menengitis sterben, die beiden älteren werden hungern. Die Mutter (30) wird an Tbc erkranken, immer wieder monatelang bettlägerig, verbündet sich mit ihrem Arzt, der Vater (42), zur Zeit noch hoch im Norden in Kirkenes stationiert, wird am Ende in russische Kriegsgefangenschaft geraten, entkommen können. Kehrt nach Haus zurück, psychisches Chaos. Der Bruder der Mutter, in Russland an der Front, besucht sie während seines letzten Urlaubs, um sein neues Patenkind zu sehen, kann es nur noch beerdigen helfen, zimmert das Kreuz fürs Grab, psychisches Chaos. Sie fahren zusammen mit den Kindern nach Bad Oeynhausen, verbringen den Heimaturlaub bei den Eltern auf der Lohe. Der Abschied ist für immer, ab März gibt es keine Post mehr von ihm, er ist gefallen.

Die Mutter schreibt alles auf. Sie hat immer alles aufgeschrieben. Sogar immer wieder die gleichen Zeiträume beschrieben, aus verschiedenen Perspektiven, der des älteren Kindes, der des verstorbenen Kindes, der des nun wieder jüngsten Kindes. Parallel. Am Ende ihres Lebens alles noch einmal oder noch zweimal. Mit unterschiedlichen Adressaten. Sie liest viel, unterstreicht alles, was sie verinnerlichen will. Viel Sinnsuche, im Alter viel Rudolf Steiner.

Da steht am Ende: „Bis hierher mußte mit Mehlkleister eingeklebt werden, weil Krieg war.“ Es gab also eine Normalität. Allerdings immer „unter dem Eindruck der Unruhe und rastlosen täglichen Arbeit, und die Freude kommt nicht so zu ihrem Recht,“ schreibt die Mutter.

Am zweiten Weihnachtstag geht sie mit den „Großen“ ins Greifswalder Theater: „Schneeweißchen und Rosenrot“. Danach spielen die beiden Jungs zu Hause nur noch Theater, der jüngere, der auf dem Foto so sorgenvoll dreinschaut, macht vorwiegend das Kasperle.

War der Krieg kein Thema? Doch, ein Beispiel: als der Kleine geboren wurde, in Bad Oeynhausen, am 18. Mai 1943:

Es war in der Nacht, als die Edertalsperre bombardiert wurde. Ich spazierte in dieser Nacht durch die Klinik. Der Arzt war zur Werre gefahren, um sich die Überschwemmung anzusehen. Die Hebamme, die ich selbst mitbringen mußte, war bei mir, und der Arzt berichtete uns bei seiner Rückkehr, wie furchtbar das Überschwemmungsgebiet aussehe, wieviel tote Tiere und auch Menschen angeschwemmt seien. So etwas vergißt man nicht.

(Anm.: es muss die Weser gemeint sein, deren Zufluss die Werre ist. Aber nur jene hat direkte Verbindung gehabt, über die Fulda und deren Zufluss Eder. Siehe auch Operation Chastise.)

Doch, der Krieg war ein Thema, aber klingt da nicht noch eine gewisse Begeisterung durch? ein Brief vom 22. Februar 1944 aus Oeynhausen  an ihren Mann in Kirkenes:

Es geht uns hier gut. Die Kinder sind vergnügt und ausgelassen, haben besten Appetit und gehen mit solcher Fröhlichkeit unter die kalte Waschung, daß es eine Lust ist. Gestern hatten sie und auch wir ein großes Erlebnis.

Ernst, die Kinder und ich machten uns mittags in schöner Sonne auf nach Wittelmeyers, mitten während eines tollen Alarms, auf den wir hier keine Rücksicht nehmen. Unterwegs waren wir Zeuge der Luftschlacht, die sich über uns abspielte. Die Jäger machten sich mit einer Verbitterung dahinter, daß man die Bomber z. T. einzeln in Unsicherheit ihre Straßen suchen sah. Dann wurden auch diese Einzelnen noch gestellt, und einen sahen wir brennend abstürzen, einen viermotorigen Bomber. Es war ein grausig schönes Bild. Ernst war begeistert, und Bernd zitterte vor Erregung. Heute morgen wollte er schon um 8° nach draußen, um seinen Spielkameraden von diesem Erlebnis zu berichten. –

Und aus einem Brief vom 24.II.1944, also 2 Tage später:

Aber trotzdem: wir werden wieder Mut fassen und wollen dankbar sein, für das, was uns geblieben ist. Und eins ist mir in diesen Wochen ganz klar geworden, daß das sicherste Unterpfand unseres Glücks unsere Liebe sein wird. –

Hier hat mich der Strom der Bomber unterbrochen. Ich bin auf’s Dach gestiegen, mittags 12° und habe 100te von Bombern in der glitzernden Sonne, von starkem Jagdschutz begleitet, über uns hinziehen sehen. Wohin mögen sie ihre schwere Ladung gebracht habe? Unsre Jäger sausen über uns herum, aber sie haben noch keinen geholt, heute, vielleicht auf dem Rückflug. Oft bin ich ganz benommen von solchen Eindrücken, und Bernd weinte eben laut. Er versteht allmählich, daß einiger Ernst im Leben ist. – Er wartet mit Ungeduld auf die Achselklappen.

(Umgekehrt, in den Kopf der Briefseite:) Heute morgen, ehe Ernst ging, meinte Bernd, sie müßten doch ganz schnell noch den Bi-Ba-Butzemann spielen „so wie bei Papi“, und sie taten es auch.

Seltsam, alle Kinderbilder von Flugzeugen und Luftkämpfen sind verloren gegangen. Es gab soetwas. Bausätze aus bunter, bedruckter Pappe, mit denen wir kleine Flugzeuge herstellen konnte. Sie hatten im Cockpit Fensteröffnungen. Wir konnten sogar schon Fliegen hineinstecken, die wir von ihren Flügeln befreit hatten (dann waren es nämlich „Käfer“). Kinder beim Ringelreihen überlebten.

Also war die Freude wohl doch noch zu ihrem Recht gekommen.

Wir blieben nicht in Oeynhausen, aber als wir wieder in Greifswald waren, kam der Krieg schnell näher. Meine Mutter wollte fliehen, nach Westen, mit uns 2 Kindern auf dem Fahrrad(!!), gerade jetzt bekamen wir Scharlach, und an Flucht war nicht mehr zu denken. Dass wir den friedlichen Einmarsch der Russen erlebten, kein wirkliches Bombardement, haben wir einer Heldentat zu verdanken. Niemand hat darüber gesprochen, ich hätte es ab 1956 wissen können, seit ich dieses Buch von Onkel Curt Rettmann geschickt bekam (ich habe es kaum gelesen). Die auf dem Titelblatt abgebildete Kirche, „die dicke Marie“, ist die, in der ich getauft worden war.

 

         

Quelle Karlheinz Ginnow: Greifswald Die Stadt am Bodden Carl Hinstorff Verlag Rostock

Unten: Das Licht der Welt aus meiner Sicht 1940 / die Oma aus Oeynhausen war da / 5 Jahre später hätte schon alles für immer zuende gewesen sein können (wie mit ihrem Sohn Ernst).

 geb. am 6. Dezember 1940

Verschwörung X

Kondensstreifen und anderer Zauber

Die folgenden Fotos habe ich im September 2019 in Südtirol gemacht, in diesem Jahr habe ich vergeblich Ausschau gehalten, – Corona hat den Flugbetrieb minimiert.

Ich hatte damals noch nicht davon gehört, dass sich auch Verschwörungstheoreriker dieses Phänomens annehmen, heute gab es mal wieder allerhand Aufklärung bei Lesch & Steffens, allerdings findet man im Fall der Kondensstreifen in einer anderen Quelle ein etwas anderes Ergebnis: HIER.

Ich will kein Misstrauen säen, aber etwas hat sich in den Sendungen der beiden Autoren verändert. Sie versuchen die Inhalte anders zu „verkaufen“, vermutlich im Bemühen um noch größere Volksnähe, sie inszenieren sich, bemühen sich in kurzen Dialogen als Selbstdarsteller. Unnötig. Schon glaubt man ihnen nicht mehr aufs Wort und schaut zur Kontrolle – ins Internet. (Nein, Quatsch!) Die Forscherin Giulia Silberberger (ab 17:30) blieb natürlich, Pluspunkt, dass sie beiläufig ihre private Erfahrung mit Zeugen Jehovas einbrachte. (Unter Verschwörern werden Neulinge mit Liebe überschüttet, Zweifler mit „hate bombing“. Ich denke zurück an unsere Begegnung am Völser Weiher hier . Die eigene Anfälligkeit für wirre Fakten, wenn die Übermittlerinnen „nett“ sind, aus Ostberlin kommen und Angst haben.

Gestern sah ich ein Buch ihres Vordenkers Sucharit Bhakdi als Nr.1 Sachbuch auf der SPIEGEL-Bestsellerliste). Ein anderes (von Harari) würde ich sofort kaufen; es ist nicht etwa schlecht, weil es auf dieser Liste steht. Ansonsten sehr aufschlussreich auch die Reaktionen der Zuschauer im Anhang des obigen Youtube-Videos. Viele „überlegene“, leicht gönnerhafte Konsumenten. (Extern hier)

*     *     *

Heute Lektüre beendet: Charles Taylor. „Multikulturalismus und die Kultur der Anerkennung“. Hervorragend! Problematik der Rechtslage von Minderheiten auch in vernünftigen Demokratien. Einleuchtendes Beispiel Kanada (Quebec). Man ist begierig die anschließenden, im Buch abgedruckten Kommentare zu lesen. Und am Ende Jürgen Habermas. Siehe hier „Mensch und Menge“. Und nochmals – eingedenk der Anregung – Süddeutsche Zeitung / Thomas Steinfeld vom 23. September.

Nachtrag 22.10.2020

Zitat aus dem abschließenden Essay des Taylor-Buches von Jürgen Habermas (S.149):

Juristen haben den Vorzug, normative Fragen im Hinblick auf Fälle zu diskutieren, die zur Beschlußfassung anstehen; sie denken anwendungsorientiert. Philosophen entziehen sich diesem dezisionistischen Druck; als Zeitgenossen klassischer Gedanken, die sich über mehr als zweitausend Jahre erstrecken, verstehen sie sich ungeniert als Teilnehmer am ewigen Gespräch. Um so mehr fasziniert es, wenn dann doch einmal einer wie Charles Taylor versucht, seine Zeit in Gedanken zu fassen und philosophische Einsichten für politisch drängende Fragen des Tages fruchtbar zu machen. Sein Essay ist ein ebenso seltenes wie brillantes Beispiel dieser Art, obwohl (oder besser: weil) er nicht die modischen Pfade einer „angewandten Ethik“ beschreitet.

Kapitelüberschrift: Immigration, Staatsbürgerschaft und nationale Identität.

 

Aus dem Kommentar von Michael Walter (Seite 93) stammt die zusammenfassende Beschreibung der zwei Liberalismus-Formen:

Meine Frage gilt den beiden Arten von Liberalismus, die Taylor beschrieben hat und die ich hier noch einmal kurz skizzieren möchte. Die erste Art von Liberalismus („Liberalismus 1“) setzt sich so nachdrücklich wie möglich für die Rechte des Einzelnen ein und, gleichsam als logische Folge hiervon, auch für einen streng neutralen Staat, also für einen Staat ohne eigene kulturelle oder religiöse Projekte, ja sogar ohne irgendwelche kollektiven Ziele, die über die Wahrung der persönlichen Freiheit und körperlichen Unversehrtheit, des Wohlergehens und der Sicherheit seiner Bürger hinausgingen. Die zweite Art von Liberalismus („Liberalismus 2“) läßt zu, daß sich ein Staat für den Fortbestand und das Gedeihen einer bestimmten Nation, Kultur oder Religion oder einer (begrenzten) Anzahl von Nationen, Kulturen und Religionen einsetzt – solange die Grundrechte jener Bürger geschützt sind, die sich in anderer Weise (oder gar nicht) engagiert oder gebunden fühlen.

Taylor gibt der zweiten Art von Liberalismus den Vorzug, auch wenn er diese Wahl in seinem Essay nicht ausführlich begründet. Man muß beachten, daß der Liberalismus 2 permissiv und nicht in jeder Beziehung festgelegt ist: Liberale der zweiten Art, so schreibt Taylor, „sind bereit, die Wichtigkeit bestimmter Formen der Gleichbehandlung abzuwägen [ohne dabei irgendwelche Grundrechte in Frage zu stellen] gegen die Wichtigkeit des Überlebens einer Kultur, und sie entscheiden dabei bisweilen [Hervorhebung von mir] zugunsten der letzteren“. Dies bedeutet offenbar, daß Liberale der zweiten Art sich manchmal auch für den Liberalismus der ersten Art entscheiden. Der Liberalismus 2 hält sich verschiedene Optionen offen, und eine von ihnen ist der Liberalismus 1.

Das scheint mir richtig zu sein. (…)

[Taylor] würde, so vermute ich, die Ausnahme machen, die die Bewohner von Quebec verlangen: er würde Quabec als „eine Gesellschaft mit besonderem Charakter“ anerkennen und zulassen, daß sich die Provinzregierung für den Liberalismus 2 entscheidet und dann (innerhalb bestimmter Grenzen: sie kann Plakatwerbung in französischer Sprache verlangen, aber sie kann englische Zeitungen nicht verbieten) im Sinne der Bewahrung der französischen Kultur aktiv wird. Aber genau das bedeutet ja eine Ausnahme machen; die kanadische Bundesregierung würde sich das Projekt von Quebec oder ein anderes ähnliches Projekt nicht zu eigen machen. Gegenüber allen ethnischen Gruppen und Religionen in Kanada bleibt sie neutral; sie verteidigt also einen Liberalismus der ersten Art.

Ich habe so ausführlich zitiert, weil ich eine andere Form des Sonderweges im Sinn habe, die mich anhand einer wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt: Prinzip „Breton Girl“ Folk mit impliziter Ideologie dessen, was schottisch ist, Cape Breton, Nova Scotia. (JR)

Aktuelles Oktober 2020

Notizblogzettel (Hier aufbewahren! Erinnern!)

LANZ 8.Oktober 2020 Sahra Wagenknecht / Middelhoff hier ab etwa 55′ Zur wirtschaftlichen Zukunft unserer Welt.

 ZDF Screenshot ZDF Screenshot

PRECHT & REZO

Gestern 10.10.20 nachts zwischen 23 und 24 h gehört. Würde ich auch noch mal ansehen (oder anderen empfehlen), man versteht die beiden akustisch ungleich gut. Interessante Prognosen („die Schallplatte bleibt“).

Immerhin, der im Urlaub etwas belächelte Bildband „Kunst in 30 Sekunden“ hat mich zum ersten Mal auf Artemisia Gentilleschi gebracht. (Danach kam erst der Artikel in der ZEIT). Und die Kurzbesprechung des Velasquez-Bildes „Las Meninas“ hat mich an den wunderbaren Essayband „Meisterwerke der Malerei“ herausgegeben von Reinhard Brandt erinnert, in dem genau jenes Bild von Seite 115 bis 140 tiefgehend behandelt ist (vgl. auch Wikipedia hier), und zugleich gibt es einen aktuellen oder vielmehr akuten Anlass, ein anderes Kapitel darin (über Roy Lichtenstein von Regina Prange) aufs neue zu studieren, weil es indirekt mich und andere Leuten täglich beim Einkaufen mit Kunst konfrontiert, ohne dass wir alle dieser Tatsache die fällige Beachtung schenken. Oder? Prüfen Sie sich selbst, und zwar ganz unten am Ende dieses Artikels!!! Nebenbei: Wie banal und wie brutal darf Kunst eigentlich sein? Im Alter scheint es schlimmer. Doch es ist alles eine Sache der Auslegung!

Die Bildquellen der Pop Art entstammen Zeitungen und Illustrierten mit ihren Cartoons, Werbeanzeigen und Schlagzeilen. Sie thematisieren den strahlenden Star und das Image der Jugend, die Welt des Stehimbisses und des Supermarkts, die unpersönliche Heraldik industrieller und patriotischer Insignien und nicht zuletzt der Modell-Wohnung des exemplarischen Konsumenten. Die Pop-Künstler konzentrierten sich also auf solche Motive, die das private Leben in standardisierten Formen, das Emotionale durch Konvention dirigiert, in der Warenform verdinglicht, zeigen. Die stereotype Artikulation des Gefühls oder des sinnlichen Genusses ist das Bindeglied der imitierten Trivialmythen. Lichtensteins Beitrag zur Massenkultur ist in dieser Hinsicht […] in seiner Kunst wie in seinen Selbstkommentaren, explizit. Anders als Warhol, der sich mit seinen Äußerungen in die Oberfläche der Popkultur einfühlte und sich selbst zur Kunstfigur schuf, behandelt er, der schon relativ bejahrt zur Pop Art kam, ein Magisterdiplom in der Tasche hatte und selbst lehrte, seine Arbeit fast wissenschaftlich. Die Gebrauchsgraphik und ihr schlechter Geschmack stehen ihm ein für die Gegenwart der industrialisierten Gesellschaft. Durch ihre schonungslose Bejahung in einer Art „brutaler“ und „antiseptischer“ Darstellung will er gegen die Kunst seit Cézanne opponieren, die „außerordentlich romantisch und unrealistisch geworden ist…“ Seine Sensibilität gegen das Antisensible stellt sich gegen eine „europäische Sensibilität“, welche sich „in dicken und dünnen Farbstrichen“ ausdrückt, also durch die Künstlerhand. Die Wahrheit des Cartoon liege darin, daß er „heftige Emotion und Leidenschaft in einer völlig mechanischen und distanzierten Weise ausdrückt.“ (folgende Quelle, Autorin Regina Prange Seite 249f)

Quelle Meisterwerke der Malerei / Von Rogier van der Weyden bis Andy Warhol / von Reinhard Brandt (Hg. und Einführung) / Reclam Leipzig 2001 (2013)

 Wikipedia hier

ZITAT (Hanno Rauterberg)

Artemisia war die Kunst, und die Kunst war sie – auch diese Botschaft spricht aus dem allegorischen Selbstporträt im grünen Seidenkleid, das sie vor leerer Leinwand zeigt. Es hatte natürlich auch praktische Gründe, das eigene Gesicht in die Gemälde hineinzumalen, damit ließen sich Kosten für teure Modelle sparen. Doch ebenso verlockend schien, das auf diese Weise die Bilder nicht nur für sich sprachen, sondern aus ihnen auch Artemisia zu sprechen schien und sich so der eigene Name gleich doppelt bewerben ließ. Erwarb ein Sammler eines ihrer Werke, konnte er glauben, so auch eines Teils der Künstlerin habhaft zu werden. Sie verkaufte, könnte man sagen, ihre Kunst und sich selbst.

Allerdings wäre das eine sehr verkürzte und sehr heutige Lesart. Denn nie gibt es bei Artemisia so etwas wie ein authentisches, ein wahres Selbst. Im 17. Jahrhundert war der Begriff des Projekts aufgekommen, die Vorstellung also, etwas entwerfen, in die Zukunft hineinplanen zu können. War man sich in den Jahrhunderten zuvor sicher, mit dem eigenen Leben nur Teil eines größeren, göttlichen Plans zu sein, war diese Idee einer göttlichen Ordnung im Barock nicht länger zu halten. In Artemisias Kunst ist das unübersehbar, sie brüskiert jedes innige Bedürfnis nach Demut. Sie verweltlich das Überweltliche und macht ihre Betrachter zu Komplizen einer Geschichte, die fast immer von einer körperlich einnehmenden, das Schicksal wendenden Tat handelt. Es sind Bilder, die von Veränderung erzählen, und sei es, dass diese Veränderung zum Tode führt.

Artemisia Gentilleschi  Wiki hier

Artikel in der ZEIT mit Rauterberg hier Britische Nationalgalerie hier

Unter dem zuletzt gegebenen Link kann man den folgenden Film finden & anschauen:

Ein Essay von Kai Köhler aus der Zeitung Junge Welt wurde mir freundlicherweise zugeschickt, enthält viele, soweit ich weiß, recht unbekannte Details zu Bartóks politischer Einstellung. Macht mich zugleich nachdrücklich aufmerksam auf die linke Tageszeitung, die mir ansonsten von Berthold Seligers lesenswerten Musikbeiträgen her bekannt war.

Bartók – Volkslied und Moderne – jw 2020 09 25

Enkel-Musik

Damit meine ich Pop-Musik, die in der Enkel-Generation im Schwang ist. Ich will wissen, was diese Jugendlichen daran fasziniert, und wenn ich mit ihnen rede, muss ich die Sachen gut kennen, um „sachgerechte“ Fragen zu stellen

Reine (extern hier ) von Dadju (über den Sänger siehe Wiki hier)

Oh oh ah, Seysey

Aujourd’hui je suis fatigué, je t’ai regardé dormir
Et si ma voix peut t’apaiser
Je chanterai pour toi toute la nuit
Je t’entends dire à tes pines-co
„Dadju, j’peux plus m’passer de lui“
Hey, tout va glisser sur ta peau
C’est comme si je te passais de l’huile
Et s’ils ne sont pas nous, c’est tant pis pour eux
Et s’ils sont jaloux, c’est tant pis pour eux
Fais-le moi savoir quand c’est douloureux
Je suis là s’il faut encaisser pour nous deux

Et je le sais, je te fais confiance
Quand tu me souris, tu fais pas semblant
J’ai pas besoin d’attendre plus longtemps
Je sais qu’il est temps d’partager mon sang
Et t’élever au rang de reine
Au rang de reine, au rang de reine
J’vais t’élever au rang de reine
Au rang de reine, au rang de reine
Oh oh ah

Je…

Oder zum Beispiel (jetzt gleich im externen Fenster) der Titel Django von Dadju

Oh, oh, ah (It’s E-Kelly)

Je veux que tu portes mon nom de famille
Mais ça prend du temps
J’ai même parlé de notre avenir à tes parents mais ils m’ont dit d’attendre
J’ai fait tout ce que ton père m’a dit mais
Il est jamais content
Et s’il décide d’être l’ennemi de notre amour il sera forcé d’entendre

Quand j’briserai les chaînes comme Django, Djan-Djan-Django
J’briserai les chaînes comme Django, Djan-Djan-Django
J’briserai les chaînes comme Django, Djan-Djan-Django
J’briserai les chaînes comme Django, Djan-Djan-Django

Il veut nous éloigner
Donc il sort toutes sortes de foutaises
Et quand j’lui demande quel genre d’homme il te faut il me dit „comme toi mais pas toi“
Laisse-moi le calmer, il faut que son cœur s’apaise
Laisse-moi lui montrer qu’il a tort de…

Des weiteren wurde genannt:  Vossi Bop von Stormzy

Was soll ich davon halten? (Songtext Vossi Bop siehe hier)

(folgt)

Jahrelang habe ich immer wieder gern den Scherz gemacht: „Dein Geburtstag fällt dieses Jahr aus“ oder wahlweise „Heute steht es in der Zeitung: Weihnachten ist offiziell abgesagt!“  Aber dieses Jahr ja wirklich, ich habe es in der Hand, Corona-Schutz für alle verbindlich! Ich las es zwischen den Zeilen in der Zeitschrift FOLKER:

 Danke im voraus für alle guten Wünsche! Aber ich bin das nicht, ich kann das nicht sein, mein Geburtstag fällt aus! Wie das Oktoberfest, wie Halloween, – nein, kein Geburtstag und schon gar nicht dieser.

Ich (79) verbleibe erinnerungstechnisch das relativ junge Tragetaschengesamtkunstwerk im Eingangsbereich des Moarhofs in Völs Südtirol September 2020

Ausgang & Eingang (Fotos E.Reichow)

Nach dem Waterloo der politischen Diskussion

Trump und 1 Ende der Geduld (eine Sternstunde)

hier kein Start, nur Scan-Foto !

ZDF-Sendung gestern: MARKUS LANZ [aus Südtirol, gesehen in Südtirol, Völs, Moarhof ]. Zu Gast: Journalist Elmar Theveßen, Politiker Jürgen Trittin, Autorin Julia Ebner und Zukunftsforscher Matthias Horx (in wiki auch Fehlprognosen), website hier

HIER (Sendung abrufbar bis 30. Oktober)

3:35 Wie reagiert denn Amerika auf das, was da gestern passiert ist? Man sagte: „brennende Müllkippen“, „die würdeloseste Präsidentschaftsdebatte, die ich je gesehen habe“ (E.Th.)

9:16 Jürgen Trittin über die Widersprüchlichkeit der USA

10:12 Wer sind die „Proud Boys“? J.Ebner: „rassistisch, frauenfeindlich, homophob“

19:57 Matthias Horx über den Zustand Amerikas: für uns sehr lehrreich, weil unsere Populisten ein Schatten dieser Bösartigkeit sind, diese negative Energie wird dort [offen] sichtbar.

22:23 Trittin über John Biden, „den Platzhalter, der keinen Schaden anrichtet“ Florida als entscheidender Staat 26:42 Verabschiedung Elmar Theveßen

26:58 „Proud Boys“ Was ist „QAnon“? Bewegung, jetzt auch in Deutschland 29:32 (J.Ebner) 39:57 Bodo Schiffmann mit 2 Ausschnitten (komplett umgedreht) „Quarantäne-Lager hat man früher als KZ bezeichnet“ 43:11 Darüber M. Horx 44:55 Ebner: soziale Medien, die verschwörungstheoretische Inhalte derart pushen, dass sie zu dieser Bedeutung kommen…

(Für mich besonders interessant nach der Begegnung am Völser Weiher hier „Bloße Meinungen“.)

45:24 Dazu Trittin / Wann beginnt dieser Niedergang des Amerikas, das wir in unserer Kindheit erlebt haben? Verschwinden der Mittelklasse. Beispiel Kanada ! Verhältnis zu Autoritäten. EUROPA. 59:30

59:30 Horx „in die Zukunft schauen“ Beispiel: Tourismus in Venedig. Erlebnisse in dieser Krise, „stresshafte Zeit VOR Corona“, Überbeschleunigungsphänomene.

1:07:44 J.Ebner: Verhalten mit Corona ändern… Makroeinflüsse / Horx: der allzu große Technologieglauben – was kommt letzten Endes: Solidarität. Re-greening. Rückschau vom Jahr 2050 aus… China (bis 2030) – den Planeten wirklich wieder ernsthaft begrünen? das ist das wahrscheinlichste Szenario, darauf läuft das hinaus? Horx: Ja!

Gruß aus Südtirol – Zwei Seiten eines Dings

20. September 2020 Blick morgens von Obervöls/Moarhof auf den Schlern

1. Oktober 2020 Blick mittags von der Seiser-Alm auf den Schlern

Fotos: JR & E.Reichow

Zu den Standorten der Fotos:

Mensch und Menge

Demokratisches aus der Zeitung

Im wirklichen Leben sieht man zum Beispiel einem kleinen Jungen zu, der immer wieder die von ihm aus Erdreich geformten Klößchen zählt, die Menge imponiert ihm. Eine Urlauberin nachahmend, zählt er laut: … 27, 28, 29, 91, 92, 93, 94 … eine eigenwillige Folge, am Ende hat er sie alle, wohl 136 an der Zahl, mit seiner Schubkarre in Sicherheit gebracht. Gleicht er nicht dem Prometheus, der Menschen aus Lehm formt? Wenig später wandern sie alle den Pfad des Lebens hinauf…

Bitte erraten Sie, zu welchem Thema die folgenden, wie ich meine, allgemeingültigen Sätze möglicherweise passen. (Aber schauen Sie nicht heimlich in die Quellenangabe!)

ZITAT

In Wirklichkeit nützt es in der außerordentlichen Notlage nichts, die Mehrheitsmeinung zu kennen – wie es denn über die Geltung von Normen weder etwas aussagt noch an sie rührt, wenn man sie zum Gegenstand einer demoskopischen Befragung macht. Die Moral der freiheitlichen Gesellschaft ist aus guten Gründen nicht festgelegt und bleibt im Einzelfall konflikthaft, sie ist in manchen Lagen eindeutig, in anderen nur hinter einer Pluralität von Diskursen zu erahnen. Dagegen eine authentische und deswegen verbindliche Posititon zu unterstellen, den wahren Willen der Gesellschaft, simuliert eine Außen- oder Beobachterposition, die es nicht gibt, höchstens auf dem unironischen Theater.

Quelle DIE ZEIT 17. September 2020 Seite 57 / Thomas E. Schmidt: Der Wahr-Sager Was macht den sagenhaften Erfolg des Schriftstellers Ferdinand von Schirach aus?

Es ist also der, bei dessen Bühnenstücken, die mit einer ungelösten Problemstellung enden, schließlich noch eine eine Publikumsbefragung erfolgt. Was ist von einem solchen Ergebnis zu erhalten? Falls ich eine feste Meinung gefasst und kundgetan habe, möchte ich gewiss nicht überstimmt und ins Unrecht gesetzt werden. Oder aber ich bin erleichtert, dass die Meinung, die mir zwangsläufig schien, auch weiterhin in Frage gestellt bleiben darf. Gut, mir war es interessant, etwas Detailliertes über die Technik des Schriftstellers zu erfahren. Dann aber auch wieder das Abrücken von seinem Verfahren:

Augenscheinlich möchte aber der Autor kein Guru werden, so wenig, wie er die exaltierte Inszenierung eines Michel Houellebecq nötig hat. Eine feine Distanz trennt ihn auch von seinen Lesern. Die zürnen über die Leitartikel, er sitzt im Café und feilt an einem Satz. Sie stopfen sich mit Nahrungsergänzungsmitteln voll, er raucht. Ein stolzer und kluger Herr ist das, ein Wiederkehrer aus Zeiten, als das Dichten noch geholfen hat und Kultur etwas galt. Das ist es, was heute den Respekt macht: kein Böhmermann sein, sondern ein Thielemann.

Bleibt das Talmihafte daran. (…)

Wie bitte? Was meint der Kritiker? Vielleicht das, was mir in Talkshows eher als eine etwas tüddelig-suchende Ernsthaftigkeit erschien? Ehrenwert, weil er nicht wie andere Diskutanten aufs verkünderhaft klar Übermittelbare setzte? Nein, wohl nicht. Es geht hier um das Geschriebene, das ich nicht kenne.

Seine Bücher schwächeln, weil sie so heillos unterliterarisch sind. Von Schirach erzählt vom Wahren, aber nicht vom Wahrscheinlichen, will sagen, da bleibt bei aller Detailtreue und Beobachtungslust ein bohrender Mangel an Psychologie, an Lebenskomplexität, die wiederum Fantasie und eine bestimmte Darstellungskraft benötigt, wenn sie zur Wirkung kommen soll.

Stattdessen: hohe Emotionalisierung und Zuspitzung auf die vom Leser freizulegende Botschaft. Literatur macht die Welt noch komplizierter, als sie ohnehin ist, sie spielt mit allerlei Ambivalenzen und zwingt dazu, die auch auszuhalten. Von Schirachs Bücher hingegen streben aus der Mehrdeutigkeit heraus, sie rufen zur Entscheidung auf und wollen auf den Punkt der Klarheit kommen – hinter dem die Wirrnisse der gesellschaftlichen Auseinandersetzung anfangen. Kein Bedürfnis ist zu erkennen, aus dieser hochkulturellen Simulation die Luft zu lassen.

Ich bin heilfroh dergleichen zu lesen und bin so frei, es auf die Kunst überhaupt zu beziehen. Ich brauche eigentlich die abschließenden Sätze nicht mehr, um aktiviert zu bleiben. Oder doch diese noch:

Ferdinand von Schirach ist jene intellektuelle Autorität, die sich ein übrig gebliebenes deutsches Bildungsbürgertum aufgerichtet hat, das an der medialen Wirklichkeitsdarstellung und am selbstzufriedenen  Kulturbetrieb müde wird. Jenseits dessen liegt das goldene Wort, das theatralische Nach- und Tiefdenken. Ob die Müdigkeit zu Recht besteht, gut oder schlecht ist, wird keine Abstimmung entscheiden. (…)

Der Zeitpunkt zu fragen: wer ist Thomas E. Schmidt? Ein Philosoph und Journalist (da das manchmal auch zusammengeht), siehe hier, seine Thesen zum Theater (1995 !) interessierten mich, daher noch dieser Link: Corona und Theater (Michael Isenberg 2020) hier.

*    *    *

Ein anderer Artikel hat sich in der Nachwirkung bei mir an den oben zitierten angeschlossen, und ich bin gespannt, ob sich am Ende ein sinnvoller Zusammenhang ergibt. Eine Folge hat sich bereits ergeben, der zitierte Aufsatz von Jürgen Habermas, von dem insinuiert wird, man brauche den Text nur „hervorzuholen“, ist bereits via Buchhandlung Jahn auf dem Weg zu mir nach Hause, eingeschlossen übrigens in ein Buch von Charles Taylor: „Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung „.

ZITAT

Moderne Verfassungen, heißt es in einem Aufsatz von Jürgen Habermas, verdankten sich „der vernunftrechtlichen Idee, dass sich Bürger aus eigenem Entschluss zu einer Gemeinschaft freier und gleicher Rechtsgenossen zusammenschließen.“ Doch so populär, wie diese Idee nach wie vor ist, so groß scheint gegenwärtig auch das Ungenügen zu sein, das sie seit geraumer Zeit auslöst. Dieses Ungenügen ist offenbar nicht darauf zurückzuführen, dass manche Bürger, wie in früheren Tagen, eine grundsätzlich andere gesellschaftliche Ordnung im Sinn hätten. Vielmehr wollen sie in anderer Weise an der bestehenden Ordnung teilhaben, als es bisher der Fall ist.

Den jeweiligen „Aktoren“ gehe es darum, eine prinzipiell verbürgte „Ebenbürtigkeit ihrer Kulturen“ einzuklagen, meint Habermas. Deshalb träten sie nicht als „individuelle Rechtspersonen“, sondern als Kollektive auf. Zu ihnen gehörten die Frauen, ethnische oder kulturelle Minderheiten, die Hinterbliebenen des Kolonialismus. Man könnte die immer vielfältiger werdenden Minderheiten der sexuellen Orientierung hinzufügen sowie zuletzt, zumindest dem eigenen Selbstverständnis nach, nicht wenige Ostdeutsche. Die Liste der potentiellen Kollektive ist unendlich, und so weit auseinander ihre Anliegen im Einzelnen liegen mögen, so sehr ist ihnen doch ein Motiv gemeinsam: die Überzeugung, dass jene angebliche „Gemeinschaft freier und gleicher Rechtsgenossen“ tatsächlich in Täter und Opfer auseinanderfällt. Zwischen ihnen soll kein Argument vermitteln können.

Jürgen Habermas gab seinem Aufsatz 2009 den Titel „Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat“. Es lohnt sich, den Text hervorzuholen, weil sich an ihm einige der zentralen Veränderungen festmachen lassen, die seitdem nicht nur die deutsche Gesellschaft bewegen. Denn was sind „Anerkennungskämpfe“? Auseinandersetzungen um formale Gleichheit, möchte man annehmen. Mit dem Erwerb von Anerkennung, also etwas stets Abstraktem, mag dabei die Hoffnung verbunden sein, auch mit der faktischen Benachteiligung oder gar der gewaltsamen Zurücksetzung möge es irgendwann ein Ende nehmen. Ob dieses Ende dann tatsächlich eintritt, ist allerdings nicht gewiss. Zu Recht weist Jürgen Habermas darauf hin, dass eine nur „teilweise durchgesetzte formale Gleichstellung“ die tatsächliche Benachteiligung um so deutlicher hervortreten lasse. Belege finden sich überall, etwa in der Geschichte der Frauenbewegung.

Gewiss hingegen ist, dass mit dem Verlangen nach Anerkennung die Instanz bestätigt wird, die „vernunftrechtliche Ideen“ in geltendes Recht überträgt, also der Staat.

Quelle Süddeutsche Zeitung 23. September 2020 Seite 9 / Thomas Steinfeld: Vom Ende der Dialoge / Die Protestbewegungen der Gegenwart wollen gleichzeitig Widerstand und herrschende Macht sein, Kläger und Richter. Dabei entstehen Widersprüche, die jede Debatte unmöglich machen

ZITAT aus dem Vorwort des Buches von Taylor, in dem sich der zitierte Essay von Habermas befindet:

Analog dazu hat man in bezug auf die Schwarzen behauptet, die weiße Gesellschaft habe ihnen über viele Generationen hinweg ein erniedrigendes Bild ihrer selbst zurückgespiegelt, ein Bild, das sich manche von ihnen zu eigen gemacht haben. Die Verachtung des eigenen Selbst sei schließlich zu einem der mächtigsten Werkzeuge ihrer Unterdrückung geworden. Die erste Aufgabe bestehe also darin, sich dieser aufgezwungenen, destruktiven Identität zu entledigen. In jüngster Zeit hat man diese These auf autochthone und kolonisierte Völker ausgeweitet. Die Europäer hätten seit 1492 ein Bild auf diese Völker projiziert, das sie als minderwertig und »unzivilisiert« erscheinen lasse, und als Eroberer hätten die Europäer den Unterworfenen dieses Bild oft genug aufgezwungen. In der Gestalt Calibans hat man eine Verkörperung dieses von Verachtung für die Ureinwohner der Neuen Welt erfüllten Porträts erkannt. So gesehen, zeugt Nicht-Anerkennung oder Verkennung des anderen nicht bloß von einem Mangel an gebührendem Respekt. Sie kann auch schmerzhafte Wunden hinterlassen, sie kann ihren Opfern einen lähmenden Selbsthaß aufbürden. An-erkennung ist nicht bloß ein Ausdruck von Höflichkeit, den wir den Menschen schuldig sind. Das Verlangen nach Anerkennung ist vielmehr ein menschliches Grundbedürfnis.

Überrascht es uns, dass bei solchen Abhandlungen Merksätze herauskommen, die heute jeder glaubt aus dem Stegreif formulieren zu können? Das will man nicht hören.

Gerade mit den Leuten, die sagen: „das wird man doch noch sagen dürfen!“, so heißt es, soll man den Dialog suchen. (Aber wenn sie einen schon vorher niederschreien? Soll man lieber etwas sagen oder ebenso schreien und die Leute dann darüber abstimmen lassen?)

Oben bei Thomas E. Schmidt war ja sogar von „einer Pluralität von Diskursen“ die Rede. Die „Leute“ aber wollen nichts von Dialog hören, erst recht nichts von einer Pluralität (außer der eigenen), und deshalb ist es wichtig zu wissen, was eigentlich passiert ist. Und davon handelt Steinfelds Artikel, wie der Titel schon sagt, allerdings nur „Vom Ende der Dialoge“.

Ein Faktum würde ich allerdings undiskutiert lassen: es gehört nicht zur beklagenswerten Einschränkung unserer Freiheit, dass bestimmte verbale Injurien unter Strafe stehen, von unflätigen Beleidigungen bis zur Volksverhetzung, von Diffamierung bis Holocaustleugnung. Damit wird ein Dialog von vornherein ausgeschlossen, genauso, wie man einen ernsthaften Kontaktversuch normalerweise nicht durch einen Messerstich ausdrückt. Allerdings erinnere ich mich, dass geistig zurückgebliebene Jugendliche versuchen, durch rüpelhaftes Benehmen auf sich aufmerksam zu machen. „Sie geben nur Zeichen“. Aber muss ich mich dann eilends zum geschickten Erzieher berufen fühlen? Vielleicht gibt’s dann nur was „auf die Schnauze“. (Nach dem schon sprichwörtlichen „Kuckstu“.) In jedem Fall interessieren mich sorgfältige Analysen des Sachverhalts:

ZITAT

Zumindest ein Teil der gesellschaftlichen Konflikte, die man vor gut zehn Jahren vielleicht unter der Rubrik „Anerkennungskämpfe“ hätte erfassen können, scheint mittlerweise einen anderen Charakter angenommen zu haben- Wenn Demonstranten, die Opfer einer von Staats wegen betriebenen Verschwörung gegen die eigene Bevölkerung zu sein wähnen, mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ die Stufen des Reichstagsgebäudes erklimmen, ist damit kein Verlangen nach Anerkennung verbunden. Sie bitten nicht um Berücksichtigung. Vielmehr geht es ihnen um eine Art Hegemonie. Die Demonstranten inszenieren sich selbst als Souverän, daher die Aggressivität, die Frakturschrift und die Flagge einer untergegangenen Nation, so absurd die Darbietung auch sein mag.

(…) [es folgt hier die Darstellung der geheuchelten Dialogbereitschaft von oben, die es eben auch gibt]

Die Kündigung der „vernunftrechtlichen Idee“ von der „Gemeinschaft freier und gleicher Rechtsgenossen“ mag sich, neben anderem, aus der Enttäuschung speisen, die aus dem notwendigen Scheitern der Dialoge hervorging. Anstatt nun aber im Dialog eine Technik zu erkennen, mit der es sich auf scheinbar milde Weise herrschen lässt, sehen sich die Opferkollektive um den Ertrag ihrer Anstrengungen betrogen. In der Folge stellen sie zwar Ansprüche an den Staat, wollen sich aber weder von der Exekutive noch von der Jurisdiktion etwas sagen lassen. Stattdessen wollen sie als Partei und Souverän zugleich auftreten, als Kläger und Richter, als Widerstand und herrschende Macht (…). (…) Man klagt das Recht ein, ist aber im Grunde stets bereit, sich darüber hinwegzusetzen.

Das beste Beispiel für einen solchen, ebenso offensichtlichen wie nicht zur Kenntnis genommenen inneren Widerspruch ist die nun schon seit Jahren zirkulierende Formel vom „Gesinnungskorridor“, in dem nach Ansicht nationalkonservativer Intellektueller geregelt wird, was in einer demokratischen Öffentlichkeit gesagt werden darf und was nicht. Sie erweckt den Anschein, bestimmte Ansichten unterlägen einer inoffiziellen Zensur. Der Selbstwiderspruch, dass die öffentliche Rede von Redeverboten ebenfalls eine Rede ist (mit dem Unterschied, dass man dabei nicht über Außersprachliches redet, sondern über das Reden selbst), kann dieser Vorstellung nichts anhaben: Denn längst hat die Suche nach Schuldigen das Suchen nach Gründen ersetzt (das ist nicht nur unter Opferkollektiven so, sondern fast überall), weshalb sich Fakten in Interessen und Diskussionen in Tribunale verwandeln. (…)

Gemeinsam ist den Opferkollektiven, dass aus ihnen ein verletztes Bewusstsein von Gerechtigkeit spricht. Dieses Bewusstsein ist mit dem Rechtsbewusstsein nicht zu verwechseln. Denn das Recht ist kodifiziert. Es soll einander widersprechende Interessen abgleichen. Aus der Perspektive des Opfers kann deswegen kein Recht gesprochen werden, weil sie nicht auf den Ausgleich, sondern auf die Durchsetzung zielt, in den vorhandenen Strukturen. Deswegen fallen die Urteile so hart aus. Deshalb will aber auch keine dieser Initiativen mit der gesellschaftlichen Ordnung brechen. Alles soll so sein, wie es war und ist, nur ganz anders und zum eigenen Vorteil.

So endet der Artikel von Thomas Steinfeld „Vom Ende der Dialoge“ in der Süddeutschen Zeitung; leider ist er dort nur hinter einer Bezahlschranke abzurufen, nämlich hier.

Für mich ging es so nicht ganz befriedigend aus, weil nicht weiter in Betracht gezogen wird, dass die Opferkollektive durchaus eine Veränderung der vorhandenen Strukturen erwarten, einen Aufstand oder einen sukzessiven Machtzuwachs aller irgendwie Unzufriedenen. Warum soll man damit rechnen, dass wirklich keine dieser Initiativen mit der gesellschaftlichen Ordnung brechen wird. Sie könnten sich sogar allesamt unter der Fahne eines Populisten versammeln, sofern nur dessen Formeln die internen Differenzen der partikularen Kollektive verdecken.

Wie erwähnt: zuhaus werde ich den Originaltext von Habermas vorfinden und ernsthaft zurate ziehen, der übrigens – wenn ich recht sehe – nicht aus dem Jahr 2009 stammt, sondern schon 1993 mitsamt dem Taylor-Buch bei S.Fischer veröffentlicht worden ist.

Fotos: E.Reichow

Nachbemerkung Solingen 5. Oktober 2020

In der Tat, das Taylor-Buch ist jetzt in meiner Hand, und ich habe größere Lust, es zu lesen, statt der Frage des Erscheinungsjahres mit oder ohne den Habermas-Essay zu recherchieren. Da stimmt jedenfalls etwas nicht: dass es 1983 erstmals auf deutsch erschienen sein soll, während die amerikanische Originalausgabe bei Princeton University Press 1992 veröffentlicht worden sein soll. Keines der zitierten Werke, die in den Anmerkungen zu Taylor oder Habermas aufgeführt sind, ist später als 1993 entstanden. In wissenschaftlichen Publikationen sehe ich folgende Quellenangabe:  C. Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Mit einem Beitrag von Jürgen Habermas. Hg.: Amy Gutman. Frankfurt a. M. 1997. (Wahrscheinlich handelt es sich um die gebundene Ausgabe vor dem 2009 veröffentlichten Suhrkamp Taschenbuch.)

Hier ist die Titelseite mit den entsprechenden Angaben:

Weiteres zu diesem Buch s.a. hier und hier

Kurz-Kritik

Klassik im Club

Abrufbar bis Oktober hier

Eigenwerbung Info hier

Unter der Rubrik „Klassik“: indiskutabel

Kategorie: Klub-Kitsch

Mein Prädikat: Für Kinder und Jugendliche nicht geeignet

Für die Zukunft: so ähnlich, aber GANZ anders. RAUM. Keine ins Breite projizierte Engstirnigkeit. Große Klassik, nicht herausgepickte, mit Zucker überzogene Partikel, dagegen auch indische und arabische Entwürfe, auch wirklich Zeitgenössisches!

Was bewirkt guter Journalismus?

Er beflügelt

Nie im Leben hätte mich „Vom Winde verweht“ interessiert. Jetzt nach den empörenden Bildern aus Amerika ist der Film (und das Buch) ins Gerede gekommen. Ad acta, denkt man. Aber darüber hinaus bedarf es eines intellektuellen Funkens, der eben aus den ernsthaft arbeitenden Medien kommt, mehr oder wenig durch Zufall: weil man sich plötzlich mehr Zeit nimmt als geplant. Hier und heute zum Beispiel:

   Hier

Ich weiß, dass man über die Verlinkung an eine Bezahlschranke kommt, soweit reicht meine Aktivierung nicht, aber ich habe den Artikel in Papier gelesen (gestern Abend bei REWE gekauft) und werde ihn eines fernen Tages auch digital wiederfinden. Warum er mich beflügelt? Ehrlich gesagt: es liegt am ersten Absatz und an den beiden schönen Menschen.

Nein, an den vielen Denkanstößen.

Ich überlege, wie ein nichtrassistischer Film aussehen müsste, wieviel schwarz, wieviel weiß, wie schwarzweiß dürfte er zeichnen, wie heftig mit dem neutralen Zaunpfahl winken. An welches Publikum müsste er sich richten? Wie ließe es sich motivieren, bei der Sache zu bleiben? Wie langweilig dürfte das Gleichgewicht aller mit allen wirken?

Was habe ich heute getan, ehe ich mich meinen privaten Vorhaben widme? (Beethoven, Kant, Hinrichsen, Gartenarbeit). In Wikipedia über „Vom Winde verweht“ (das Buch) nachgeschaut, was wird dort über Schwarz und Weiß gesagt? Ich muss einiges festhalten:

Anders als das Lesepublikum der 1950er und 1960er Jahre war der deutsche Literatur-Nobelpreis-Träger Heinrich Böll von dem Roman wenig angetan. Das Buch habe „jenen unbestimmbaren flutschigen Inhalt, der sich nicht genau definieren läßt, niemals genau zu definieren sein wird.“[7]

Die Darstellung der historischen Abläufe im Roman erfolgt aus der Perspektive der Protagonisten, also der der besiegten weißen Südstaatler. Alan T. Nolan kritisiert daher in The Myth of the Lost Cause and Civil War History, dass die Darstellung einem einseitig prosüdlichen Narrativ folge. Die Sklaverei und die Rolle des Ku Klux Klan nach dem Sezessionskrieg würden beschönigt, die Reconstruction und die nordstaatlichen Soldaten dagegen negativ dargestellt. Der Roman folge in diesem Sinne den typischen Topoi des Lost Cause und gebe nicht die historischen Tatsachen wieder.[8]

Sonja Zekri beurteilt den Roman als „modern in der Frauenfrage und archaisch im Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß“: Mit der repressiven Idealisierung der Südstaatenfrauen habe Mitchell nichts anfangen können, das zeige schon ihre Protagonistin. Scarlett O’Hara habe sie als eine lebenshungrige, unzerstörbare, mehrfach verheiratete, erfolgreiche Geschäftsfrau gezeichnet, habe ironisiert „die übliche männliche Enttäuschung darüber, dass eine Frau über ein Gehirn verfügt“ (so Mitchell). – Auf der anderen Seite sei es ein rassistisches Buch. Entgegen entschuldigender Rede sei die Sklaverei durchaus Thema gewesen. Ausgerechnet in einer Zeit, in der der Süden die Rassentrennung gesetzlich verankerte, habe Mitchell den Weißen alle Schuldgefühle genommen. In Form einer „Romancing Slavery“ strahle Sklaverei im warmen Licht einer idealen Gemeinschaft. Mammy, Pork und die anderen Sklaven wüssten die Geborgenheit und Fürsorge der weißen Besitzer zu schätzen und fürchteten nichts so sehr wie die Yankees. „Die Besseren unter ihnen verschmähten ihre Freiheit und litten genauso wie ihre weiße Herrschaft“, so Mitchell.[9]

Die französische Autorin Annie Ernaux bezieht sich in ihrem Lebenswerk Die Jahre wiederholt positiv auf den Roman, der wenige Jahre vor ihrer Geburt erschienen war und dessen Lektüre sie immer wieder beeindruckt hat.[10]

Das ist genug Wikipedia-Stoff, um mich beim Rekapitulieren dieses Blog-Artikels zu motivieren. Bölls Wort „flutschig“ ärgert mich ebenso wie seine resignierende Weigerung, genau das genauer zu definieren.

Und es stört mich, dass Annie Ernaux, die mich so beeindruckt hat (hier und hier), von diesem Kitsch-Roman so beeindruckt gewesen sein soll. Ihr Buch „Der Platz“ steckt heute noch zwischen den Papieren auf meinem Schreibtisch, weil ich mich nicht trennen konnte. „Eine lebensverändernde Lektüre“ (Didier Eribon) steht auf dem Umschlag, und ich frage mich, ob ich das eigentlich bestätigen kann. Da muss ich erst wieder ein bisschen rekapitulieren…

Und bei allem Lob des guten Journalismus, muss ich erwähnen, dass die Klassik-Kolumne zum Stichwort Venedig auf der Rückseite desselben Blattes der SZ mich so geärgert hat, dass ich sie auf keinen Fall genauer bezeichne.

Etwas ganz anderes: wenn Sie sich für investigativen Journalismus interessieren und erfahren wollen, weshalb man sich nicht nur ständig über Trump aufregen muss, sondern mindestens ebenso über gewisse Zustände und Vorkommnisse im eigenen Land (Stichworte: FLEISCH und AMTHOR), dann widmen Sie sich doch der Lanz-Sendung von gestern Abend. Die Zeit wäre sehr sinnvoll angelegt: HIER

Für die Dörfer, mit Beethoven, trotz Corona

Wandelkonzert in Keyenberg

Eine Schwarzdrossel singt betörend, aber wenig ist zu spüren vom Erwachen froher Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande, manchmal bleiben nur Fetzen von der Musik hinter dem Wind, der über die Mikrofone fährt, und doch gibt es eine unbeirrbare Kraft, die das Ganze (fast) synchron weitertreibt. Auf den gelben Schildern liest man die Namen der im Kohlentagebau untergegangenen Dörfer und derer, die noch auf der Liste stehen, maskierte Zuhörer wandern in kleinen Gruppen über Feldwege, beobachten ein Fagott wie ein seltenes Insekt, auf den Wiesen sitzen einzelne Streicher, deren Begleitfiguren für kurze Zeit wie Hauptmotive hervortreten, alles steht im Zeichen einer Vorläufigkeit, einer Brüchigkeit, die auch hinter Scheunentüren bei einem Symposion über die Zukunft der Kultur verhandelt werden könnte. Und niemand von den Repräsentanten städtischer Musikkultur, die sich hier zusammengefunden haben, fühlt sich erhaben und erhoben über die rurale Landschaft, den Duft des Dorfes, den sorglos blauen Himmel, es ist alles anders als das Idealbild, das Beethoven in seiner „Pastorale“ entworfen hat, man muss sie mühsam zusammenfügen, ein fragiles Räderwerk der Gedanken. Es wird mühsam vor dem Zerfall bewahrt, und sollten wir es eines Tages wieder im Konzertsaal erleben, wird man unweigerlich an diese Realisierung auf dem Lande zurückdenken, als sich seltsame Synapsen bildeten und manch einen das Hören neu entdecken ließ.

Zitat (Pressetext)

Am 1. Juni 2020 um 13 Uhr veranstaltet das Bündnis „Alle Dörfer bleiben“ im bedrohten Dorf Keyenberg eines der ersten großen Klassikkonzerte nach den Lockerungen der Corona-Maßnahmen. Mehr als 50 Musizierende spielen auf einem denkmalgeschützten Hof in einem Wandelkonzert aus Beethovens 5. und 6. Symphonie („Pastorale“). Die Musiker*innen stehen auf dem Gelände des Hofes verteilt und spielen die Werke synchron. Die Besucher können den Klangpfad entlang spazieren und so die Musik Beethovens ganz neu entdecken. Die Besucherzahl ist auf 100 Menschen begrenzt und alle Tickets sind vergeben. Erlebe das Livekonzert als virtueller Besucher. Wandle mit, gleite entlang der Musiker und erlebe den Klangteppich in Stereoton. Das beste Seh- und Hörerlebnis hast du vor einem Rechner mit Kopfhörern auf. Unter http://alle-doerfer-bleiben.de gibt es regelmäßige Berichte zu den Ereignissen in den bedrohten Dörfern. Livestream Produktion: http://fb.com/goove.de

Am Dienstag nach Pfingsten lese ich in meiner Tageszeitung von der Aktion der Orchestermitglieder, und zwar auf der Seite HIER UND HEUTE. Auf der Seite KULTUR dagegen von Igor Levits Klavier-Marathon. Müßig zu fragen, wo Beethoven sich selbst lieber gesehen hätte. Vielleicht auf der Seite POLITIK, wo über Sensationen aus Frankreich berichtet wurde, nicht neben den Kleingärten, aber hier und heute findet durch Corona eben eine neue Durchmischung aller Niveaus und Sphären statt. Und es darf hervorgehoben werden, dass die „revolutionäre“ Veranstaltung in Keyenberg nicht mit der „Pastorale“ begann, sondern mit der „Fünften“, deren hammerschlagendes Kopfthema, das jeder Depp beim Namen Beethoven anstimmt, sogar um einen halben Kopf verkürzt startete. Denn das Schicksal fackelt nicht lange.

    Solinger Tageblatt

Weshalb mir die Aktion in Keyenberg so gut gefällt: man erlebt viele einzelne Menschen, ja, die Aufsplittung einer Gesellschaft, die zeigt, dass diese sich nicht zerlegen lässt, nicht durch Corona und nicht durch RWE, sondern zu Gemeinschaftsaktionen fähig bleibt, hinter denen menschliche Individuen stehen. Nichts anderes hat Beethoven gewollt. Deshalb kann mich ein stellvertretend für alle inszenierter Einzel-Marathon nicht begeistern, auch nicht ein ehrgeiziger Tenor, der in hörbarer Selbstüberschätzung aus dem Weltendrama der Bachschen Johannes-Passion ein gedehntes Kammerstück schneidert, oder ein Streichquartett, das bereit ist, ein Jazzfestival mit Beethovens Heiligem Dankgesang zu garnieren, als gelte es, in all der aufgeblasenen Symphonic mal eben dem Untergang der Klassik ein gnädiges Ohr zu leihen.

3. Juni 2020

Mir ist bewusst, dass ich fortwährend assoziiere, was mit diesem Keyenberg-Event („Event“?) zusammenhängt, und zwar mehr die coronabedingte Seite reflektiere, als die primäre, den Einsatz des Musiker-Kollektivs für die Dörfer und gegen die Garzweiler-Brutalität. Denn dieses Empörungspotential ist bereits hochentwickelt (unsere Enkel haben sich von Anfang an – auch am Ort – mit den Baumbesetzern solidarisiert).

Ich will an dieser Stelle alles notieren, was mir in den Sinn kommt, ohne zu intendieren, Bruchstücke einer angemessenen (oder überflüssigen) Theorie zu sammeln. Nicht angemessen zum Beispiel: dass es eine ideale Voraussetzung wäre, die Pastorale auswendig zu kennen und überall im Gelände („Ende Gelände“!) ergänzen zu können, wie die in der Nähe gehörten Musiker*Innen mit den aus der Ferne vernommenen zusammengehören und hörend Wandlern ständig vervollständigt werden. Das wahre Kontinuum, Beethovens Sinfonie! Die große Musik, die nicht erst durch das neue Buch von Hinrichsen (zusammen mit anderen F-dur-Werken wie dem Streichquartett op. 132) eine Sonderstellung einnimmt, sondern (für mich) schon seit 1997, als ich zufällig das – ideenreiche, aber etwas unordentliche –  Buch von Schmenner las und die Pastorale (im Zuge ihrer repetitiven Momente) in einer WDR-Sendung kombinierte mit afrikanischen Improvisationen, die (zufällig?) auf demselben Grundton F basierten.

   

Und heute im Tageblatt der Beitrag über künstlichen Applaus, der sich auch in Moers auffällig in den Vordergrund spielte. Bei früheren Festivals mit Publikum aufgenommen und hier an den entsprechenden Stellen von der Technik eingespielt, aber nicht als Fake, sondern bewusst auch in der Moderation thematisiert, also mit einem melancholischen Beiklang versehen.

 03 Juni 2020 Seite 7

Marco Krefting, Jutta Toelle, Herbert Schwaab.

Ein entscheidender Punkt der Moderne, der plötzlich auf Corona bezogen wird, ist die durch das technische Medium erzeugte Illusion der Nähe, und damit könnte ja auch ernsthaft gespielt werden, visuell und auch akustisch: ich könnte als Beobachter beim Streichquartett sozusagen von Griffbrett zu Griffbrett springen, könnte größere Abschnitte oder ganze Sätze aus der Sicht der zweiten Geigerin erleben, unter Hervorhebung auch dieser Stimme, d.h. die Technik versucht nicht sich selbst zu verleugnen, sondern zu reflektieren, zu subjektivieren. So hat es vielleicht Jan Vogler nicht gemeint, aber genau diese Interview-Reihe der NMZ  sollte man sammeln und auf zukunftsfähige Ideen abklopfen.

↑ Oben zum Lesen, unten ↓ zum Hören anklicken:

https://www.nmz.de/media/video/corona-talk-mit-jan-vogler HIER

Nachtrag zu Keyenberg 

Frankfurter Rundschau nachzulesen hier !