Was bewirkt guter Journalismus?

Er beflügelt

Nie im Leben hätte mich „Vom Winde verweht“ interessiert. Jetzt nach den empörenden Bildern aus Amerika ist der Film (und das Buch) ins Gerede gekommen. Ad acta, denkt man. Aber darüber hinaus bedarf es eines intellektuellen Funkens, der eben aus den ernsthaft arbeitenden Medien kommt, mehr oder wenig durch Zufall: weil man sich plötzlich mehr Zeit nimmt als geplant. Hier und heute zum Beispiel:

   Hier

Ich weiß, dass man über die Verlinkung an eine Bezahlschranke kommt, soweit reicht meine Aktivierung nicht, aber ich habe den Artikel in Papier gelesen (gestern Abend bei REWE gekauft) und werde ihn eines fernen Tages auch digital wiederfinden. Warum er mich beflügelt? Ehrlich gesagt: es liegt am ersten Absatz und an den beiden schönen Menschen.

Nein, an den vielen Denkanstößen.

Ich überlege, wie ein nichtrassistischer Film aussehen müsste, wieviel schwarz, wieviel weiß, wie schwarzweiß dürfte er zeichnen, wie heftig mit dem neutralen Zaunpfahl winken. An welches Publikum müsste er sich richten? Wie ließe es sich motivieren, bei der Sache zu bleiben? Wie langweilig dürfte das Gleichgewicht aller mit allen wirken?

Was habe ich heute getan, ehe ich mich meinen privaten Vorhaben widme? (Beethoven, Kant, Hinrichsen, Gartenarbeit). In Wikipedia über „Vom Winde verweht“ (das Buch) nachgeschaut, was wird dort über Schwarz und Weiß gesagt? Ich muss einiges festhalten:

Anders als das Lesepublikum der 1950er und 1960er Jahre war der deutsche Literatur-Nobelpreis-Träger Heinrich Böll von dem Roman wenig angetan. Das Buch habe „jenen unbestimmbaren flutschigen Inhalt, der sich nicht genau definieren läßt, niemals genau zu definieren sein wird.“[7]

Die Darstellung der historischen Abläufe im Roman erfolgt aus der Perspektive der Protagonisten, also der der besiegten weißen Südstaatler. Alan T. Nolan kritisiert daher in The Myth of the Lost Cause and Civil War History, dass die Darstellung einem einseitig prosüdlichen Narrativ folge. Die Sklaverei und die Rolle des Ku Klux Klan nach dem Sezessionskrieg würden beschönigt, die Reconstruction und die nordstaatlichen Soldaten dagegen negativ dargestellt. Der Roman folge in diesem Sinne den typischen Topoi des Lost Cause und gebe nicht die historischen Tatsachen wieder.[8]

Sonja Zekri beurteilt den Roman als „modern in der Frauenfrage und archaisch im Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß“: Mit der repressiven Idealisierung der Südstaatenfrauen habe Mitchell nichts anfangen können, das zeige schon ihre Protagonistin. Scarlett O’Hara habe sie als eine lebenshungrige, unzerstörbare, mehrfach verheiratete, erfolgreiche Geschäftsfrau gezeichnet, habe ironisiert „die übliche männliche Enttäuschung darüber, dass eine Frau über ein Gehirn verfügt“ (so Mitchell). – Auf der anderen Seite sei es ein rassistisches Buch. Entgegen entschuldigender Rede sei die Sklaverei durchaus Thema gewesen. Ausgerechnet in einer Zeit, in der der Süden die Rassentrennung gesetzlich verankerte, habe Mitchell den Weißen alle Schuldgefühle genommen. In Form einer „Romancing Slavery“ strahle Sklaverei im warmen Licht einer idealen Gemeinschaft. Mammy, Pork und die anderen Sklaven wüssten die Geborgenheit und Fürsorge der weißen Besitzer zu schätzen und fürchteten nichts so sehr wie die Yankees. „Die Besseren unter ihnen verschmähten ihre Freiheit und litten genauso wie ihre weiße Herrschaft“, so Mitchell.[9]

Die französische Autorin Annie Ernaux bezieht sich in ihrem Lebenswerk Die Jahre wiederholt positiv auf den Roman, der wenige Jahre vor ihrer Geburt erschienen war und dessen Lektüre sie immer wieder beeindruckt hat.[10]

Das ist genug Wikipedia-Stoff, um mich beim Rekapitulieren dieses Blog-Artikels zu motivieren. Bölls Wort „flutschig“ ärgert mich ebenso wie seine resignierende Weigerung, genau das genauer zu definieren.

Und es stört mich, dass Annie Ernaux, die mich so beeindruckt hat (hier und hier), von diesem Kitsch-Roman so beeindruckt gewesen sein soll. Ihr Buch „Der Platz“ steckt heute noch zwischen den Papieren auf meinem Schreibtisch, weil ich mich nicht trennen konnte. „Eine lebensverändernde Lektüre“ (Didier Eribon) steht auf dem Umschlag, und ich frage mich, ob ich das eigentlich bestätigen kann. Da muss ich erst wieder ein bisschen rekapitulieren…

Und bei allem Lob des guten Journalismus, muss ich erwähnen, dass die Klassik-Kolumne zum Stichwort Venedig auf der Rückseite desselben Blattes der SZ mich so geärgert hat, dass ich sie auf keinen Fall genauer bezeichne.

Etwas ganz anderes: wenn Sie sich für investigativen Journalismus interessieren und erfahren wollen, weshalb man sich nicht nur ständig über Trump aufregen muss, sondern mindestens ebenso über gewisse Zustände und Vorkommnisse im eigenen Land (Stichworte: FLEISCH und AMTHOR), dann widmen Sie sich doch der Lanz-Sendung von gestern Abend. Die Zeit wäre sehr sinnvoll angelegt: HIER