Archiv für den Monat: April 2021

Wie ein Lebenshirsch zu Tode kommt

Und was das mit Peter Schleuning und Bach zu tun hat

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Man höre diesen Satz aus dem Brandenburgischen Konzert Nr. 1 hier . Das Bild habe ich aus freien Stücken hinzugefügt (Vom teutschen Jäger 1749). Heutzutage ist es schwer zu verstehen, weshalb die Identifikation mit dem Opfer, das dem Lamm oder dem leidenden Jesus zum Verwechseln nahekommt, nicht unmittelbar zu dessen imaginärer Verschonung führt. Oder genügt es, sich die Auflösung des Dilemmas zu denken?? Es gibt keine Bösen wie in der Passion. Stattdessen gehen WIR „mitleidlos“ weiter mit der Vorstellungswelt JAGD, und das heißt: Höfischer Festtag, Freude, Genuss, Triumph. Man kann nur folgern, dass in jener Welt der hier abgebildete Tod (der Jammer, der Schmerz des ANDEREN) zur Vollkommenheit der „Party“ gehört. Zur Machtvollkommenheit des Fürsten. (Ein Zyniker sagte: „Es genügt nicht reich zu sein, – die andern müssen auch arm sein!“) August der Starke schoss vom Fenster aus einen Dachdecker vom Dach, um seiner Geliebten ein lustiges Spektakel zu bieten.

Peter Schleuning hat als Musiker vielleicht erstmals den Gehalt dieses Bachschen Satzes innerhalb der großen Jagdmusik problematisiert bzw. historisch „eingebettet“. Ich versuche, das auf meine Weise nachzuvollziehen.

Quelle Peter Schleuning: Johann Sebastian Bach Die Brandenburgischen Konzerte / Bärenreiter Kassel Basel etc. 2003 (Seite 44f)

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Zur Psychologie des Jagens (Eine Frau über den Moment des Todesschusses)

Plötzlich sehe ich eine erneute Bewegung. Ein Hirsch zieht diesmal auf selber Höhe, allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Ein Blick durch mein Glas, und mir ist sofort klar: Er ist es! Um nicht auch diese Gelegenheit ungenutzt an mir vorbeiziehen zu lassen, nehme ich diesmal meine Waffe auf und erkenne durchs Zielfernrohr, dass die Körpermasse eindeutig nach vorne verlagert ist und somit alle Kriterien auf einen wirklich reifen Hirsch schließen lassen. Als der Hirsch kurz verhofft, lasse ich die .30-06-Evolution fliegen und bin erstaunt, wie ruhig dieser Vorgang verläuft. Weniger beruhigend ist, dass der Hirsch nicht zeichnet und im leichten Troll davonzieht. Erlöst bin ich dann doch, als ich den Hirsch nach einer kurzen Flucht von etwa 50 Metern zusammenbrechen sehe.

https://www.jaegermagazin.de/wildarten/rotwild/der-lebenshirsch-im-eigenen-revier/

hier

Hirschwasserjagd 1748

Es begann mit dem Öffnen des Wildgeheges. Etwa 800 Hirsche, Rehe und Wildschweine rannten nun ahnungslos unter den Bögen hindurch und stürzten eine steile Böschung hinab in den durch eine Hecke verdeckten See.

Das Gewild kame durch die bey obbemeldten Castellen besonders zubereitete Schwibbögen und verschiedene wohlausgezierte Öffnungen haufenweise heraus, und wurde daselbst von einer Höhe zu 14 Schuh in das Wasser herab gesprengt, und alsbald unter währendem Schwimmen, aus dem Schirm heraus von anwesenden Hohen Herrschaften und anderen Hohen Personen geschossen.

Die Hohe Jagd-Gesellschaft fande hiebey das gewünschteste Vergnügen.Sie ergötzen Sich bald an den artigen Erfindungen und Einrichtungen dieses Jagens: bald über das herunterburzeln des Gewilds von dem darzu gemachten Absprung: bald über das ängstlich – und doch vergebliche Fliehen desselben. Die Zuschauer aber, deren von nahen und fernen Orten viele tausend gezehlet werden konnten, bemerkten solche Seltenheiten, die sie in beständiger Verwunderung unterhielten.“

Bis zum Abend erlegte die Festgesellschaft etwa 400 Tiere. Das überlebende Wild wurde wieder in die Freiheit entlassen. Den krönenden Abschluss bildete ein großartiges Festbankett im Schloß zu Ludwigsburg.

Uns ist heute gänzlich unverständlich, daß das massenhafte Abschlachten von Tieren als Vergnügen empfunden wurde. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die Menschen des Barockzeitalters ein anderes Verhältnis zur Jagd hatten. Die Jagd war kein Sport im heutigen Sinn, sondern eine wichtige Lustbarkeit des Hofes. Absolute Herrschaft wurde öffentlich demonstriert. Vorgeführt werden sollte das Beherrschen der Natur, die Entscheidungsgewalt über Leben und Tod, der Wildreichtum des Landes und das alleinige Besitzrecht an den wilden Tieren.

Quelle Herma Klar: Das große fürstliche Hirschwasserjagen im Leonberger Forst 1748 /  Höfische Jagd und bäuerliche Not https://zeitreise-bb.de/jagd-4/ hier

Macht und Triumph

Quelle Elias Canetti: Masse und Macht / Fischer Verlag Frankfurt am Main 1980,1982

Warum den Stier töten: aus Stolz?

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Suzuki: ZEN und der Moment des Satori, – Spiritualisierung des Stiertötens?

Quelle Daisetz Teitaro Suzuki: Zen und die Kultur Japans / Rowohlt Hamburg 1958

(Fortsetzung folgt)

Ich versuche, diese Notizen und Kopien vorzulegen, ehe Reinhard Goebel den zweiten Teil seines Online-Kollegs zu den Brandenburgischen Konzerten über die Bühne bringt. (7.4.21 ab 18.00 Uhr), um danach eventuell zu ergänzen, was in meinen – eher soziopsychologischen – Zusammenhang passt. Soweit ich mich erinnere, kam zum Adagio in diesem Sinn eine Bemerkung über „Hofkritik“ an der Jagd, „inhuman“, „unchristlich“. Mehr über Violino piccolo. (JR Idee: Kannte Bach Vivaldis „Jahreszeiten“, ist darin nicht auch die Solo-Violine das Abbild des fliehenden Wildes? die schöne, jedenfalls pittoreske Hatz in den Tod…)

⇐ letzte Zeilen!

Languida di fuggir mà oppressa muore

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Die schlimmsten Beispiele dafür, dass „Jagen“ (Abschießen) den Menschen (Männern?)  Spaß macht, zitiere ich nicht. Sie stehen in dem Buch SOLDATEN von Sönke Neitzel und Harald Welzer (S. Fischer Frankfurt am Main 2011).

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Reinhard Goebel live

Eine spannende Dreistundenstrecke – vorausgesetzt, man kannte die Werke schon recht gut.

Die Notenbeispiele waren nur Sekunden sichtbar, ich saß als Jäger am Anschlag per Screenshot, um sie zur Strecke zu bringen. Die Biber-Fundstücke fand ich sensationell. Im ersten Beispiel (bei dem es Goebel um das Verhältnis Konsonanz und Dissonanz ging) hätte ich noch einen anderen Hinweis hilfreich gefunden: diese Sekundwechsel bedeuten „Hundebellen“. Ich erinnere mich nicht, was mit dem letzten Beispiel (aus BK 1 Adagio) demonstriert wurde. Der Bassgang?

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Oben: ©Goebel-Beispiele / plus JR Blick in die Partitur zum Vergleich

Nachtrag (9.4.21)

Die zweite Goebel-Online-Session vom 7.4.21 ist auf Youtube abrufbar: (das zuletzt gegebene Goebel-Beispiel + Erläuterung siehe im folgenden bei 49:48, jetzt alles o.k.!) RG plädiert dafür, den Satz als „Hofkritik“ (1721) zu verstehen. Schon damals war das Meinungsspektrum über die Jagd gespalten. Unmöglich auch, diesen (in der Intonation) unerhört schwierigen Satz als Einleitung zu einer Kantate wie „Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd“ (1713) auch nur zu denken.

Laufen und Springen (Ostern)

Wie schnell ist Freude?

Man braucht keine Begründung für Bewegungsfreude. Man realisiert sie. Und die Geschwindigkeit ist kein Nebenprodukt. Wir können sie vom Körper an die Finger delegieren. Selbst wenn wir absolut still sitzen und den schnell ablaufenden Notentext synchron mitlesen, sind wir ganz und gar in Bewegung. Es ist ein Freude, auch und gerade in einer Fuge. Mögen andere auf den Begriff „Flucht“ rekurrieren (fuga), es ist klar, dass man ebenso aus eigenen Stücken auf ein Ziel zujagen kann, wie von einem Verfolger zu höchster Eile angetrieben werden. Angst oder Vorfreude, müßig darüber abstrakt zu reflektieren: lieber ohne Angst! Tempo ist besonders schön, wenn es mühelos funktioniert, ohne überschüssige Anspannung. Bei Bachs extrem ausgedehnter Fuge in a-moll BWV 865 bringt uns der Forscher Hermann Keller in Begründungsnot: was hat ein solches Stück im Wohltemperierten Klavier zu suchen, ein leicht ungehobeltes Jugendwerk. Die beiden Fermaten auf der letzten Seite zeigen uns ja auch, was für Mühe es kostet, die einmal losgelassenen Geister wieder einzufangen. Anders hier, in G-dur, BWV 860: „Eine echte und rechte Spielfuge,“ sagt Keller, „deren Elan von ihrem reichen, vielgestaltigen Thema ausgeht, das sich wie ein Kreisel von selbst dreht (…)“.  Und wie recht Bach hatte, das im Temperament dazu passende Praeludium zu erweitern, so dass es nicht einfach läppisch-virtuos vorübersaust, sondern sich auf den Fugenbeginn zuspitzt.

Edwin Fischer 1933 hier  Friedrich Gulda 1972 hier

Oben: Kimiko Ishizaka, unten: Paul Barton

 

Notenbild oben: zuerst der endgültige B-Teil des Praeludiums; auf der nächsten Seite die zwei Zeilen bzw. die 3 Takte, die ursprünglich anstelle der Takte 14 bis Ende gestanden haben (zitiert nach Hermann Keller s.u.). Hier Praeludium und Fuge im Zusammenhang:

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Mir gefällt, was Hermann Keller zu dieser Fuge schreibt (weil man sonst irrigerweise oft glaubt, Fugen seien schwere Denkaufgaben).

Eine echte und rechte Spielfuge, deren Elan von ihrem überaus reichen, vielgestaltigen Thema ausgeht, das sich wie ein Kreisel um sich selbst dreht, dann mit zwei übermütigen Sprüngen erst die Septime, dann die None der Dominante erreicht, und wieder abrollt; eine Fuge, die aus dem Geist des Instruments erfunden wurde. Zwar verläuft die Exposition regelmäßig, auch noch die zweite Durchführung, in der das Thema samt dem Kontrapunkt auf den Kopf gestellt wird (Alt T.20, Sopran T.24, Baß T.28), von da ab aber wird die Form immer lockerer gehandhabt. [etc.]

Ein einzelstehender Baßeinsatz in der Umkehrung (T.69), leiten eine Stretta ein (T.79), aus welcher der Sopran (der eine Terz zu hoch einsetzt!) als Sieger hervorgeht. Er führt die Fuge zu ihrem triumphalen Schluß, in dem sie der ersten Fuge des W.Kl. so ähnlich ist. Sie ist Musik, lebensprühende Musik, die sich ihre Gesetze selbst gibt.

Quelle Hermann Keller: Das Wohltemperierte Klavier von J.S.Bach / Bärenreiter Kassel etc. (Seite 89)

Mit Recht betont Keller auch den Humor, der gerade dort zutage tritt, wo er das Wort Stretta gebraucht: der „einzelstehende Basseinsatz in der Umkehrung“  bezeichnet ja den Beginn der letzten Durchführung, die ihre Fortsetzung findet im Alteinsatz (T.78), der sein Thema vorzeitig beendet, weil ihm die thematisch agierenden Terzparallelen (T.80/81) das Wort abschneiden, von Sextparallelen und einem ultimativen verminderten Septimakkord überboten werden. Eine Coda wird fällig und treibt mit überströmenden Zweiunddreißigstel-Ketten in den Schlussakkord.

Da beschreibt selbst Czaczkes, der sonst immer nur recht hat, eine beinah auch für ihn humoristische Pointe:

Da plötzlich fällt (T.79) der Sopran mit dem Thema in gerader Bewegung ein, den Alt in die entgegengesetzte Richtung mit sich mitreißend, während der Baß vor Schreck sich verläuft. Alt und Sopran bilden hier den engsten Typ einer Engführung, das heißt sie liegen völlig übereinander und bringen das Thema in parallelen Terzen und Sexten. Während der Alt anfangs das Thema in der Normallage von G-dur, der Sopran in der Terzlage, jubiliert, übernimmt von der zweiten Hälfte des Taktes 80 an der Sopran die Normallage der Dominanttonart, den Alt, nach anfänglichem Sträuben, in den Untersexten mit sich führend.

Quelle Ludwig Czaczkes: Analyse der Wohltemperierten Klaviers / Form und Aufbau der Fuge bei Bach Band I / Österreichischer Bundesverlag Wien 1982 (Seite 166)

Nachtrag (8.4.21) Bei Wikipedia gibt es manchmal die Rubrik „Trivia“, und dort hinein gehört wohl die folgende Bemerkung zur Frage, warum es mir solchen Spaß macht, diese Fuge zu üben und zu spielen: da ist vor allem die Zwischenspiel-Sequenz:

Ab Takt 31: Es ist der Anapäst im Bass, der die Betonung auf die 1 verlagert und energetisch geladen innehält. Ein Tanzmoment, wunderbar! Zugleich ab Takt 34 das Aufeinanderzu- und Voneinanderweglaufen der beiden Stimmen (Hände). – Dann in Takt 47 das auffällige erstmalige Auftauchen der Zweiunddreißigstel im Bass, und wieder das Gegeneinanderlaufen der Stimmen, – zu beachten die Zweiunddreißigstel-Parallelen in T.55 (Herkunft aus der Kreisformel des Themas!), in Takt 59, in Takt 64, 75, 80, 83 und gesteigert in der ganzen Koda. Was das Motiv aussagt? Übermut, Freude.

Wenn nun jemand sagte: Müssen die beiden Sätze deshalb auch so schnell gespielt werden, wie oben erlebt? Durchaus nicht, der freudige Charakter hängt nicht am sportlichen Tempo; zum analytischen Hören taugt es aber sehr wohl.

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Soweit war ich zu Ostern und hatte noch genug Zeit, den passenden Konnex Praeludium-Fuge ausgiebig zu üben, – G-dur, das wievielte Mal in meinem Leben? Ich mache mir den Spaß, die früheren Daten zu resümieren: 4.2. bis 2.3.1989, Anfang 92, Juni 94, Nov. 2016, Mai 2017 und eben jetzt, April 2021. Was war los zwischen 1994 bis 2016??? Andere Tonarten, und notiert ist nur wirkliches Üben (nicht zögerliches Durchspielen). Diese zweibändige Gesamtausgabe von Kroll besitze ich seit 1960, als ich sie an der Garderobe der Musikhochschule Fasanenstraße vorfand, antiquarisch und gratis: ein anonymes, großzügiges Geschenk. Inzwischen zerfallen die vergilbten Blätter. Ich werde mir eine neue Ausgabe zulegen und in einer willkürlichen Reihenfolge von vorne beginnen. Es wird alles immer schneller gehen, je älter ich werde. Paradox! Zur Aufnahmeprüfung hatte ich – soweit ich weiß – die Invention in a-moll gespielt, später für eine Zwischenprüfung auch schon BWV 851 d-moll intensiv gearbeitet. Aber ich kannte schon viele aus meines Vaters Czerny-Ausgabe.

Übrigens auch das Wort „Osterlachen“ kam mir, randvoll übersättigt von dem Wort „Corona“, jetzt wieder in den Sinn. Die Krönung des Frühlingsbeginns. Auch das typische Aprilwetter tendiert zum Lächerlichen.

Auch aus Alfred Dürrs schöner Monographie seien zwei Bemerkungen nachgetragen:

War das Thema bekannt oder vorgegeben? Gehört es zur Heiterkeit des Satzes, daß „Gelehrsamkeit“ hier nicht ernst genommen wird? Oder wollte Bach im Gegenteil gerade zeigen, daß er auch widerspenstige Themen zu „zähmen“ verstand? (….)

[Am Ende, nach Aufzählung einiger Auffälligkeiten dieser Fuge:] Ähnlich wie bei der Betrachtung des Themas und seiner Veränderungen ist man auch hier versucht zu fragen, ob alle diese Feststellungen letztlich ein Ergebnis der Leichtigkeit sind, mit der Bach hier das Problem Fuge behandelt, oder ob sie etewa auf eine Vorgeschichte der Komposition deuten, die sich heute nicht mehr durchschauen läßt: Ist die Freizügigkeit in der Behandlung kompositorischer Probleme ein Zeichen jugendlichen Herantastens oder souveränen Über-dem Dingen-Stehens?

Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach / Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel – Basel – London – New York – Prag 1998 / ISBN 3-7618 1229-9 (Seite 181ff)

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Nebenbei arbeite ich noch im Blick auf Reinhard Goebels Fortsetzung „Part II – 300 Years of J.S. Bach’s Brandenburg Concertos“ – „Kirill Gerstein invites“ hosted by Kronberg Academy“ will begin in 1 day on: Date Time: Apr 7, 2021 06:00 PM Amsterdam, Berlin, Rome, Stockholm, Vienna
Ein unglaubliches Stück, für das ich mir ein Plus an Gewissheit erhoffe:; das Adagio des Brandenburgischen Konzertes Nr.1, ein herzzerreißender Klagegesang. Ich werde alles zusammenstellen, von dem ich glaube, dass es etwas zum Thema sagt, Überschrift: der sterbende Hirsch. Es handelt sich ja insgesamt um eine Jagd-Musik. Und Sie mögen es  für einen verspäteten April-Scherz halten: ich weiß, dass der sterbende Hirsch (nach Peter Schleuning) zur Metaphorik des sterbenden Christus gehört („Wie der Hirsch schreit nach dem Wasser“ Psalm 42), habe deswegen allerdings heute nicht in der Bibel nachgeschaut – vielleicht heißt es auch: „nach frischem Wasser“ – , sondern in Hemingways „Tod am Nachmittag“ gelesen. Denn Bach schrieb sein Werk nicht für die Kirche, sondern für weltliche Machthaber. Solche, die die Jagd lieben, – und das Töten der Tiere. Leider. Um so schneidender die Aussage dieses Stücks … heute.

Karfreitagsschmerz?

Der Rosenkavalier

Dank Mediathek ARTE abrufbar bis 23. April 2021

Pressetext

Barrie Kosky inszeniert „Der Rosenkavalier“ an der Bayerischen Staatsoper. Der flamboyante Regisseur schreckt vor Denkmälern bekanntlich nicht zurück. Eine Neuproduktion unter der musikalischen Leitung des designierten Generalmusikdirektors Vladimir Jurowski. Star-Sopranistin Marlis Petersen debütiert als Marschallin.

https://www.arte.tv/de/videos/102651-000-A/richard-strauss-der-rosenkavalier/

HIER  ⇐  ⇐  ⇐  ⇐  ⇐  ⇐  ⇐ abzurufen!

Gespräch der Mitwirkenden über diesen Rosenkavalier HIER ab 19:14 über Melancholie und das „Ja,ja“ der Marschallin. „Oktavian ist nicht ihr letzter Lover!“ (B.Kosky)

 

  • Marlis Petersen (Die Marschallin)
  • Christof Fischesser (Baron Ochs auf Lerchenau)
  • Samantha Hankey (Octavian)
  • Johannes Martin Kränzle (Monsieur de Faninal)
  • Katharina Konradi (Sophie de Faninal)
  • Daniela Köhle (Marianne Leitmetzerin)
  • Wolfgang Ablinger-Sperrhacke (Valzacchi)
  • Ursula Hesse von den Steinen (Annina)
  • Komponist: Richard Strauss
  • Inszenierung: Barrie Kosky
  • Fernsehregie: Henning Kasten
  • Dirigent: Vladimir Jurowski
  • Orchester: Bayerisches Staatsorchester
  • Chor: Chor der Bayerischen Staatsoper
  • Libretto: Hugo von Hofmannsthal
  • Bühnenbild / Ausstattung / Bauten: Rufus Didwiszus
  • Kostüme: Victoria Behr
  • Licht: Alessandro Carletti
  • Dramaturgie: Nikolaus Stenitzer
  • Land: Deutschland
Widmung des „Rosenkavaliers“

Meine private Vorgeschichte: es ist Ostern 2021, 1. Feiertag, und der München-Tatort am Abend war derart ärgerlich, grausam, sinnlos und dumm, dass nur der Dienst am bürgerlichen Kunstwerk einen gewissen Ausgleich schaffen konnte. Vielleicht als Exkulpation der Öffentlich-Rechtlichen. Morgen gehts weiter, aber nicht mit dem Feiertagsprogramm…

Eine Zumutung, bitte nie mehr wiederholen:

eine Strafe für jeden, der hineingerät. Ganz schlimm: das Pittoreske, die Pseudoschönheit im Elend. Der latente oder offene Sadismus (Fingerbrechen). Der medizinische Unsinn. Die Unlogik als Handlungsfaden, der Dilettantismus, die absurde Psychologie, die verkitschte Kindesliebe (die unbedarfte Kleine soll doch in Dresden studieren). Die „offene“ Dreier-Beziehung, die jugendliche Surfbrett-Freiheit, die lächerliche Nacktheit an Portugals wildester Küste.

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1910/1911 Klavierauszug

Im „Rosenkavalier“: man erlebt zweifellos eine Sängerin, soll sie aber als jungen Mann akzeptieren, der sich dann als Frau ausgibt, die prompt von Ochs angebaggert wird. Geht das? Man könnte auch eigensinnig darauf beharren, dass es sich um die große Feier der lesbischen Liebe handelt. Wir hätten vielleicht ein bessereres künstlerisches Gewissen. Was für ein Unsinn, der sich an die sogenannten „Hosenrollen“ heftet. Stellen wir uns doch lieber vor, dass die wahre Octavia sich nur hinter einem kindischen Rollenspiel als Octavian verbirgt, der ja noch nicht mal den Stimmbruch erlebt hat. Müssten wir uns etwa mit einer verkappten Form des Missbrauchs auseinandersetzen? Bei wachsender Sympathie für die (angeblich) früh alternde Marschallin. Während uns die Figur des Ochs einen politisch korrekten Absturz anmaßender Männlichkeit lehrt? – Lauter Gedankenspiele, die vielleicht zu einer kritischen Reflexion des intendierten Handlungsablaufs führen, falls uns dabei nicht die komödiantische Idee völlig verloren geht. Wer war (was wollte) Hofmannsthal ? Seine Gedichte gehörten zu den ersten, die ich freiwillig lernte. Auch noch parallel zu Benn. In der Schule lasen wir den Lord-Chandos-Brief, als Auftakt der deutschen Moderne.

Mein aufgescheuchter Blick auf den „Rosenkavalier“ ist garantiert nicht neu, das ist ja längst alles psychoanalytisch durchgehechelt und analysiert, mit Rückblick auf Salome und Elektra, in den langen Snack-Pausen, – was soll das Festival-Publikum noch diskutieren? man droht einander vielleicht neckisch mit dem Zeigefinger? Ja, man wird den kleinen Mohrenjungen vermissen, der abschließend, nach dem Tüchlein fischend, über die Bühne eilt, aber bitte, jeder weiß, was heute einfach nicht mehr geht… Ich habe den „Rosenkavalier“ 1960/61 in Berlin mehrfach gesehen, mit Grümmer und Greindl und anderen. Ein Kommilitone betrieb all die Opernbesuche, stellte sich nächtelang an, er spielte virtuos aus der Partitur, sang auch gut, gab mir inspirierenden Klavierunterricht, privatissime, leider war er homosexuell, wusste allerdings nicht, dass auch das Gegenteil nicht formbar ist, wurde allmählich zudringlich und war der Hauptgrund für meine Abwanderung nach Köln. Ich sollte abwarten, was mir während der kommenden Seancen so in den Sinn kommt und garantiere für nichts.

Ein Sprung ans Ende des Rosenkavaliers:

Kein Mohrenknabe taucht auf, nein, ein Greis mit Engelsflügeln. Und die Zeit wird abgeschafft.

1911
 
 

Einige Fixpunkte:

Pause vor dem zweiten Aufzug ab 1:19:20 GESPRÄCH mit Barrie Kosky und Wladimir Jurowski (Maximilian Mayer)  u.a. über Travestie (Hosenrolle)

Ab 1:23:20 Die Klingel zum Zweiten Aufzug

Und vorher, mit entsprechenden Textausschnitten zum Nachlesen:

59:00 Marschallin: Und in dem „Wie“, da liegt der ganze Unterschied…

01:04:56 Marschallin: Die Zeit, das ist ein sonderbar Ding…

Text siehe hier

26.04.21 trauriger Nachtrag als Review

Mozart-Effekt

Kleine Stoffsammlung

Vielleicht hilft es ja doch?

Sonate D-Dur für zwei Klaviere, KV 448 hier (Villa Musica Text) hier (Henle Vorwort etc.)

Aufnahme (unterwegs zu mir) hier (M.Perahia + Radu Lupu, aufgr. dieser Beispiele)

In der folgenden Aufnahme ist der Abstand zw. 1. u. 2. Satz katastrophal kurz! Stopp bei 7:30!

https://de.wikipedia.org/wiki/Mozart-Effekt HIER

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https://www.psychosozial-verlag.de/2374 HIER Vollstedt Gießen 2014

Tobias Vollstedt

Tiefenhermeneutische Analyse des ersten Satzes der Sonate für zwei Klaviere in D-Dur (KV 448/375a) von Mozart

Eine musikpsychoanalytische Studie zum sogenannten Mozarteffekt

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https://core.ac.uk/download/pdf/11583791.pdf HIER Rameder Wien 2008

Eva-Maria Rameder

AUF DER SUCHE NACH DEM MOZART-EFFEKT

Der Einfluss von Komposition, Musikgeschmack und musikalischer Vorerfahrung auf die räumliche Vorstellung Eva-Maria Rameder

ZITAT Seite 78 ff

Tomatis (1995) stellte in seinen musiktherapeutischen Forschungen fest, dass durch die Musik Mozarts die besten und langanhaltensten Therapieerfolge zu erzielen sind. Er meint, dass die Rhythmen, Melodien, und hohen Frequenzen seiner Musik die kreativen und motivierenden Gehirnregionen stimulieren und kräftigen. „Mozarts Noten klingen alle so rein und einfach, seine Musik wirkt aber mit einer Wucht, die andere Komponisten nicht haben (Tomatis 1995, zit. nach Campell, 1997, S.42). Durch die sehr frühe Konfrontation und Auseinandersetzung Mozarts mit Musik wurde sein Nervensystem auf größtmögliche Empfänglichkeit für Musik sensi-bilisiert und seine neurovegetativen Reaktionen auf Musik vorbereitet. Die dadurch entstanden inneren Rhythmen spiegeln sich in den charakteristischen Kadenzen, die sein gesamtes Werk kennzeichnen, wider. Harris (1991) beschäftigte sich mit der Musikstruktur und betonte Besonderheiten in der musikalischen Bauweise in Mozarts Kompositionen. Seine Melodien bestünden aus kurzen Phrasen, welche immer in Kombination mit anderen, ähnlichen Sätzen zu hören sind. So würden im Sinne eines Mosaiks einzelne Teile miteinander verbunden, um ein wundervolles Ganzes zu erzeugen. Bei romantischen Komponisten, wie z.B. Tschaikowsky, finden sich im Gegen-satz dazu großatmige Melodiebögen. Nach Harris gelang es Mozart durch die Raffiniertheit und Komplexität seiner Kompositionen, Einheit und Vielfalt zu erfüllen. Die aneinander gereihten musikalischen Abschnitte werden sowohl als verschieden, als auch aufeinander bezogen erlebt. Weitere Begründungen, die für Mozart sprechen, finden sich bei Hughes & Fino (2000) und bei Jenkins (2001). Sie glauben, mit der Entdeckung der Langzeit-Periodizität in Mozarts Musik dem Geheimnis seiner Wirkungsweise auf der Spur zu sein (siehe Kapitel 5.3.3.). Ein Zusammenhang zwischen diesen Langzeit–Periodizitäten und der normalen Kodierung im Gehirn wird vermutet. Nelson (2002) fasste die Überlegungen von Rauscher (1999) bezüglich Musikwahl zusammen. Demnach wurde die Mozartsonate deshalb ausgewählt, weil sie aus einer beschränkten Zahl von musikalischen Motiven komponiert ist, welche symmetrisch mehrere Male auftreten. Sie ist eine extrem organisierte Komposition und durch die Tatsache, dass sie für zwei Klaviere ist, ergeben sich mehr Gelegenheiten für die Entfaltung der Motive im Raum. Die Komposition hat eine sehr klare rhythmische Struktur. Vor allem am Beginn des ersten Satzes treten musikalische Abschnitte in regelmäßigen und vorhersehbaren Intervallen auf. Aus meiner Sicht vermittelt gerade die Klavier-Sonate für zwei Klaviere in D-Dur KV 448 ein ausgesprochen räumlich-plastisches Hörerlebnis. So entsteht durch Echoeffekte und durch Ineinandergreifen und Verweben von komplexen Phrasen ein sehr räumlich strukturierter Höreindruck. Der räumliche Effekt wird durch das Spiel zweier Klaviere noch verstärkt.

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https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/mozart-gegen-epilepsie-100.html hier

Es ist nicht in erster Linie der räumliche Effekt, sondern der Eindruck der Dichte: der Linien, die quer zueinander laufen; die z.B. bei bloß vierhändigem Spiel an einer Tastatur nicht möglich wären. Vgl. auch den Unterschied zwischen Cembalo mit einem Manual gegenüber dem zweimanualigen am Beispiel bestimmter Goldberg-Variationen.

die CD ist da! (15.4.21)

Nicht irreführen lassen durch andere Aufnahmetechnik (80er Jahre), die zugleich eine softere Auffassung suggeriert. Noch bin ich auch nicht darüber hinaus, die mir besser bekannten 4-händigen Sonaten Mozarts (C-dur und D-dur) in der Substanz höher zu stellen als diese. Den Text von Philipp Ramey habe ich wiedergegeben, weil da zum erstenmal kritische Töne zur Mozartsonate laut werden: von einem „oft gehörten Vorwurf“ ist die Rede, die Sonate sei kaum mehr als Unterhaltungsmusik, so dass Albert Einstein zuhilfe gerufen wird. Ich finde diese Kennzeichnung nur deshalb interessant, weil man nun ihre Sprache rechtfertigen muss. Es genügt nicht, auf einzelne, unwiderstehlich bezaubernde Themen hinzuweisen. Es klingt halt mehr nach perfektem Mozart-Stil als nach einem unverwechselbaren Individuum. Ich muss oft nach Gründen der Mozart-Schönheit suchen, wenn die Melodiebildung von Dreiklangsmotivik geprägt ist. Beispiel: Sonata facile, für deren Haupthema dies gilt, ohne dass ich auch nur einen Moment lang an der Genialität zweifele. Der von Dreiklangselementen geprägte langsame Satz gehört für mich zum Schönsten, was es überhaupt in klassischer Prägung gibt, nicht erst dank des Mollteils, sondern vom ersten bis zum letzten Ton.

À propos Mozart

Bei dieser Gelegenheit sei ein Thema festgehalten, bei dem ich mich frage, ob Mozart oder Michael Haydn die Vaterschaft beanspruchen kann; darüberhinaus denke ich an die ersten beiden Zeilen der „Deutschland“-Hymne, also an Joseph Haydn. Ich habe das Thema vorgestern bei unserer Duo-Probe fotografiert, 1. und 2. Zeile jeweils (Vorder- und Nachsatz), – die 3. und 4. (in der Violine) sind bereits Variation der 1. Zeile:

Ich werde es noch säuberlich notieren (samt Hymne und „Facile“-Version), denn es ist eine wunderschön erfundene (konstruierte?) Melodie.

16.04.21 Da sind die drei (JR – in aller Kürze und auf D-dur gesetzt – ein Topos eben):

Noch etwas ganz anderes: Wie improvisierte Mozart? (Eine Anregung, Robert Levin zu verstehen):

Levin spricht über ein Detail der Skizze Detail: es geht um den Bass-Übergang

Ab ca. 7:00 Besprechung der improvisierten Ornamentik im Adagio der Sonate C-moll KV 457 (hier der Anfang in meiner Urtext-Ausgabe Henle):

(Fortsetzung folgt)

Horowitz-Notizen

Was war damals?

Um auf den Stand der Dinge zu kommen: ich persönlich habe mich nie brennend für diese Virtuosen interessiert, anders als meine zwei Kommilitonen, die ich dann nach einer unvermeidlichen Entfremdung mitsamt ihren Präferenzen lebenslang gemieden habe. Wie oft hatten wir vorher die Rachmaninoff-Konzerte gehört, untermalt mit den schmachtenden Bemerkungen des Freundes Elmar, steten Hinweisen auf interpretatorische Feinheiten. 15 Jahre später fühlte ich mich durch dieses Interview bestätigt, – der Meister schien mir allzu kindisch. Und nur eine Bemerkung von Zoltán Kocsis ließ mich stutzen:  seine haltlose Bewunderung für die Bassgänge, also: wie sie bei Horowitz klingen, und das schien mir aus dem Mund eines solchen Klangzauberers beachtenswert, anders als einst bei Elmar, der den typischen Klassikphrasen-Jargon pflegte.

Ab 5:46 Wanda

Rico Kaufmann Wikipedia hier

Mir ist es kürzlich folgendermaßen ergangen: Beim Gespräch in meiner Stamm- Buchhandlung wurde mir ein Buch von Lea Singer („kennen Sie doch sicher!?“) empfohlen, hat mit Musik zu tun, mit Horowitz. Das kam mir zupass, Geburtstagsgeschenk für meinen Freund, guter Tipp, und auch Milstein kommt drin vor? Das passt genau. Und ich werd’s parallel lesen, um sicher zu sein… Und dann wurde ich total verunsichert, das kann nichts sein, da versteht man ja seitenlang gar nichts. Und außerdem sind wir ja nicht schwul. Wenn ich hier auch kürzlich ein Buch erworben habe, das ein gewisses Interesse bekundet. (Bruno Gammel: ANDERS FÜHLEN). Ich muss ihm dazu einiges sagen (er ist ja kein notorischer Leser), man sollte auf Seite 32 beginnen, um sich sofort in bekanntem Gelände zu bewegen, und dann irgendwann den Anfang nachholen. Unmöglich diese Frau, ohne Vorwarnung eine Rätselgeschichte für absolute Insider aufzutischen. Ich will gefesselt werden, aber nicht durch highbrow Pseudo-Kunst. Zugegeben: ich hatte versucht, sofort einzutauchen, in Erwartung „leichter Literatur“, heute angefangen, übermorgen fertig. Jetzt empfehle ich, sorgfältig das rückwärtige Cover zu lesen. Und Rezensionen bei Perlentaucher. Oder meinetwegen aus dem Schwulen-Umfeld. Hauptsache: sympathisch und leichtfüßig. Keine Arbeit, – die sich aber nun doch nicht vermeiden lässt. Machen Sie mit? Ich musste ja auch den eigenen Widerstand überwinden. Dem Freund zuliebe.

Aus bestimmten Gründen will ich zunächst etwas im eigenen Blog nachschlagen: …über Mozarts Orgelwalze, hier ist es. Ich bitte um Geduld!

Zurück zum Buch: die NZZ Rezension hier

Und eine ausführlichere, sehr schöne Inhaltsangabe:

https://schwulenkram.wordpress.com/2019/11/03/der-klavierschueler-lea-singer/

Es hat einige Zeit gedauert, ehe bei mir der Groschen fiel (ich hätte es auch längst irgendwo gelesen haben können): Lea Singer ist identisch mit Eva Gesine Baur.

Ehrlich gesagt: die Lektüre ist etwas mühsam geblieben. Wie in Krimis, die mit ständigen Rückblenden arbeiten und so den gutwilligsten Zuschauer der Spannung berauben. Man spürt den Willen zur Kunst, der einen aber nicht in dieses Genre gelockt hat. Auch hier und da unnötig irritierende Wendungen, die nicht von der Sache her motiviert sind. Jedenfalls weniger vergnüglich als – sagen wir – Felix Krull, obwohl man sich an ihn erinnert fühlt.

(Fortsetzung folgt)

Es ist über eine Woche vergangen. Und ich notiere hier den Text, die Seite, die Zeilen, die – nach unregelmäßigen Lektürezeiten – für mich die Schlüsselstelle des Romans repräsentieren. „Der Klavierspieler“ erkennt, welche Rolle Wanda Toscanini, die Tochter des Dirigenten, als Frau für Horowitz spielt:

Zwei Tage später kam am Seefeldquai ein Brief an, den Horowitz an diesem 30.  Januar 1939 aus Lyon an mich geschrieben hatte. Drei Mal musste ich ihn lesen und konnte es nach dem dritten Mal noch immer nicht glauben, was da stand. Wie immer kein Wort über die politische Situation. Aber plötzlich ging es um Wanda und nur um Wanda.

Meine Frau weiß alles über mich. Meine Frau gibt mir absolute Freiheit, aber sie erlaubt in keinem Fall eine Verbindung. Meine Frau weiß über uns beide schon ein Jahr Bescheid, aber sie wollte es nicht sagen. Meine Frau hat deshalb gelitten. Ich liebe meine Frau tief und ernst, und ich will nicht, dass meine Frau leidet. Meine Frau will dich auch mit deiner Familie nicht sehen. Ich kann meine Frau verstehen, dein Vater ist unangenehm und arrogant gewesen. Du stehst zwischen mir und meiner Frau.

Dann kam der Schlag ins Gesicht: Du bist berechnend und kannst nichts mehr von mir haben.

Das war seine Schrift, aber das war nicht er.

Irgendetwas stimmte nicht. Der Brief endete mit dem Bekenntnis: Ich muss Dich sehen, aber es ist unmöglich. Ich fühle für Dich, was ich immer für Dich gefühlt habe. Ich bin traurig.

Mir sei übel, Magendarmverstimmung, redete ich mich am Abend heraus. Ich schloss ab, legte mich aufs Bett, nackt, nur seine dunkelblaue Lanvin-Jacke am Leib, paffte Zigaretten von seiner Marke und trank den Wodka, den er mit Rachmaninow trank.

Erst in der Müdigkeit leuchtete ein Lösungswort auf: Amerika.

Wir werden alle Amerikaner, hatte Horowitz verkündet, der Maestro, seine Frau, meine Frau, meine Tochter und ich. In drei Monaten reisen wir nach Amerika, stehen sofort unter amerikanischem Protektorat, und in drei Jahren werden wir einen amerikanischen Pass bekommen. Dieser Kontinent gehörte, was die klassische Musik anging, derzeit bereits einem einzigen Mann: Arturo Toscanini. Kein anderer konnte ihm das Wasser reichen, was Ruhm und Macht und Prominenz anging.

Ohne Toscanini würde es hart werden, mit Toscanini als Feind eine Katastrophe. Volodjas Frau nannte sich Toscanini-Horowitz. Sie wollte beide Namen haben und musste beide haben, der eine stand für das Geerbte, der andere für den aktuellen Besitz, denn sonst hatte sie nichts. Ihr Vater hatte ihr die Musik geraubt, obwohl sie laut Wally das einzige der drei Kinder war, das sich begabt zeigte. Toscanini hatte ihr Klavierspiel als schändlich bezeichnet und ihr das öffentliche Singen untersagt.

Doch wie hatte sie ihren Mann besiegt? Ich habe sie nie geliebt, hatte er allen seinen Freunden gesagt.

Vier Tage später kam die Aufklärung per Post, verfasst am 5. Februar 1939 in Paris. Wieder ging es nur um Wanda. Meine Frau findet, dass du trotz deiner Begabung keinen Horowitz [als Lehrer] brauchst, ein Zürcher X oder Y wird die genügen. Meine Frau ist ein hochanständiger Mensch mit moralischen Qualitäten. Meine Frau ist der Führer meines Lebens! Meine Frau versteht einige Seitensprünge, aber sie versteht wie jede Frau nicht, dass man ein Gefühl für einen Mann haben kann und darf. Für meine Frau ist es eine Krankheit, die man heilen soll. Meine Frau geht, wenn ich mit dir verkehre. Meine Frau hat furchbar gelitten, sie ist fast nervenkrank geworden.

Und dann der entscheidende Satz: Meine Frau wollte ohne mich nicht mehr leben.

Wanda hatte mit Suizid gedroht.

Der Krieger kennt keine Skrupel, sagte mein Großvater.

Wanda hatte gesiegt, weil sie gekämpft hatte, mit allen Mitteln.

Ich war ein Feigling. Ich hatte zu Recht verloren.

Kaufmann sank auf dem Küchenstuhl entkräftet in sich zusammen.

Donati stand auf und küsste ihn.

Quelle Lea Singer: Der Klavierschüler / dtv München 2021 ISBN 978-3-423-14793-4 (S.150f) [Es folgen noch 70 Seiten.]

Analyse, Geläufigkeit, Ekstase

Aus einer Neuen Welt (1-4-21 5.30 h)

Ich möchte (zunächst) nur Stichworte sammeln, die den Vorgang bezeichnen, umzudenken. Den Vorgang des Umdenkens zu protollieren. Also: Neues wahrzunehmen, mitzudenken, nach-zu-denken, ohne es mit Hilfe von Stichworten, Etiketten, Schubladen nur abzufertigen, abzulegen, aus dem Gesichtsfeld verschwinden zu lassen. Es solange anzuschauen, bis es seine Sprache zu verändern scheint. Ähnlich, wie ich heute um 5.35 das entfernte Solo eines Schwarzdrosselmännchens  aufgezeichnet habe, das mich seit einigen Tagen beunruhigt. Es war günstig, obwohl es in einiger Entfernung, wenn auch noch greifbarer Nachbarschaft hinter den Häusern erklang. Aber der Gründonnerstagmorgen ansonsten war still, es gab auch noch kein erleuchtetes Fenster irgendwo. Im übrigen hatte ich beim Aufwachen sofort an dieses Keyboard-Solo gedacht, das ich vor drei Tagen kennengelernt und hier zugänglich gemacht hatte. Die drei Worte des Titels schienen mir treffend die Faszination zu bezeichnen, die durch die Musik und die gefilmte Situation der musizierenden Interpreten ausgelöst worden war. Dauer 10:44

Falls es Ihnen wie mir beim ersten Einschalten ergeht (abgesehen von dem Unglück, wenn es mit einer Reklameeinspielung beginnt): ich mag den angeberischen Ton der Trompeten im Bigband-Sound nicht, – bewahren Sie Geduld, es geht zunächst um das Erlebnis des Synthesizer-Solos, danach werden auch die Trompeten anders klingen…

Kein Zufall, dass fast zur gleichen Zeit eine neue zusammenfassende Ästhetik ins Gesichtsfeld tritt, die Aufmerksamkeit fordert. („Wissen im Klang“ 2020)

https://de.wikipedia.org/wiki/Snarky_Puppy Hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Cory_Henry Hier

Dank an JMR (*1.4.66)

„Hier findest Du eine Analyse des Synthesizer-Solos (inklusive
Archivaufnahmen des Organisten im Alter von vier Jahren…)“

https://youtu.be/H5REJ1SXNDQ

Detail um 13:10

Andere Analyse (Transkription des Solos!)

In the Mix: Snarky Puppy – Lingus / Cory Henry Solo

Das Solo plus Notation:

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