Archiv für den Monat: November 2016

Choreographie der Finger und Augen

Am Beispiel eines virtuosen Bach-Praeludiums

Das eine ist mehr Übung, eine detaillierte Bestimmung der Probleme, die sich den Fingern beim schnellen Spiel stellen. Das andere ist eine zusätzliche Beteiligung der Augen, eine Sonderaufgabe, die der Freiheit der Ausführung dienen soll, ist aber nur ein Experiment, vielleicht ein Missverständnis, aber dann sei es wenigstens für die bewusste Korrektur festgehalten.

Es geht um das folgende Praeludium aus dem ersten Band des Wohltemperierten Claviers von Bach. Darin sind die problematischen Stellen rot markiert und sollen einzeln behandelt werden. Oben links sieht man, dass ich das Stück nicht zum erstenmal übe. Ich war damals jeweils der Ansicht, dass ich es „konnte“; heute glaube ich das nicht mehr recht. Können müsste heißen: sehr schnell, mit leichten Fingern und ohne einen einzigen falschen oder unklaren Ton.  (Alle anderen Fragen, die man stellen könnte, verdränge ich; z.B. ob das Tempo überhaupt richtig ist, warum Bach eigentlich einen 24/16 – Takt statt eines 4/4 – Taktes notiert, usw., auch die Frage, wie Bach selbst den Daumen bei solchen Figuren wie hier eingesetzt hat.) Um kurz ein Beispiel zu benennen: in der zweiten Zeile, Bass, erster Takt, letzte Note, dieses Auftakt-Achtel trägt einen von mir damals eingezeichneten Punkt. (Die anderen, in den Takten vorher, sind nur analog gesetzt: die Kürze ist ja auch musikalisch sinnvoll.) Warum? Der Finger, der diesen Ton anschlägt, muss schnell verschwinden, weil die rechte Hand diese Taste ebenfalls sofort danach anschlagen muss, die rechte Hand „hängt“ dabei über der Linken und muss im gleichen Zug einen weiteren Ton erwischen, der noch tiefer liegt, das E, danach aber das wiederum höher liegende A, während die Linke genau die Taste anschlagen muss, die sie vorher so schnell räumen musste, das G. Ein kleines Drama, – davon ahnt ja keiner was, und meist geht auch hier oder gleich im nächsten Takt etwas schief. Vielleicht nur in Gestalt einer winzigen Unebenheit, aber schlimm genug für einen Virtuosen (der ich nicht bin).

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Also nur Mut! Die rot ein- oder angekreisten Stellen ergeben in meinem Fall die Übeeinheiten, die ich – um den gewünschten Übeeffekt zu erreichen – choreographisch auffassen möchte. Die einzelne Hand oder die beiden Hände im Verhältnis zueinander soll(en) weiche, nahtlos ineinandergreifende Figuren beschreiben, an keiner Stelle darf ein Ruck erforderlich sein, jede Veränderung der Handstellung muss weich vorbereitet sein. Ich beginne mit kleinen, in sich geschlossenen Einheiten beginnen, erst später fügen sich – z.B. die beiden Kreise in Zeile 2 – zu einer größeren Einheit zusammen. Der eine mit dem absteigenden e-moll-Dreiklang und dem nachfolgenden A, der andere mit dem absteigenden A-dur-Quartsextakkord – dazu links mit dem 4.Finger das G in die Fingergruppe der rechten Hand hinein – dann rechts der D-Abschluss, während die Linke mit den Triolen ab FIS aufwärts startet. Es kommt nicht auf diese Worte an, sondern dass man den realen Finger-Tanz reibungslos und minutiös in Zeitlupe so ausführt, wie er später im schnellen Bewegungsablauf funktionieren wird. Statt der Worte nimmt der Geist den Verlauf der Gedankenbilder wie einen Film in sich auf. Sagen wir: man wiederholt die beiden roten Kreise des 2. Zeile jeweils 5 Minuten lang, dann bettet man sie ein in den Gesamtverlauf der Zeile 2. Der Tanz ist perfekt choreographiert, nichts ändert sich in der Feinabstimmung. Ich kann es mir leisten, Details zu beobachten, z.B. den 4maligen Anschlag des Tones G innerhalb des ersten roten Kreises in engster Nachbarschaft, keiner darf unklar erwischt werden oder gar unter den Tisch fallen.

(Fortsetzung folgt)

Neben dem Tast- und Bewegungssinn können natürlich auch die Augen bei diesem Üben eine Aufgabe übernehmen, die – sagen wir – der zwanglosen Konzentration hilft. Wichtig zunächst: die Augen zu schließen, langsam und mit Tastgefühl zu üben, wie ein Blinder.  Unabhängigkeit. Körpergefühl beachten: Schultern! Kopf balanciert und hoch.

Die Augen habe ich aber in der Überschrift nur genannt, um sie nicht zu vergessen. Gemeint war eine komplett andere Angelegenheit, die ich nur behandeln möchte, um sie bei Gelegenheit zu überprüfen. Es betrifft den Stress beim Vortragen solcher Stücke. Vielmehr die Stressvermeidung.

 

Strömende Massen

Verteilung der Individuen im Raum

Es ist jedem schon mal aufgefallen, so auch mir: wir setzen uns in einem Restaurant mit vielen freien Tischen selten beliebig: das Fenster spielt eine Rolle, der Ausblick natürlich, aber auch der Abstand zum nächsten Gast. Wir setzen uns nicht unmittelbar neben einen besetzten Tisch, sondern lassen möglichst den allernächsten oder mehrere aus. Wenn der Ausblick unerheblich ist, verteilen sich die Gäste auf die übrigen Tische des Raumes unbewusst nach einem Prinzip der Symmetrie. Ebenso in einem Eisenbahnabteil, einem Wartesaal oder in einem Konzertsaal mit freier Platzwahl: wenn die meisten Plätze frei sind, setzen wir uns nicht eng neben oder hinter einen besetzten Platz (das wird als aufdringlich gewertet), sondern gern im lockeren Abstand oder auf der diagonal entgegengesetzten Reihe. Ein Film von der allmählichen Besetzung der Sitze würde wahrscheinlich wechselnde, aber schöne Muster erkennen lassen. Jeder Zwischenstand ist auf Dauer ausgerichtet. Es ist interessant, dass es eine besondere Forschungsrichtung gibt, die sich mit den Bewegungsmustern von Individuen und Gruppen beschäftigt, die sich über einen Platz bewegen: z.B. HIER. [ https://idw-online.de/de/news663115 ]

Es spielt aber vermutlich eine wichtige Rolle, ob es um die Verteilung auf Ruheplätze geht oder um eine Fortbewegung in unterschiedlicher Richtung oder in eine gemeinsame Richtung.

Ich lese:

„Das Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation beschäftigt sich mit der gesamten Vielfalt dynamischer Phänomene, Strukturbildung und Selbstorganisation: von den Wirbeln in turbulenten Strömungen über Netzwerke von Nervenzellen im Gehirn bis hin zu granularer Materie und komplexen Flüssigkeiten. Obwohl sich diese Systeme unterschiedlichen Fachrichtungen zuordnen lassen, folgen sie ähnlichen Gesetzmäßigkeiten und lassen sich mit ähnlichen Methoden beschreiben und erforschen.“

Quelle siehe auf der Web-Seite HIER. Vergleiche dort auch Chaos-Theorie (Artikel über Theo Geisel).

Man vergleiche auch die Untersuchungen von Strömungsverläufen und die Beschreibung des Schwarmverhaltens HIER. Siehe an dieser Stelle auch unter den weiterführenden Begriffen wie Gruppendynamik, Herdenverhalten, Kollektive Intelligenz.

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Das Beethoven-Orchester am neuen Ort

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Ich schreibe keine Kritik, nur ein „I was here“. Es hat uns sehr beeindruckt, der neue Ort, die Qualität des Orchesters, die unterschiedlichen Dirigenten, das Programm, oder genauer: für mich waren ausschlaggebend das Werk Asyla von Thomas Adès und die siebte Sibelius-Sinfonie, übrigens gerade im Rückblick, wenn auch vieles andere (die wunderschöne Klarinette im Kodaly, die Virtuosität der Streicher im Tschaikowski) hängenbleibt. Am Kodaly interessiert mich die Kindheitsgeschichte (der Marktflecken Galánta mit der Zigeunerkapelle) und die Farbigkeit dieses Orchesters. An dem Werk von Tschaikowski aber erstaunt mich, dass mir – abgesehen von der Ausführung –  einfach gar nichts gefällt, wie schon vor Jahrzehnten. Mag der Dirigent sich noch so sehr ins Zeug legen und sogar auswendig dirigieren. Es ist doch bloße Raserei. Selbst der sonst so geniale Melodiker, der weit ausholt, als beginne gleich die Stunde der unsterblichen Liebe, bietet nur eine schwache Minute, noch schwächer, da sie an Bach gemahnt.

Aber es ist ein Saal, in dem man jeder Musik gerne folgt, wie sie über die Bühne und in den Raum „wallt“, wie sie durchhörbar bleibt, auch wenn ein kompakter Blechbläsersatz aus dem Hintergrund herübertönt, etwa im Sibelius; wenn ein vielgestaltiger, feingewebter, aufgesplitterter Gesamtklang wie im Adés glitzert und oszilliert. Oder mit Techno-Schlag Monotonie vortäuscht. Es bleibt spannend im Irrenhaus!

Mag man sich beim Betreten das Gebäudes wie im Flughafen gefühlt haben, WIEN, NAIROBI, NEW YORK, was für Weltstädte auch immer, in weißen Großbuchstaben, verlaufen kann man sich nicht. Auch die Assoziation ist nicht schlecht, wenn man am Boden bleiben und doch mancher Höhenflüge gewiss sein darf. Übrigens die Nacht da draußen passte nicht schlecht, eine Hotelbar, die man meidet, wenn man die Preise verstanden hat, Blick nach oben, wo neben dem langen Eugen, nein, dem DHL-Gebäude, der kleine Vollmond steht, angeblich so nah wie nie außer noch einmal in 20 Jahren. Eine Welt für sich, gespenstisch beleuchtete Avenuen, vorbei an gigantischen, düsteren Bürohäusern mit einzelnen glänzenden Zimmern, in denen junge Männer vor Computern sitzen; ruhelos ersinnen sie Wunderwerke des neuen Zeitalters. Und wenn man tief unter ihnen durch das Labyrinth der langen Gänge und Kieswege gefunden hat, so sieht man weit hinten im Dämmerlicht, hinter der quer verlaufenden schmalen Straße, an der das Auto nach einer Irrfahrt Parkgelegenheit gefunden hatte, ja, was sieht man dort, zum Greifen nah, wie vor Jahrhunderten? Den Vater Rhein. Die Welt ist doch im Lot!

bonn-wccb-vorhalle-b WCCB Vorhalle Fotos: JR

bonn-wccb-modell-y WCCB Modell

bonn-wccb-orchester-l Beethoven-Orchester

bonn-wccb-draussen Nach dem Konzert

BEISPIELE (nicht aus dem Konzert, sondern aus youtube, nur zum Lernen, zum Besserkennen, nicht zum „Besserwissen“):

Thomas Adès „Asyla“ op.17 (Einführung Markus Stenz) hr-Sinfonieorchester ab 0:24 Anspielen des III.Satzes „Ecstasio“ (bis 1:05) I.Satz ab 2:54 Wort („Bewegung“) II.Satz ab 4:10 Wort („Zwischenwelt, bevor man wahnsinnig wird“, „Wehklagen“, „Lament“) Musik 4:58 bis 7:00 IV.Satz ab 7:10 Wort („Langsamer Satz“) bis 7:40 (Ende) / Beginn der Aufführung bei 8:00 II.Satz ab 13:30 III.Satz ab 20:02 / durchgezählt bis IV.Satz ab 26:22 Beifall ab 31:18

Thomas Adès „Asyla“ op.17 Der III. Satz unter Sir Simon Rattle:

Tschaikowski: Francesca da Rimini / Orchesterfantasie nach Dante op.32 (1876)

Die Melodie des Mittelteils

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Was habe ich gegen diese Melodie?

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Sie hat von vornherein die Tendenz zum Gis (im Nachhall hört man gewissermaßen schon die klein eingezeichneten Töne mit), sie gibt sich aber spannender, indem sie mit dem F an den Anfangston E anknüpft, weiterweisend, aber zunächst muss sie dem Drang zum Gis nachgeben, das Auf und Ab der Linie verspricht einen Ausdruck, der sich im folgenden als nichtig erweist: Anknüpfend an E (Takt 1) und F (Takt 2) wird die Linie in Takt 3 zu E-F-G-A weitergeführt, dort aber gleich wieder zurückgebogen, mit dieser Drehung und dem F-E-D wird der abwärtsführenden Tendenz nachgegeben, zu allem Überfluss auch noch mit einer Sequenz („Reim“), die am Ende von Takt 3 in die beiden Töne mündet, die wir schon am Ende von Takt 1 geahnt haben, und so kann in Takt 6 komplikationslos auch die Hauptaussage von Takt 2 wiederholt werden; sie wirkt aber noch weniger ausdrucksvoll als dort, sondern – weil nichts sich ändert – larmoyant. Um nun doch noch einen verborgenen Sinn des ganzen Melodiegangs vorzutäuschen, reckt sich die längst bekannte kleine Wendung  H-A ein weiteres Mal nach oben, diesmal nicht nach F, sondern nach Fis, so dass das unveränderliche Gis (E-dur) sich diesmal aus einem modulatorischen Schritt, statt aus der Folge IV – V in a-moll, ergibt. Man könnte behaupten, dass die Melodie die ausweglose Lage der Liebenden spiegelt und auf den nun für viele Takte ostinat durchgehenden Basston E verweist, der Ähnliches aussagt. Während die Weiterbehandlung der Sequenz lähmend wirkt, auch wenn sie zur Abwechslung nun aufsteigt, sogar mit Viertel-Triolen und schließlich durchgepeitschten Achteln aufwartet, also zugleich eine gewisse „narrative“ Spannung zelebriert. Sie ist leicht als bloße Geschwätzigkeit durchschaubar.

Viel Worte um 20 Takte Musik, aber sie sagen in etwa das, was einem durch den Kopf geht, während man inmitten der sinnlosen Raserei dieses Satzes auf einen Lichtblick hofft. Soviel Zeit muss sein, immerhin ist es ja eine Enttäuschung, wie man sie gerade von Tschaikowski nicht erwartet, der sonst – wie Adorno einmal kleinlich anmerkte –  sogar die Verzweiflung mit Schlagermelodien porträtiert…

Trotzdem gilt: Gut gespielte Musik ist immer interessant, auch wenn sie einem nicht gefällt, gerade dann. Zu fragen: Was macht denn Musik aus? Was fesselt, was stößt einen ab? Wie zwingt sie uns zurückzukehren, zu ihr zu halten? Zur Musik von Sibelius etwa, gerade gegen Adornos Verdikt wider den finnischen Hinterweltler! Vielleicht führt nur das beigegebene Natur-Foto in die falsche Richtung. Denn es ist „gearbeitete“ Musik, nicht bloße Stimmungsmusik. Bei Wikipedia gibt es eine erstaunlich detaillierte Beschreibung und Deutung des Ablaufs der Sinfonie: HIER. (Es lohnte sich, diesen Text durchzuarbeiten und die Taktzahlen durch Zeitangaben der folgenden Aufnahme zu ergänzen.) Am Ende lauert eine vielleicht allzu pauschale, „gläubige“ Bemerkung des Dirigenten Osmo Vänskä :

Das Ego wurde vernachlässigt, und die Dinge sind vom Standpunkt der Menschheit aus gesehen. Der Komponist wendet sein Augenmerk von sich selbst ab, um höhere Kräfte zu erreichen. Die Siebte ist heilige Musik.

Jean Sibelius Sinfonie Nr. 7 C-dur op. 105 (1918-1924)

Erinnerung an Sokrates

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Die Wochenendausgabe der Süddeutschen

gibt unversehens Anlass, eine Stunde dem Sokrates zu widmen, ausgehend von seiner Todesstunde, ist das etwa zu viel verlangt? Aber es hört nicht auf und erinnert an den ersten bescheidenen Anfang mit der Philosophie. Ich glaube, begonnen hat es auf Langeoog, angeregt durch ältere Mitschüler: sie lasen sorgfältig, markierten Zusammenhänge und schrieben an den Rand des gelesenen Textes Stichworte zur Gliederung. Das hatte ich noch nie gesehen. Sie lasen „Einstein Mein Weltbild“, und mein Exemplar sah bald ähnlich aus:

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Es war die Stunde und das Jahr der Taschenbücher, Einsteins Weltbild, das ging aufs Ganze, nichts war mir groß genug. Julian Huxleys „Entfaltung des Lebens“ war ein Schlüsselbuch 1955, ein Älterer (Langeoog!) nannte mir dazu noch den Namen und das Hauptwerk des Bruders Aldous, für mich ein Ritterschlag, ich vermerkte später die erneute Besitznahme im Jahre 1962… (Fischer „Bücher des Wissens“ gab es seit 1952, rde seit September 1955. Sehr wichtig weil erschwinglich! 1,20 oder 1,90 DM?)

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Die nächste Stufe: Sokrates im Gespräch („Vorschule“ auf Langeoog)sokrates-im-gespraech . . . . sokrates-autogr . . . .

Besitzer 1955 (Besetzer 1981) Beide genau 15 Jahre alt!

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Im März 1957 war endlich auch die Schule bei Plato (Sokrates) angelangt:

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Ließ die Begeisterung nach? ich fürchte: ja. Jetzt wäre wieder der rechte Augenblick!

schule-sokrates-datum  Fernziel Re-Lektüre bis März 2017 ?

Fortsetzung folgt oder – Enkelgeneration: wäre diese Art Zugang heute noch denkbar?

Übrigens: das Bild, das mich heute aktivierte (ganz oben), kannte ich damals nicht. In unserm „Bilderbuch“ gab es nur „Die Ermordung des Marat“. Heute kann man ALLES kennen. Siehe HIER. (Tut mans? Will mans?) Es heißt also „Der Tod des Marat“, und es gibt nicht nur das Bild von Jacques-Louis David. Siehe HIER. (Vor allem ganz unten!)

Die (durchaus nachvollziehbare) Bild- und Bildungsverdrossenheit könnte ein Thema sein. Sie ist vielleicht viel brisanter als die vielbeklagte Politikverdrossenheit.

Es war damals leicht, weil klar war, dass man sich darum bemühen muss. Und wo es keinen Sinn hat. Heute ist es leicht, darum schiebt man die eigentliche Mühe auf. Sokrates ist zum Greifen nah, z.B. HIER. Oder sein berühmtester Satz HIER. (Interessant u.a. wegen Popper, dem „Stückwerk-Ingenieur“. Ein gutes Wort. Kann ich mir aneignen.) Neben Platons „erinnernden“ Dialogen (HIER ! Übersetzung und Originaltexte!) sind auch die des Xenophon leicht erreichbar, in Wielands Übersetzung HIER.

Interessantes Nebenergebnis ein ganz anderer Satz:

Muße beschreibt also einen Zustand, in dem Menschen sich wirklich auf etwas einlassen können. Dabei ist es egal, ob es die Gartenarbeit ist, ein interessantes Buch oder eine kreative Tätigkeit. Wichtig ist, dass niemand ein Ergebnis erwartet. Diese Ziel- und Ergebnislosigkeit erlaubt es, ohne Druck und Erwartung Neues auszuprobieren. (Figal)

Die Jugendlichen heute haben den leichten Zugang und versäumen ihn, indem sie lieber spielen und „daddeln“, vermeintlich vorläufig.

Natürlich ist Sokrates nur ein Beispiel. Ich hatte damals auch einmal zwei Bände Kant (Dünndruck, Bielefelder Stadtbücherei) mit auf Langeoog, auch ein größeres Sekundärwerk über ihn, nicht recht verstanden, – wieviel leichter wäre es heute, zunächst einen einfacher gefassten Überblick zu finden, – worum es eigentlich geht, wozu diese Abstraktionen, weshalb die Anstrengung des Gedankens in dieser Form nötig ist. Im täglichen Leben kann man doch offenbar wenig damit anfangen.

Und damit sind wir schon fast beim sogenannten gesunden Menschenverstand. Niemand kann sagen, ob das folgende Buch mir gehört, denn ich war es sicher nicht, der seinen Namen hineingeschrieben hat. Denn warum sollte ich damals meine Schrift verstellt haben, andererseits: warum sollte ein anderer meinen Namen verwendet haben? Vielleicht, um sich vor Aneignung des Büchleins zu schützen? Ich habe einen Verdacht. Das Problem ist nur: es bedeutet nichts, mal mache ich Spaß, mal meine ich es nicht ernst. Aber was wann?

Zum Glück bin ich nicht Sokrates. Und denke dabei nicht nur an den Schierlingsbecher.

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In Haan, beim Italiener Piccolo Sud, habe ich (mit Kindern und Enkeln) auch immer mehrere Epochen und Stilebenen im Blick:

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Suzanne

Warum ich heute Leonard Cohen höre

Nicht weil er gestorben ist und ich Trauerarbeit leisten muss. Ich habe ihn ja mein Leben lang nicht beachtet. Nein, es ist banaler: mich interessiert immer, wenn Nicht-Musiker über Musik reden und mehr oder weniger ein Bekenntnis ablegen. Ich versuche, ob ich das nachempfinden kann, und es funktioniert recht oft. Ich nehme dann etwas wahr, was mir vorher nicht bemerkenswert erschien. „Aha, so also bewegt sich ein Lied in das Gehirn und setzt sich fest…“ (Eigentlich müssten die alten LPs wieder knistern, was bei mir aber keinen Sinn hätte.)

Eine ganze Wochenendseite der Süddeutschen für Leonard Cohen, ein großer Beitrag von Kurt Kister, ein kleinerer, mehr auf die Stadt Montreal bezogen, von Thomas Steinfeld. Und beide Artikel kann man im Internet nachlesen (s.u., unter dem Video), und sie sind durchaus von der professionellen Sicht und vom politischen Standort der beiden Journalisten geprägt. Kurt Kister:

Es geht nun, mit Verlaub und der Bitte um Entschuldigung für diesen Ausdruck, eine Scheißwoche zu Ende. Ein Klotzkopf, der in nichts für das steht, was Leonard Cohen war, wird US-Präsident, und Leonard Cohen ist gestorben. Heute Abend möge jeder, der noch einen Plattenspieler hat, die alte „Songs of Leonard Cohen“ auflegen, ja, genau die, die so knistert (streamen ist als schlechter Ersatz erlaubt). Der erste Song auf der A-Seite ist „Suzanne“, tausend Mal gehört. Die letzten Zeilen lauten: And you want to travel with her, and you want to travel blind, and you know that you can trust her, for she’s touched your perfect body with her mind.

So war es. Leonard Cohen hat viele von uns mit seinem Geist berührt. Es ist Zeit zu trauern.

Quelle Süddeutsche Zeitung 12./13. November 2016 Seite 15 Ein Licht erlischt Der Songwriter und Dichter Leonard Cohen ist gestorben, der wie kaum ein anderer die dunklen Seiten der Seele strahlen lassen konnte, ohne die Liebe aus dem Blick zu verlieren. Von Kurt Kister. /   Das Heilige und das Gebrochene Leonard Cohen und Montreal: Eine Stadt, die in seinem gesamten Werk gegenwärtig ist. Von Thomas Steinfeld.

Und in beiden Artikeln spielt „Suzanne“ eine besondere Rolle, kurz: die Liebe. Ich lese den Text hier und finde die zitierten Zeilen wieder. Sogar auf deutsch, wenn ich will. Ich höre das Lied auf youtube (s.u.) und registriere, dass er hier und dort andere Worte verwendet. Macht nichts. Die kritischen Ausgaben werden kommen, auch wenn kein Nobel-Preis nachgeholfen hat.

Hier klicken, wenn man beim Hören des Liedes (und der Ansage bis 0:55!) zurückkehren und weiterlesen möchte. Sonst folgenden Zugang wählen:

Kurt Kister also sagt dies: hier.
Thomas Steinfeld sagt das: hier.

Ich finde es gut, dass all dies gesagt wird, und ich werde noch andere Lieder hören.

„Man hat nie einen Sänger erlebt, der in so großer Würde alt geworden ist“. (Kister)

„In dieser Zeit (…) muss Montreal für junge Intellektuelle eine Stadt von grenzenloser Offenheit gewesen sein. Das Blasphemische und wohl auch das Obszöne, das zum Beispiel dem Text der Hymne „Hallelujah“ zueignet (siehe dazu Allan Lights Buch: „The Holy or the Broken“, New York 2012), entsteht aus diesem Zusammenhang, der sich oft in den Werken Leonard Cohens findet.“  (Steinfeld)

Für einen Moment dachte ich an ein anderes Buch („Das Rohe und das Gekochte“ von Lévi-Strauss) und als ich keinen Zusammenhang fand, blieb ich lieber beim Thema. Also: „Hallelujah“. Text hier, Übersetzung hier.

Und dann die Musik. Würde ich dafür ein Buch lesen? Vielleicht. Oder doch nicht.

(Achtung: Werbung am Anfang.) HIER (im Extrafenster) oder wie folgt:

Was mir Freund Berthold kürzlich (13.11.16) zum Thema schrieb:

Es bleibt das, was wir immer wieder festgestellt haben, wenn wir uns über Popmusik unterhalten haben – mit musikalischen Mitteln ist diese Musik nicht festzunageln (wobei man Cohen immerhin für den Einzug des Dreiertaktes in die Popmusik verantwortlich machen kann, wo sonst ja alles im Vierer- bzw. Zweiertakt ist – alles! auch eine Schwäche des Jazz übrigens, aber davon spricht kaum jemand). Denn rein musikalisch gesehen taugt sie natürlich nichts, die Melodien sind sehr simpel (nun, das kann man manchmal auch bei Mozart oder Beethoven feststellen), die Harmonik ist langweilig, die Rhythmik ebenso. Das, was sie für so viele Menschen interessant macht, ist ihr zeitkultureller Wert.
Dylan oder Cohen haben ja, jeder auf seine Weise, Hymnen komponiert, die viele (meist junge) Menschen sofort nachvollziehen konnten. Die ein Lebensgefühl deutlich machten (und die, würde ich aus heutiger Warte ergänzen, nicht die Mühe machten, sich erst aufwendig mit ihnen beschäftigen zu müssen, wie bei der ernsten Musik eben notwendig ist). Man könnte übrigens auch sagen, daß die Melancholie Cohens, die uns Jüngere in den 1970ern so gefangen nahm, nicht nur mit sowieso vorhandener pubertärer Daseinstraurigkeit zu tun hatte, sondern auch etwas mit unserer Traurigkeit angesichts der Verhältnisse – denn das war ja politisch die „bleierne Zeit“.
Das ist übrigens ein Unterschied zu einem Großteil zeitgenössischer Popmusik, in der es eigentlich nur noch um sinnlose Unterhaltung geht, also nicht einmal mehr das Zeitgenössische, das Lebensgefühl, die Hymnen vorkommen (Ausnahme: US-amerikanischer oder auch afrikanischer HipHop, jedenfalls seine besten Teile, und da wird’s ja auch musikalisch interessanter…).
Ich wills mir nicht einfach machen, aber es ist klar, daß die gesellschaftliche Entwicklung, die der kapitalistische Realismus/Neoliberalismus benötigt, um sich durchzusetzen (z.B. mangelhafte Bildung – es ist einfach so, daß Menschen, je klüger sie sind, desto kritischer werden), eben auch kulturell verheerende Folgen hat.
Dummheit und Konsumismus, alles nur noch dumpfe Unterhaltung. Nur dort, wo es noch um etwas geht,
– (für die Afroamerikaner etwa, die in den USA eben nicht nur marginalisiert sind wie die weißen Arbeiter, sondern auf den Straßen um ihr Leben besorgt sein müssen – lies das todtraurige und aufwühlende „Zwischen mir und der Welt“ von Te-Nehisi Coates, eine der besten Zustandsbeschreibungen der USA unserer Tage) -,
ist die Musik noch nonkonsumistisch und steht für etwas ein. Und es ist ja auch interessant, daß einige junge HipHoper sich der Musikindustrie komplett verweigern und ihre Alben einfach im Netz veröffentlichen (Chance The Rapper z.B.), weil sie um das Problem der Kulturindustrie aus eigener Anschauung (und ohne Adorno gelesen zu haben) wissen.
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Danke, Berthold!

Zur Ergänzung:

Te-Nehisi Coates  :  „Zwischen mir und der Welt“ siehe Perlentaucher HIER
20 Seiten Leseprobe im Perlentaucher-Link zum Hanser-Verlag beachten!!!
Chance The Rapper und über ihn hier.
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Nachtrag 17. November 2016

Erstens muss man heute den Nachruf auf Leonard Cohen in der ZEIT lesen.

Zweitens den Artikel von Gert Heidenreich im Netz-Magazin Faust-Kultur (s.u.). Ich zitiere nur die wunderbaren Zeilen über die hypnotische Wirkung des Plattentellers damals: Ich habe es nicht mit der Cohen-LP erlebt, aber mit anderen. Genau so war es, aber ich hätte es nicht beschreiben können. Erst ab jetzt:

Vielleicht ist das heute gar nicht mehr vorstellbar: Dieses Ritual, wenn man mit einer neuen LP nachhause kam, sie aus der äußeren Hülle nahm, dann vorsichtig aus dem Papierhemdchen zog, sich über ihren schwarzen Glanz freute und sie an den Enden ihres Äquators zwischen den Mittelfingerspitzen in Balance haltend auf den Plattenteller legte, den Tonarm vorsichtig über die Fangrillen am Rand hob und absenkte. Der dumpfe, knackende Laut, mit dem der Saphir in die Spur rutschte, war Auftakt zu einem seltsamen Vorgang: Wie behext starrte man auf die sich drehende Scheibe, als könne man nicht begreifen, wie dieses Karussell der Töne funktioniert. Dabei wusste es jeder … Doch besonders, wenn man allein war und die Musik gefiel oder sogar begeisterte, war es schwer, den Blick vom Plattenteller zu lösen und sich frei zu machen von dieser Klangspirale, die irgend etwas gemein haben muss mit Kaminfeuer, Meereswogen und Sonnenuntergängen, die man ja auch zur Genüge kennt und doch immer wieder unverwandt betrachtet.
Und da sang er nun. Sang von Suzanne. Suzanne takes you down to her place near the river… Sang davon, dass Jesus ein Seemann gewesen sei, als er übers Wasser ging … Sang von dem Fremden, dem Spieler, der trotz der Liebe einer Frau immer wieder aufbrechen und weiterziehen muss …

Gert Heidenreich in Faust-Kultur HIER.

Interpretation = Übertreibung?

Am Beispiel Brahms 

Dies nur in aller Kürze, damit es als Thema festgehalten ist. Möglicherweise tue ich den Interpreten Unrecht und müsste nur das Ganze und dies ganz ausführlich behandeln, nicht nur die erste Seite: schon wäre ich anderen Sinnes. Aber dieses Sinnes war ich ja schon, und erst einige kritische Bemerkungen von außen haben mich aufgeweckt: Klar, Brahms ist immer gut, auch wenn er unterschiedlich dargestellt wird. Aber…

So etwa, wie es unten zu hören ist,  wars vor 30 Jahren. Gleichmäßig schön, in der Klarinette die Bögen nicht besonders abphrasiert, es geht um die weit geschwungene Linie. Karl Leister (und das Drolc-Quartett), mit dem ich „in alter Zeit“ das Klarinetten-Quintett entdeckt habe, was ich ihm nie vergaß. Aber klingt die Sonate nicht ein wenig langweilig? Und bei 1:29 das „p ma ben marc.“ – was für ein seltsames Gepolter im Klavier… (Achtung: Werbung am Anfang überspringen!)

Allzu harmlos?

Aber nun kam in jüngster Zeit Lorenzo Coppola mit Andreas Staier. Was für eine andere Welt! Zudem auch noch die „originalere“, ganz dicht an Brahms und seinem ersten Interpreten Mühlfeld. Ist es so?

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Es ergab sich folgende Diskussion:

Natürlich ist das gut, und von beiden Interpreten – wie sagt man? – meisterhaft gespielt. Aber so, als ob es uns aus jedem Takt anspringen müsste: schaut, wie unerhört musikalisch wir alles auffassen. Am meisten irritiert der höchste Ton der Klarinette auf (2. Zeile, 3. Takt), man hört ihn kaum, vermutlich ist es nicht leicht, ihn in der Höhe so leise zu spielen: aber muss mir das bewiesen werden? Ist nicht das Intervall der verminderten Septime, das er mit dem ersten Ton des nächsten Taktes bildet, auch etwas wert? Und im letzten Takt dieser Zeile, jaja, ich sehe wohl, dass Brahms da ein crescendo-Zeichen gesetzt hat, aber wozu diese metallische Färbung, dieser eherne Entschluss , „es muss sein!“ – wieso denn, wir sind doch erst in Takt 11, ein ganzer Satz soll noch folgen, die Triole bringt schon von selbst einen Energieschub, der den punktierten Rhythmus des Klaviers anwirft. Und am Ende der nächsten Zeile steht über eine Länge von 4 Takten (hier schon früher einsetzend) ein diminuendo, – ein ritardando ist nicht verlangt! Gerade nicht! Es folgt zwar eine Atempause, – aber es geht doch weiter…

Im Grunde beginnt das Klavier enden wollend. Der dritte Ton, das Es, ist gedehnt (wenn ich die Noten nicht sehe, meine ich, es seien zwei Viertel Auftakt und als drittes eine Takt-Eins), wahrscheinlich weil das nachfolgende Des bedeutungsvoller wirken soll, weshalb es auch leiser ist. Zugleich muss man dann zusehen, dass die Achtel wieder vorwärtsgehen (roter Pfeil), was zur Folge hat, dass das letzte, der Ton F, wieder zögern muss, ebenso der ganze nächste Takt: die Klarinette ist Königin, und sie spielt sich entsprechend auf, auch durch die besonders herausgekehrte Dezenz auf dem höchsten Ton, was allerdings zwei Takte weiter durch übertriebenes Crescendo ausgeglichen wird.

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Vielleicht hätte ich alles, wie es ist, mit Sympathie hingenommen, man hört keine neue Aufnahme mit dem Vorsatz, nicht überwältigt zu werden, – der Widerstand formt sich sehr langsam, kann aber beschleunigt werden durch treffende Kommentare oder – noch besser – durch ein überzeugendes Gegenbeispiel. Hier wäre es: aber es stammt von 2005 und kann sich nicht auf das historische Vorbild Mühlfeld berufen. Muss das ein Nachteil sein?

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Hier wird mir nichts bewiesen, außer dem, was Brahms geschrieben hat, und das ist wunderbar genug. Gehen wir zum nächsten Satz: „Andante un poco Adagio“. Coppola tendiert zum Andante, Fröst zum Adagio, beide Tempi überzeugen. Das, was stört, ist wieder die Demonstration des Pianissimos an der Grenze des Hörbaren, sobald das Thema, das anfangs poco forte intoniert wurde, von neuem ansetzt: ein piano ist in den Takten vorher erreicht, es würde genügen, dem Thema noch einmal sehr sorgfältig und sanft (liebevoll) nachzusinnen, um es dann zu einem forte hinaufzuführen, „dol.“ (dolce) bedeutet nicht jenseitig, nicht einmal „sotto voce“ (noch weniger „dolente“). Bei Coppola erinnert es mich fatal an Giora Feidman, wenn er auf seiner Klezmer-Klarinette Theater macht. Dabei ist es Fröst, der auch Klezmermusik im Programm hat, aber nicht bei Brahms. Er trumpft auch im Ländler des nächsten Satzes weniger bajuwarisch auf als Coppola. Richtig, denn es ist kein Theater…

***

Nun könnte man mir entgegenhalten: warum meckerst du über das, was du an Caroline Widmanns Schubert über den grünen Klee lobst? Weil es dort etwas ganz anderes ist, zumal die Musik wirklich aus dem Nichts, aus dem Niemandsland kommt. Zum anderen handelt es sich um die Geige, deren Tonbildung in einem anderen Rahmen verläuft. Das tonlose, vibratofreie Spiel ist ja auch nicht an sich ein höherer Wert, – bei Anne-Sophie Mutter zum Beispiel ist es ebenfalls Theater…

***

Und wie gesagt: es war eine Diskussion, man kann gewiss ganz anderer Ansicht sein.

Und nebenbei: Martin Fröst ist weder klassischer Asket noch ein Feind des Theaters…

Und noch etwas: das Leben geht weiter, notfalls sogar ohne Musik, wenn auch als Irrtum. Falls Nietzsche recht hat.

Nur am frühen Morgen scheint es anders, wie heute, am 12. November 2016:

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Nachwort am Abend

Ich kann es nicht ganz dabei bewenden lassen: erst jetzt habe ich den CD-Kommentar von Coppola gelesen und kann manches nachvollziehen. Ja, mein Wort vom „Theater“ hat sich – ohne dass ich davon wusste – bestätigt, aber auf eine ganz andere, klügere Weise, als ich gedacht hatte. Um es jedoch vorwegzunehmen – eine musikalische Interpretation erweist ihre Überzeugungskraft nicht durch eine zusätzliche verbale Interpretation der musikalischen Interpretation, sondern aus dem klanglichen Ergebnis und der Wirkung, die man als Zuhörer mit denen anderer Interpretationsmöglichkeiten vergleicht. Die Werke haben eine Geschichte. Und gerade deshalb lasse ich gern auch diese verbale Deutung „narrativ“ auf mich wirken, empfehle sie weiter – und versuche sie auszuschalten: möglicherweise hilft sie nur dem Interpreten bei der Aufführung, nicht aber dem Hörer, der sich gerade allen Tagträumen verschließt, um mehr Musik wahrzunehmen.

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Gewiss, ich bin weit entfernt davon, mich diesen Gedanken zu verweigern. Andererseits sehe ich zu wenig konkrete Hinweise bei Brahms selbst und finde die seiner Zeitgenossen „überinterpretiert“. Für Orpheus und Eurydike gar fehlt mir selbst der kleinste Anlass; sie passen nicht recht zu den späten Gedanken des Komponisten, über die wir freilich wenig wissen…

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Vielleicht ein andermal mehr darüber. Hier der direkte Weg zu beiden Produkten:

Hier Fröst/Pöntinen (ohne Theater), HIER Coppola/Staier (mit Theater).

 

Gewaltenteilung

Ein Trampelpfad wird Autobahn. Und ist kürzer als man denkt. 

Das Entsetzen ist groß. Kann das Prinzip der Demokratie am Ende auch das Ende der Demokratie bedeuten? Ein paar hilfreiche Gedankengänge, – so schnell ist Polen nicht verloren. (Aber es geht nicht mehr um Polen. Das ist alles…)

Mein Trost ist mit Kosten verbunden. (Das Buch – s.u. – ist schon so gut wie bestellt…)

Quelle: DIE ZEIT 10. November 2016 Seite 1 und Seite 60: „OH MY GOD!“ und „Das Volk soll bitte alles genehmigen“.

Es hilft nichts: Angesichts der Verheerung müssen wir uns das Beben schönreden, obwohl man dabei viel Fantasie aufbringen muss. Denn dieser Mann, der die Republikanische Partei gekapert hat, meint, was er sagt. Folglich könnte er sehr wohl im Weißen Haus anrichten, was er dem Wahlvolk immer wieder eingehämmert hat. Grob zusammengefasst, hat er angekündigt, die Gewaltenteilung auszuhebeln, die Medien zu unterwerfen und eine Außenpolitik zu schreddern, die Amerika zur Ordnungsmacht befördert hat. Der Mann ist ein Wiedergänger Mussolinis, aber freundlicherweise ohne schwarz behemdete Sturmtruppen.

Wie will er den Umsturz verwirklichen – am Kongress und an den Gerichten vorbei?

Quelle OH MY GOD ! Was auf die Welt zukommt. Donald Trump wird seine Drohungen wahr machen. Die Verfassung aber steht ihm im Weg. Von Josef Joffe.

Eine Atempause. Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal einen Kommentar von Josef Joffe wie einen Rettungsanker traktiere. Eine Atempause: die Vision einer guten Regierung und ihrer segensreichen Wirkungen. (Nichts ist hier wirklich vergleichbar, es geht nur um den Titel und den gleich lautenden des Buches von Pierre Rosanvallon.)

gute-regierung-siena-ambrogio_lorenzetti Die Gute Regierung (Siena) 1340

ZITAT

Richtig: Jeder neue Präsident kann mit seinem eigenen Team in Washington einziehen, aber die 1200 Top-Positionen müssen vom Senat bestätigt werden: vom Minister bis zum Botschafter. Auch hier wird Trump auf Straßensperren treffen, genauso wie bei der Ernennung der Obersten Richter, wo zwei bis drei Vakanzen anstehen. Seine Haushaltsvorlagen müssen ebenfalls vom Kongress abgesegnet werden. (…)

Was Trump aber eigenmächtig beschließen kann, ist schlimm genug. (…)

Trotzdem müssen wir glauben, dass die Verfassung diesem Möchtegern-Mussolini hohe Hürden in den Weg stellt. Diese hält immerhin seit 229 Jahren. Sie hat noch alle Usurpatoren ernüchtert. Wem die Macht zu Kopf steigt, der ist bislang noch immer an der Gewaltenteilung gescheitert.

Auch der Horrorclown Trump? Womöglich ist er doch geschmeidiger, als er tönt. Womöglich gibt er doch nicht den Samson im Tempel. Es bleibt der Welt nichts anderes übrig, als fest daran zu glauben, dass die amerikanische Verfassung auch diese Krise übersteht. (…)

Quelle Oh my God! Was auf die Welt zukommt. Von Josef Joffe a.a.O. Seite 1.

Latente Fortsetzung dieses Leitartikels später im Feuilleton Literatur-Teil auf Seite 60. Thema: Ist die Demokratie tatsächlich am Ende? Ist sie noch zu retten? Der französische Intellektuelle Pierre Rosanvallon geht in seinem glänzenden Werk „Die gute Regierung“ einer Krisendiagnose auf den Grund. Es handelt sich um eine Besprechung von Andreas Zielcke, und zwar eben dieses Buches, „das sich sehr aufschlussreich mit Mängeln heutiger Demokratien beschäftigt, mit seinen Heilungsrezepten aber weniger überzeugt. Doch in diesem Punkt lässt sich (…) leicht mäkeln.“

ZITAT (DIE ZEIT)

(…)

Parlamentswahlen sind inzwischen komplett auf die Person des Regierungschefs zugeschnitten, der Sieg hängt von seiner Zugkraft ab, nicht von den – meist austauschbaren – Programmparolen der Parteien und auch nicht von den Parlamentskandidaten, zumal wenn sie nach Listen gewählt werden. ist der Wahlsieger im Amt und, was die Regel ist, zugleich Vorsitzender der Regierungspartei, kann er mittels Partei- und Fraktionsdisziplin die wichtigsten Entscheidungen des Parlaments steuern. Gesetzesinitiativen kommen aus der Regierung, nur noch im seltensten Fall aus der Mitte der Volksvertretung, auf den nötigen Mehrheitsbeschluss kann sich die Regierung (bis zur Grenze der Vertrauensfrage) verlassen. Die Exekutive regiert die Legislative.

Insofern fängt der Zug zum Autoritären nicht erst beim Missbrauch durch Tribunen wie Viktor Orbán oder Recep Erdoğan an, sondern bereits hier. Die Entmachtung des Parlaments gemäß dem Willen, aber auch zum Verdruss des Wahlvolkes ist der heutige Normalfall. (…)

Am Anfang galt das andere Extrem. Für die französischen Revolutionäre war die Legislative das Gravitationszentrum der Demokratie. Freiheit von Despotie bedeutete, dass sich die Bürgerschaft selbst regiert, indem sie sich ihre Regeln selbst setzt. So werden die Gesetze zum „Ausdruck des allgemeinen Willens“, wie es in der Menschenrechtserklärung von 1789 heißt, und verkörpern zugleich die Gerechtigkeit, weil sie in ihrer Allgemeinheit keine bestimmte Person kennen und somit leidenschaftsfrei das Wohl der Nation im Auge haben. (…)

Entsprechend gering schätzte man die Rollen der beiden anderen Gewalten. Richter galten als bloßes Sprachrohr des Gesetzes, als Automaten der Rechtsanwendung. Vor allem wurde auch der zweiten Gewalt derselbe untergeordnete Rang zugewiesen. Noch im heuigen Begriff der „vollziehenden Gewalt“ (wie natürlich auch im Fachwort „Exekutive“) ist die Vorstellung enthalten, dass Regierung und Verwaltung nur ausführende Organe des Gesetzes sind. (…)

(…) Versagen des abstrakten Gesetzeskults (…). Trotzdem sorgte erst das 20. Jahrhundert dafür, dass die Exekutive endgültig des Machtprimat errang und ständig weiter ausbaute. (…)

Ging es seinerzeit bei den französischen Revolutionären darum, die Einheit des Volkes durch das Gesetz zu gewährleisten, sollte diese Einheit nun durch das andere Extrem manifest werden, durch autoritäre Dezision einer national gesinnten Regierung. (…)

Gesetze verlieren zunehmend ihren Allgemeinheitscharakter. Je komplexer die Gesellschaften werden, desto detaillierter und in ihrer Reichweite beschränkter werden die steuernden Regeln. Ja, der Begriff „Regel“ wird zur Schimäre, tatsächlich sind es meist sehr spezielle und rasch alternde Interventionsakte, statt allgemeingültiger Gesetze. Das amerikanische Gesundheitssystem („Obamacare“) umfasst mehr als 30 000 Seiten aneinandergereihte Paragrafen. Auch deutsche Gesetze ufern inzwischen zu endlosen Maßnahmenkatalogen aus. Regierungen greifen mit einer hochtourigen Gesetzesmaschine, aber immer nur punktuell als Experten in das gesellschaftliche Getriebe ein, unverständlich für jedermann. Als Gesamtbild des Volkswillens kann allenfalls noch die Verfassung gelten. (…)

Und wie steht es schließlich mit der demokratischen Legitimität der exekutiven Vormacht? Dass die Person des Regierungschefs so etwas wie ein repräsentatives Abbild darstellt, so wie man es einst dem idealtypischen Parlament zubilligen mochte, ist absurd. Was aber repräsentiert er dann? Zumal wenn er durch knappe Mehrheitsentscheidung ins Amt kommt? Verwandelt sich die Demokratie in Technokratie, spielt dies keine Rolle. In der Tat ist die technokratische Versuchung besonders seit der Finanzkrise wieder gewaltig gewachsen. Oder Demokratie verwandlet sich in ein Regime des Populismus, das ohnehin nur ein einheitliches „Volk“ kennt. Von Joseph Schumpeter stammt der zynische Satz: „Die Anerkennung der Führung ist die eigentliche Funktion der Wählerschaft.“ Ist es so, können wir uns alle Fragen nach demokratischer Legitimität sparen. Rosanvallons Buch ist Pflichtlektüre. 

Quelle DIE ZEIT 10. November 2016 Seite 60 Das Volk soll bitte alles einfach genehmigen. Ist die Demokratie tatsächlich am Ende? Ist sie noch zu retten? Der französische Intellektuelle Pierre Rosanvallon geht in seinem glänzenden Werk „Die gute Regierung“ einer Krisendiagnose auf den Grund. Von Andreas Zielcke.

Man schaue auch in Pierre Rosanvallons eigene Web-Seite http://www.laviedesidees.fr/ oder zunächst in den Wikipedia-Artikel HIER.

Meine Zitate sollen nicht die Lektüre des Artikels ersetzen, sondern ihn in Erinnerung halten. Vermutlich wird er bald im Internet abrufbar sein. Ich werde den Link an dieser Stelle nachtragen. HIER ist er.

Ich übernehme jetzt erstmal eine kleine Aufgabe, bevor ich mir das hier empfohlene Buch wirklich zumute oder besser gesagt: zutraue. Eine umfangreiche und vielfach gegliederte  Webseite sollte mich umfassend informieren, bevor ich gewissermaßen als besorgter Staatsbürger mich täglich durch wechselnde Meldungen und Kommentare der Tageszeitungen beunruhigen lasse. Zuerst muss eine solide Basis vorhanden sein, und die Web-Seite, der ich vertraue, heißt: Gewaltenteilung.de. Über Sinn und Funktionsweisen eines Betriebssystems für Staaten. Abrufbar: HIER. Über den Autor: Hier.

Gutes Gelingen!

Zur Analyse arabischer Musik (I)

Ein Beispiel im Maqam Ajam mit Oum Kalthoum

Die chronologische Verortung der Aufnahme „Lessa Faker“ auf 1963 findet man bei Ysabel Saiah „Oum Kalthoum“ Paris 1985 Seite 243, wie folgt:

oum-kalthoum-lessa-faker  als „Lissah fakir“ HIER jedoch auf 1960.

Dieser Entdeckung ging eine andere voraus: nämlich die der Internet Maqamlessons, erarbeitet und ins Netz gestellt von Sami Abu Shumays, einem arabischen Violinisten, der in New York lebt. Man kann z.B. hier beginnen. Oder sich über die Arbeit des Musikers informieren: HIER.

Was ist Jins (Ajnas)? Es bedeutet das gleiche wie bei d’Erlanger (La Musique Arabe) das Wort „Genre“, nämlich die kleinste melodisch-motivische Einheit innerhalb eines Modus (Maqam). Siehe auch hier.

Für mich begann es mit diesem Link:

http://www.maqamlessons.com/analysis/lissafakir.html oder HIER WICHTIGER LINK!

Im folgenden ein Ausschnitt aus der oben verlinkten Gesamtaufnahme (vorläufig entfernt, weil nicht mehr abrufbar), jedoch als Film (!), bei 1:13 beginnt ein Thema, das mich elektrisierte; es erinnerte mich stark an die „Rubayat Omar Khayyam“, die ich mir vor langer Zeit erarbeitet habe (auch von Riad Sunbati komponiert). Hier wie dort: es handelt sich um Maqam Saba (innerhalb des Gesamtumfeldes Maqam Ajam, der auf dem Ton B steht und durchaus an B-dur erinnert.) Wenn man den Anfang der obigen Aufnahme mit den Tönen des B-dur-Dreiklangs als „rein westlich“ inspiriert betrachtet, verkennt man, dass die Töne B – D – F  wichtige Funktionen im Maqam Ajam einnehmen, was im folgenden leicht zu erkennen ist.)

Zum Maqam Ajam siehe bei Wikipedia HIER, vor allem aber in maqamworld.com HIER / Unter „Maqam Shawk Afsa“ wird genau die Variante erwähnt, die man im Film bei 1:13 erlebt: „Saba“ als Bestandteil des Maqam Shawk Afsa (unter den Recording Samples findet man als drittes eine Stelle aus Oum Kalthoums „Lissa Faker“). Jedoch wird Hijaz auf F zur Erklärung herangezogen (auch Kurdi auf D gehört in diesen ES-Kontext), weil für Saba korrekterweise der Ton ES (in D-ES-F-GES) einen Viertelton höher läge, was tatsächlich im obigen Film ab 1:13 im Orchester gut zu hören ist. (Vgl. direkt unter Saba. Siehe dort auch unter Saba Zamzam).

Weiterer Lernstoff (erster Zugang zum Text, ungesichert):

http://www.shira.net/music/lyrics/lisah-faker.htm oder HIER

http://www.arabiclyrics.net/Oum-Kalthoum/Lessa-Faker.php oder HIER

Arabischer Text: HIER.

Dank an Manfred Bartmann (über Facebook, sehr empfehlenswerte Beiträge)

Afrika sehen und hören

Mauretanien – Mali – Malawi

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Durch die Jahrhunderte war / Chinguetti das Ziel aller Karawanen / Für all jene, die das Wissen / und den Austausch suchen

Chinguetti ist die Mutter all / jener, die aus allen Himmelsrichtungen / der Welt gekommen sind.

Die gekommen sind, hier zu leben und zu sterben / Und die ihre Geschichte geteilt haben / Oh! Seht diese Häuser in Trümmern! / Seht wie die Dünen sie versandet haben!

Diese Häuser gewährten / Menschen Unterkünfte, / die die Größe Chinguettis / geschaffen und geschützt haben.

Wieder zu Wüste geworden, / wohnt hier der Atem des Windes, / wächst keine Pflanze hier, / keine Wolke, um sie zu bedecken.

Bis zur Ankunft einer Gruppe / Araber, die sie bewohnt haben, / die sie erweckt haben /

Und heute scheint Chinguetti / müde, müde vom Kampf / um ihre Existenz / Ihre Palmen! Ihre Dünen!

Kommt und gebt ihr das Grün zurück, / kommt und gebt ihr das Lächeln zurück/ gebt ihr das Leben, das sie beansprucht, / zurück, denn sie träumt es zu haben / seit Jahrhunderten.

(Ausschnitt aus einem Gedicht von Leila Mint Chigali Ahmed Mahmoudi, vorgetragen in Nouakchott 18.4.2015. Sie bittet darin den Präsidenten, die Menschen von Chinguetti zu unterstützen. Übertragung: Edda Brandes.)

 

afrika-mali . . . . afrika-malawi-malamusi-cover afrika-malawi-malamusi-inhalt

(Text folgt)

Sei mir gegrüßt, Schubert!

Das Lied und die große Form

Zunächst: ohne die Aufnahme der Fantasie in C-dur mit Carolin Widmann und Alexander Lonquich hätte ich mich wohl nie wieder näher mit diesen Violinwerken von Schubert befasst. Ich habe sie verkannt. Und gemieden. Unbegreiflicherweise.

Ich beginne mit dem Lied, das ich wahrscheinlich schon kannte, als es mit Fischer-Dieskau herauskam. Auch heute überzeugt mich seine Interpretation aus dem Jahre 1962, es ist noch ganz frei von Manierismen, die später nicht zu überhören waren. HIER.

Um eine neuere Aufnahme dagegenzusetzen, eher dramatisch aufgefasst: Bernarda Fink (2008). HIER.

Und eigentlich vom Tempo her befremdend und in der Text-Artikulation unzureichend, dennoch im Spannungsverlauf zwingend (1991): Arleen Augér. HIER.

Was schreibt Schubert als Tempo-Vorschrift? „Langsam“!!! In der Violin-Fantasie, deren dritter Satz aus eben diesem Thema und Variationen darüber besteht, liest man „Andantino“; die Interpreten wählen jedoch ein Tempo, das in etwa dem von Arleen Augér entspricht. Ich sage kein Wort der Kritik, – die Aufnahme ist nicht nur überzeugend, sondern überwältigend. Ich vermute, dass die Tempowahl letztlich mit der Ausführbarkeit der schnellsten Notenwerte in den Variationen zu tun hat. Das Video, in dem der Pianist und die Geigerin über ihre Auffassung vom Stück und von Schubert sprechen, ist hoffentlich noch lange abrufbar. Falls es uns jetzt nur um das Tempo geht, kann man gleich auf 3:00 springen, aber dann unbedingt das Ganze nachholen. Oder auch zuerst weiterhören, denn in der Tat: der Anfang, von dem dann die Rede ist, – einfach atemberaubend, man vergisst es im Leben nicht. Also ab Minute 3:00! HIER.

Ich finde es faszinierend, wie hier über Musik gesprochen wird und insbesondere über Schubert, wo es am schwierigsten ist. Man kann Analysen lesen, die präzise beschreiben, was in den Noten steht, – alles, was thematisch und motivisch passiert, gewissermaßen auflisten, übersichtlich machen -, und das Wesentliche, – das, was Schubert unverwechselbar macht, – versäumen. Gerade in diesem Werk, das von exorbitanten technischen Schwierigkeiten überquillt: da wirkt es fast wie ein riesiges Ausweichmanöver, wenn man sich auf das  Pragmatische beschränkt, obwohl all dies nicht unwichtig ist. Es ist also durchaus nützlich zu hören, was Antje Weithaas zu sagen hat, wenn der Henle-Verlag seinen Notentext gewürdigt haben möchte, und sie ist ja eine ausgezeichnete Geigerin: HIER.

Andererseits, wenn mir jemand sagen würde: Vergessen Sie alles Technische und alle greifbaren Einzelheiten, schauen Sie auf dieses unergründliche Foto vom Waldesdunkel, und Sie haben alles, was Sie über Schuberts Geheimnisse wissen können, auch über seine hoffnungsvollsten Augenblicke… Warum würde ich das zurückweisen?

schubert-violine-cover. . . .

Was immer man über Schubert zu schreiben oder zu reden wagt, es ist fast immer zu wenig und zuviel. Und bei ihm selbst, wenn er sich in seiner Musik ausspricht,  hilft man sich ja gern mit dem Wort von den „himmlischen Längen“.

Wer weiß, ob das Wiener Publikum nicht etwas Richtiges zum Ausdruck brachte, als es bei der ersten Aufführung der C-dur-Fantasie am 20. Januar 1828 in Scharen den Saal verließ? Sie hatten keine Zeit mehr… aber wohl nicht in Lonquichs Sinne. Wenn die Äußerungen beim Hinausgehen notiert worden wären, hätte es vielleicht ganz vernünftig geklungen, etwa so: das ist doch leere Virtuosität, Paganini wär mir lieber.

schubert-violine-ecm-longquich Unser Pianist …

Und der der Uraufführung, allerdings 45 Jahre nach der Tat:

pianist-bocklet Karl Maria von Bocklet

Lassen Sie uns doch die große Form betrachten, was steckt denn in diesen 5 oder besser 7 Abschnitten? Ich folge lieber einer unbestritten meisterhaften älteren Aufnahme, der von David Oistrach und Frieda Bauer, um nachher die Vorzüge der hier vorliegenden zu genießen. Und wähle als Leitfaden einen Text, der mir quasi improvisiert erscheint, jedenfalls war er nicht ganz fertig redigiert und stammt von einem Praktiker, der dieses Werk offensichtlich aus eigenen Aufführungen kennt. Ich nenne den Namen erst im Nachhinein, weil hier ausschließlich der Inhalt seines Textes zur Wirkung kommen soll, nicht seine Person.

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ZITAT (der Autor des in Blau gedruckten Textes wird unten nachgeliefert, die in Rot gedruckten Zusätze stammen von mir, JR. Alle Zeitangaben beziehen sich auf die Oistrach-Aufnahme!)

Wo die Wanderer-Fantasie mit entschlossenem Zugriff beginnt, wirkt der Beginn der Violinfantasie, als müsse die Musik selbst erst entstehen. Über einem leisen Klaviertremolo setzt kaum hörbar die Geige ein, tastet sich aus einem fast zwei Takte liegenden Grundton vorsichtig nach oben, entwickelt ganz allmählich die Konturen einer Melodie. Ein mehrfach wiederholtes Motiv aus einem Sprung und einer anschließenden Trillerfigur im Klavier führt parallel zu einer ersten zaghaften rhythmischen Gliederung. Durch den Kontrast zwischen den flirrenden Tremoli im Klavier und der lang gezogenen Linie in der Geige hat man den Eindruck, als spielten die beiden Instrumente wie in weiter Entfernung miteinander. Ganz allmählich nähern sie sich einander an: Das Klavier-Tremolo steigt in höhere Lagen, nähert sich also dem Register der Geige, während diese zweimal die Trillerfigur und mehrmals den vorangehenden Oktavsprung aufnimmt. (1:46) In Takt 18 hat das Klavier eine erste rhythmische Stabilisierung erreicht, es beginnt mit einer Art Tanz, dem sich die Geige zwei Takte später aber nicht anschließt, sondern statt dessen die Anfangsmelodie eine Oktave tiefer wiederholt. Harmonisch ist bis hierher alles im Bereich einer erweiterten C-Dur-Kadenz geblieben, einzige kleine Besonderheit waren eine Alteration nach As (ein erster versteckter Hinweis auf die Tonart des späteren Variationsteils) und eine plötzliche Zwischendominante in E-Dur. Das Klavier beendet den angedeuteten „Tanz“ nach wenigen Takten und schließt sich der Wiederholung des Anfangs an. (2:10)

Als es zur E-Dur Zwischendominante kommt, bleibt die Musik harmonisch plötzlich quasi stehen, kommt nicht mehr weiter, die Triller im Klavier hören auf, die Geige hängt auf einem zwei Takte langen „e“, schließlich bricht das Tremolo ab. Dieser ganze erste Teil bewegte sich durchgehend im Pianissimo, ohne jeden Akzent, ohne Kontraste. Man erlebt weniger „Entwicklung“ als vielmehr „Entstehung“ von Musik aus unkonturierten Anfängen zu vorsichtigen, aber vorerst ergebnislosen Strukturierungen. Ein nacheinander von beiden Instrumenten kadenzartig ausgeführter Septimakkord mit anschließender Fermate bereitet den zweiten Hauptteil des Werkes vor. (3:36)

Der „Tanz“ , den das Klavier im ersten Teil kurz andeutete, dann aber wieder fallenließ, bestimmt hier vom ersten Moment an die Musik: Ein markantes 2/4-Allegretto-Thema mit zahlreichen Akzenten wird zunächst von der Geige, später vom Klavier gespielt, dabei vom jeweils anderen Instrument im rhythmischen Kontrapunkt (später im Kanon) und vom Klavier zusätzlich mit pulsierenden Achtel-Akkorden begleitet. Das steigert sich (T. 83) zu – auf beiden Instrumenten halsbrecherisch schwierigen – Passagen, bei denen die Achtel-Begleitung immer mehr durch Sechzehntel-Figuren ergänzt und ersetzt wird. Bei einem ersten Höhepunkt (T. 131) stürzt im Klavier eine Kette von oktavierten Sechzehnteln nach unten, während die Geige sich in Gegenbewegung befindet. (5:05) Nach einer allmählichen Beruhigung mit abschließender Fermate beginnt das Ganze noch einmal von vorn. Diesmal bleibt die Beruhigung jedoch aus und die Musik steigert sich zu immer wilderen Ausbrüchen. Der Themenkopf wird nacheinander mit zunehmender Heftigkeit in a-moll, H-Dur, e-moll, Fis-Dur, h-moll, fis-moll, cis-moll wiederholt, dazu laufen Sechzehntel-Passagen wie wild geworden durch die Instrumente und Stimmen. (7:44) In T. 293 ist der Themenkopf nur noch bruchstückhaft, wie zerhackt in der Violine zu hören, das Klavier steigert plötzlich (T. 301) mit synkopierten Akkorden. Hinzu kommen abrupte, unvorhersehbare Dynamiksprünge. Harmonisch kommt es zu einem Stau über dem Grundton Es, der nach den vorangegangenen schnellen Sequenzen die Spannung extrem steigert. An Stelle einer Ent-Spannung folgt im Klavier eher ein ermattetes Nachlassen der Kräfte, nachdem die Geige sich mit einigen wenigen Akkorden aus dem Kampf verabschiedet hat. (8:13) Die diesen Teil abschließende lange Generalpause ist von lähmender, beängstigender Spannung.

Das Lied (ab 8:32) und die Variationen! 

Es ist mir nicht möglich, die Wirkung des folgenden Lied-Zitates „Sei mir gegrüßt“ mit Worten zu beschreiben. Nur das: Es ist für mich einer der magischsten Momente der gesamten Musik. Der erste Thementeil wird zunächst vom Klavier vorgestellt, dann von der Geige wiederholt, beim zweiten Teil wiederholt die Geige nur die Schlusstakte. (11:05) Es folgen zunächst drei, sich allmählich steigernde Variationen: In der ersten spielt das Klavier wieder eine Art Tanz, umspielt von arpeggierten Akkorden in der Violine und durchsetzt mit virtuosen, in beiden Instrumenten gegenläufigen Passagen.

Genau zu Beginn der zweiten Variation müssen wir aufs nächste Video wechseln! Es beginnt mit den letzten Takten der ersten Variation, zweite ab 0:12

Fortsetzung des zitierten Textes:

Diese Passagen werden in der zweiten Variation in der Oberstimme vom Klavier übernommen, während im Bass jetzt die arpeggierten Figuren aus der Violinstimme liegen. Die Geige begleitet mit Pizzicati. Beide Variationsteile beginnen entspannt, flächig, steigern sich dann aber zu größerer Heftigkeit, um schließlich in aberwitzigen 32stel-Ketten und einem abschließenden gegenläufigen Arpeggio über fünf Oktaven auszulaufen. (Oistrach lässt die Wiederholungen weg.) Variation III beginnt bei 1:14.

In der dritten Variation übernimmt die Geige die 32stel-Bewegung und spielt in einer Art Perpetuum-Mobile in fast durchgehendem Pianissimo ein virtuoses Glanzstück, während im Klavier das Thema tänzerisch, mit vielen Trillern und Doppelgriff-Ketten variiert wird.

Danach beginnt das Klavier eine vierte Variation (2:24), die wieder deutlich näher am Thema zu sein, zu ihm zurückzuführen scheint. Indessen wird im sechsten Takt die kurze Ausweichung nach C-Dur (2:45) zu einem Tor zum nächsten Abschnitt : Die Violine setzt, statt wie im Thema über Es-Dur zur Tonika As-Dur zurückzuführen, in c-moll fort, geht zu dessen Dominante G-Dur, (3:20) wo die Musik wieder wie unentschlossen in einer langen Kadenz stehenbleibt. 

Es folgt (3:58) ein geradezu atemberaubend gespannter Rückblick auf den allerersten Tremolo-Anfang. Nach dem stabilen, sich dann zu wilder Raserei steigernden Allegretto-Teil, nach dem wunderbaren, unbeschreiblichen Thema, den immer feiner, virtuoser aufgelösten Variationen, nach alldem wirkt dieser Anfang merkwürdig fremd, unpassend, geradezu krank. Bereits nach wenigen Takten „hängt“ er harmonisch fest, quält sich modulierend nach G-Dur, steigert sich bis zum Fortissimo und endlädt sich endlich im Beginn des vierten Hauptteils, dem Allegro vivace in C-Dur.

(5:14) Allegro vivace

Dieses Allegro, motivisch basierend auf dem Themenkopf aus dem Liedzitat, bewegt sich mit einem kraftvollen, „stolzen“ Ausdruck durch immer neue harmonische Regionen. Der surreale Rückgriff auf den Anfang scheint vergessen, die Musik wirkt stabil, sicher, unantastbar. Vielleicht allzu sicher:

Ein unvermittelter, „flirrender“ Abschnitt in a-moll (T. 611) (7:29), macht deutlich, dass das strahlende C-Dur trotz aller demonstrierten Kraft nach allem, was vorangegangen ist, auf keiner sicheren Basis steht. Dieser Abschnitt steigert sich zu größtmöglicher Lautstärke (ff-cresc.) und springt dann in einer wahrlich schockierenden Wendung vollkommen überraschend nach As-Dur, also der Tonart des Lied-Teils (8:03)Ähnlich, wie der Rückgriff auf den tremolierenden Anfang vor dem Allegro-Teil wirkt auch diese plötzliche Wiederkehr des – nur wenig variierten – Liedes verändert, fremd, unpassend, eher verstörend als tröstend. (9:16) Nach einer erneuten Generalpause beendet ein kurzer Presto-Kehraus das knapp halbstündige Werk. (Ende: 9:57)

Der hier blau gekennzeichnete Text stammt von dem Pianisten Christian Köhn und wurde mir freundlicherweise von ihm zur Veröffentlichung überlassen. Christian Köhn unterrichtet an den Hochschulen von Detmold und Würzburg; im Duo mit Silke-Thora Mathies spielte er über 20 CDs mit vierhändiger Duo-Klavierliteratur ein. – Es ist nicht so einfach, einen analytischen Text zu finden, der nicht einfach „auflistet“, was in den Noten steht, sondern den Prozess der Musik von Anfang bis Ende im Auge behält. So dass man ihn beim Hören der Musik zweifelsfrei und ohne Verständnisprobleme verfolgen kann. Ich bedanke mich herzlich für Genehmigung.

Um ein Gegenbeispiel anzuführen, das den Leser in eine völlig verdinglichte Erwartungshaltung versetzt, sei der folgende Kurztext renommierter Autoren zitiert:

Im Zentrum der Komposition steht ein Andantino mit Variationen über eine kurzgefaßte Version des Liedes Sei mir gegrüßt nach Friedrich Rückert (D 7419. Schubert hatte dieses schon 1823 im Liederheft op. 20 veröffentlicht und konnte wohl auch mit dessen Bekanntheit rechnen. Es ist in der Fantasie nun zubereitet für alle geigerischen Entfaltungsmöglichkeiten, für sanft weittragendes Legato-Spiel ebenso wie für virtuose Brillanz der alle Saiten nutzenden Arpeggien und Springbogen-Passagen in den Variationen. Um diesen Variationensatz herum gruppiert Schubert Charaktersätze und -abschnitte, die durch Verzahnung und späteres Wiederanknüpfen ein weiteres mal die Möglichkeit für Variantenbildung und Umspielungen geben.

Quelle Franz Schubert (Reclams Musikführer) Von Walther Dürr und Arnold Feil / Reclam jun. Stuttgart 1991 (Seite 261)

In diesem kleinen Text führt wirklich jedes Wort, jeder Satz in die Irre, angefangen bei der Vermutung, dass Schubert auf die Bekanntheit des Liedes spekulierte, auch dass es überhaupt „im Zentrum“ steht (befinden wir uns nicht von Anfang an im Zentrum?), über die „geigerischen Entfaltungsmöglichkeiten“ (sind sie nicht durch fast unüberwindliche Hürden blockiert?), die „Gruppierung“ der „Charaktersätze und -abschnitte“ bis hin zur „Verzahnung“ und zur läppischen „Möglichkeit für Variantenbildung und Umspielungen“. Möchte man sich mit einem solchen Flickenteppich beschäftigen?

***

Nichts gegen Oistrachs geigerische Unangefochtenheit, aber wenn man den Anfang seiner Schubert-Aufnahme mit der von Carolin Widmann vergleicht, kommt man nicht umhin zu konstatieren, dass er schon beim 10. Ton, dem hohen c“‘, sein normal vibriertes Melodiespiel abruft, während die Geigerin einen unergründlichen Horizont über die flirrende Luft des Klaviertremolos zeichnet: man hält den Atem an und weiß, dass hier jeder Ton in scheinbarer Ausdruckslosigkeit gleich nah zum Zentrum der Musik oder des Lebens ist.

Das Allegretto nimmt er („gefühlt“) doppelt so schnell wie Carolin Widmann, es hat auch keinen p-Charakter, obwohl es nicht direkt laut wirkt, aber draufgängerisch; sie spielt zierlicher, zerbrechlicher, meinetwegen auch zaghafter. Gerade deshalb sind auch heftigere dynamische Ausreißer möglich. Oistrach spielt normal. Zuweilen auch etwas kantig. Man ist vor Überraschungen sicher. Lonquich hat Luft unter den Fingern, er spielt ein wunderbares Nonlegato. Was für eine Pause vor dem Einsatz des Liedes! Oder sind nur die Ohren so gespitzt?

(Fortsetzung folgt)