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Händel hören

DER MESSIAS

So schön und ergreifend habe ich das Werk wohl noch nie gehört. Ich habe es sehr oft als Geiger  mitgespielt, und – abgesehen von vielen Kostbarkeiten – als furchtbar anstrengend empfunden, vor allem als viel zu lang. Jetzt haben wir es zu Silvester nach der Knallerei um 0:00 bis etwa 2:00 (bis zum Hallelujah) gehört, ohne Ermüdungserscheinungen, einfach mit Begeisterung und guten Erinnerungen. Man darf halt nicht an die Passionen von Bach denken, dessen Originalität in jedem Takt greifbar bist. Er komponiert „dichter“, was nicht bedeutet, dass Händels flächige Formen leer und phrasenhaft sind. So eilig er komponiert hat, für ihn gilt: Er hat Zeit und verlangt von uns: ZEIT. Ermüdungserscheinugenn einzelner Geiger interessieren ihn nicht.

Chor accentus und Insula Orchestra unter der Leitung von Laurence Equilbey

Solisten sind der englische Tenor Stuart Jackson, der amerikanische Bass Alex Rosen, der polnische Countertenor Jakub Jozef Orlinski und die französische Sopranistin Sandrine Piau.

Aufzeichnung vom 01. April 2024 beim Osterfestival in Aix-en-Provence.

Verfügbar bis 3.4.25

https://www.arte.tv/de/videos/119039-000-A/georg-friedrich-haendel-der-messias/

HIER ab 54:25 Zweiter Teil

darin ab 112:05 Thy rebuke hath broken His heart

das Rezitativ, das mich früher schon am meisten erschüttert hat. Ungewöhnlich und stark, die Intensivierung durch bloße Text-Wiederholung: „Er schaute umher, ob ein Mitleid sich regte: aber da war keiner, da war auch nicht einer, zu trösten ihn.“ Leicht gesagt, dass es wieder einmal die Wirkung eines „Neapolitaners“ und die (ungefähre!) Sequenzierung der Melodielinie ist, die für Wirkung sorgt, – es ist auch der Mut zur Einfachheit, der uns anrührt, gerade wenn wir an Bachs Koloraturen zu „und weinete bitterlich“ denken.

Aber hören Sie doch auch vorher die Chorfuge bei 1:06:55, zu deren Thema ich an anderer Stelle ähnliche Themen aus Bach und Mozart zusammengestellt habe (hier).

Ach, und viel früher: lassen Sie sich nicht die unglaubliche Alto-Arie entgehen, die mit Langeweile anzuheben, sich in kleinteiligen Wiederholungsmotiven zu verzetteln scheint, bevor ein pathetisch ausladender Melodieteil die Wahrheit sagt, „er ward verschmähet, verschmähet und verachtet“, und in dem erregenden Geißelungsmotiv der Streicher tritt die offene Agression hervor, man vergisst es nie mehr ! Ab 00:57:00 !

Unglaublich die Steigerung zum Schluss, hin zum „Hallelujah“ (1:31:06), in attacca genommenen Übergängen, während die Solisten ans stimmliche Limit gehen, mit offenbar gewollten Druckmomenten, um uns in dem berühmten Jubelsatz in erstaunlicher Gelöstheit und einer nicht forcierten Erlösungsgewissheit zu entlassen.

Wir sind bereit für eine weitere halbe Stunde, die mit einer überirdischen Arie beginnt: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet“ – „I know that my Redeemer liveth“.

Ich rede fast wie ein Christ und bin doch sicher, dass man auch ohne bibeltreuen Glauben mit solcher Musik vollkommen glücklich sein kann. Vollkommen.

Der Reichthum Händels

Heutige Mail von Reinhard Goebel zur ziemlich frühen Aufführungspraxis

In „Studien für Tonkünstler und Musikfreunde, Berlin 1792 “ drucken die Herausgeber Kuntze/Reichardt vier „Briefe aus London“ ab, in denen u.a. von den Concerti Grossi G.F.Händels die Rede ist:

“…Indess setzt diese Art von Instrumentalmusik eine eigene sehr große Schwierigkeit in der Ausführung voraus, die unsere itzigen Instrumentalisten sehr zu vernachlässigen anfangen und die Grundlage zu allem Übrigen seyn sollte.  Vollkommene Intonation und großer Ton. Nur dadurch, daß der Ton jedesmahl seine vollkommene Reinigkeit und Kraft hat, wirkt Musik ganz bestimmt und ohnfehlbar  auf alle Nerven. Und ein Stück von der Klarheit in der Melodie und dem Reichthum und Fülle an Harmonie, wie die Händel’schen Concerto’s, mit vollkommener Intonation und kräftigem Ton von allen Instrumenten vorgetragen, müßten eine weit stärkere und allgemeinere Wirkung auf den Zuhörer thun, als die größten Schwierigkeiten und Mannigfaltigkeiten in Melodie und Figuren je thun können……“

  (RG:  „Intonation“ heißt in diesem Fall – wie bei der Zurichtung der Kiele am Cembalo – „Attacke der Töne“, ARTIKULATION)

Auch in der  „Beschreibung einer Reise 1781“ von Friedrich Nicolai werden Händels Werke erwähnt : es heißt in Band 4 « Wien » auf S. 533/34:

 „ Ich habe verschiedene von Händels vortefflichsten Werken, zum Theil schlecht, zum Theil nur mittelmäßig gut aufführen hören. Ich kann gewiß behaupten, daß ich sie sicherlich nicht in der Manier gehört habe, wie sie Händel gedacht hat. Denn da schon bey Händels Lebzeiten ein Mann wie Corelli Händels nachdrückliche Manier im Vortrage nicht ganz fassen konnte; so ist leicht zu erachten, daß bey dem jetzigen Vortrage mit leichtem Bogen und übereilten Zeitmaaßen Händels pathetische Manier wohl selten erreicht wird. Ich befürchte, es wird mit der musikalischen Aufführung immer so bleiben. Nach kurzer Zeit ändert sich unmerklicher Weise die Art des Vortrags, die mittlere Bestimmung des Zeitmaaßes, und andere Dinge mehr. Ein musikalisches Werk wird also immer, je älter es wird, desto mehr an seinem eigenthümlichen Ausdrucke verlieren….“

*    *    *

JR Erinnerung an eine ebenfalls frühe Phase der alten Aufführungspraxis (1975)

 .    .    .    .    .    . alle Mitwirkenden (auch ich) Ort, Datum, Technik Sätze und Solisten