Verspätete Neu-Entdeckung
Jetzt endlich habe ich das Original wiedergehört: die Aufnahme, deren Transkription ich im MGG etwas verständnislos bewundert habe. Jeder kennt die Melodie, hat sie schon vor sich hin gesummt. Aber es dürfte eigentlich keine Menschen mehr geben, die ihr Leben verbringen, ohne je Amazing Grace mit Aretha Franklin gehört zu haben! Wir haben doch heute die Chance, unsere Neigung auf die Spitze zu treiben: Hören Sie das Lied in allen Versionen, die Sie finden können, inclusive Scottish Warpipes, hören sie die Beispiele in den Wikipedia-Artikeln hier oder hier. Erinnern Sie sich an all dies, legen Sie sich den Text bereit, und dann hören Sie Aretha Franklin in der Originalaufnahme von 1972. In ganzer Länge: 10’44“. HIER.
Wenn Sie Notenlesen können, hören Sie ein zweites Mal, und beobachten Sie sehenden Auges, was Sie da hören. Der hier zitierte Teil der Transkription (aus dem MGG-Beitrag „Sacred Singing“ von Bernd Hoffmann, Näheres darüber am Ende dieses Blog-Artikels) beginnt, wenn die Musik bei 4:10 anlangt.
Wenn Sie zu den Leuten gehören, die eine Aufgabe brauchen, um aufzuwachen und ganz lebendig zu werden: realisieren Sie nicht nur die Energie, Behendigkeit und Schattierungsfähigkeit dieser Stimme, sondern behalten Sie zugleich – auf einer „Metaebene“ – die einfache Ausgangsmelodie im Sinn, erwarten Sie die Strukturtöne dieser Koloraturen. Bleiben Sie ein Kind, das sich an der Hand der Mutter nicht fürchtet…
Die Stichworte für diese Art Gesang habe ich schon im vorigen Beitrag repetiert: Sacred Singing, Chanted Sermons, Kantillationstechnik etc. (MGG-Artikel). Auch der Name Putschögl, der mir wiederbegegnete, als ich heute morgen um 5.30 h erwachte und mit traumwandlerischer Sicherheit ein Buch aus dem Regal des Arbeitszimmers zog und darin blätterte, bis ich im Kapitel „Spirituals und Gospels“ auf das Stichwort „Great Awakening“ stieß, von mir vor Jahren rot markiert. Maximilian Hendlers Buch zur „Vorgeschichte des Jazz“ (Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz/Austria 2008 ISBN 978-3-201-01900-2). Das Buch wird tagelang aufgeschlagen bleiben, während ich längst zur indischen Geigerin Kala Ramnath zurückgekehrt bin, ich werde Zitate nachliefern und Gefahr laufen, von eigenen Assoziationen davongetragen zu werden, beginnend beim Vorwort von Bernd Hoffmann (Seite 11 – zu beachten die Formel „starke ethnologische Orientierung“), endend auf der letzten Seite, die damals meinen Widerspruch weckte und nun auch wachhalten soll.
So ist ein positiv fortwirkender Stachel erhalten geblieben, der oben in dem Wort „Werktreue“ angedeutet ist, im folgenden Begleitbrief durch den fein ironischen Ton um den Namen Schubert spürbar und in einer Buchbesprechung für den SWR natürlich ausgespart wird. Für all diese Anregungen bin ich einen persönlichen Dank schuldig, einen späten. Besser heute am frühen Rosenmontag als nie.