Archiv der Kategorie: Presse

Das Volk ist kein Monolith

Wahrheiten, die sich nur dank Presse vermitteln

(Sonntag ist Wahltag in Brandenburg und Sachsen)

Nichts ist so infam wie die Schimpfworte „Lügenpresse“ oder „Volksverrräter“. Womit nicht gesagt ist, dass „die“ Presse für Wahrheit einsteht, sie kann sogar „Wahrheit“ heißen („Prawda“) und sie permanent untergraben. Daher gehört zur Presse die Pressefreiheit, und diese ergibt sich aus der Meinungsfreiheit, womit auch nicht gesagt ist, dass daraus eine einzige als unumstößlich w a h r hervorgehen muss. Man kann sich allerdings viele unnütze Worte (und Schlagworte) sparen, wenn die wichtigsten Gedankengänge bereits differenziert dargestellt wurden oder bereits in den Institutionen abgesichert sind. Aber sie müssen auch präsent bleiben. Zum Beispiel in den Kommentaren und Leitartikeln einer seriösen Presse. Und die ist meist schon erkennbar am Ton der Überschriften und Schlagzeilen.

Ich hätte mir diese einleitenden Worte sparen können, es würde genügen, den Leitartikel wiederzugeben, der mich in seiner Klarheit begeistert hat. Und wenn jemand mir entgegenhält, es seien doch lauter Selbstverständlichkeiten, „jedes Kind weiß doch darüber Bescheid“, dann frage ich, wieso die obengenannten Schimpfwörter so geläufig werden konnten. Also zitiere ich unverdrossen und genieße die wunderbare Selbstverständlichkeit der guten Formulierungen:

Die Wirren in Großbritannien sind das Symptom einer Krankheit, die derzeit viele Demokratien befällt. Populisten versuchen, die Parlamente zu schwächen, zugunsten starker Männer, die sich direkt auf den Volkswillen berufen. Wenn der Anführer – ob er nun Trump, Johnson oder Matteo Salvini heißt – das Volk verkörpert und dessen Willen vollstreckt, warum sollte er dann von einem Parlament kontrolliert werden, das diesen Willen in Fraktionen bricht und damit schwächt, ja verfälscht? Mit dieser Argumentation hebelt Johnson das Parlament aus. Trump fordert Volksvertreterinnen, die nicht seiner Meinung sind, auf, die USA zu verlassen. Italiens Lega-Chef Salvini verlangt, ihm „alle Vollmachten“ zu erteilen oder das bis 2023 gewählte Parlament sofort aufzulösen, um ein ihm genehmeres zu wählen.

Sie propagieren die Formel Volk + Anführer = nationale Größe. Eine Formel, die in den Totalitarismus führen kann.

Die Propaganda der Populisten baut auf einer Lüge auf, der Lüge vom einheitlichen Volkswillen. Dabei offenbart jede freie Wahl, dass das Volk kein Monolith ist, sondern ein Fels aus vielerlei Gestein, voller Brüche und Risse. Um dies zu leugnen, greifen Populisten zu einem Trick: Sie behaupten, den wahren Volkswillen zu vertreten. Wer sich ihnen entgegenstelle, sei zwangsläufig ein Volksverräter. Wobei die Verräter schon mal den Großteil der Bevölkerung ausmachen können. Die Idee, dass der Volkswille von Volksvertretern im Parlament als Kompromiss gefunden wird, ist Populisten fremd.

Genau dieses Prinzip der parlamentarischen Demokratie aber hat sich in vielen Staaten, zum Beispiel Westeuropas, in Jahrzehnten bewährt. Und es wird noch wertvoller werden. Denn die Probleme, denen sich Staaten stellen müssen, werden immer komplexer und schwerer durchschaubar, ob es nun um Handelsabkommen, Rentensysteme, die Kontrolle von Internetkonzernen oder den EU-Austritt Großbritanniens geht. Sie lassen sich schlecht per Volksentscheid mit Ja oder Nein lösen. Oft liegt die beste Lösung im Zwischenweg, der nur im Parlament ausgelotet werden kann. Und meist ist es fatal, wenn knappe Volksentscheide wie der über den Brexit bewirken, dass eine Hälfte der Bürger alles bekommt und die andere gar nichts. Das kann eine Nation zerreißen, wie die Briten demonstrieren.

Gerade in hysterisierten Zeiten der Filterblasen, asozialen Netzwerke und orchestrierten Lügen können starke Parlamente zur Beruhigung und Versachlichung beitragen. Hierzu müssen sie sich jedoch selbstkritisch betrachten. manche Parlamente, das italienische etwa, gerieten nicht ganz zu Unrecht in den Verruf einer „Kaste“, die mehr dem eigenen Wohl als dem des Landes dient. Korruption zerfrisst den Parlamentarismus und führt zum Ruf nach starken Führern. Ein überbordender Lobbyismus, in Brüssel, oder auch in Berlin, untergräbt das Vertrauen der Bürger in den Willen der Abgeordneten, dem Gemeinwohl zu dienen. Und manchmal bieten Parlamente ein solches Bild bösartiger Parteilichkeit, dass sich Wähler angeekelt von „der Politik“ abwenden. Das ist in Rom zu beobachten oder in Washington. Und auch das Abgeordnetenhaus in London hat sich beim Brexit als kompromissunfähig erwiesen und schlecht ausgesehen. (…)

Quelle Süddeutsche Zeitung 30. August 2019 Im Namen des Volkes Von Stefan Ulrich.

Mehr über Parlament? Siehe hier. Über Filterblasen? hier.

Nachtrag (am Tag nach der Wahl)

Schlussworte des Kommentars im Solinger Tageblatt (WZ)

„Ein Viertel der Wähler, darunter viele bisherige Nichtwähler, ist bereit, offene Rassisten und Rechtsradikale zu unterstützen. Dahinter stecken emotionale Gründe, die man nachvollziehen kann, die aber weder eine ausreichende Erklärung noch eine Entschuldigung sind. Man wird diese Leute kaum zurückgewinnen. Die Politik im Bund und in den betroffenen Ländern sollte daher stärker auf die jungen, weltoffenen und gut ausgebildeten Menschen in den Metropolen wie Leipzig, Dresden und Rostock setzen. Ihre Zahl nimmt zu, auch durch erfolgreiche Rückkehrer. Sie sind die Zukunft.“ (Werner Kohlhoff)

Fazit: Man kann nicht alle Leute da abholen, wo sie stehen. (Weil sie sich einfach nicht bewegen.)

„Emotionale Gründe“ – es ist ein moderner Fehler, das Wort „emotional“ bereits als ausreichendes Argument zu betrachten. Es kommt von so tief innen, dass man es nicht weiter darlegen muss… Mir fällt ein ZEIT-Artikel ein über die (sogenannten) „Ängste“ und die Zumutung, diese immer ernstnehmen zu sollen. Es ist nämlich sehr oft das falsche Wort für Denkfaulheit. Aber so steht es dort nicht, – ein Extrabeitrag, der das identitäre Verhalten reflektierte, würde sich lohnen.

Wenn aus Bildern Geschichten werden

Das notwendige Narrativ

Ich höre das erste Narrativ der Fünften von Schostakowitsch einmal als Französische Ouvertüre, als „Majestät“, aber nur für Momente, dann überwiegt das bedrohliche Sich-Emporrecken aus der Tiefe: „Macht“, obgleich sie eigentlich als „von oben“ erfahren wird. Vielleicht besser: „Gewalt“, die von allen Seiten droht. Überhaupt: das ungeheure Potential des „Anderen“. Und ich lese in der Süddeutschen:

 das Narrativ des Akkus!

Und ich sehe das Buch von Antunes wartend auf der Fensterbank liegen, – der Tango als Narrativ!

 „Der Tod des Carlos Gardel“

Noch einmal:

Quelle Süddeutsche Zeitung 24./25.08.2019 Seite 49 Immer kurz vor leer Hast du noch Power, oder musst du schon wieder aufladen? Über die seltsamen Parallelen von Akkutechnik und Burn-out-Gesellschaft. Von Max Scharnigg.

Und in derselben Zeitung: das faszinierende Narrativ vom Gehirn als Orchester. Vielleicht zu ergänzen durch den Zusatz, dass es auch verrückt spielen können muss. (Loslassen!) Aber das hat sich separat in meinem Kopf abgespielt, als ich las: „Die Geschichte der Medizin ist reich an Grausamkeiten. Man würde sie gerne vergessen, hätten sie die Medizin nicht vorangebracht.“ Schon läuft mein Narrativ parallel und breitet sich in kleinen Lesepausen aus. Bei der Zwischenüberschrift zum Beispiel: Das Gehirn ist ein Orchester, dessen Instrumente im Idealfall perfekt harmonieren. Und was ist mit der Disharmonie? Es ist nur ein Scheinargument, wenn ich die andere Zwischenüberschrift vorwegnehme: Könnte Elektrostimulation dazu beitragen, besser Klavier zu spielen? Die notwendigen Funktionen der Koordinierung kann ich nicht vorbereiten, indem ich mich alkoholisch „entspanne“. Konzentration ist ja keine Fixierung. Im günstigen Fall geschieht sie einfach… Es fragt sich allerdings, wie ich mit unangenehmen Notwendigkeiten oder Geschehnissen umgehe. Sie gehören zur Geschichte! Oder lieber zurück zur Quelle: Süddeutsche Zeitung 24./25.08.2019 Seite 33 Tief ins Gehirn Die elektrische Stimulation von Nervenzellen gilt neuerdings wieder als Allheilmittel gegen neurologische Erkrankungen. Dabei wissen die Mediziner noch nicht mal genau, was dabei im Kopf passiert. Von Boris Hänssler. ZITAT:

So weiß man, dass das Gehirn durch Wiederholung lernt, Bewegungen besser zu steuern, sei es beim Schreiben oder beim Klavierspiel. In einem Versuch wurden die Teilnehmer deshalb gebeten, immer wieder die gleichen Bewegungen auszuführen, unterbrochen von wenigen Sekunden Pause. „Wir haben genau in diesen Pausen das Gehirn stimuliert, und obgleich es in diesem Moment keine Bewegungen koordiniert, führt die Stimulation zu einer Verfestigung des Gelernten – die Versuchsteilnehmer konnten die gelernten motorischen Sequenzen später besser abrufen“, sagte Hartwigsen. Allerdings sei ein solcher Ansatz bei komplexen Lernprozessen deutlich schwieriger umzusetzen, denn hier seien größere, wenig bekannte Netzwerke beteiligt.

Ich bin zusammengezuckt bei dem Wort „Verfestigung“, das mich unmittelbar zu anderen Narrativen führte. Wie z.B. „vegetativer Distonie“, gerade bei Musikern.

„Wenn Sie auch nur einen Kubikmillimeter stimulieren, sind das trotzdem Millionen von Synapsen. Das ist, als würden Sie versuchen, eine Schweizer Uhr mit Vorschlaghammer zu reparieren.“

Ein wunderschönes Narrativ, das mich in früheste Zeiten katapultiert: ich war zwischen 4 und 5 Jahre alt. Und die silberne Taschenuhr meines Vaters, der im Krieg war, hatte bis dahin immer an der Wand über dem Ehebett gehangen.

Aber das erzähle ich ein anderes Mal. Es hat mit einer Fixierung auf das Wort „Wahrheit“ zu tun. Eine lange und komplizierte Geschichte. Letztlich aber auch privat und beliebig.

Zurück zum Anfang: für die Fünfte von Schostakowitsch bieten sich mehrere Narrative an, so zum Beispiel: „Das Werden der Persönlichkeit“ oder „die Deformation des Menschen durch die Diktatur“, Krieg oder Sieg? … es ist nicht einmal sicher, ob der letzte Satz als Triumphmarsch oder als Todesmarsch zu lesen ist.

Kein Kommentar

Was die denkende Welt bewegt

Quelle Süddeutsche Zeitung 14.08.2014 Seite 4 Unter Nackten Von Karin Janker

Man versucht sich einen Reim zu machen, mit einfachsten Mitteln, so auch wenn das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern keine Wunder wirkt. Oder immer wieder Woodstock, das Traumtänzerfestival vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges. Oder (dieselbe Zeit) Leonard Bernstein und was er gesagt hat über Beethovens Neunte: mit dem Text auf die Freude sei eigentlich die Freiheit gemeint gewesen. Und sobald ich den aktuellen Kommentar gelesen habe und den Effekt spüre, gebe ich – der Autorin ähnlich, die über Greta Thunbergs Image reflektiert – bei Google den Namen der Autorin ein, um zu sehen, in welchem Maße ich ihr vertrauen kann.

Oder ich lese prüfend, was ich selber (ab)geschrieben habe. Nicht weil ich so klug bin, sondern so unsicher (nackt). Hier und hier und hier. Seltsam, wieviel Frauen eine Rolle spielen. Plötzlich fällt mir ein altes Bilderbuch ein, ein Märchen aus der Nazi-Zeit: „Wie Engelchen seine Mutter suchte“. Ich muss es suchen. Meine Mutter hatte es mir geschenkt, und ich habe mich fremdgeschämt wegen eines bestimmten Bildes. Bezeichnenderweise: als das Kind nicht mehr unter Tieren war. Es ging nicht um Arme und Beine, verstehen Sie? Erst ein paar Jahre später habe ich auch Andersens Märchen kennengelernt. (Als erstes jedoch – mit heißen Ohren – das vom Kaiser und der Nachtigall, vorgelesen im Radio, wir gingen hinüber zu den Nachbarn – auf der Lohe, wo wir uns kürzlich wiedertrafen. Aber es war ein anderes Märchen, das mich am Radio zu Tränen rührte: Der glückliche Prinz von Oscar Wilde. Meine ersten großen Filme waren Hörspiele). Warum bleibe ich nicht strikt bei der Musik? Weil ich das nie getan habe. Der auch von mir favorisierte Wahlspruch eines guten Freundes stammte von Hanns Eisler: „Wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch davon nichts.“

A propos: Die Autorin Kerstin Janker gehört zur nächsten Generation, und der transkript-Verlag inseriert ihr Buch: „Der Traum vom totalen Kino“. Es gibt auch einige Seiten im pdf zu lesen. Hier. Dies ist keine Werbe-Blog, und das Buch spricht für sich; ich kann für heute beruhigt abbrechen.

Vielleicht noch ein starkes Bild? Gestern habe ich Monets Bild von den treibenden Eisschollen in der Seine betrachtet, in verschiedenen Versionen. Es würde passen. Oder lieber das andere (ich habe das erwähnte Bilderbuch wiedergefunden).

Wie Engelchen seine Mutter suchte. Ein Märchen in Versen von Magdalene Wannske [sie schrieb 1933 „Jungvolk: Erlebnisse und Gedanken eines Hitlerbuben“] Hamburg-Leipzig 1927. Bilder von Ernst Kutzer. (Das Buch ist natürlich in Farbe, hier aus drucktechnischen Gründen in Grautönen). Als ich es kennenlernte, wurde Europa gerade in Schutt und Asche gelegt.

Heute Abend noch einmal das Thema Greta Thunberg im Fernsehen (Auslandsjournal). Folgender Link abrufbar bis 14.08.2020. Bei 2:08 die Frage: „Was ist Inszenierung, was ist echt?“ Von meiner Seite kein Kommentar.

https://www.zdf.de/politik/auslandsjournal/hoffnung-heldin-hassfigur-100.html HIER

Humor und Tragik

Die Tageszeitung als Katalysator

Ein Beispiel: man wacht am Morgen auf und ist gut gelaunt, – ohne zu wissen warum. Man ist halt lebendiger als in der Nacht um eins, als man einschlief. Und noch beim Lesen der Zeitung sucht man nach Stoff, der zum Lebendigerfühlen passt, man bleibt hängen bei bestimmten Punkten der Synapsenbildung. In der SZ beginnend bei dem Namen (und dem Gesicht) „Glucksmann“, wie war der Vorname? André, das war der, dessen Buch ich damals nicht gelesen habe, es steht im Keller, am Klavier muss ich mich nur um 180 Grad drehen, um es aus dem Regal zu greifen. Über die Dummheit. Ich las es nicht, es war mir zu rechts (? – ein Geigenschüler hatte es mir geschenkt, um mich von Adorno zu lösen). Und nun der Sohn namens Raphaël (den ich bis dato nicht kannte).

Mit einer Ästhetisierung der Politik suche Macron den realen Machtverlust des Staatslenkers, der zusehends den Spielregeln der Märkte ausgesetzt ist, mehr zu überspielen als zu bekämpfen. Hinter seinem „enthusiastischen Konformismus“ werde paradoxerweise ein Mangel an politischer Ambition erkennbar.

Aus dieser kritischen Position heraus strebt Glucksmann ein linkes Gegenprogramm ökologischer Ausrichtung an. Das vorliegende Buch steckt dafür das Ideenfeld ab. Mit seinem Plädoyer für eine „tragische Ökologie“ beispielsweise will der Autor die Klima- und Umweltfrage aus der Perspektive abstrakter Hypothesen in den Horizont des „Tragischen“ überführen, in dem das Ende unserer Welt die höchstwahrscheinlich auf uns zukommende Lebensrealität ist.

Hat das mit der seltsamen Ästhetisierung des Katastrophischen zu tun, die ich vor einigen Tagen verwundert zur Kenntnis nahm, siehe Rauterberg hier? Mein Missverständnis wahrscheinlich, ich brauche mehr Text; es erinnerte mich eben noch an die Parade in Paris, auch YoYo Ma spielte, und zwar die tragische Sarabande aus der Bach-Suite C-moll:

Macron wollte die in Frankreich blockierten Energien freisetzen, sein Land aus dem rebellischen Abseits holen und den Gegebenheiten der Welt anpassen, ist nach Ansicht Gluckmanns aber unfähig, die von der Globalisierung verunsicherten Bevölkerungsschichten anzusprechen.

„Ihr seid  Zehntausende und ich sehe nur ein paar Gesichter“ – dieser vom jungen Präsidenten in der Wahlnacht vor zwei Jahren im Louvre an sein Publikum gerichtete Satz machte für Glucksmann Macrons Volksblindheit offensichtlich. Er spreche zu einer Vielzahl von „Ichs“, sei als Sprössling der individualistischen Revolution aber zu keiner anderen Vorstellung des „Wir“ fähig als jener, die spiegelbildlich aus der Eigeninszenierung  seiner Macht und aus der Beschwörung historischer Mythen hervorgehe.

Quelle Süddeutsche Zeitung 6. August 2019 Seite 11 Die leere Menge Jenseits von intellektueller Überheblichkeit und moralischer Rechthaberei: Raphaël Glucksmann versucht, den Gesellschaftsvertrag neu zu begründen / Von Joseph Haniman

Der andere „Stoff“ stand im Tageblatt und erinnerte mich merkwürdigerweise an das vor einigen Tage gesehene Youtube-Video, das Henryk M. Broder bei einer Rede vor der AfD zeigt und mir als eine von prekärem Witz gezeichnete Veranstaltung in Erinnerung blieb. Wie er, im peinlichsten Einvernehmen badend, die Klimakatastrophe ironisierte. Diese unkenntliche Vermischung von intellektueller Arroganz und André-Glucksmannscher Dummheit. Man möchte es vergessen, aber es bildet ein Schleife des Erinnerns. (Damals vor 40 Jahren im WDR, als eine Kollegin den offenbar undankbaren Broder als ihre „Entdeckung“ reklamierte.) Schließlich ein fast therapeutisches Thema – als Frucht der Sommerlocherntezeit – „Der Witz als Forschungsobjekt“.

Worüber gelacht wird, hängt sehr stark mit dem kulturellen Repertoire, dem kollektiven Gedächtnis und dem Selbstbild einer Gesellschaft zusammen. Deshalb könne der Humor auch ganz schnell kippen und etwas Beleidigendes und Verletzendes bekommen, wenn Beteiligte einen anderen kulturellen Hintergrund besäßen. Als Beispiel nennt der 45-Jährige den Karikaturenstreit. „Im Westen gehört es mittlerweile meist zum Standard, selbst religiöse Autoritäten zu verlachen. In muslimischen Ländern ist das aber ganz und gar nicht so.“ Da die Menschheit in einer globalisierten Welt lebe, würden die unterschiedlichen Humorkulturen heute sehr viel schneller aufeinanderprallen als noch vor 100 Jahren: „Dann wird aus Humor ganz schnell Verletzung, weil man selbst andere Tabutoleranzen hat.“

Doch in vielen Fällen lache die Welt gemeinsam über dieselben Sachen, meint Koch. [Beispiele Charlie Chaplin oder Mr. Bean].

Quelle Solinger Tageblatt 6. August 2019 Seite 23 Der Witz als Foschungsobjekt Humor kann durchaus eine ernste Sache sein. An der TU Dresden widmet sich ein Forscher Witzen mit viel Ernst. Für ihn [Lars Koch] gehören Humor und Lachen zum Menschen wie das Herz oder der Verstand. / Von Jörg Schurig.

Auf die Unterschiede kommt es letztlich an. Ob man eher über Mario Barth lacht oder über Olaf Schubert. Slavoj Žižek ist für mich erledigt, seit ich seine Witze kenne bzw. das ganze enthemmte Interview im SZ-Magazin vom 2. August; dabei nehme ich ein paar heikle Stellen aus, z.B. über die Korrektheit in der Sexualität, wo er verständlicherweise dem Mainstream vor den Kopf stoßen will. Ich meine auch nicht seinen leicht pöbelhaften Ton; dergleichen hat seltsamerweise Nietzsche salonfähig gemacht. Unerträglich eher, dass er die Kategorie „geschmackloser Witze“ bedient, selbst zu der Frage „Wo war Gott in Auschwitz“. Andererseits habe ich sein „Parallaxe“-Buch wieder vorgenommen (das einzige von Žižek, das ich besitze, aber nur kursorisch gelesen habe), – ich bin nicht sicher, ob er wirklich was von Musik versteht, oder nur das, was sich in zugeordneten Texten als „Narrativ“ anbietet. Seine Assoziationsketten und Gedankensprünge, scheint mir, suggerieren neben souveräner Themenbeherrschung die Neigung zu bloßer Selbstinszenierung.

Ende der 80er Jahre las man an manchen PKWs ein Spruchband, das witzig sein sollte: „Mein Auto fährt auch ohne Wald“. Wer weiß, ob sich das heute noch jemand trauen würde. Ich studiere als Korrektiv zu widersprüchlichen Zeitungsberichten parallel die beiden Büchlein von Paech (und Eppler), die später zum Thema werden sollen, aber angesichts des Hitzerekordes und des vertrocknenden Waldes macht man keine Witze mehr (außer vielleicht Henrik M. Broder), man greift wieder einmal nach dem Strohhalm, oder ich darf sogar sagen: Strohbaum. Zitat aus der NZZ:

In der langen Lebensdauer eines Baumes von 150 Jahren wechselten sich immer wieder schlechte mit guten Jahren ab. So war zum Beispiel 2017 ein sehr gutes Jahr für das Wachstum. Und auch 2018 konnten viele Bäume nach einer «Sommerpause» noch Holz bilden. Sanders [Tanja Sanders, Leiterin des Arbeitsbereichs Waldökologie und Biodiversität am Thünen-Institut in Eberswalde]   mag jedenfalls nicht von einem Waldsterben sprechen, sondern nennt es ein Baumsterben.

Baumsterben statt Waldsterben

Der Wald wird in Mitteleuropa nicht grossflächig verschwinden. Trotzdem sei die Lage vieler Waldeigentümer angespannt, gibt Peter Elsasser vom Thünen-Institut für internationale Waldwirtschaft und Forstökonomie in Hamburg zu bedenken. Er erklärt das an einem Beispiel: Wenn in einem Wald Bäume im Mittel hundert Jahre alt werden, kann jedes Jahr 1 Prozent geerntet werden, damit er im Gleichgewicht bleibt. Wenn nun wie letztes Jahr rund 0,5 Prozent der Bäume absterben oder geschädigt werden, ist das für den Wald selbst noch verkraftbar. Für die Waldbesitzer heisse dies aber, dass sie auf die Hälfte des kompletten Jahresumsatzes verzichten müssten.

Quelle: Neue Zürcher Zeitung 6.8.2019 Deutschland beklagt das «Waldsterben 2.0», aber wie schlecht geht es dem Wald wirklich? In Mitteleuropa nehmen die Waldschäden zu. Deutsche Waldbesitzer sprechen bereits von einer «Jahrhundertkatastrophe», ihre Schweizer Kollegen sind nervös. Experten sprechen jedoch lieber von einem Baum- statt einem Waldsterben. / Von Christoph Eisenring, Berlin.

Nachtrag: siehe dazu auch: DIE ZEIT 8. August 2019 (online hierSelbst ist der Wald Die aktuelle Forstpolitik droht alte Fehler zu wiederholen / Von Fritz Habekuss

Sie erraten es, inzwischen habe ich im Keller Klavier geübt (Brahms op.117 Nr.2) und bin mit dem Buch von André Glucksmann zurückgekehrt. Es war damals (1985) eine Dummheit, es nicht zu lesen, oder jedenfalls nur in Stichproben. Seite 167 sehe ich einen wunderbaren Vorspruch, der von Immanuel Kant stammen soll:

Voltaire sagt, der Himmel habe uns zum Gegengewicht gegen die vielen Mühseligkeiten des Lebens zwei Dinge gegeben: die Hoffnung und den Schlaf. Er hätte noch das Lachen dazu rechnen können; wenn die Mittel es bei Vernünftigen zu erregen nur so leicht bei der Hand  wären, und der Witz oder die Originalität der Laune, die dazu erforderlich sind, nicht eben so selten wären, als häufig das Talent ist, kopfbrechend wie mystische Grübler, halsbrechend wie Genies, oder herzbrechend wie empfindsame Romanschreiber (auch wohl dergleichen Moralisten) zu dichten.

Glucksmann hat das Zitat aus der Kritik der Urteilskraft, dank Google leicht zu finden: hier.

Vorgestern, am Sonntagmorgen habe ich mein Elternhaus (seit 1954) in Bielefeld wieder aufgesucht, stark verändert durch den metallenen Zugang, aber praktischer als damals (wir betraten das Haus von der Giebelseite her durch den Keller). Mein Zimmer ganz oben links, das Fenster ist durch Blätter verdeckt. Gern hätte ich die junge Dame dort gefragt, ob im Mai die Nachtigall noch oben im Garten singt, aber die Antwort hätte wohl nicht in ihr Handy-Gespräch gepasst.

 Foto: E.Reichow

Es ist nicht die Veränderung, die mich schlagartig traurig stimmt, es ist die Erinnerung an das Glück der 50er Jahre, das auf letztlich ganz unbegründeten Hoffnungen beruhte. Mein Vater starb, aber die Zukunft schien glänzend.

Lieber will ich – näher an der Realität – weiterlesen:

Wer je das Wort „Tragik der Allmende“ richtig begriffen hat (siehe auch hier), wird erschrecken, wenn er allenthalben einer ähnlichen Aporie bei scheinbar aussichtsreichen Neuerungen begegnet. Gleich folgt eine Beispielseite aus dem danach abgebildeten Buch. Es geht um Nebenwirkungen innovativer, durchaus intelligenter Entwürfe, nach deren Umsetzung es plötzlich für Korrekturen zu spät ist: [ZITAT] erstens weil die bereits eingetretenen ökologischen und gesundheitlichen Schäden nicht mehr rückgängig zu machen sind, zweitens [und nun lesen Sie bitte im Scan weiter: insbesondere den Satz von den Verwertungsinteressen, die sich herausgebildet haben und sich bestens zu verteidigen wissen, sowie von der unverzichtbaren Symbolik für individuelle Selbstdarstellung! Es ist völlig klar, dass sich auch hier das Wort TRAGIK einstellen wird:]

Ich hatte in einem früheren Blogbeitrag bereits einen erhellenden Vortrag von Niko Paech verlinkt und tue es hier noch einmal, um an einem allzu selbstgefälligen Kulturbewusstsein zu rütteln, das auch mir – so fürchte ich – nicht fremd ist; und neuerdings bedient es sich argumentativ bei Niko Paech, wenn ich mich nicht irre. Ich lese bei dem hochgeschätzten Hanno Rauterberg:

Kann eine Kunst, die das Gute und Richtige propagiert, mehr sein als ästhetischer Ablasshandel?

Niemand der die Biennale in Venedig besucht, die gerade ganz im Zeichen des Klimawandels steht, muss erst davon überzeugt werden, dass Plastik im Meer nichts zu suchen hat. […]

Wenn sich aber Künstler und Publikum so wunderbar einig sind, entwickelt die Kunst weniger eine aufklärende als eine besänftigende Wirkung. Der Besucher investiert Geld und Zeit, um die Werke zu betrachten, und bekommt im Gegenzug das gute Gefühl vermittelt, selbst keiner der geschmähten Touristen zu sein, sondern etwas ganz anderes, etwas Besseres: ein Reisender in Sachen Kultur, der garantiert auf der richtigen Seite steht. Gerade dieses Wohlgefühl ist natürlich die beste Voraussetzung dafür, dass alles schön beim Alten bleibt.

Wie wirkungslos eine sozial und politisch gepolte Kunst in der Regel ist, zeigt sich bereits daran, dass Künstler-Appelle grundsätzlich nur die anderen meinen. Diese anderen sind es, nicht die Künstler selbst, auch nicht die Museen, Theater oder Filmstudios, die sich ganz dringend ändern sollen. Es gilt die alte Regel: Je moralisierender das Pathos der Kunst, desto schwächer die Bereitschaft zur Selbstkritik.

(Bemerken Sie, wie schlau ich vor diesem Zitat Selbstkritik habe aufleuchten lassen, um ja nicht selbst in die Schusslinie zu geraten!? Und nun folgt die Quelle des Zitates, danach aber gleich die Fundstelle im Paech-Vortrag, an der der Mechanismus mit der Selbstreinigung durch Ablasshandel studiert werden kann.)

Quelle DIE ZEIT 1. August 2019 Seite 33 Die Kunst der Scheinheiligkeit Natürlich ist die Kulturwelt ganz entschieden für den Klimaschutz – und produziert doch Treibhausgase in gigantischem Ausmaß. Ist das der Preis der Weltläufigkeit? Von Hanno Rauterberg.

Und nun noch einmal – Stichwort Ablasshandel – der Link in den Paech-Vortrag HIER , gehen Sie dort aber gleich auf den Punkt 24:12, Textbeginn „Vor 500 Jahren hat Martin Luther den Anschlag zu Wittenberg verübt“.

Nachtrag zum Rebound-Effekt 

Der wurde schon 1865 von einem britischen Wirtschaftswissenschaftler entdeckt. Die Wirkungsweise ist simpel: Alles, was eingespart wird, wird woanders investoiert. Unternehmen steigern ihren Umsatz, die Profite stecken sie in die Entwicklung neuer Produkte oder in die internationale Ausdehnung, was wiederum mehr Nachfrage zur Folge hat. Und Konsumenten sparen durch Effizienzsteigerung Kosten: Wer ein Elektroauto fährt, spart Benzin. Und was macht er oder sie mit dem Gesparten? Es wird höchstwahrscheinlich in ein anderes Konsumgut gesteckt. Effizienzsteigerung führt zu noch mehr Konsum. (…)

Niemand weiß, wie Wohlstand ohne Wachstum aussähe. Allerdings weiß auch niemand, wie eine durch Erhitzung der Atmosphäre veränderte Natur sich auf die Wirtschaft auswirken wird. Tatsache ist, dass Effizienzsteigerung bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum allein nicht zur Reduktion von CO²-Emissionen geführt hat, und wenn es in der Vergangenheit nie funktioniert hat, taugt es vermutlich auch nicht ohne Weiteres als Zukunftsmodell.

Quelle DIE ZEIT 8. August 2019 Seite 3 Der Schein trügt Die Grünen nennen ihre Politik gern radikal. Wer das glaubt, sollte mal ihr Programm lesen. Wenn es verwirklicht wird, ändert sich: Nicht viel / Von Elisabeth Raether

Anschließend wäre noch zu empfehlen: das Gespräch zwischen Cem Özdemir und VW-Chef Herbert Diess, – der in einzigartiger Logik darlegt, weshalb er möglichst viele SUVs verkaufen muss, um sich die Entwicklung des extrem klimafreundlichen Elektroautos leisten zu können.

Quelle DIE ZEIT 1. August 2019 Seite 20 Ist das Auto schuld am Klimawandel ? Der Grünen-Politiker Cem Özdemir und VW-Chef Herbert Diess über SUVs, das Ende des Verbrenners und die dreckige Seite der E-Mobilität. [Online abzurufen hier.]

Heute, am 7. August 2019, lese ich noch etwas anderes, an die Stelle des oben erwähnten Vitalprotzes Žižek tritt eine Frau, deren Namen ich bisher nicht kannte, 1937 als Tochter jüdischer Eltern im algerischen Oran geboren, seit 1955 in Paris lebend.

Natürlich ist es wichtig, dass Frauen schreiben. Aber, und das ist etwas, das ich schon im Lachen der Medusa schrieb, jede große Literatur hat Merkmale dieser Weiblichkeit, egal ob sie von einer Frau oder einem Mann unterschrieben ist. Das ist das Geheimnis des Schreibens. Meine persönliche Bibliothek ist voller lebender Toter, sie schreiben alle, sie erschaffen alle Figuren, die so kraftvoll menschlich sind. Sehen Sie zum Beispiel Dostojewski an: Im echten Leben war er ein Mann mit allen Schwächen des Mannes, der vollkommen von seiner Frau abhängig war, die sein Überleben gesichert hat. In seinem Schreiben wird dieser Mann Nastassja Filippowna – eine Frau unter Frauen, mit all dem Begehren und der Verzweiflung echter Frauen. Das ist das Wunder des Schreibens. Aber es gibt nur wenige Schreibende, die dieses Menschliche schaffen können, die diese vollständige Öffnung vollziehen können, der immer eine Weiblichkeit zugrunde liegt.

Quelle DIE ZEIT 8.August 2019 Seite 37 Ist die Frage nach der Frau noch wichtig? Ein Gespräch mit der Pariser Philosophin und Schriftstellerin Hélène Cixous. Von Anna Gien. [Über Das Lachen der Medusa siehe hier]

In derselben Viertelstunde lese ich in der Süddeutschen den Text einer Schriftstellerin, die 1981 in Petersburg geboren ist und als Kind nach Deutschland kam.

 Eine schwäbische Kleinstadt, die vierte Klasse, Mai 1992: Ich verstehe Mathe – die Zahlen – und Musik – die Noten. Sonst verstehe ich nichts. Deutsch, Heimat- und Sachkunde, und was man sonst in der Grundschule so lernt, sind keine Fächer, weil sie Farben sind. Das sehe ich, erst verwundert, dann bewundernd. Jedes Fach scheint einen andersfarbigen Heftumschlag zu haben. (…)

In Mathe schreibe ich geliebte Zahlen, sie ergeben einen Sinn. Ich schreibe die Lösungen so schnell herunter, dass es dem Lehrer auffällt, der mich an die Tafel ruft. Dorthin schreibt er eine Aufgabe, die schwieriger ist, als was wir bis eben gerechnet haben. Das Ergebnis weiß ich, ich grabe in meinen Deutschkenntnissen nach den deutschen Zahlen. „Fünfunddreissig“, sage ich, ich flüstere es. Die Sprache muss ich noch lernen, und die Lautstärke muss ich noch lernen. Und erst recht „ich“ in dieser Sprache sagen. Der Lehrer sagt nichts. Ich sage auch nichts, ich rechne noch einmal im Kopf. Und noch einmal, obwohl das Ergebnis stimmt. Da drückt er mir die Kreide in die Hand, ich soll die Zahl an die Tafel schreiben.

Es ist klar, wie die Geschichte endet. ich schreibe das richtige Ergebnis, die Dreiundfünfzig an die Tafel, das soll mal einer verstehen, warum die Deutschen die Zahlen richtig herum schreiben, aber falsch herum aussprechen. Da klatscht der Lehrer, dann klatschen sie alle, die Deutschen klatschen, für mich. Die Deutschen, unter denen mehrere türkisch-, polnisch-, kroatisch- und so weiter-stämmige Schüler und Schülerinnen sitzen, aber auch das verstehe ich noch nicht. Der Lehrer schickt mich von Tisch zu Tisch, ich soll den anderen beim Rechnen helfen. Er nennt mich Matheexpertin. Er fragt herum, ob jemand dem Schriftstellerklub beitreten will, den er heute mit mir begründet habe.

Quelle Süddeutsche Zeitung 8. August 2019 Seite 9 Vierte Klasse, keine Deutschkenntnisse Wie ich eine schwäbische Grundschule überstand und Schriftstellerin wurde. Von Lena Gorelik.

 SZ 6. August 2019 Seite 12 (Sofia Glasl)

Gestern fragte ich C.A. per Mail, was sie von diesem neuen Buch über Tango halte, heute antwortet Hélène Cissoux in der ZEIT (Quelle s.o.):

In den letzten Jahren, wenn mich eine Arbeit – und es ist immer die ganze Arbeit, nicht ein einzelnes Buch – aufgewühlt hat, waren es leider immer Werke von Männern. Der portugiesische Schriftsteller António Lobo Antunes war eine Offenbarung für mich. Er ist mir nicht so nahe wie Clarice. Antunes ist ein Psychiater, und seine Welt ist nicht meine Welt. Es ist eine Welt voller Gewalt und Sex, aber sein Schreiben ist absolut herausragend.

Das heißt: wenn gleich geöffnet sein wird, rufe ich meine Buchhandlung an: bitte gleich zweimal für mich (und meine Tochter XX). Siehe hier.

 das Bielefelder Elternhaus am 4. August 2019

Die Holzwand müsste tiefbraun sein, nicht schmutzig-weiß. Da oben, hinter den Rosen, am Hang der Promenade, die bis zur Sparrenburg führt, sang im Frühling die Nachtigall. Im Verandazimmer starb 1965 meine Loher Großmutter in den Armen meiner Mutter.

 Handy-Fotos: JR

Der Garten, der weiter oben schon in Wildnis überging, am vergangenen Sonntag noch wie vor 60 Jahren, gehörte zu den prägenden Erinnerungen. Was ich heute hier bei uns sehen will, ist nichts anderes als eine erweiterte Reminiszenz der Verhältnisse damals. Entscheidendes Kriterium, – was ich höre: wieviel Vögel singen. (Die Nachtigall fehlt in Solingen.)

 die Loher Großeltern 1964

An der Wand der Sohn, seit 1944 in Russland vermisst. Sie warteten immer noch auf ihn. Eines Tages in den 50ern hatten sie jemand bestellt, der einen Ring über dem Foto pendeln ließ, das Ergebnis war positiv… (die Realität nicht).

Bayreuther Dilemma

Nur ganz kurz

Nach einer lang nachwirkenden, frühen Begeisterung für Wagner (50er/60er Jahre, beginnend mit Vorspiel und  Einzelszenen Lohengrin, Tannhäuser nach Klavierauszug, dann Ring und vor allem Tristan, auch Parsifal), blieb später immer noch der musikalische Sog, der einsetzte, sobald auch nur ein Fetzen Nibelungen-Sound aus dem Lautsprecher tönte: Heute drängen sich starke Antipathien hinein, live auch – dank der Text-Anzeigetafeln – der störende Eindruck, wie schlecht er dichtete…

Niemals hätte ich eine Tannhäuser-Aufführung in Bayreuth besucht. Die ersichtlich gewordenen Taten der Musik (?) haben keine rechte Anziehungskraft mehr. Meine Schuld, zweifellos, denn sie klingen nicht anders als früher. Die Rezension in der Süddeutschen habe ich sorgfältig gelesen, das Foto fesselte mich. Aber ist nicht sowieso klar, dass es wieder auf einen Lobpreis fürs Regietheater hinausläuft? Ich wäre vielleicht auch begeistert, wenn es sich um ausgedehnte Filmsequenzen (ohne Wagners Musik, oder mit ihr als konterkarierendem Soundtrack) gehandelt hätte… Aber was mich auf die Palme bringt, ist der winzige, dann doch musikbezogene Schlussteil der Kritik, der mit ein paar Sätzen eigentlich nur den Dirigenten erledigen soll, und dies gleichsam von allerhöchster Warte. Mein Gott, das große Leidenschaftsdrama und der hölzerne, analytische Klang, – wo soll das denn gewesen sein?!

 einen hölzernen Klang?

Quelle: Süddeutsche Zeitung 27./28. Juli 2019 Seite 17 Song Contest Ein Kampf zwischen Hoch- und Subkultur: Zur Bayreuth-Premiere wird Wagners „Tannhäuser“ mit höchster Lust ins Heute gespielt.

Nie und nimmer hat da jemand mit wachem Ohr auf den realen Orchesterklang reagiert. Möglicherweise hatte er schlimme Gerüchte im Hinterkopf, die er nicht benennen mochte, und begnügte sich damit, eine rein musikalische Begründung zu konstruieren.

Ich hatte die Kritik schon gestern früh gelesen und spät nachts nur noch die letzte Stunde der Bayreuther Aufführung erwischt. Was ich hörte, war doch ziemlich schöne Musik, das Zerreißen der Tannhäuser-Partitur fand ich übertrieben, die Ausdruckweise „mit höchster Lust“ hätte ich allerdings eher einem Tristan vorbehalten. Aber war das denn ansonsten wirklich ins HEUTE gespielt? Klar, alle reden vom Wetter und von einer Temperatur bis 50 Grad im Festspielhaus-Auditorium. Ich ahnte schon, dass ich kein Wort der vernichtenden Minimusikkritik nachvollziehen können würde. „Nächstes Jahr soll Gergiev angeblich nicht mehr dabei sein.“ … angeblich … soll … können… würde…  Er muss außerhalb der Bayreuther Szene etwas verbrochen haben. (Vielleicht sogar Schlimmeres als Wagner?) Wer die Wahrheit wissen will, muss danach in einer anderen Zeitung suchen.

Das habe ich heute morgen am Computer erledigt. Und mein Wissensdurst ist gestillt. Diesen Namen merk ich mir, nicht den anderen. Dank an die ZEIT. HIER lesen Sie, was wirklich los war…

Nachlese 1. August 2019

Der Musik wegen in die Oper?

 Hölzernes auch hier…

Quelle Süddeutsche Zeitung 1. August 2019 Seite 9 Statt Seelenschau nur Fernsehrealismus In Salzburg inszeniert Simon Stone Luigi Cherubinis Oper „Médée“ am Kern der Tragödie vorbei

Leiden für die Oper?

Zitat aus DIE ZEIT:

(…) starre ich auf die Wetter-App in meinem Handy. Bayreuth, 33 Grad im Schatten und 45 Grad in der Sonne, die Festspiele finden trotzdem statt. Auf meinem kurzen Fußmarsch zum Grünen Hügel versuche ich, die Wärmestrahlung von 1974 Wagnerianern auszurechen, so viele Besucher fasst der Zuschauerraum. Oben angekommen, habe ich das Gefühl, mir haute jemand mit einem Hammer auf den Kopf. (…)

Es wird gelacht an diesem Abend in der Bayreuther Gluthitze, auch unter Niveau, etwa wenn zu Tannhäusers gefürchteten „Erbarm dich mein!“-Rufen Ende des zweiten Akts (drei hohe As hintereinander!) die Festspielleiterin persönlich im Bild erscheint und 110 wählt. (…)

(…) Beim Duschen entdecke ich zwei blaue Flecken auf meiner Wirbelsäule. Die habe ich immer, wenn ich in Bayreuth war, das Gestühl ist für weniger Beleibte einfach zu hart. Und die Leihkissen wärmen.

Quelle DIE ZEIT 1. August 2019 So viel draußen war nie Die Oper mischt sich ein in die Klimawandelwelt: Eine Sommerfestspielreise nach Bayreuth zu Wagners „Tannhäuser“, nach München zu Händels „Agrippina“ und nach Salzburg zu Mozarts „Idomeneo“ und zu Cherubinis „Médée“ / Von Christine Lemke-Matwey

Noch ein Zitat aus demselben Text (Schluss):

Dass diese Passagen ohne Gesang und Musik, also ohne „Oper“, bewegender sind als der ganze Cherubini mit seiner strengen, etwas hölzernen Dramatik, zielt sicher mehr auf Öffnung und Erklärung als auf eine Kritik am Stück.

Der Grat ist hier definitiv schmaler als bei Mozart oder Wagner. Und sie steht ja auch immer mit auf dem Spiel, die Frage, wie lange wir von den Ressourcen unserer alten Partituren noch werden zehren können, ohne Raubbau zu treiben.

Der Sommer 2019 hat darauf nachhaltige Antworten gegeben.

ENDE 

Doch noch eine Fortsetzung… nagelneue Argumente… à propos Salzburger „Idomeneo“. Da schreibt Egbert Tholl u.a.:

Darf man das, in die Werkgestalt eingreifen, Arien, deren Inhalt man nicht erträgt, durch andere ersetzen, die meisten der ohnehin enervierend trögen [???] Secco-Rezitative streichen? Die Salzburger Festspiele sind ein Branchentreffen in vielerlei Hinsicht, so lernt man hier Kollegen kennen, bewundernswürdige Koryphäen der musikalischen Analyse beispielsweise, die die derzeitigen Aufführungen von „Idomeneo“ als persönlichen Anschlag auf ihre Ehre und ihr Seelenheil betrachten. Hört man dem Publikum zu, so ist dieses in Teilen eher davon genervt, auf einem 400-Euro-Sitzplatz in der Felsenreitschule mit Klimawandel und Umweltzerstörung konfrontiert zu werden und sich nicht einfach genüsslich zurücklehnen zu dürfen.

Darf man also machen, was Sellars und Currentzis taten? Man darf, ja man muss sogar. Man muss hier gar nicht noch einmal die Diskussion führen, dass Oper als Kunstform nur überlebt, nur ein neues, jüngeres Publikum anzieht, wenn diese Kunstform in irgendeinem Bezug zur Gegenwart steht – deshalb ist die Inszenierung als mahnende Installation zur Umweltzerstörung wichtig

Quelle Süddeutsche Zeitung 10./11. August Seite 15 Momente für die Zukunft Salzburger Festspiele Von Egbert Tholl

Wo aber bleibt nur das neue junge Publikum mit den 450-Euro-Sitzplatz-Karten? Es hat keine Zeit!

 12. August 2019

17.08.2019 Noch einmal: das Ende – das Ende…

ZITAT

Es gibt wenige Dirigenten, die sich derart in ein Werk hineingraben

Valery Gergiev gehört einerseits zu jenen viel beschäftigten Dirigenten, die gefühltermaßen an drei Orten gleichzeitig präsent sind; es gab Jahre, da flog er nachts von Salzburg zum Weiße-Nächte-Festival nach Petersburg und am nächsten Tag wieder zurück zu Proben im Festspielhaus. Andererseits gibt es wenige Dirigenten, die sich derart in ein Werk hineingraben und dabei die ausführenden Musiker ebenso genau studieren wie die Partitur. Da wird die Probenarbeit zu einer echten Entwicklungsphase, die in der Aufführung ihren Höhepunkt findet. Menschlich stressfrei, warmherzig, fachlich hoch konzentriert.

Gergiev genügen dann kleinste Signale in die Instrumentengruppen, um das gewünschte Klangergebnis zu erzielen. Das war an diesem Abend wirklich herausragend. Die Wiener Philharmoniker schienen sich mit dem Dirigenten und dem Werk geradezu verschworen zu haben, leuchteten in jeden versteckten Klangwinkel, spielten ihre ganze Souveränität und Opernerfahrung aus. Und das, obgleich sie keineswegs im Vordergrund standen und auch nie versuchten, sich dorthin zu spielen, sondern weitestgehend den Sängerdarstellern dienten, dazwischen ebenso dezent wie intensiv Stimmungen zauberten. Keine Tonangeberei. Kein vorlautes Blech. Keine gewitternden Streicher. Stattdessen Klanghochkultur und Klangverständnis, Musikdrama und eine differenzierte Basis für den Gesang.

Quelle Süddeutsche Zeitung 17.08.2019 Maria hilft Verdis Politoper „Simon Boccanegra“, dirigiert von Valery Gergiev bei den Salzburger Festspielen, ist musikalisch ein Ereignis / Von Helmut Mauró

Bedenkliches und zu Bedenkendes

Aus DIE ZEIT und anderswoher

Zunächst erinnere ich mich an die eigene Evokation der alten Griechen (mit Nietzsches Hilfe): „Nichts zu sein…“ hier  und „… besser zu leben als zu sterben …“ hier . Und lese erinnerungsbeschwert weiter in dem Feuilleton-Artikel: „Los, komm, wir sterben endlich aus! / Darf ich noch Fleisch essen, den Wäschetrockner nutzen? Alle diese Fragen würden sich sofort erledigen, wäre man gar nicht erst geboren worden oder würde sich nicht mehr fortpflanzen. Über eine merkwürdige neue Sehnsucht / Von Nina Pauer / in DIE ZEIT 27. Juni 2019 Seite 41.

Da ich in dem kleinen Urlaub auf Texel die ZEIT vom 16. Juni nicht mehr zur Hand hatte, wusste ich nicht, dass dort das umfangreiche Heft „Rechte Räume“ von ARCH+, das ich mir als Lektüre vorgenommen hatte (von hier bis hier), also ebendasselbe Heft von Adam Soboczynski besprochen war, der sich jetzt den Soziologen Armin Nassehi vorgenommen hat, den ich aufgrund folgender Mail vom 15.6. längst ernst genommen hatte:

Bester Artikel der Woche:
http://www.taz.de/Soziologe-ueber-Klimawandel/!5600327/

- da könnte man glatt grün wählen...

Mein Gott, hatte ich nicht längst in diesem Sinne gewählt? Und er etwa nicht? Mal sehen, ob wir etwas zu bereuen haben:

Schönes neues System der Widersprüche / Die Grünen haben ihren Meisterdenker gefunden: Wie der Soziologe Armin Nassehi die Gegensätze in der Partei mithilfe seiner Systemtheorie zum Zukunftsmodell erklärt. Von  DIE ZEIT Nr. 27/2019, 27. Juni 2019.

Finden Sie den Artikel doch bitte selbst online, zitieren möchte ich aus dem älteren Blatt, das ich versäumt hatte und als Papier für unersetzlich halte. Der Autor hat vor allem mit Durs Grünbein und dessen Frau, der Schriftstellerin Eva Sichelschmidt, geredet. Über den Walter-Benjamin-Platz also und über die Inschrift (Einschreibung) des Verses von Ezra Pound.

ZITAT:

Ein faschistischer Ort? Durs Grünbein, 56, der sich auf erstaunliche Weise Jugendliches bewahrt hat, blättert befremdet durch die Zeitschrift, die er eigens mitgebracht hat,  und zeigt auf die Säulengänge auf dem Platz: ‚Die strenge Kolonnade gibt es sowohl im antiken Griechenland als auch in Moskau und Washington. Was mir missfällt, ist die gesamte Aufteilung in linke und rechte Räume. Sind sowjetische Plätze linke Räume? Ist das Forum Romanum ein rechter Raum, die Akropolis? Dort finden Sie ja bereits die Kollhoffschen Stilmerkmale.‘

Es klingt ähnlich absurd, wie Elias Canettis Vergleich des „deutschen“ Waldes mit der Phalanx von Soldaten (beide stehen ziemlich aufrecht). Die Kolonnade, die das Dach eines griechischen Tempels trägt, hat nichts gemein mit einer anderen, auf der ein sechsstöckiges Büro- oder Bankhaus lastet (oder nur zu lasten scheint).

Und der faschistische Dichter?

Klar, bei Pound sei die Kritik am Wucher nicht ausschließlich antisemitisch konnotiert, er ziehe mit seiner Kapitalismuskritik eine weltgeschichtliche Linie. Zinswucher sei aus der Sicht des Dichters eine Dekadenzerscheinung, mit der die Qualität der Bauten sinke. Dass er die Kritik am Finanzkapitalismus ‚an manchen Stellen forciert mit dem Judentum verbindet, ist natürlich schlimmer Unfug, Pound diskreditiert damit sein Werk‘. Und Kollhoff nicht damit seinen Platz? ‚Wenn Sie in Deutschland einen richtig rechten Raum sehen wollen‘, gibt Grünbaum zu bedenken, ‚dann müssen Sie auf die deutsche Autobahn, mit der auf schneidigste Weise die Landschaft durchquert wird.‘

Ist das nicht vielleicht noch absurder als der Vergleich mit den Soldaten?

Quelle DIE ZEIT 27.06.2019 Seite 46 Eine AfD des Bauens? Neuerdings gilt ein Berliner Platz manchen als neurechter Raum. Die Schriftsteller Durs Grünbein und Eva Sichelschmidt wohnen nebenan. Wie sehen sie das? / Von Adam Soboczynski.

Am interessantesten finde ich das Dossier zum Titelthema MACHT. Überschrieben: DIE HELLE SEITE DER MACHT. Der Ruf der Macht ist miserabel. Warum eigentlich? Eine Ehrenrettung. / Von Malte Henk und Britta Stuff.

Natürlich habe ich auch die Autoren gegoogelt, sie brauchen mich nicht, um gelobt zu werden. Mich hat die Auswahl der Beispiele überzeugt: Schimpansen unter sich, 1 junger Politiker im Bundestag, 1 Dirigentin mit ihrem Orchester „Lohengrin“ probend, (Hinweis auf Elias Canetti, der in „Masse und Macht“ das Beispiel des Dirigenten eingeführt hat), der Absturz aus den höheren Sphären der Macht (Shakespeare „Macbeth“ und „Richard III.“), Stefan Mappus nach Stuttgart 21, die 4 Literaturhinweise am Schluss (s.u., mir waren alle Titel neu). Was mich am meisten bestach: der leichte Ton, der phantasievolle Sprachduktus und der Sachverstand. Zugegeben: beim Beispiel der Dirigentin lag ich auf der Lauer, wie leicht strauchelt der Laie, – aber nichts ist passiert, alles richtig. (Ich habe 30 Jahre lang in einem Orchester gespielt, das keinem Dirigenten unterstand, sondern dem primus inter pares, dem Konzertmeister, – aber natürlich hatte er „Macht“. Oder – wie wärs mit dem Wort „Autorität“ für diesen Herrn der Exekutive? Niemand von uns hätte z.B. – oder nur mit dem allertriftigsten Grund – abbrechen können, niemand hätte aus dem Tutti heraus dem Oboisten einen Rat erteilen können.)

*    *    *

Die Sängerin Brigitte Fassbaender – jetzt immer noch als Regisseurin tätig – wird am 3. Juli 80 Jahre alt. Das Interview aus diesem Anlass hat mich in einem Punkt erschüttert, dort, wo sie von ihrer Angst spricht. Dabei gehört es zu den typischen Vorurteilen des Publikums, dass es Künstlern vor allem Spaß macht, auf der Bühne zu stehen, – um dann umjubelt zu werden. Kleinere Lichter mögen Angst haben, aber doch nicht die Stars, mögen sie noch so oft ihr Lampenfieber hervorheben: meist folgt ja auch der Hinweis, dass es mit Beginn des ersten Tones in sich zusammenfiel. Brigitte Fassbaender auf die Frage, wie ein typischer Tag in ihrem Leben aussah, etwa vor einem Liederabend:

Na, das war das Furchtbarste! Da wacht man auf: Bin ich heute bei Stimme, bin ich gut disponiert, habe ich alle Texte im Kopf? Meistens war ich mittags schon krank und wollte absagen. Vormittags ging man mit dem Pianisten noch einmal das Programm durch. Essen konnte ich gar nichts, mir wurde von fast allem schlecht. Nachmittags legt man sich hin, mit Herzklopfen, Magendruck, schweißnassen Händen und Füßen, das ganze Nervenkostüm revoltiert. Und irgendwann kommt der Moment, da zieht man die Vorhänge des Hotelzimmers wieder auf, macht sich zurecht – und trottet wie das Lamm zur Schlachtbank. ZEIT: Wovor hatten Sie Angst? Fassbaender: Vor dem Versagen, dem Blackout. Ich bin mir ja ausgeliefert, meinem Innenleben, meiner Physis, meiner Tagesform. Und manchmal konnte ich nicht so, wie ich wollte. Das war bitter – bei Liederabenden übrigens noch viel bitterer als in der Oper. Als Charlotte in Werther, als Wozzeck-Marie, Prinzessin Eboli oder Octavian schlüpfe ich in eine Rolle. Es gibt das Kostüm, die Maske, die Kollegen, das Licht, das Bühnenbild – und den Abstand zum Saal. Bei Liederabenden sitzen sie meist direkt vor einem, das ist auch ein voyeuristischer Prozess. Damit muss man fertigwerden. Und wird es nie.

Brahms „Von ewiger Liebe“ op.43,1 Brigitte Fassbaender mit Irwin Gage, Klavier HIER

Höchst erstaunlich, was die Sängerin zur #MeToo-Debatte sagt. Auf die Frage: Welche Folgen hat sie für das Theater?

Viele gute. Man geht sensibler miteinander um, vorsichtiger. Wenn ich daran denke, was für Tobsuchtsanfälle ein Regisseur wie Otto Schenk hatte! Teilweise war das sicher nur gespielt, weil er künstlerisch was erreichen wollte. Das geht heute nicht mehr, und das ist gut. Wer schreit, ist sowieso in der Defensive. Sexuelle Übergriffe waren früher an der Tagesordnung. Wir haben das einfach nicht so ernst genommen. Mir persönlich hat das auch nie geschadet, wenn ich mich verweigert habe, ich kannte solche Abhängigkeiten nicht. Es sind hauptsächlich Dirigenten, die ihre Macht missbrauchen. Auch Regisseure und Intendanten tun es, aber der Dirigent steht abends am Pult und kann dich fertigmachen. ZEIT: Haben Sie so etwas erlebt oder miterlebt? Fassbaender: Natürlich. Manche Dirigenten waren regelrecht verschrien und versuchten es mit jeder. Ich möchte keine Namen nennen. Es waren ja trotzdem große Könner, sollen sie’s bleiben.

Quelle: DIE ZEIT 27. Juni 2019 Seite 45 „Was man jagt, ist schon verloren“ Sie war eine Ausnahmesängerin und kann einfach nicht aufhören, kreativ zu sein: Brigitte Fassbaender über Versagensängste, militante Fans und den Trash in der Oper /  Das Gespräch führte Christine Lemke-Matwey

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Einer der unsinnigsten Artikel, die ich in letzter Zeit gelesen habe: manche mögen es für Fantasy halten, ich schalte dann sofort ab: wegen mutmaßlich ausgeklügelter Phantasielosigkeit. Warum habe ich den Artikel trotzdem gelesen? Wahrscheinlich wegen der Katze, ich Naivling! (Natürlich eine aus Stoff, aber aus welchem Stoff? Keine Ahnung, wird schon virtuell sein. Meinetwegen auch irgendwie spirituell.)

Quelle: DIE ZEIT 19. Juni 2019 Seite 39 Hurra, ich werde zerfetzt Wie ich in der virtuellen Realität eine ziemlich echte Katze rettete und dabei meinem eigenen Todesmut begegnete / Von Clemens Setz

Irrtum? Eine Stunde später erlebe ich ihn live aus Klagenfurt. Oder vielmehr: Einstieg erst bei  Fuzzman & Fritz Ostermayer im Gespräch über Schlager. Später mehr darüber… siehe hier. Zu einer Klagenfurt-Besprechung bei Faust-Kultur hier 

Zitat FAZ 30.6.19 Autor Jan Wiele:

Dass der beste literarische Text beim Bachmann-Preis nicht einer der vierzehn Beiträge ist, sondern vielmehr die „Rede zur Literatur“ zu seinem Auftakt, war bis zu diesem Jahr noch nicht vorgekommen. Clemens Setz hat das geändert. Mit seiner Rede über „Kayfabe und Literatur“, die einen Begriff aus dem Show-Wrestling vielfach metaphorisch fruchtbar machte, poetisch wie politisch, schlug der 1982 in Graz geborene Schriftsteller die Zuschauer und Jury so sehr in Bann, dass nach Tagen noch darüber gesprochen wurde und Ideen aus der Rede in Diskussionen auftauchten. Dass die Grenzen von poetologischer Rede und Erzählung verschwimmen und eine Zwittergattung gezeitigt haben, die selbst als Literatur betrachtet werden kann, ist insbesondere auf die vielen Poetik-Dozenturen zurückzuführen, die in den vergangenen Jahrzehnten eingerichtet wurden. Aber so triftig wie bei Setz hat man diese Gattung noch nicht verwirklicht gesehen.

Außerdem: Die Rom-Therapie – ein Buch von Simon Strauß, besprochen von Iris Radisch – das würde ich auf jeden Fall nicht mit nach Rom nehmen: „Wie entkommt man der nervigen Gegenwart? Indem man sich in die Ewige Stadt flüchtet und die ‚Römischen Tage‘ von Simon Strauß mit auf die Reise nimmt.“ Warum sollte ich?

Unbedingt lesen (Info mit Leseprobe): DIE ZEIT 27. Juni 2019 Seite 43 Wie der Sex zur Sünde wurde / Vor vierzig Jahren hat Michel Foucault mit seinem dreibändigen Werk „Sexualität und Wahrheit“ den Blick auf Macht und Lust revolutioniert. Jetzt ist aus dem Nachlass des französischen Philosophen ein vierter Band erschienen – eine Sensation? Antworten einer Philosophin und eines Theologen / Von Petra Gehring [a]/ Von Christoph Markschies [b]

[a] Textquellen zur Zeugung, zur Taufe, zu Bußtechniken sowie zur Selbstprüfung als Gehorsamsübung sind exemplarische Praxisfelder, die Foucault im ersten Drittel des Buches abschreitet, um dann die Jungfräulichkeit und das Verheiratetsein als die zwei Pfade zu einem im Sinne der Vorschriften gelingenden Leben beleuchten. Ein Fazit fehlt. Die These wird dennoch deutlich: Was man auf den ersten Blick für eine Verschärfung der sittlichen Pflichten halten könnte, ist vor allem eine „Verlagerung des Wertes der sexuellen Beziehungen“. Eine neue – und im Gelingensfall auch privilegierende – Erfahrung bildet sich heraus. Radikale Selbstbeschämung und Heil, Versagung und auf Gnade beruhende Transformation, Abtötung und Neugeburt gehören als Zielbilder von Selbsttechniken, die zugleich Selbstaufgabetechniken sind, eng zusammen. Denn es geht darum, Gehorsam zu perfektionieren – einen Gehorsam, der das Gemeinschaftswerk Kirche (durchaus im Wortsinn) „erzeugt“. In Ordensgemeinschaften geschieht dies informell, in der Ehe rechtlich gerahmt. Das „Fleisch“ ist dabei Ziel wie auch Mitte. Es ist Sitz der Sünde wie auch des Willens.

[b] Wer lange auf die 556 Seiten wartete, ist nicht nur verwundert, dass in der Ausgabe jeder Hinweis auf den heutigen Forschungsstand fehlt. Es überrascht auch, dass der dicke Band lediglich aus ausführlichen Referaten von Text von rund zehn antiken Autoren besteht, die in einer zugespitzten Perspektive in den Blick genommen werden. Von einigen Zusammenfassungen abgesehen, fehlen ausführlichere Einleitungs- und Schlusskapitel. Sexualität wird aus der Perspektive antiker christlicher Oberschichten und vor dem Hintergrund ihrer theoretischen Reflexionen thematisiert. Archäologische Quellen oder soziologische Analysen fehlen vollkommen. Da Foucault antike Argumentationen nachzeichnet, wirkt sein Text im Vergleich zu heutiger Kommunikation über Sexualität mindestens nüchtern, wenn nicht leicht prüde. So fällt das Wort „Masturbation“ kein einziges Mal, und Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern werden höchstens indirekt behandelt. […]

Durch das Christentum – so die Hauptthese des Bandes – wurde Sexualität erstmals zum Kern des menschlichen Subjektes. Unter Subjekt versteht Foucault ein Selbstverhältnis, genauer ein ständig der Selbstprüfung unterworfenes Wissen des Menschen von sich selbst. Das antike Christentum hat seiner Ansicht nach die Sexualität nicht verdrängt (wie ein im Paris der Studentenrevolutionen gepflegtes Vorurteil lautete), sondern ganz im Gegenteil die Frage, wie man kritisch mit ihr umzugehen hat, in den Mittelpunkt gerückt. Am Ende dieser Entwicklung steht nach Foucault der nordafrikanische Bischof Augustinus, der den Menschen als sujet de désir, als Subjekt des Begehrens, beschreibt, die libido, das Begehren, in das Zentrum seiner Sicht der Sexualität stellt und sie als Sünde bewertet.

Siehe auch bei Perlentaucher HIER.

*    *    *

 Mönch am Meer

Von selbst wäre ich sicher nicht drauf gekommen, dieses Bild des Malers einzusetzen, der in meiner Geburtsstadt gewirkt hat. Sein Greifswald-Bild, der Blick über die Wiesen,  hing in der Wohnung meiner Eltern, so dass ich auf die Kirche zeigen konnte, in der ich getauft war (in der „dicken Marie“, nicht – wie es mir lieber gewesen wäre – unter dem schlanken, hohen Nicolai-Turme). Die unwillkürliche Beziehung dieses düsteren Bildes auf mein helles Texel-Meeres-Foto wäre mir viel zu demonstrativ erschienen, – als hätte ich sozusagen den Rauterberg-Text, den ich noch gar nicht kannte, vorausgeahnt; aber so ist die Realität:

[…] Bleibt nur das Problem, dass der Mensch in seinem Verhalten eher einer Wolke gleicht, unberechenbar wie ihr Formgewalle. Verlangt man von ihm, er möge bitte einsichtig sein, denn ohne Einsicht werde die Welt kollabieren, füttert man ihn zusätzlich mit zahllosen Fakten und Diagrammen, wird er noch lange nicht handeln wie erhofft und notwendig.

Quelle DIE ZEIT 19. Juni 2019 Seite 38 Schönes Erschrecken Nur mit Fakten und Vernunft wird der Klimawandel nicht gelingen: Was Greta Thunberg von Caspar David Friedrich lernen könnte / Von Hanno Rauterberg

Ehrlich gesagt: der Artikel überzeugt mich nicht, ganz zu schweigen davon, was Greta Thunberg für Augen machen würde. Die Schönheit des künftigen Schreckens zu erfahren – das soll uns locken?

Die Erfahrung des Erhabenen heißt, die eigene Hilflosigkeit wahrzunehmen, sie aber als erhellend und energetisierend zu erfahren, als schöpferischen Antrieb, in dem der Mensch seine Natur neu zu fassen beginnt. Erhabenheit heißt, auch die drohende Katastrophe als bereichernd empfinden zu können – und damit die Einsicht in die Notwendigkeit eines radikalen Wandels erst möglich zu machen.

Nichts also wäre für die Klimawende produktiver, als es den Romantikern gleichzutun und im Schrecken eine ungeahnte Schönheit aufzutun. Vielleicht passiert das auch bereits, man muss sich nur das viel debattierte Video des YouTubers Rezo anschauen. Dort sind es nicht die Fakten allein, dort ist es nicht nur die Wahrheit des Untergangs, die ungemein fesselnd wirken. Es ist auch der Spaß an der Inszenierung, es ist das quietschig-derbe Sprechen, es ist die Ästhetik, die aus dem Schrecken ein Faszinosum macht. Und so die Zuschauer in jenes innere Wechselspiel verwickelt, aus dem es so gut wie kein Entkommen gibt. Es sei denn, sie handeln.

Ich finde, das Wechselspiel geht anders aus: hier schießt die Ästhetik ein weithin schallendes Eigentor.

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Was ist mit dem Wetter? Wir haben Tage enormer Hitze. Trotzdem kein Grund, die Sache in aller Kürze mit Klimawandel zu erklären. Interessanter Artikel mit dem Titel Puuuhhh! / DIE ZEIT WISSEN 27. Juni 2019 Seite 33. Nur zwei Zitate:

Die Herkunft der Hitze ist klar: die marokkanische und algerische Sahara. Auch was die extreme Wärme herbringt, weiß man. Es ist ein Tiefdruckgebiet über dem Atlantik, westlich der Iberischen Halbinsel, das sich kaum vorwärtsbewegt, aber die heißen Luftmassen aus dem Süden ansaugt und an seiner Ostseite vorbei nach Europa lenkt. Vor allem nach Spanien und Frankreich, aber eben auch in die Beneluxstaaten und nach Deutschland. Klar ist zudem, dass für die langsame Fortbewegung eine Anomalie in der Höhenströmung, die den Globus umspannt, verantwortlich ist. Schlägt dieser Jetstream größere Schleifen als normalerweise, wird gar eine dieser Schleifen vom restlichen Strom abgeschnitten, erscheinen Druckgebiete, die in tieferen Atmosphärenschichten liegen, oft wie zementiert. Die Meteorologen nennen das „Blockwetterlage“.

[…]

Der Rückblick auf die vergangenen Monate zeigt: Der Winter war etwas feuchter als normal, die Niederschläge des Frühjahrs lagen fast genau im langjährigen Mittel. Und mag der Juni auch deutlich trockener sein, er folgt auf einen kühlen, feuchten Mai. Dieser war der erste Monat seit dem März 2018, der unter dem Temperaturdurchschnitt des Vergleichszeitraums (nämlich 1961 bis 1990) lag, in den Worten der Wetterstatistiker: „nach 13 Monaten in Folge erstmals zu kühl“.

Quelle DIE ZEIT 27. Juni 2018 Seite 33 f Puuuhhh! Was bedeuten die hohen Temperaturen dieser Woche? Tötet die Hitze wirklich Menschen? Was kann jeder tun, für sich und andere? Und wie geht es dem Wald, den Böden, den Gewässern? Sieben Antworten. ( Von Harro Albrecht, Dirk Asendorpf und Stefan Schmitt. (S.a. hier).

*    *    *

Ich muss einen Abschluss finden, in der Tat: heute Morgen, 7:50 Uhr in WDR 3 Choral, die nachfolgende Predigt brauche ich nicht, aber etwas, was wie Bach klingt, eine Fuge darstellt und natürlich ein „Noch einmal!“ erzwingt, sogar mehrmals, also auch eine kleine Recherche, die hiermit angedeutet sei: der Komponist ist Johann Ludwig Bach – aber es ist J.S.Bachs Handschrift!

Nein, es ist nicht J.S.Bachs Handschrift, sondern die des Kopisten J.H.Bach (1707-1783), dem Sohn des Ohrdrufer Bruders (Näheres dazu hier).

Dies alles bringt mich auf ein Buch, das ich vor drei Jahren mit Begeisterung gelesen habe, „Bachs Welt“ von Volker Hagedorn, siehe hier, – und gerade dorthin, wo es um das physikalische Weltbild der Zeit geht (wir waren ja gerade beim Wetter!), und dort ist auch von Johann Ludwig Bach die Rede, wenn auch in seiner Säuglingszeit (1677).

Und auch die folgenden Seiten entdeckte ich aufs neue. Und wie recht ich damals hatte, ein „ja!“ an den Rand zu schreiben, ich hatte offenbar die Aufnahme schon gefunden, die mich jetzt begeisterte wie am ersten Tag! Wie traurig und wie wild, dieser Satz „Meine Bande sind zurissen“! In der Tat, man kann davon nicht lassen, kein Wunder: jetzt habe ich die Konsequenzen gezogen, – die CD ist unterwegs zu mir!! Und nie mehr werde ich den „Meininger Bach“ mit einem anderen verwechseln. Hören Sie, und wenn Ihnen die Musik nicht den Atem raubt, lesen Sie auch! Einzigartig ebenso: dieser Chor und dieses Orchester! HIER.

Quelle Volker Hagedorn: Bachs Welt / Die Familiengeschichte eines Genies / Rowohlt Reinbek bei Hamburg 2016

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Volker Hagedorn hat übrigens gerade ein neues Buch herausgebracht, – Der Klang von Paris – Eine Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts -, noch befindet es sich nicht in meinen Händen. Eine Leseprobe ist vielversprechend: hier.

Eine Stunde ZEIT

Was wirkt wie?

(hinter der Antwort in Klammern zu denken: „auf mich“ oder „gilt nur für mich“)

Am Donnerstagmorgen ist es wichtig, dass dieses Wochenblatt von innen sichtbar hinter dem Außengriff der Haustür steckt (in den Briefkastenschlitz passt es nicht). Mindesten 1 Stunde begleitet die Lektüre das Kaffeetrinken (oder umgekehrt), schon vor dem Ausbreiten erstaunt mich, was diesmal als Aufmacher dient (und diese Zeitung von allen anderen unterscheidet, heute „Der neue Klassenfeind“, wäre ich nicht drauf gekommen: eine bestimmte „globale Elite“). Danach folgt das Beiseiteschaffen aller Magazine und Reklamebeilagen, dann das Überfliegen der beiden Leitartikel auf der ersten Seite. Das Herausnesteln der Teile „Feuilleton“ und „Wissen“, deren sorgfältige Durchblätterung („wieder nichts über Musik“ – „für diesen einen Artikel hat sich die ZEIT heute schon wieder gelohnt“) , schließlich die genaue Musterung des Inhaltsverzeichnisses nebst gezielter Auswahl. Kopfschütteln über die Klassik-Charts, lauter Oberbegriffe machen Karriere. Und Bach. Oder Bach unter neuem Oberbegriff. Six Evolutions, Six Suites for Viola, Plays Bach, Himmelsmusik, Memory, Anima Sacra, Currentzis, Elements, Besame Mucho, Light & Dark, Islands – Essential Einaudi, Classical Collection, Homage to Bach. Nein, zuerst das Foto der Seite WISSEN und „Eine Welt wie vor tausend Jahren“. „Kaum jemand weiß, dass es in Rumänien riesige Urwälder gibt. Doch wie lange noch? Fast täglich werden jahrhundertealte Bäume gefällt – illegal“ Von Fritz Habekuss. Da stimmt alles: die Aufteilung der ganzen Seite 39, die Allusion auf den Hambacher Forst, der Name des zuverlässigen Autors, die zufällige Nachbarschaft der schmalen Kolumne „Ende für Frischzellenkur“ – (Adenauer!) – „Der medizinischen Quacksalberei sollen Grenzen gesetzt werden“. Das nehme ich nur zur Kenntnis, was ich aber sofort festhalten will, wäre dies:

Es ist, als würde jemand die Akropolis einreißen, um damit eine Gasse zu pflastern. Nur dass man die Akropolis notfalls nachbauen könnte. Zerstört man einen Urwald, vernichtet man ihn für immer.

Als die polnische Regierung vor zwei Jahren den Tiefland-Urwald Białowieża abholzte, gingen die Bilder davon durch Europa. Was in Rumänien passiert – und zwar seit Jahren -, ist schlimmer. Doch die Öffentlichkeit nimmt davon kaum Notiz. In Polen stoppte erst ein EU-Vertragsverletzungsverfahren das Roden. Dieselbe Behörde sammelt gerade Material über die rumänische Situation. Dass dort ein Verfahren eröffnet wird, wäre die größte Chance, das Abholzen doch noch zu stoppen, bevor der gesamte Wald verschwunden ist.

Quelle DIE ZEIT 15.November 2018 Seite 39 Eine Welt wie vor tausend Jahren / Kaum jemand weiß, dass es in Rumänien riesige Urwälder gibt. Doch wie lange noch? Fast täglich werden jahrhundertealte Bäume gefällt – illegal / Von Fritz Habekuss

Ein anderer ZEIT-Bestandteil – „Z – ZEIT zum Entdecken“ – fällt mir nicht erst durch das riesige Alte-Meister-Buntbild (die Hand des zweifelnden Thomas) auf, sondern schon im Inhaltsverzeichnis: „Ansage / Warum das Christen-Bashing vieler Atheisten nur noch nervt“.  Ich habe mich selbst in letzter Zeit des öfteren dabei ertappt, dass ich unversehens in die Rolle des Christentum-Verteidigers  geraten bin. Es ist zu einfach geworden: der Hinweis auf die Missbrauchs-„Tradition“ ersetzt alle nur möglichen Argumente. Unter Musikern (oder musikalischen Menschen) wäre es allerdings komplizierter: man muss nur schnellstens Bach zum Thema machen (so halte ich es). Wie stand übrigens der Atheist Nietzsche zur „Matthäus-Passion“? Oder der (nicht-christliche) Philosoph Hans Blumenberg? Da hilft kein Relativieren durch den Hinweis auf die fatale Kraft des Pietismus. Um es modisch zu sagen: die Bilder bringt man nicht aus dem Kopf! Die unglaublich differenzierte Mythologie, nicht „einfach“ mit Märtyrer-Blut geschrieben, sondern fast so reich wie die antike oder die indische, die Verherrlichung der inneren oder der äußeren Welt. (Siehe dazu auch den Artikel über den „ungläubigen Thomas von Caravaggio“ hier. Ohne den letzten Satz von Karl Jaspers zu unterschätzen.) Zurück zum (lesenswerten) ZEIT-Beitrag:

Der moderne  Heide will nicht diskutieren, nicht herausgefordert sein. Es genügt ihm, die eigene Ignoranz bestätigt zu sehen“ Von Raoul Löbbert.

ZITAT

Natürlich frage ich mich, warum Atheisten sich heute noch derart provoziert fühlen vom Glauben. Der Atheismus ist doch längst auf dem Durchmarsch. Die Volkskirche ist mittlerweile genauso Geschichte wie die Volksparteien. Der Vatikan steckt, nach zahllosen Finanz- und Missbrauchsskandalen in allen Teilen der Welt, in der Selbstfindungskrise. Und in Sachen Sex lassen sich nicht mal mehr die Bayern noch etwas sagen vom Papst. Ja, selbst in der CDU, wo man früher das C vor sich hertrug wie eine Monstranz, outen sich heute gefühlt mehr Volksvertreter als schwul denn als gläubig.

Trotzdem arbeiten sich Atheisten mit glühendem Eifer am Glauben ab. Es wirkt so, als prügelten sie auf einen Toten ein. Als wollten sie sich einfach noch ein wenig gruseln vor dem, was sie selbst überwunden zu haben meinen: Katholizismus, Klerikalismus, Luther und den Antisemitismus – irgendein Ismus ist immer und bestärkt die atheistische Paranoia, von Gotteskriegern umstellt zu sein.

Inzwischen habe ich unter Atheismus bei Wikipedia nachgeschaut, hier. Insbesondere die Karten unter „Geographische Merkmale“ habe ich studiert. In Stuttgart habe ich viele neue Bücher entdeckt, versucht Inhalte wenigstens oberflächlich zu erfassen, viele Seiten fotografiert, vorgemerkt zur eigenen Anschaffung, eins ist schon unterwegs: Karl Jaspers „Der philosophische Glaube“. Ich hatte geargwöhnt, dass er darlegen wolle, dass auch der Glaube ein Weg für Philosophen sei; stattdessen erfuhr ich etwas, was ich bei ihm schon 1960 kennengelernt, aber mir nicht recht angeeignet habe; ganz vorn eine damals typische besitzanzeigende oder -beanspruchende Eintragung. Nicht weit davon steht der kleine Goeschenband von 1932, der nur meinem Vater gehört haben kann, wie andere ganz zerlesene über Harmonielehre von Krehl oder über Musikalische Akustik. Ach, hätte ich doch nur eine einzige Unterstreichung in der alten Jasper-Ausgabe entdeckt!

 

 Um diesen Titel nicht misszuverstehen, nur ein Zitat:

 (Handy-Foto)

Wer mir beim Fotografieren zuschaut:

 Sie fühlt sich wohl

 Sie fühlt sich unwohl

Ich komme zurück auf den oben zitierten ZEIT-Artikel. ZITAT:

Wer vermag mit Sicherheit zu sagen, er benötige nie ein Quantum Trost?

Die wenigsten. Denn irgendwann stellt sich doch die große Frage nach dem Sinn. Weil man in die Jahre kommt. Weil Verwandte sterben oder Freunde. Den selbstbewussten Heiden kann es dann auf einmal nach Trost gelüsten. Michel Houellebecq beispielsweise. Jahrelang behauptete der Skandalschriftsteller, ein „kalter Atheist“ zu sein. Das Religiöse sei ihm so wurscht, dass er sich nicht mal mehr darüber aufrege. Und dann starb sein Lieblingshund. Seitdem philosophiert Houellebecq im Interview über den Schöpfer und die kosmische Ordnung, deren Existenz er auf einmal für möglich hält.

Quelle DIE ZEIT 15.November 2018 Seite 62 „Der moderne  Heide will nicht diskutieren, nicht herausgefordert sein. Es genügt ihm, die eigene Ignoranz bestätigt zu sehen“ Von Raoul Löbbert.

(Warum der Untertitel: Was wirkt wie? und der druntergesetzte Zusatz: Weil ich nur für die Wirkung von Überschriften und Artikeln auf mich sprechen kann. Etwa: welche Assoziationen und eigenmächtige gedankliche Exkurse ausgelöst werden, denen ich eine gewisse Bedeutung zuspreche. Daher teile ich sie mit, ohne aber irgendjemandem suggerieren zu wollen, dies sei ein repräsentativer Auszug aus dem vielgestaltigen Wochenblatt. Jeder andere hat eigene Präferenzen, über deren Darlegung und autobiographischen Zusammenhang ich erfreut wäre.)

Übrigens lese ich weiter, und vor allem arbeite ich lesend den kleinen Bücherberg ab, der neben mir liegt und eigentlich inhaltlich präsent bleiben soll. Und wie auch immer dieser Berg sich verändert: seine jeweilige Gestalt scheint mir lebenswichtig. Obendrein habe ich noch folgendes Buch geschenkt bekommen:

 (nach Anklicken deutlicher lesbar)

Klassik zum Kuscheln oder Gegentreten

Nur keine Berührungsängste!

Seltsame Welt: im Kultur-Magazin kann der Massensport Fußball dazu dienen, die Klassik attraktiver erscheinen zu lassen. Irgendwie. Im Hintergrund des massenwirksamen Pop-Geschäftes dagegen wird gedämpfte Klassik am ehesten im Blick auf Wellness genutzt. Der kernige Begriff sorgt für Prestige ohne eigene Anstrengung und suggeriert zugleich unterschwellige Leistungsförderung: Geht Klassik nicht Hand in Hand mit Langeweile, und sieht das nicht einer Art Entspannung zum Verwechseln ähnlich? Man sagt doch auch „Kuschelklassik“.

Helene Fischer hier zur Klassik.

ZITAT

Um wieder auf den Boden der Tatsachen zu kommen und nicht die Nerven zu verlieren, hat Helene Fischer nach ihren Konzerten immer spezielle Rituale: „Abschminken im Bad, manchmal höre ich auch Klassik, um meinen Kopf nicht zu sehr arbeiten zu lassen, weil da hat man ja auch einiges erlebt an diesen Abenden.“ Noch viel wichtiger ist Helene Fischer allerdings der Austausch mit ihrem Liebsten: Moderator Florian Silbereisen (36). „Ich schotte mich ab, damit ich wieder zu mir komme. Trotzdem ist es das Schönste und Wichtigste, auch direkt, nachdem ich in mein Zimmer gekommen bin, mit Florian zu telefonieren.“

Was hat Violinespielen mit Fußball zu tun? Erfahren Sie es bei ttt Titel Thesen Temperamente hier – ab 24:16 der Violinist Emmanuel Tjeknavorian im Porträt.

(Warum ist überhaupt vom Fußball die Rede? Ich wette: nur wegen der laufenden WM. Und der junge Mann wurde von der Regie dringend gebeten, die Fußball-Idee in Bild und Wort umzusetzen. Sehr halbherzig, denn das Thema verschwindet aus gutem Grund.)

ZITAT Max Moor

Und nun zum Fußball. (MM macht ein pfiffiges Gesicht dazu.) Der Vater ein bekannter Dirigent, die Mutter eine Pianistin, und sie wünschte sich für ihren Sohn nur eines, – dass er nicht Musiker werde. Doch der fünfjährige Pimpf bestellte bei Papa per Telefon eine Geige als Mitbringsel von dessen Auslandstournee, keine Spielzeuggeige, eine richtige, Mamas Protest half nichts, der Bengel kriegte die Violine und – Sie ahnen es schon – ist heute der aufsteigende Stern am Klassikhimmel. Und was hat das jetzt alles mit Fußball zu tun? Dies: (man sieht einen Halbwüchsigen mit Fußball agieren) ein gutes Violinkonzert ist wie ein gutes Fußballspiel. Emmanuel Tjeknavorian, Fan von Real Madrid und Ludwig van Beethoven, weiß das. Auf dem Platz wie auf der Bühne geht es um präzise Technik und kluge Taktik, und ohne Leidenschaft geht gar nichts. (Musik Sibelius) Als Teenager spielte Emmanuel Tjeknavorian in einer Schülermannschaft, offensives Mittelfeld (Sibelius + Fußball spielende Jugendliche). Geige spielte er, seit er fünf ist.

O-Ton Tjeknavorian

Wenn ich Sibeliuskonzert spiel, dann muss jeder Lagenwechsel sitzen, genau so wie auf dem Feld muss jeder Pass sitzen, wenn man ein erfolgreiches Spiel absolvieren möchte oder es hat sich in der Sprache etabliert, wenn man sagt: ja, und der dirigierte die Abwehr oder … der gibt den Takt vor… (Popmusik)

Emmanuel Tjeknavorian in Berlin, eingeladen zum Debüt im Deutschlandradio Kultur mit dem Deutschen Sinfonieorchester Berlin. (25:59) In dieser legendären Reihe etc. etc. Filmbilder aus Kindheit, Wunderknabe? nein, Vater iranischer Dirigent etc., das Thema Fußball ist weg.

Besonders stark werden die Gefühle, wenn ich armenische Musik spiele zum Beispiel.

Ausnahmetalent… Stradivari. Sehr alt: Mozart, Beethoven, Philharmonie, dennoch: die Geige klingt unbeirrt heute … Übung! (Wo bleibt der Fußball?)

ZITAT (aus dem Off):

Emmanuel Tjeknavorian ist 22. Die Zeit der Wettbewerbe liegt hinter ihm. Er muss nicht mehr siegen, um sein Können zu beweisen. Jetzt muss er ein Publikum gewinnen. Die Zugabe in der Berliner Philharmonie ist ein Kinderlied von Beethoven, das Murmeltier, ein schlichte traurige Weise. Pures Spiel, ganz fein, ganz groß. (Er spielt die Melodie von „La Marmotte“…)

*   *   *

Auch in diesem (wohlgemeinten!) Beitrag erfährt man nichts über Klassik, abgesehen davon, dass beiläufig der „Klassikhimmel“ erwähnt wird. Die Musik ist so ausgewählt, dass niemand verschreckt wird. Es liegt daran, dass ein Klassikhintergrund bei Kulturmoderatoren keine Rolle spielt, musikalisch versuchen sie regelmäßig mit irgendwelchen 30 Jahre zurückliegenden Pop-Erinnerungen zu imponieren. So inszenieren sie das Kinderlied als Höhepunkt. So schlicht – ohne alles – ist ihnen Klassik am liebsten. Zu „Lebzeiten“ der Klassik schrieb ein zeitgenössischer Rezensent über Beethovens Klavier(!)lieder op. 52, zu denen „La Marmotte“ mit Goethes Versen gehört:

Begreif‘ es, wer es kann, dass von solch einem Manne etwas so durchaus Gemeines, Armes, Mattes, zum Theil sogar Lächerliches – nicht nur kommen kann, sondern sogar ins Publikum gebracht werden mag! [AmZ 1805]

Berührungsängste allenthalben. Aber Kuschelklassik und Kinderlied, ganz fein, ganz groß.

*   *   *

Auch Helene Fischer will mal loslassen, sich abschminken, die Maske abnehmen, den Kopf mit Klassik ausschalten statt mit Schlagern. Und der Klassikstar soll keinen Wettbewerb mehr gewinnen wollen, sondern ein Publikum. Wenn es sein muss, mit einem halben Schritt zurück ins Kinderland. Es ist doch alles nur Spiel…

*   *   *

Verdammt noch mal, was war los mit unserer Fußballmannschaft? Es fehlte die Spielfreude! Sie haben nicht gebrannt!! Sie sind nicht um ihr Leben gerannt, es war nur ein gutwilliges Traben.

Man muss es aber gar nicht psychologisch sehen. Eine schöne Lösung fand die ZEIT in der Kolumne von Josef Joffe: Total global – Warum die Kleinen bei der WM die Großen überflügeln.

Die Erklärung besteht aus einem Wort: „Globalisierung“. Als die Deutschen 1954 den Pokal in Bern holten, kamen Sepp Herbergers Mannen aus deutschen Vereinen: große Bevölkerung, große Auswahl. Da konnte das winzige Island nicht mithalten. Doch heute sind die Scouts der Club-Teams in der gesamten Welt unterwegs und rekrutieren die Besten der Besten.

Die spielen mit den Besten in der Premier League oder der Bundeslinga. Sie erringen Ruhm und Reichtum, egal, ob sie aus dem Senegal oder Ägypten kommen. Sie steigen auf in die Welt-Elite, was sie im einst abgeschotteten Daheim nie hätten schaffen können. Alle vier Jahre kehren sie heim, wo sie mit andern Cracks im Nationalteam spielen und die klassischen Fußballmächte das Fürchten lehren.

(…) Bei der WM spielen zwar nationale Teams, aber in Wahrheit die Besten gegen die Besten der ganzen Welt. „National“ an ihnen ist nur der Pass. Vergleichbar ist dieser globale Markt nur mit den großen Orchestern der Welt, wo nicht Herkunft die Zukunft bestimmt, sondern Talent und Ehrgeiz.

Anders als Football, Baseball und Rugby ist Fußball der einzige Sport, jedenfalls gemessen an den drei Milliarden, die in Russland zugucken. Dass in der gnadenlosen Konkurrenz die Letzten zu den Ersten aufrücken und umgekehrt, befeuert die Faszination. Über diese Art der Globalisierung darf sich niemand beschweren.

Quelle DIE ZEIT 5. Juli 2018 Seite 12 ZEITGEIST / Total global Warum die Kleinen bei der WM die Großen überflügeln / Von Josef Joffe.

Der Vergleich mit den Orchestern hinkt allerdings mehr als der fast tödlich gefoulte Neymar, nachdem er wieder aufgestanden war.

In der Musik gibt es keine zählbaren Tore, die auch eine künstlerisch hervorragende Leistung in die Vergessenheit drängen könnten. Und umgekehrt funktioniert es auch nicht. Letztlich zählt nicht das Kinderlied, sondern das Sibeliuskonzert.

Das Wort „Abschotten“ spielt eine ambivalente Rolle. Bei der „Welt-Elite“ ebenso wie in Helene Fischers Abschminkzimmerchen. Der geigende Eremit im Sinne Max Regers würde sich auf den Klassik-Podien der Welt nicht durchsetzen. Wohl aber als Effekt in einem dramaturgisch gelenkten ttt-Beitrag.

Das Kinderlied geht mir doch nachhaltig durch den Kopf.

Der Philosoph aus Solingen

Was die Presse von Precht weiß

Precht Solingen ST bitte anklicken

Man merkt schnell, dass diese Glosse „Stimmung“ macht. Der Autor glaubt sich damit an den typischen Solinger im Leserkreis zu wenden. Soll der nun aus Sympathie antanzen? Für (gegen) Precht oder für das Galileum? Darüber erfährt man nichts Näheres.

Es gibt nur einen Satz, der mich nachhaltig interessiert. Spalte ganz rechts, 2. – 3. Zeile. Und damit die Frage: Schreibt Precht fehlerhaftes Deutsch? (Ich kenne seine Deutsch-Lehrerin!)

Precht Handelsblatt Screenshot 2017-12-13

Ich suche also aus purer Neugier den Original-Artikel im Handelsblatt: „Die Verschwörung der Solinger“ am 10.12.2017. Was steht denn da?

Solche Menschen ohne echte Neugier und Interessen haben mir immer Angst gemacht. Und dann gab es noch die, die sich mit ihren Passionen in noch ganz andere Welten träumten. Angst machten sie nicht, man nahm sie nicht ernst. Das waren die, die ihre Klassenkameradinnen, die ihnen nie einen Blick zuwarfen, auf ihren Commodore-Computern in Hitlisten sortierten; die Zeitschriften über Stereoanlagen sammelten und im Mathe- und Physikleistungskurs in einer Welt von Zahlen lebten, die ihnen jenen Halt gaben, den das reale Leben keinem allzu rational begabten Menschen bietet. Mitschüler also, die ihren Mangel an Psychologik mit Logik in Parallelwelten kompensierten.

Haben Sie es bemerkt? Das ist also wohl typisch Solingen, könnte ich sagen, – solche Sätze, die man einfach kopieren könnte, dennoch falsch zu zitieren.  Aber ich sage es jetzt nicht. Ich würde bedeutende Solinger beleidigen: einen der wichtigsten Bach-Forscher zum Beispiel: Christoph Wolff. Oder einen der großen Kant-Forscher: Karl Vorländer, der in Marburg und Münster lehrte, aber doch in seinen Vorworten zu Kant der Heimatstadt die Ehre gab. Der erste Solinger übrigens, der vor Richard David Precht eine große Philosophie-Geschichte geschrieben hat.

Vorländer Voworrte bis 1913

Bravo! Nicht jedermanns Sache, aber tadellose Grammatik! Typisch Solingen? Falls Sie es gar nicht bemerkt haben oder sogar selbst Solinger sind, rekapituliere ich den inkriminierten Satz, der an der Quelle in korrektem Deutsch zu lesen war. Es ging dort um Menschen, die

in einer Welt von Zahlen lebten, die ihnen jenen Halt gaben, den das reale Leben keinem allzu rational begabtem Menschen bietet.

Es stört mich als Solinger Patriotem (?), wenn ein an sich klarer Satz im abonniertem (?) Tageblatt zur Fallgrube wird und den Leser zur längerer (?) Recherche zwingt.

Zumal das Galileum selbst besondere Aufmerksamkeit verdient, wie übrigens auch der Philosoph, der jenem gutwillig zur Seite steht…

Nachtrag 16. Dezember 2017

Zwei neue Artikel im Tageblatt. Das langweilige Solingen schlägt zurück: Der Oberbürgermeister hat dem Philosophen einen geharnischten Brief nach Köln geschrieben. Der Zeitungsmann aber findet, man soll doch bitte nicht alles so bierernst nehmen (er ist nur ein Glossen-Spezialist). Nun steht er plötzlich haushoch über der Sache, die er selber angerichtet hat. Das langweilt mich. Ich wollte doch nur wissen, ob wirklich der Philosoph den grammatisch unangenehmen Fehler gemacht hat oder ausgerechnet dieser Zeitungsmann, der ihn anschwärzen wollte.

Um das wahre Potential Solingens zu erfassen, genügt zumeist ein Blick in die Rubrik Leserbriefe des Tageblattes:

Solinger Tageblatt Leser-Gedicht

Vom Wert einer Zeitung

Um einmal einiges aufzuzählen…

Vielleicht ist es kein Tag wie jeder andere. Und es hätte auch eine andere Zeitung sein können, die Frankfurter Allgemeine, die Neue Zürcher Zeitung, die ich beide sporadisch im Internet lese, die ZEIT, die ich wöchentlich in Papierform auf dem Tisch ausbreite, beginnend mit dem Feuilleton, fortfahrend mit dem Teil Wissen, und zum vorläufigen Ende die ersten 3-4 Seiten. Heute aber ist es die Süddeutsche Zeitung, die per Ferien-Umleitung dank einer Freundin für zwei Wochen täglich bei uns hereinschaut. (Auch sonst ziemlich regelmäßig, aber immer verbunden mit einer Fahrradfahrt zur Bahnhofskiosk, also nicht „immer“.) Vorübergehend im Wechsel mit Claus Klebers sehr lesenswertem Büchlein „Rettet die Wahrheit“, das in meiner Buchhandlung Jahn an der Kasse lag und bei ZDF-Lanz mit dem Autor durchgesprochen worden war, als ich den neuen Fabiou abholte: „Philosophie des wahren Glücks“, weil mich sein „Versuch, die Jugend zu verderben“ seit Monaten (vor dem Einschlafen) beschäftigt hat.

Also die Süddeutsche heute, Freitag, den 29. September 2017. Endlich eine volle Seite über das Phänomen „Referendum in Katalonien“, und zwar derartig in Schwerpunkte aufgeteilt, dass man keinen auslässt. Und den Leser, der die Problematik aus der Ferne mit Befremden verfolgt hat, merkwürdig verändert daraus hervortauchen lässt.

Seite 13 Hirngespinste! Stierkämpfer und Kolonialherren die einen, Akrobaten und Händler die anderen. Über die historischen Wurzeln des Konflikts zwischen Spaniern und Katalanen. / Referendum in Katalonien 300 Jahre Streit, drei Schriftsteller, ein Abgrund. Von Thomas Urban.

Aber es ist auch die Konfrontation von zwei politischen Kulturen. Der Wohlstand der Katalanen beruhte auf Handwerk und Seehandel. In den Städten entwickelt sich ein selbstbewusstes Bürgertum, vergleichbar den Hansestädten und italienischen Stadtrepubliken. Eine Tradition des politischen Kompromisses und ein ausbalanciertes Machtsystem entstanden.

Spanien hingegen war eine Monarchie mit klarer Machthierarchie: König, Adel, Klerus und Bauern, die Frondienste leisten mussten. Nach der Entdeckung Amerikas beruhte die spanische Wirtschaft nicht auf Handel und Erfindergeist, so stellen es mit Vorliebe katalanische Historiker dar, sondern auf der Ausplünderung der Reiche der Azteken und Inkas. Die Gestaltung der Politik blieb bis in die Neuzeit einer kleinen Elite vorbehalten. Nach Meinung links-liberaler Politologen lebt dieses hierarchische Politikmodell in der PP fort.Dort sei, so sagen sie, die innerparteiliche Demokratie rudimentär ausgebildet. Auch gelte für sie die Devise: „Der Gewinner nimmt sich alles.“ Vor allem wenn es um die Verteilung von Posten und Haushaltsmitteln geht. Es ist kein Zufall, dass PP-Politiker in Korruptionsaffären verwickelt sind.

Nach katalanischer Ansicht verstehn die Spanier in Madrid Politik nur als Konfrontation. Symbolisch dafür stehe der Stierkampf. In Katalonien ist das Spektakel verboten, zum Ärger des Traditionalismus in Madrid. Stolz verweisen die Katalanen auf ihre (Gegen-) Tradition: die Castells. Türme aus Menschen, mehrere Etagen hoch, Ergebnis eines Höchstmaßes an Konzentration und Koordination. In Spanien aber amüsiert man sich über diesen „komischen“ Sport, bei dem es nicht um das unmittelbare Kräftemessen geht.

Lügen und Rechtsbruch Das Referendum ist illegal. Von Juan Cruz.

Spanien ist tot Wir müssen wählen dürfen. Von Albert Sanchez Pinol.

Ihr spinnt alle beide! Der Hass vergiftet uns. Von Almudena Grandes.

Seite 14 Rastlose Flucht nach vorn Vorbei? Seid euch da bloß nicht so sicher: Gerd Koenen erzählt die Geschichte der kommunistischen Weltbewegung. „Die Farbe Rot“ ist ein unvollkommenes Meisterwerk der historischen Analyse. Von Jens Bisky.

ZITAT

Was war der Kommunismus? Laut Brecht das Einfache, das schwer zu machen ist. Gangchanzhuyi – die chinesische Umschreibung des höchsten Ideals und endgültigen Ziels der Partei, bedeutet etwa „die gemeinsame Wiedergeburt der Herrschaft der Gerechtigkeit“. Der Ökonom John Maynard Keynes vermutete, „die subtile, beinahe unwiderstehliche Verlockung des Kommunismus“ bestehe darin, „dass er verspreche, die Dinge schlimmer zu machen“. Es handele sich um einen „Protest gegen die Hohlheit des Wohlergehens“, also einen „Appell an den Asketen in uns“. Kommunisten in vielen Ländern sahen in ihrer Bewegung die Avantgarde einer „menschheitlichen Selbstbeauftragung“ zur vernünftigen Neuordnung aller Verhältnisse im Handstreich.

In Gerd Koenens monumentaler Studie über die „Ursprünge und die Geschichte des Kommunismus“ findet man all diese Bestimmungen, Aphorismen, Selbstbeschreibungen – und noch viele mehr. Ein Charakteristikum des Kommunismus sieht Koenen, angeregt vom Roman „Der stille Don“, für den Michael Scholochow den Literaturnobelpreis erhielt, in der „extremen Spannung zwischen dem Höchsten und dem Niedrigsten, zwischen Humanismus und Terror“. Aber auch das bleibt nicht das letzte Wort der analytischen Erzählung. Koenen misstraut der wohlfeilen, allzu oft mit liberaler Selbstzufriedenheit verbundenen Formel vom „Ende des Kommunismus“. Er schreibt im kritischen Handgemenge, widerspricht beliebten Deutungen, etwa denen von Ernst Nolte oder Eric Hobsbawm. Von der ersten Seite an enttäuscht er alle Erwartungen an ein Handbuch, einer konventionellen Darstellung in antiquarischer Absicht. (…)

Was war der Kommunismus?

Gewiss war er weder eine bizarre Idee deutscher Stubengelehrter noch eine große Utopie, die leider falsch umgesetzt wurde. Er lebte und lebt von kulturell tief verwurzelten Sehnsüchten. Religiöse und philosophische Erzählungen schildern das Heraustreten der Menschheit aus einem mythischen Urzustand als Schrecken eigener Art. „Schuld- und fluchbeladen“ erscheint der Verlust ursprünglicher Einheit, gleichviel ob man in deren Beschwörung Erinnerungen oder Fiktionen sehen will.

Koenen rekapituliert die Erzählungen von Gilgamesch, die biblische Schöpfungsgeschichte, Hesiods „Werke und Taten“, asiatische Lebenslehren, christliche Reichtumskritik. Er gewinnt der eindrücklichen Revue eine wichtige, Max-Weber-Lesern plausible Pointe ab: die Herkunft des modernen Sozialismus und Kommunismus aus der christlich-abendländischen Gedankenwelt sei leichter zu verstehen, als die Frage zu beantworten, warum in diesem neuzeitlichen Europa eine Wirtschafts- und Lebensweise entstand, die sich um Ursprünge, Gemeinschaft, Herkommen wenig schert, tradierte Bindungen sprengt und heute summarisch „Kapitalismus“ genannt wird.

Nachdem ich fleißig abgeschrieben habe, was mir persönlich behaltenswert erschien, entdecke ich beim Recherchieren des Wortes „Gangchanzhuyi“, dass dieser ganze Artikel im Internet auffindbar ist: Hier. Bitteschön, doppelte Empfehlung!

Seite 14 Wer sind eigentlich diese Deutschen? Seine Geschichte des Dritten Reiches ist ein Standardwerk. Ein Treffen mit dem britischen Historiker J. Evans, der an diesem Freitag siebzig wird. Von Alexander Menden.

Als er in den Sechzigerjahren begann, in Oxford Geschichte zu studieren, hatte der deutsche Historiker Fritz Fischer gerade eine Debatte über die Gründe für den Ersten Weltkrieg eröffnet. „Fischer war ein Held für mich“, sagte Evans. (…) Wie viele gleichaltrige Geschichtsstudenten fand Evans Fischers These aufregend, der Weltkrieg und auch der Nationalsozialismus seien ein Folge der gesellschaftlichen Entwicklung im deutschen Kaiserreich gewesen – zumal 1968 gerade eine Wiederbelebung neonazistischer Ideen in ganz Europa stattfand. (…)

Evans selbst studierte eingehend die Hamburger Archive, publizierte unter anderem über feministische Bewegung in Deutschland und über die „völlig in Vergessenheit geratene“ Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung: „Deutschland war ja bis zum Wirtschaftswunder, das die berühmte nivellierte Mittelstandsgesellschaft hervorbrachte, eine zutiefst gespaltene Klassengesellschaft“ sagt er. Deshalb finde er die Generalisierung deprimierend, die immer wieder gerade von britischen Historikern vorgenommen werde, wo einfach von „den Deutschen“ die Rede sei: „Es gibt keine Differenzierung, die auf diese klassenbedingte Spaltung, auf den Dissens mit den Nazis eingeht.“ Er bezog auch Stellung gegen Daniel Goldhagen, der die nach Evans‘ Einschätzung unzulässig vereinfachende Behauptung aufstellte, „eliminatorischer“ Antisemitismus sei der deutschen Kultur eingeschrieben.

Seite 16 Im Wellnesstempel der Könige Deutsche Archäologen restaurieren die Stätten von Meroe – einst Herz eines riesigen Reiches im Sudan. Von Hubert Filser.

(…) Die antike Stadt Meroe war mehr als 1000 Jahre die Hauptstdt eines großen Reichs im Mittleren Niltal, das sich von der Südgrenze des mächtigen Ägypten bei Assuan bis ins Herz Afrikas erstreckte. Die Könige von Meroe waren die Nachfolger der legendären „Schwarzen Pharaonen“, die im 7. Jahrhundert vor Christus in Ägypten geherrscht hatten. Am Königshaus herrschte offenbar ein ziemlich weltoffenes Klima, denn viel der Bauten vereinen verschiedene Kulturen der damaligen Zeit. Die Bilder im Bad zeigen ägyptische und einheimische Götter, der Flötenspieler belegt den griechischen Einfluss, er ist dem Kult um den griechischen Weingott Dionysos zugeordnet. „Auch die sprudelnde Säule ist ein Beleg für den Kulturtransfer“, sagt DAI-Forscherin Simone Wolf. „Solche Säulen standen zur gleichen Zeit auch in Pompeji“.

Sudan_Meroe_Pyramids_2001_numbered

Sudan Meroe Pyramiden, nummeriert (Foto: Francis Geius – Mission SFDAS 2001 Photographer: B N Chagny, hier nach Wikipedia).

Über nubische Pyramiden hier.

(Fortsetzung folgt)