Das Volk ist kein Monolith

Wahrheiten, die sich nur dank Presse vermitteln

(Sonntag ist Wahltag in Brandenburg und Sachsen)

Nichts ist so infam wie die Schimpfworte „Lügenpresse“ oder „Volksverrräter“. Womit nicht gesagt ist, dass „die“ Presse für Wahrheit einsteht, sie kann sogar „Wahrheit“ heißen („Prawda“) und sie permanent untergraben. Daher gehört zur Presse die Pressefreiheit, und diese ergibt sich aus der Meinungsfreiheit, womit auch nicht gesagt ist, dass daraus eine einzige als unumstößlich w a h r hervorgehen muss. Man kann sich allerdings viele unnütze Worte (und Schlagworte) sparen, wenn die wichtigsten Gedankengänge bereits differenziert dargestellt wurden oder bereits in den Institutionen abgesichert sind. Aber sie müssen auch präsent bleiben. Zum Beispiel in den Kommentaren und Leitartikeln einer seriösen Presse. Und die ist meist schon erkennbar am Ton der Überschriften und Schlagzeilen.

Ich hätte mir diese einleitenden Worte sparen können, es würde genügen, den Leitartikel wiederzugeben, der mich in seiner Klarheit begeistert hat. Und wenn jemand mir entgegenhält, es seien doch lauter Selbstverständlichkeiten, „jedes Kind weiß doch darüber Bescheid“, dann frage ich, wieso die obengenannten Schimpfwörter so geläufig werden konnten. Also zitiere ich unverdrossen und genieße die wunderbare Selbstverständlichkeit der guten Formulierungen:

Die Wirren in Großbritannien sind das Symptom einer Krankheit, die derzeit viele Demokratien befällt. Populisten versuchen, die Parlamente zu schwächen, zugunsten starker Männer, die sich direkt auf den Volkswillen berufen. Wenn der Anführer – ob er nun Trump, Johnson oder Matteo Salvini heißt – das Volk verkörpert und dessen Willen vollstreckt, warum sollte er dann von einem Parlament kontrolliert werden, das diesen Willen in Fraktionen bricht und damit schwächt, ja verfälscht? Mit dieser Argumentation hebelt Johnson das Parlament aus. Trump fordert Volksvertreterinnen, die nicht seiner Meinung sind, auf, die USA zu verlassen. Italiens Lega-Chef Salvini verlangt, ihm „alle Vollmachten“ zu erteilen oder das bis 2023 gewählte Parlament sofort aufzulösen, um ein ihm genehmeres zu wählen.

Sie propagieren die Formel Volk + Anführer = nationale Größe. Eine Formel, die in den Totalitarismus führen kann.

Die Propaganda der Populisten baut auf einer Lüge auf, der Lüge vom einheitlichen Volkswillen. Dabei offenbart jede freie Wahl, dass das Volk kein Monolith ist, sondern ein Fels aus vielerlei Gestein, voller Brüche und Risse. Um dies zu leugnen, greifen Populisten zu einem Trick: Sie behaupten, den wahren Volkswillen zu vertreten. Wer sich ihnen entgegenstelle, sei zwangsläufig ein Volksverräter. Wobei die Verräter schon mal den Großteil der Bevölkerung ausmachen können. Die Idee, dass der Volkswille von Volksvertretern im Parlament als Kompromiss gefunden wird, ist Populisten fremd.

Genau dieses Prinzip der parlamentarischen Demokratie aber hat sich in vielen Staaten, zum Beispiel Westeuropas, in Jahrzehnten bewährt. Und es wird noch wertvoller werden. Denn die Probleme, denen sich Staaten stellen müssen, werden immer komplexer und schwerer durchschaubar, ob es nun um Handelsabkommen, Rentensysteme, die Kontrolle von Internetkonzernen oder den EU-Austritt Großbritanniens geht. Sie lassen sich schlecht per Volksentscheid mit Ja oder Nein lösen. Oft liegt die beste Lösung im Zwischenweg, der nur im Parlament ausgelotet werden kann. Und meist ist es fatal, wenn knappe Volksentscheide wie der über den Brexit bewirken, dass eine Hälfte der Bürger alles bekommt und die andere gar nichts. Das kann eine Nation zerreißen, wie die Briten demonstrieren.

Gerade in hysterisierten Zeiten der Filterblasen, asozialen Netzwerke und orchestrierten Lügen können starke Parlamente zur Beruhigung und Versachlichung beitragen. Hierzu müssen sie sich jedoch selbstkritisch betrachten. manche Parlamente, das italienische etwa, gerieten nicht ganz zu Unrecht in den Verruf einer „Kaste“, die mehr dem eigenen Wohl als dem des Landes dient. Korruption zerfrisst den Parlamentarismus und führt zum Ruf nach starken Führern. Ein überbordender Lobbyismus, in Brüssel, oder auch in Berlin, untergräbt das Vertrauen der Bürger in den Willen der Abgeordneten, dem Gemeinwohl zu dienen. Und manchmal bieten Parlamente ein solches Bild bösartiger Parteilichkeit, dass sich Wähler angeekelt von „der Politik“ abwenden. Das ist in Rom zu beobachten oder in Washington. Und auch das Abgeordnetenhaus in London hat sich beim Brexit als kompromissunfähig erwiesen und schlecht ausgesehen. (…)

Quelle Süddeutsche Zeitung 30. August 2019 Im Namen des Volkes Von Stefan Ulrich.

Mehr über Parlament? Siehe hier. Über Filterblasen? hier.

Nachtrag (am Tag nach der Wahl)

Schlussworte des Kommentars im Solinger Tageblatt (WZ)

„Ein Viertel der Wähler, darunter viele bisherige Nichtwähler, ist bereit, offene Rassisten und Rechtsradikale zu unterstützen. Dahinter stecken emotionale Gründe, die man nachvollziehen kann, die aber weder eine ausreichende Erklärung noch eine Entschuldigung sind. Man wird diese Leute kaum zurückgewinnen. Die Politik im Bund und in den betroffenen Ländern sollte daher stärker auf die jungen, weltoffenen und gut ausgebildeten Menschen in den Metropolen wie Leipzig, Dresden und Rostock setzen. Ihre Zahl nimmt zu, auch durch erfolgreiche Rückkehrer. Sie sind die Zukunft.“ (Werner Kohlhoff)

Fazit: Man kann nicht alle Leute da abholen, wo sie stehen. (Weil sie sich einfach nicht bewegen.)

„Emotionale Gründe“ – es ist ein moderner Fehler, das Wort „emotional“ bereits als ausreichendes Argument zu betrachten. Es kommt von so tief innen, dass man es nicht weiter darlegen muss… Mir fällt ein ZEIT-Artikel ein über die (sogenannten) „Ängste“ und die Zumutung, diese immer ernstnehmen zu sollen. Es ist nämlich sehr oft das falsche Wort für Denkfaulheit. Aber so steht es dort nicht, – ein Extrabeitrag, der das identitäre Verhalten reflektierte, würde sich lohnen.