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Slavoj Žižek

Ein unorthodoxer Denker zur Lage unserer Welt

Es ist mir entfallen, warum ich dieses Buch damals nicht verschlungen habe, ich glaube, ich hatte es wegen „Così fan tutte“ gekauft, nie gehörte oder gelesene Gedanken, die ich gerade brauchte, weil ich immer wieder von der Mozart-Oper besessen war. Auch heute fesselt es mich sofort, – aber 80% des Buches, das ich seit 1. März 2007 besitze, sehen absolut ungelesen aus. Während spezielle Themen offenbar um so nachhaltiger wirkten (siehe hier). Heute z.B. erinnerte ich mich, weil ein Freund sich gerade für Sibelius zu interessieren beginnt, und schon droht uns Adornos uraltes Verdikt den Weg zu versperren, – da könnte vielleicht doch gerade der musikliebende linke Philosoph aus Slowenien zu einem probaten Gegengift verhelfen…

Doch es gibt noch mehr Gründe, sein Werk hervorzukramen und zu Rate zu ziehen. Er ist kein Denker von der ganz peniblen Art, er ist impulsiv, man glaubt ihm beim Vorgang des Denkens zuzusehen, und schon ist man persönlich eingebunden: wie sagt man doch? man ist involviert… und ich studiere – zumal als Musiker – aufs neue intensiv seine Themenliste von damals.

Nun traf alldies zusammen mit einem Werbeheft der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, und das Verhängnis nahm seinen Lauf: ich begann mir allerhand zu notieren, weils womöglich der Wahrheitsfindung dient. Ganz sicher war ich mir nicht, aber als erst ein Anfang gemacht war, musste ich immer weiterschreiben. Mich interessiert, wie eine linke Position heute argumentiert (nach Putins Wahnsinn).

Folgender Text ist – als eilige Abschrift – noch nicht gründlich Korrektur gelesen.

(Moderation: Die Philosophin Dr. Rebekka Reinhard, stellvertretende Chefredakteurin »Hohe Luft«)

Slavoj Žižek :

(auf deutsch beginnend) Es ist eine grroße Ähre für mich, hier zu sein. Leider muss ich jetzt ins Englische wechseln (wir folgen dem Übersetzer), – ich glaube, die Frage ist die alte Leninsche Frage: „Was tun?“ Eigentlich wissen wir, was zu tun ist, die Medien sagen es uns, – Globalisierung, Kooperation usw. – das Problem ist unsere Apathie. Wir wissen, was zu tun ist, aber wir tun es nicht. Ich bin froh, darüber mit Ihnen zu sprechen, denn Deutschland ist immer noch das Land des Denkens. Ich denke , und das ist meine erste Provokation für heute: Wir haben es vielleicht mit der elften umgekehrten These von Karl Marx zu tun: die Philosophen haben die Welt nur interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Vielleicht haben wir im 20. Jahrhundert versucht, die Welt zu schnell, zu stark zu verändern, ohne sie wirklich zu verstehen. Heute müssen wir vielleicht einen Schritt zurücktreten und nachdenken. Wir brauchen eine neue Interpretation, und das sage ich als radikaler Linker.

(Mod. Sie haben von Apathie gesprochen, seit Beginn der Pandemie, erst recht seit Beginn des Krieges in der Ukraine, frage ich mich mehr und mehr, wie real die Realität noch ist, bis hin zu dem Punkt, dass ich mich frage: bin ich eigentlich wach, wenn ich mich frage, ob ich wach bin, oder wenn ich mich frage, ob ich träume. Was ist realer: die Träume, die ich nachts habe, oder die Realität, in der ich jeden Tag neu und wieder anders erwache? Wie geht es Ihnen?)

Das ist eine sehr interessante Frage. Ich gehe nicht im Detail auf Freuds Interpretation ein, aber vielleicht ist es der ultimative Freudsche Traum, wenn ein Sohn zu seinem Vater kommt und sagt: Vater, siehst du nicht, dass ich verbrenne, und dann wacht der Vater auf. Wissen Sie: oft sind unsere Träume – und hier rede ich nicht von leeren Träumen, sondern von Träumen über das, was uns erwartet, so schrecklich, dass wir sogar bereit sind, in der Realität zu erwachen, um schlafen zu können. Denn die Realität scheint auf den ersten Blick noch normal: Okay, Krieg in der Ukraine usw., aber schau mal, die Blumen, da gehen Menschen, so schlimm ist es doch nicht, also ja, wir können auch in die Realität flüchten. Heute scheint mir, der ich mich als atheistischer Christ definiere, ein Bezug auf das Thema der Apokalypse sehr passend. Wissen Sie: die Offenbarung des Johannes am Ende des Neuen Testaments, die vier Reiter der Apokalypse, sind wir da nicht schon? Es gibt die Interpretation, dass der erste Reiter die Pest ist, den haben wir: die Pandemie. Der zweite Reiter ist der Krieg, den bekommen wir jetzt. Dann der Hunger, der wird kommen, wir kennen die Konsequenzen des Krieges und in der Ukraine, nicht nur globaler Krieg, es wird deswegen in der Ukraine und in Russland nicht genug Weizen, Dünger usw. geben.

Und, was mich besonders schockiert hat, als Philosoph versuche ich darüber nachzudenken, dieser Schock hat nicht, wie man erwarten könnte, gute Folgen, in dem Sinne, o.k. es ist ein Trauma, aber es weckt uns auf, es ermöglicht uns, Probleme zu vergessen. Erstens die Zeitlichkeit dieser Krise, erinnern Sie sich noch an den Beginn der Pandemie? Die üblichen Zeiteinheiten der Behördem und der Wissenschaft waren damals zwei Wochen. Hab noch 2 Wochen Geduld, dann wird das besser. Dann waren es zwei Monate, dann hieß es vor einem Jahr: nächstes Jahr, und jetzt weiß keiner mehr Bescheid. 6:10

Und noch etwas: ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber in meinem Land erinnern sich viele meiner Freunde fast nostalgisch an die Pandemie. Die Regeln waren klar, man hat ein bisschen gelitten, aber man hatte genug Zeit, alles war irgendwie unter Kontrolle. Und jetzt ist alles viel schlimmer. Und dabei sind wir wohl bei weitem noch nicht am Tiefpunkt angelangt.

Ein dritter Punkt ist extrem wichtig: was sind die negativen Folgen dieser Krise? Ich weiß wieder nicht, wie es in Deutschland ist, aber hier in Slowenien – und ich habe überall das gleiche gehört – feiern die Neokonservativen diesen Krieg. Und warum? Weil sie ihn so interpretieren: in den letzten Jahren haben wir in einer Ära der künstlichen Probleme gelebt. Feminismus zum Beispiel. Mal ernsthaft: die Lage ist doch gar nicht so schlimm für die Frauen. Oder Rassismus, das ist eine Randerscheinung. Politische Korrektheit: das ist doch lächerlich. JETZT sind wir wieder bei den harten Tatsachen angekommen. Auch die Geswchlechterrollen sind klar festgelegt. Das ist ein Lieblingsthema der heutigen Konservativen. Ukrainische Frauen fliehen ins Ausland und kümmern sich um die Kinder, das ist ihre eigentliche Arbeit, während die Männer in der Ukraine bleiben, um zu kämpfen. Sehen Sie, das ist die eigentliche Tragödie dieses Krieges,- er mag eine globale Katastrophe sein, aber dieser Krieg ist kein Moment der Wahrheit. It’s not a moment of truth! Er ist ein Moment, der uns brutal von den wirklichen Problemen ablenkt. Nicht, dass er selbst kein echtes Problem wäre, abewr erlenkt uns von großen Problemen ab, wahren Katastrophen, die uns erwarten.

Also ja, ich bin ein Pessimist.

(Damit sind wir schon genau bei dem Titel Ihres neuen Buches: Unordnung im Himmel. Es ist ein Buch buchstäblich über alles. Sie schreiben kleine, scharfe kurze Beobachtungen über die aktuelle Weltlage, es ist eine Kaleidoskop Sie beleuchten Was meinen Sie damit?)

Etwas sehr Einfaches! 10:00 Für Mao ist der Himmel noch in Ordnung, er will einen allgemeinen Überblick geben, wohin die Geschichte geht. Und Unordnung unter dem Himmel bedeutet hier nicht einfach Chaos. Wir Kommunisten, die wir wissen, wohin sich die Geschichte bewegt, können das Chaos ausnutzen, um unsere Ziele zu verfolgen. Heute glaube ich nicht, dass wir Linken immer noch den Anspruch haben können, einen globalen Blick zu haben. Die Karten sind so seltsam gemischt, dass Gescgehnisse, die einst typisch für die Linke waren, nun von der Rechten vereinnahmt werden. Nur ein Satz, ein bekanntes Beispiel, wir erinnern uns leider alle an den 6. Januar 2021, als die von Trump aufgehetzte Meute das Capitol stürmte, und wissen Sie was? Viele meiner linksgerichteten Freunde waren fasziniert und weinten, sie sagten: Wir hätten das machen sollen, die Linken wo waren wir? Selbst dieser ultimative, radikal linke Traum vom Volksaufstand wird nun von der radikalen Rechten vereinnahmt.

Der nächste Punkt ist diese Orientierungslosigkeit. Ich nutze gern diesen Begriff des kognitiven Mapping meines guten Freundes Fredric Jameson

es geht darum, einen allgemeinen Überblick über die Situation zu bekommen. Wie sind vollkommen desorientiert! Eine grundsätzliche Frage. Was ist China heute? Ist es noch kommunistisch? Oder eine neue Art von postautoritärer, neokkapitalistischer Gesellschaft? Undsoweiter. Oder wie ist es mit unseren eigenen Gesellschaften? Ich bin nicht ganz einverstanden mit manchen meiner Freunde, Yanis Varoufakis zum Beispiel behauptet, dass der Kapitalismus bereits in etwas anderes übergeht. Manche nennen das Technofeudalismus. Ich habe daran meine Zweifel. Aber Figuren wie Bill Gates, Elon Musk oder Jeff Bezos sind tatsächlich keine Kapitalisten alten Stils, die die Arbeiter ausbeuten. Sie sind eher Feudalherren über ein bestimmtes Gebiet, die Pacht kassieren.Ich weiß nicht, wem Zoom (?) gehört, aber wir sind wahrscheinlich irgendwie über Microsoft verbunden, also bekommt er Gebühren dafür. Es passiert soviel Neues, und wir haben nicht einmal eine grobe Orientierung. Wenn ich also kurz auf das von Ihnen eingangs Gesagte eingehen darf: Ich stimme Ihnen zu, dass man den Hintergrund, die Komplexität der Situation sehen muss, aber meinen Sie nicht auch, dass diese Komplexität oft nur eine Ausrede ist, um das Offensichtliche zu verleugnen? Z.B. haben einige meiner Freunde, nicht nur die rechtsgerichteten, sondern auch linksradikale, immer noch diese uneindeutige Haltung Putin gegenüber. Sie sagen okay okay, aber trotzdem ist er ein Stachel im Fleisch des amerikanischen Imperialismus, und der ist immer noch unser Hauptfeind. Also spricht auch manches für Putin. Deshalb sagen sie gerne, die Situation ist komplexer. Meine Antwort: ja natürlich. Aber das sollte uns nicht blind machen für die offensichtliche Tatsache, dass ein großer Staat einen anderen Staat brutal angegriffen hat. Diese grundlegende Tatsache darf man nicht weginterpretieren. 14:52

(Die Unordnung ist total, der Wunsch nach einer neuen Ordnung ist natürlich auch sehr dringlich ….Und die Medien )

16:08 Um Missverständnissen vorzubeugen, ich stehe trotz aller Komplexität ganz auf der Seite der Ukraine. In dem Sinne, dass ich voll und ganz für die ukrainische Verteidigung bin.Im übrigen gibt es soviel Absurdes in der russischen Argumentation. Ich bin nicht so drauf, dass ich sage: hören Sie sich die andere Seite an, Entschuldigung, aber zufällig verstehe ich russisch. Ich höre die ganze Zeit zu, ich folge ihren Podcasts usw. also bin ich durchaus informiert. Ist Ihnen das auch aufgefallen: laut russischer Propaganda ist die Ukraine ein Land von Neonazis. Es gibt da einen Typen, der ist der Horror in Person. Nicht Dugin, Putins offizieller Philosoph, sondern – merken Sie sich diesen Namen Timofei Sergeitsev, der schrieb in einem offiziellen Kommentar, der in einigen russischen Bulletins veröffentlicht wurde: dass der ukrainische Nazismus ungleich gefährlicher sei als der von Hitler. Das ist die wichtigste Botschaft: dass Russland uns alle rettet.Was ich sagen will – und das als Linker – denken Sie daran, welchen Namen Putin nannte, als er seine Abnsicht erklärte, in die Ukraine einzumarschieren, einen einzigen Namen hat er negativ erwähnt und angegriffen: LENIN. Und in gewisser Weise hatte er recht: vor der Oktoberrevolution war die Ukraine unterdrückt, die einzige wirklich goldene Ära für die Ukraine waren die zwanziger Jahre, als die Ukraine als Nation voll entwickelt war. 18:07 Gleichzeitig redete er aber über die Nazis. Also hat die Ukraine für Putin zwei Väter: Lenin und Hitler. Das macht es für mich ein bisschen verdächtig. Ja, all das stimmt. Ich bin aber trotzdem beunruhigt. Ich bin nicht für einen totalen Weltkrieg, der enorme Risiken birgt, trotzdem stört mich vieles an der westlichen Reaktion. Ich traue den großen Worten nicht, Sie wissen schon: Putin, Den Haag, Strafgerichtshof, aber viele Menschen wissen beispielsweise nicht, dass trotz des Krieges in der Ukraine immer noch russisches Gas durch die Ukraine in den Westen fließt. Gegen reguläre Bezahlung natürlich. Das wirkliche Grauen für mich ist das hier: in diesem Moment, wo wir hier – wie Sie sagen – die Russen so leicht als Barbaren, als unzivilisiert abtun, sollte sich der Westen an zwei oder drei Dinge erinnern: erstens, sagt Putins offizieller Philosoph Dugin, der Westen müsse akzeptieren, dass es nicht nur ein Wahrheit gibt, die europäische, somdern auch eine russische Wahrheit. Wir dürfen nicht dieselbe Sprache sprechen. Das stört mich. Auch wenn ich Selenski voll und ganz unterstütze, wenn er sagt, wir verteidigen hier Europa, aber wenn ich Selenski wäre, würde ich noch einen Schritt weiter gehen und sagen: in Wahrheit verteidigen wir hier auch alle Russen. Die Ukraine verteidigt das russische Volk vor der Katastrophe, in die Putin es treibt. Vergessen Sie nie den Terror, unter dem das russische Volk leidet, sie sind unsere Verbündeten!

Zweiter Punkt: diese Idee, es nicht Krieg zu nennen, sondern spezielle Intervention … manchmal verwenden die Russen sogar den Begriff „humanitäre Intervention“ um den Frieden zu erhalten. Kommt Ihnen das nicht bekannt vor? 20:48 Hat der Westen das nicht auch jahrelang getan? Immer wieder sehr brutal interveniert, mit genau der gleichen Argumentation?

Letzter Punkt. Hier liegt die westliche Heuchelei klar auf der Hand. Putin, Kriegsverbrecher, Bombardierung von Kiew, Katastrophe. Sorry. Aber Putin – erinnern Sie sich? – hat vor ein paar Jahren Aleppo bombardieren lassen, die größte Stadt Syriens, viel brutaler als sie es jetzt in der Ukraine tun, – bis jetzt, wer weiß was noch kommt. Abgesehen von Mariupol. Aber: wo ist hier die Ausgewogenheit, wir haben damals protestiert, aber nicht so richtig ernsthaft. Jetzt ist es auf einmal ernst, und das hinterlässt einen schrecklichen Eindruck. Die Menschen in Lateinamerika, Asien, Afrika, der Dritten Welt bemerken diese europäische Heuchelei, und wir sollten auch hier den Mut aufbringen, dies nicht zu akzeptieren, dass dies ein Konflikt der Zivilisationen ist. Nochmals: wir sprechen sonst die russische Sprache, – Dugin, Sergeitsev, und all die anderen sagen dasselbe, nur genau andersherum. Sie sagen: Russland ist dieselbe Insel der Zivilisation, Europa und der amerikanische Liberalismus fallen in die totale Barbarei zurück. Ich denke, die Lehre daraus ist, dass wir unbedingt universalistisch bleiben sollen, hier würde ich sogar Jürgen Habermas und seinem Universalismus zustimmen. Deshalb bin ich für Europa, denn, was auch immer man gegen Europa sagen kann, Sklaverei, das Schreckliche, was wir in der Moderne getan haben, – diejenigen, die das Vermächtnis Europas angreifen, die Sklaverei, die Unterdrückung der Frauen, usw., tun dies aber immer in Begriffen, die aus dem Erbe der europäischen Aufklärung stammen. Die Größe Europas besteht nicht darin, dass es keine Fehler macht, sondern darin, dass es immer noch die beste Quelle für begriffliche Instrumente ist, die uns helfen, uns selbst zu kritisieren.

(Ja, Sie plädieren immer wieder dafür, die Blickrichtung zu wechseln…) 24:35

Jetzt werde ich Sie wieder überraschen – erstens: lassen Sie uns nicht in Selbstzufriedenheit verfallen. Meine Formel, die ich vor Jahren auf der Grundlage meiner eigenen Erfahrungen in Ex-Jugoslawien oder in Ruanda vertreten habe, gilt meines Erachtens überall: Sie lautet: es gibt keine ethnische Säuberung ohne Poesie. Um ethnische Säuberungen zu verstehen, sollte man einen Blick auf die Dichter, die Intellektuellen und Philosophen werfen, die den Boden dafür bereitet haben. Bei uns hier ist es der berüchtigte Karadziz, aber das ist in allen Ländern so ähnlich. Z.B. war ich schockiert, dass in Irland William Butler Yeats, den Sie vielleicht auch kennen, 1936 die sogenannten Nürnberger Rassengesetze, die die Rechte der Juden einschränkte, voll unterstützt hat.

Wieviele große Dichter waren Rassisten, Faschisten, sie haben oft genug den Weg dafür bereitet, und deshalb sollte man Künstlern nicht zu leichtfertig vertrauen. Manche leisten Großartiges, wie Paul Celan, Samuel Beckett, aber man muss immer auf der Hut sein.

Ich sage nicht, dass wir jede Liebe zu unserem Heimatland verurteilen sollen, aber was wir von wirklich großen Schriftstellern und Dichtern lernen können, will ich anhand eines Beispiels aus Russland zeigen. Der größte russische Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts Andrej Platonow, der sich mit dem Schicksal dieses geringen, heimatlosen, primitiven Volkes beschäftigt hat, das es nicht geschafft hat sich einzugliedern. Und da berkommt man ein ganz anderes Bild von Heimat. Nicht diese große, nationalstaatliche Heimat, sondern eine wunderbare kleinteilige Heimat. Ich erinnere mich an einen Baum hinter meinem Haus, ich erinnere mich, wie im Wald der Wind wehte, usw. usf. Die Linke sollte sich das alles wieder zueigen machen. Überlasst dem Feind nicht das Gebiet, dass er besetzen will. Ich gehe noch weiter:

Warum sollte die Rechte das Recht haben, über Familienwerte zu sprechen, wo der neoliberale Kapitalismus alles getan hat, um die übermäßig ausgebeuteten Frauen und Familienwerte und kleine Gemeinschaften und die Solidarität effektiv zu zerstören.

Also noch einmal: machen Sie keine Kompromisse, indem Sie das Thema dem Feind überlassen. Wenn ich also sage: „ich liebe mein Land“, bin ich nicht gleich ein Nazi. 28:00

(Unordnung überall Mao – warum Kommunismus nicht ausgeträumt)

Ich habe hier ein klare, sehr kurze Antwort. Es geht wieder um Scheinheiligkeit. Erinnern Sie sich noch an das große Treffen in Glasgow vor ein paar Monaten? Mit Prince Charles, vielen Promis, Premierministern usw. sie forderten das Richtige, globale Zusammenarbeit, allgemeine Gesundheitsversorgung, und zwar international. Die ökologische Krise ist nicht lokal beschränkt. Erinnern Sie sich, dass im letzten Sommer im Südwesten Kanadas und dem Nordwesten der Vereinigten Staaten 50 Grad herrschten. Das ist die Folge einer Störung der Luftzirkulation in allen nördlichen Teilen der Erde, hier ist also unbedingt Zusammenarbeit erforderlich. Die globale Erwärmung birgt auch die Gefahr von Hungersnöten, viele Länder sind betroffen, auf dem Treffen wurde vor allem viel geredet, und ich würde sogar sagen: insgeheim machen sich alle bewusst, dass es keine ernsthaften Konsequenzen geben würde. Was mein kommunistisches Programm angeht, ich bewundere intelligente, ehrliche Konservative, die sich der praktischen Grenzen der Machbarkeit bewusst sind. Was man zusammen mit ihnen alles erreichen kann. Versuchen wir eine Ordnung zu schaffen, deren Programm darin besteht, das zu tun, worüber die großen Medien immer sprechen. Die großen Medien sprechen über die aktuellen Gefahren auf diese zwangsneurotische Weise, man redet viel und muss nichts tun. Mein kommunistisches Programm ist also das zu tun, was wir die ganze Zeit in den Medien lesen. Pandemien können nur durch globale Zusammenarbeit zumindest in Schach gehalten werden. Wir brauchen eine Art globaler, wenn nicht Gesundheitsvorsorge, so doch zumindest Selbstkontrolle, so dass wir wissen, wie das alles zusammengeht.

Was die Ökologie betrifft, sind wir sogar – würde ich sagen – zu besessen von der globalen Erwärmung. Wir schauen zuviel nach oben, schauen wir auch nach unten: was zum Teufel geht in den Tiefen unserer Ozeane vor, das ist dann beunruhigend, und wenn das ein Regime bedeutet, das ein bisschen autoritärer ist, natürlich nicht im faschictischen Sinn, nicht in dem Sinn, dass wir eine Weltregierung bekommen sollten, das würde totale Korruption bedeuten, aber eine Art von internationalem Gremium, das souveränen Ländern verbindlich Entscheidungen auferlegen kann. Wenn wir diesen Schritt nicht machen, habe ich große Angst um unsere Zukunft. Und ich meine das sehr ernst. Ich spreche nicht von unseren Enkeln, ich spreche davon, wie es in 20 bis 30 Jahren ausgeht, wenn die gegenwärtigen Tendenzen weitergehen.

(Wenn Sie, die uns hier zuschauen, Slavoj Zizeks neues Buch : Slavoj, hätten Sie denn noch eine Buchempfehlung? )

Ich tue etwas Paradoxes und lege Ihnen ein Buch ans Herz, dessen Grundthese ich nicht teile, das aber eine wunderbare alternative Sicht auf die Geschichte vermittelt, es handelt sich um David Graebers und David Wengrows Buch „The Dawn of Everything“, in der deutschen Übersetzung „Anfänge“. Es ist eine Art alternative Geschichte, die mit dem Mythos aufräumt, die übrigens auch der marxistische Mythos ist, dass die Ausbeutung der Frauen und das Patriarchat automatisch mit der Entstehung von Staaten begonnen hätten. Den großen Übergang zu Siedlungen und ortsgebundener Landwirtschaft, und sie beweisen das ziemlich überzeugend. Ein Beispiel ist das Inkareich, ein Aspekt dieses Reiches waren Kinderopfer, Autorität, ein anderer Aspekt war eine außergewöhnliche Form gleichberechtigter Zusammenarbeit. Ich glaube nicht, dass wir heute etwas direkt Vergleichbares tun können, aber deshalb mag ich alternatives Science Fiction, das ist die Lektion, die ich von Hegel gelernt habe. Deshalb hat Hegel verboten, Pläne für die Zukunft zu machen. Es ist gut, sich vor Augen zu halten, dass, wenn etwas passiert, es immer andere Möglichkeiten gibt, und dass die Dinge auch eine andere Wendung hätten nehmen können. Die Notwendigkeit ist immer eine rückwirkende Notwendigkeit. Wir können nur einen einigermaßen logischen Überblick darüber geben, wie es den Menschen bisher ergangen ist. Die Zukunft ist offen. Und dieses Buch gibt Ihnen das Gefühl dafür.

Verlag Klett-Cotta (s.a. hier)

(Ich stelle nochmal eine Frage…Sachbuchempfehlung WBG?)

Ich habe eine traurige Empfehlung, ich mag diese absolut pessimistischen Bücher, die eine Alternative aufzeigen, und dann darstellen, wie wir bei einem Versuch, eine Katastrophe zu vermeiden, die Welt noch verschlimmern würden. Z.B. gibt es ein Buch von Steven Fry, dem britischen Schauspieler, „Geschichte machen“ – „Making History“ , kein großartiges Buch, aber die Idee gefällt mir. Ein jüdischer Wissenschaftler erfindet nach dem Zweiten Welktkrieg eine Möglichkeit, wie man die Vergangenheit ein wenig modifizieren, also nicht komplett verändern kann. Da Hitler die Katastrophe war, führte er rückwirkend Chemikalien in den Bach des Dorfes ein, in dem Hitler geboren wurde. So dass in den Jahren, in denen Hitler hätte geboren werden sollen, alle Frauen dort unfruchtbar waren. Dadurch wird Hitler also nicht geboren. Was passiert? Die Nazis tauchen trotzdem auf, aber ein anderer, viel intelligenterer Kerl, der sich in Atomphysik auskennt, übernimmt die Führung. Deutschland entwickelt als erstes Land Atomwaffen, und Deutschland siegt. Und so widmet er, der heutige Wissenschaftler, sein ganzes Leben der Aufgabe, Hitler nachträglich zurückzubringen. Dieser radikale Pessimismus gibt meine Sicht auf das Leben wieder. (lacht)

(Wonderful! Vielen Dank )

(Satz in deutsch) Und es war mir eine grroße Ähre für mich und eh… eine Sache tut mir aber leid, es wirkt so etwas männlich-chauvinistisch, warum sollten Sie nur ein Medium sein, es hätte mich gefreut, wenn Sie sich etwas mehr beteiligt hätten. Sonst wird man mir männlichen Chauvinismus und sexuelle Objektivierung vorwerfen. Aber Sie sind der lebende Beweis dafür, dass intelligente Frauen nicht hässlich sein müssen. (Lachen auf beiden Seiten)

Und so wäre es schön, vielleicht ein anderes Mal darüber zu sprechen, damit ich auch Ihre Sicht der Dinge kennenlerne.

(Mod. Abschließend: Wenn Sie Fragen dazu haben, Anregungen, Kritik – was sagen Sie dazu?) 38:22

Nachwort JR: die letzten Sätze gehen leider ziemlich nach hinten los, – im Gespräch mit einer weiblichen Person anerkennende Worte über ihr Aussehen zu verlieren, zumal das Phänomen des männlichen Chauvinismus etc. ja gerade kritisch benannt wurde. Das geht gar nicht. – Ich schließe aber eine ironische Absicht nicht aus…

Die Andeutung der Geschichte von Steven Fry bleibt am Ende völlig unverständlich, daher der Link zum Nachlesen, – obwohl die echte Version auch nicht soviel erhellender ist.

Die Sequenz über den Traum (oben im Moderationstext) bezieht sich wohl auf Tschuangtse (Schmetterling); ich empfehle eine Orientierung hier.

Zur Ablenkung notiere ich, was ich gerade im Fernsehen bemerkenswert fand (und was mich an die obigen Bemerkungen über Heimat erinnerte): unser Europa. Schauen Sie in terra X HIER  Meilensteine der Kontinental-Geschichte Europas ab etwa hier bei 28:35 (!).

ZITAT Gunther Hirschfelder, Anthropologe der Universität Regensburg:

Wir haben lange geglaubt, diese Regionen werden mal in den Nationen aufgehen. Heute wissen wir aber, dass Nationen durch Regionen konstituiert werden, und dass der Mensch, der in einer Region lebt, eine regionale Identität braucht, aber nicht unbedingt eine nationale.

siehe Link

Zurück zu Slavoj Žižek, aber in konsistenterer Darstellung,

aus der SFR-Reihe Kultur Sternstunden 30.05.2022 mit Yves Bossart

Debattenkultur – was ist los?

Es geht um schwere Geschütze in den Medien

LANZ-Sendung 29.September 2022: Über das Twittern (ab etwa 40:00)

17:40 MELANIE AMANN (an Precht): Als ich Ihr Buch gelesen habe, habe ich gedacht: ich glaube, da stehen viele Dinge drin, die viele Leute so denken. Da stehen aber auch viele Dinge drin, die … etwas mehr Recherche verdient hätten. Weil: Sie haben ja nicht systematisch ausgewertet, wie wir über den Krieg berichtet haben. Sondern Sie haben berichtet, wie Sie wahrnehmen, Sie haben beschrieben, wie Sie wahrnehmen, wie wir über den Krieg berichtet haben. Es ist ja nicht so, dass Sie da irgendwie jetzt in irgend ’ner Weise qualitativ quantitativ untersucht hätten, wie haben die Medien über den Krieg berichtet. (Precht: das geht ja doch gar nicht!) Doch, natürlich geht das! Das dauert halt ’n bisschen länger als zwei, drei Monate, ich weiß nicht, wie lange Sie gebraucht haben, das Buch zu schreiben, – es ist sozusagen wie ein geschriebener Podcast, in dem mal sozusagen dargestellt wird, wie die Welt so wahrgenommen wird. Und inhaltlich – würd ich sagen – dass die Positionen, die Sie einfordern, das Zögern, das Zweifeln, das Vor-Ort-Recherchieren, das Berichten, die Unsicherheit der Berichterstattung, das wurde umfassend thematisiert. Was sich auch wiederfindet, sind die unterschiedlichen Meinungen, über die wurde extrem – beim Spiegel, ich war ja teilweise selber beteiligt -, berichtet in allen Qualitätsmedien. Also der Vorwurf, dass abweichende Meinungen nicht stattfinden, der ist objektiv falsch. (Precht: Ja, den gibts auch nicht!) Wo man drüber diskutieren kann, was ich eher sehe, ist: haben die Journalisten selber in ihren Kommentierungen mehrheitlich eine Position gehabt oder haben sie eine Fifty-Fifty-Bandbreite von Positionen gehabt? da würde ich sagen: es stimmt, dass es ein Übergewicht einer Meinung gab, aber das ist im Journalismus eher selten. Also – Ihre Unterstellung, die ja leider der Verlagsankündigung ja so ’n bisschen mit diesem hässlichen nationalsozialistischen Wort der Selbstgleichschaltung umschrieben war, (LANZ: das ist aber ein Begriff, der im Buch nicht fällt -) ja, wir alle sind hier Buchautoren, und wir sind … 19:36

HIER

41:10 PRECHT Die Frage ist sozusagen, warum man Stilmittel, – wenn man gezwungen ist, sich auf 280 Zeichen zu reduzieren -, Stilmittel wie eben die extreme Personalisierung, die Dekontextualisierung, die Sätze aus dem Kontext reißen und mal kurz die Meinung dazu geben, – warum solche Dinge als Stilmittel auch in den Leitmedien auftreten, und das hat in letzter Zeit wahnsinnig zugenommen, und meine Kritik daran ist: nicht, dass der eine oder der andere beleidigt ist, sondern die Kritik daran ist: das geht auf Kosten unserer demokratischen Debattenkultur.

https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-29-september-2022-100.html

Und eine der Reaktionen aus den Medien

Jens Jessen ist ein Journalist, den ich schätze. Precht und Lanz kommen oft genug in diesem Blog vor, ich kann nicht leugnen, dass ihre Themen mich oft beschäftigen, was nicht bedeutet, dass ich ihrer Argumentation, ihren Diskussionen oder Gesprächen stets mit einhelliger Begeisterung folge. Ausdrücklich würde ich jederzeit gute Journalist:innen wie Melanie Amann und Robin Alexander hervorheben, die mindestens ebenso klar denken und reden wie der Gastgeber und der Philosoph.

Einstweilen warte ich allerdings begierig auf das neue Buch von Jürgen Habermas: hier „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“ Suhrkamp Verlag – ZITAT:

Kernstück des Buches ist ein Essay, in dem er sich ausführlich mit den neuen Medien und ihrem Plattformcharakter beschäftigt, die traditionelle Massenmedien – maßgebliche Antreiber des »alten« Strukturwandels – zunehmend in den Hintergrund drängen. Fluchtpunkt seiner Überlegungen ist die Vermutung, dass die neuen Formen der Kommunikation die Selbstwahrnehmung der politischen Öffentlichkeit als solcher beschädigen. Das wäre ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit, mit gravierenden Konsequenzen für den deliberativen Prozess demokratischer Meinungs- und Willensbildung.

Etwas ganz Anderes vom 6. 10.22

Eine Meldung von heute Morgen, die mich eigentlich nicht überrascht, aber sehr gefreut hat: Nobelpreis für Annie Ernaux. Hatte ich sie womöglich vergessen?

siehe im Blog hier, hier und hier.

Ich wollte alles sagen, über meinen Vater schreiben, über sein Leben und über die Distanz, die in meiner Jugend zwischen ihm und mir entstanden ist. Eine Klassendistanz, die zugleich aber auch sehr persönlich ist, die keinen Namen hat. Eine Art distanzierte Liebe.

Daraufhin begann ich einen Roman zu schreiben, mit ihm als Hauptfigur. Mittendrin ein Gefühl des Ekels.

Seit Kurzem weiß ich, dass der Roman unmöglich ist. Um ein Leben wiederzugeben, das der Notwendigkeit unterworfen war, darf ich nicht zu den Mitteln der Kunst greifen, darf ich nicht »spannend« oder »berührend« schreiben wollen. Ich werde die Worte, Gesten, Vorlieben meines Vaters zusammentragen, das, was sein Leben geprägt hat, die objektiven Beweise einer Existenz, von der ich ein Teil gewesen bin.

Keine Erinnerungspoesie, kein spöttisches Auftrumpfern. Der sachliche Ton fällt mir leicht, es ist derselbe Ton, in dem ich früher meinen Eltern schrieb, um ihnen von wichtigen Neuigkeiten zu berichten.

Aus: Annie Ernaux: Der Platz / Aus dem Französischen von Sonja Finck / Bibliothek Suhrkamp Berlin 2019 ( Seite 19f)

Und am 7.10.22 – als aktueller Epilog – am Tag des Friedensnobelpreises

Mehr darüber: hier von Jan Dafeld / Shervin Hajipours Song „baraye“ entwickelt sich zur Hymne der Protestwelle im Iran. Tausende singen das Lied bei Demonstrationen, iranische Schülerinnen stellen ihre eigene Version ins Netz. Das Video des 25-Jährigen wird wenig später gelöscht, der Künstler festgenommen. (Quelle RTL News)

Andere Quelle: hier (DW Akademie)

*      *      *

12. Oktober 22 Habermas – Neu, endlich angekommen (schon 2. Auflage):

Allerdings: prüfen Sie doch bitte, ob die Seiten, die in meinem Exemplar doppelt vorhanden sind – Seite 81 bis 96 -, womöglich anderswo fehlen…

Und wenn Sie gerade die Lektüre unterbrechen, – informieren Sie sich vielleicht auch bei Wikipedia, was über „Deliberative Demokratie“ vorweg zu lernen ist…

 

Kalenderjahr 1981

Frühling 2022

  Ende August 2022

Der Frühling war wie immer. In diesem Dickicht steht auch der Blutahorn, den ich 1981 gepflanzt habe, nebst 25 anderen Bäumchen. Die Wasserkatastrophe vom Juli des Vorjahres 2021 hatten wir inzwischen begriffen, von der Dürre dieses Sommers wussten wir noch nichts. Aber ahnungslos waren wir seit 40 Jahren nicht mehr. Der Kalender für meine Mutter war eine Gemeinschaftsarbeit der Familie. Der zitierte Spruch ist bei Luther nicht nachweisbar, klingt aber grundsätzlich optimistisch, mein „Ja, aber“ war allerdings von Kindheit auf bekannt und sollte weiterhin zum Zweifel ermutigen. Auf dem zweiten Bild oben sieht man den Blutahorn, den ich pflanze, deutlich hervorragen, im Dickicht steht auch ein späterer Gingko-Baum (1 Zweig schafft den Weg vorne hinaus).

Auf dem Kalenderbildfoto unten wird der rote Baum gerade gesetzt (Blickrichtung damals vom Tal aufwärts), die alte Eiche, oben rechts hinter dem Pflanzer, liegt heute am Boden und bietet ein eigenes Biotop. Ich könnte behaupten: hier stirbt nichts. Ja, aber das hätte ich auch schon damals sagen können. 40 Jahre sind keine lange Zeit. Ich hätte besser einen Goethe-Spruch gewählt. Hier? Oder Hafis!

Kalenderblatt 1981

Spiegel 15.11.1981

Wir hatten auf unsere Weise alles getan, um unterhalb unseres Grundstücks einen Wald entstehen zu lassen. 1976 schauten Besucher:innen – unter ihnen im gestreift gesäumten Kleid meine Mutter – ziemlich ratlos, ja kritisch in die Sumpflandschaft, die vom Viehbach geprägt und mir besonders lieb war. In Kürze wuchs dort – von selbst und mit Nachilfe – ein Erlenwald. Am Abhang pflanzte ich rundum ein Gemisch von Bäumen; Weißbuchen, Ahornarten, Ebereschen, Weiden, mit manchen hatte ich kein Glück, z.B. Pappeln am Abhang knickten nach 5 Jahren rasanten Wachstums in der Mitte ab.

Um ganz genau zu sein: Wo standen sie damals?

Genau: Dort unten auf dem helleren Fleck… Vor meinem inneren Auge aber stand wohl ein ganz anderes Bild (Dauerlektüre seit 1974):

Um nicht die vielen Bücher aufzuzählen, deren Titel mit dem Wort „Rettet…“ begann (…den Wald, die Natur, die Wale). Was mich interessierte (abgesehen von Musik, Sprache, Philosophie), war alles, WAS LEBT. Emanuele Coccia kam mir recht. Siehe hier.

Hin & zurück / Augenblicke wie für Raumfahrer…

zwischen Boppard und Kaltenengers

Blumen für Mainz

Reiselektüre gestern auf der Fahrt nach Mainz (und zurück) ein Artikel in der ZEIT, der auch nicht gerade behaglich stimmt; Nietzsche ermunterte schon mal, unsere kleine Welt sub specie aeternitatis zu sehen. Ja, warum auch nicht, – es dient natürlich kaum dem augenblicklichen Wohlbefinden. Eher ein Blick in die – durch die Natur vorgegebene – Ausweglosigkeit:

»Leben hat den Drang, zu erobern« Ein ZEIT-Gespräch mit dem Astronomen und Nobelpreisträger Didier Queloz. Was aus seinen Äußerungen bewegt mich so, dass ich es an dieser Stelle notieren muss? Warum als erstes gerade die Titelzeile? Es kann ja nichts Tröstliches werden… (Meine Mutter hatte damals, als sie in den Sumpf des Lebens schaute, noch fast 30 Jahre zu leben, mein Vater war schon über 20 Jahre tot.)

Queloz:

Mit dem Leben ist es so: Solange es nur in einer kleinen Nische auf einem Planeten existiert, wird es nicht überdauern; denn wenn sich die äußeren Bedingungen dieser Nische ändern, ist es vorbei. Das heißt, um zu leben, muss sich Leben auf seinem Planeten ausbreiten. Leben hat den Drang, zu erobern. Philosophisch überspitzt könnte man sagen: Das Leben wird zum Gott des Planeten, es formt ihn so, wie es ihn braucht. (…) wir haben den Planeten in unserem Sinne geformt, wobei wir es soweit getrieben haben, dass uns alles andere Lebendige kaum kümmert. Dabei sind wir eng verwoben mit der Erde, mit ihren Bedingungen und Ressourcen. Manche Leute glauben, man könne vor dem Klimawandel auf andere Planeten fliehen. Das ist Unsinn. Wir sind ein Produkt dieses Planeten, sobald man ihn verlässt, stirbt man. (…)

(ZEIT: Welche Folgen hätte wohl die Entdeckung fremden Lebens auf einem fernen Planeten?)

Das würde ein völlig neue Dimension eröffnen, indem es die Annahme infrage stellt, dass der Mensch einzigartig sei. Wir haben in dieser Hinsicht ja schon einige Bescheidenheit gelernt. Wir wissen, dass die Erde nicht mehr das Zentrum des Alls ist, sondern nur ein Stern unter vielen. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich irgendwann herausstellt, dass wir nur eine von vielen möglichen Lebensformen sind. Es könnte auch sein, dass wir noch etwas anderes feststellen – nämlich dass Leben immer nur eine begrenzte Zeit dauert.

Quelle DIE ZEIT 8. September 2022 Seite 37 »Leben hat den Drang, zu erobern« Didier Queloz / Interview: Stefan Schmitt und Ulrich Schnabel / siehe auch hier.

Toleranz und Weltordnung

Die Grundlagen

(Ein Text der philosophischen Tradition, abgeschrieben, mit zusätzlicher Gliederung und mit einzelnen Links versehen, JR)

Die klassische europäische Idee der Toleranz ist ein Kind der Glaubenskriege. Die furchtbare Zerreißung der politischen Einheit im Namen einander feindlicher Glaubenshaltungen hat die Gestaltung des modernen säkularisierten Staates vorangetrieben, und zwar aus dem Bedürfnis nach Friedensstiftung und Rechtssicherheit für alle Bürger. Die Erfahrungen des 16. und 17. Jahrhunderts in vielen Ländern Europas liegen bekanntlich dieser Entwicklung zugrunde. Und in den Horizont muß man daher die heute zur allgemeinen Verständigungsformel gewordene Idee der Toleranz zunächst einmal stellen.

Im wegweisenden Edikt von Nantes hatte der französische König 1598 Gewissensfreiheit (liberté de consciences) versprochen, die den Protestanten das Verbleiben in Frankreich ermöglichen sollte. Auf dieser Linie bewegen sich strategisch alle späteren Deklarationen und Appelle. Die Lösung des Problems latenter Bürgerkriege aufgrund von Glaubensdifferenzen wird erreicht durch planmäßige Entkopplung der politischen Bürgerrolle, die konfessionell neutral ausgelegt wird, von der subjektiven Dimension der Überzeugungen, Glaubensbekenntnisse und Weltanschauungen.

Nun ist klar, daß subjektive Auffassungen und Meinungen stets handlungsleitend sein können, und daß kollektiv geteilte Überzeugungen auch kollektivem Handeln von Gruppen zugrundeliegen.

Also verbirgt sich eine Bedrohung der staatlichen Einheit in jedem Potential der Abspaltung von Sekten, des Zusammenschlusses von Abtrünnigen, Dissidenten usw. Diejenigen, die einer bestimmten heterodoxen Überzeugung folgen, können dem Staate, wie er besteht, jederzeit Konkurrenz machen.

Die Bedrohung der Einheit muß entschärft werden, so daß konkurrierende Vereinigungen nie auf politischer Ebene zu wirklichen Alternativen heranwachsen. Das bestehende Corpus der Gemeinschaft der Bürger bleibt objektiv vorrangig, während die drohenden Gefahren unter Zurückstellung in den subjektiven Bereich des Meinens und Glaubens gebannt werden. Glaube, was Du willst, aber halte Dich an die öffentlich geltenden Normen – so lautet das Toleranzgebot.

Die Vorordnung der unbezweifelt geltenden politischen Einheit vor den Schwankungen und Beliebigkeiten subjektiver Doxa kostet den Preis der Entpolitisierung glaubensgesteuerter Einstellungen und erschwert den Zusammenschluß Gleichgesinnter. Die subjektivistische Reduktion läßt Überzeugungen für die politische Praxis irrelevant erscheinen. Dieser strategische Schachzug im Interesse der öffentlichen Friedensstiftung schafft ein Vakuum, in das später Ersatzgestalten wie die Zivilreligion bei Rousseau, das Nationalgefühl des 19. Jahrhunderts und eine Art Verfassungspatriotismus in der Gegenwart zum Ausgleich eintreten.

Der Wunsch, in einer sittlichen Welt zu leben, die nicht nur das Minimum von Rechtssicherheit zusammen mit sozialen Kompensationen von Defiziten darstellt, sondern bruchlos auch als gemeinsamer Ort unserer Lebensorientierungen gelten kann, bleibt insoweit unerfüllt. Hegel hat im Namen des „objektiven Geistes“ eine auf die Freiheitserwartungen des modernen Subjekts zugeschnittene Institutionenlehre vorgelegt. Aber um die angemessene Deutung des Vorschlags dreht sich bis heute die Diskussion.

Quelle: Rüdiger Bubner: Drei Studien zur politischen Philosophie IV: Zur Dialektik der Toleranz / Universitätsverlag C.Winter Heidelberg 1999 / ISBN 978-3-8253-0863-6 / s.a. hier

Dieses Buch empfiehlt sich zur Lektüre, wenn man das von Charles Taylor (+ Jürgen Habermas) verinnerlicht hat: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. (s.a. hier).

(Denkpause) Ich schalte die Lektüre eines ZEIT-Artikels ein, der mich beeindruckt hat und den ich jetzt in Abschnitten mit der Toleranz-Geschichte in Verbindung zu setzen suche. Eine Übung.

Zitat (Abschluss des ZEIT-Artikels von Parag Khanna):

Der Bogen der Geschichte, den Toynbee gründlicher dokumentiert hat als jeder andere Gelehrte, neigt sich in Wirklichkeit den kleinen kulturellen Zentren zu, die aufblühen, wenn sich die Lektionen ihrer Vorgänger durch die kommerziellen und Wissensnetzwerke verbreiten.

Und wenn eine Welt ohne Zentrum nach Chaos klingt, so ist doch die wünschenwerteste Ordnung eine, in der alle miteinander verbunden sind, aber niemand die Kontrolle hat.

Ich kann diesen großen Artikel nicht in wenigen Zeilen zusammenfassen, ich werde nur die Sätze zitieren, die ich unterstrichen habe, um mich mit ihrer Hilfe besser zu erinnern:

Amerika hat das Internet aufgebaut, kann es aber nicht mehr abschalten.

Noch wichtiger ist, dass keine Gesellschaft auf der Welt außer China selbst will, dass China die Welt anführt.

Statt dass die Seidenstrassen-Initiative die Vormachtstellung der Britischen Ostindien-Kompanie wiederholt, sind die Gegenreaktionen auf sie wichtiger geworden. Während die afroasiatischen Kolonien drei Jahrhunderte brauchten, um die Briten zu vertreiben, haben sich Länder von Nigeria bis Indonesien in nur drei Jahren gegen die Neue Seidenstraße gewehrt. Die europäischen Kolonisatoren waren nicht mit echter Souveränität konfrontiert. China schon.

Wenn sich eine neue globale Ordnung abzeichnet, dann ist es die einer multipolaren Welt kontinentaler Regionen, in der Nordamerika, Südamerika, Europa und Afrika immer stärker zusammenhängen werden – und Asien selbst multipolar mit China, Japan, Indien, Australien und Russland. Keine Region aber ist ein Block. Sie sind vielmehr Schwämme.

Je erschreckender das von uns beschworene Szenario ist, desto stärker überreagieren die Akteure in dem System, um es zu verhindern. Das System entwickelt sich dadurch in nichtlineare Richtungen. Das ist die einfachste Definition von Komplexität, einer Situation, zu der es gerade wegen der unzähligen Kettenreaktionen kommt, die durch eine globalisierte Welt ermöglicht werden. Staaten können diesem System ihre Ordnungsvorstellungen nicht selbst aufzwingen. Vielmehr üben sie Druck innerhalb des Systems aus – und das System erzeugt Gegendruck.

Quelle DIE ZEIT 11.August 2022 Seite 47 Parag Khanna: Ist eine Weltordnung möglich? Nur weil die Globalisierung zu einer neuen Vewrteilung von Zemntren führt, muss sie nicht absterben. Die Zukunft gehört den Netzwerken. (Aus dem Englischen von Michael Adrian)

*    *    *    *

Und dieser Blog-Beitrag, der eigentlich alldies gründlich referieren sollte, könnte mit einem überwältigenden ästhetischen Ausblick enden: eine Musik, die den Geist Rumis in einzigartige Klangbilder verwandelt.

reinhören HIER

Siehe auch Bestenliste August 2022 / Preis der Deutschen Schallplattenkritik und nachfolgenden Artikel „SUFI RUMI“ .

24.08.2022 Heute. Ein schöner, allzu heißer Tag: der Originaltext Bubner ist angekommen

Das einzige, was ich referentiell zu korrigieren habe: die Überschrift „Drei Studien“ ist korrekt. Wenn vor dem (letzten) Vortrag zur Toleranz eine IV steht, ist allerdings noch erwähnenswert, dass die Nr. I allein aus einer Vorbemerkung von 5 Zeilen besteht, die schnell abgeschrieben ist:

Der Einleitungsaufsatz wurde in der Klassensitzung am 10. Mai 1997 vorgetragen, und mehrfach andernorts. Was ich aus den Diskussionen gelernt habe, ist in die gedruckte Fassung eingegangen. Die zwei übrigen Studien sind in zeitlichem und gedanklichem Zusammenhang mit dem Vortragstext entstanden.

Näheres zum Inhalt siehe auf der Rückseite des Umschlages, oben links, im schwarzen Bereich. Und nicht vergessen: das gewichtige, schmale Buch (62 Seiten) kostet weniger als 1 ZEIT + 1 SPIEGEL zusammen, siehe nochmals hier.

Im Alltag begegnet man vielleicht Argumenten zur Toleranz, die besagen, sie sei doch selbstverständlich, zumal heute, da die verständnisvolle Begegnung mit dem Fremden, der Fremdheit, alltäglich geworden ist. Oder im Gegenteil: auf eine Weise problematisch geworden ist, dass nur noch schwer zu argumentieren ist. Das Fremde ist eben – als das Unbekannte – nicht nur das Interessante, sondern auch das Abstoßendende. Man kann das eine nicht einfach durch wohlwollende Appelle ins andere umwandeln. Ich nenne nur das Schächten von Tieren, und ganz besonders, wenn es durch unanfechtbare religiöse Gebote gestützt wird. Da kann man noch so überzeugend für Religionsfreiheit und Toleranz plädieren, im Detail sieht alles anders aus. Die Argumente der Tierschützer sind nicht nur plausibel, sie sind auch menschlich. Aber: Was ist „Menschlichkeit“? Wenn man z.B. vom Schächtverbot unter den Nazis erfährt, kann das nicht als positives Beispiel gelten. Es wird plötzlich notwendig, unabhängig von weltanschaulichen Vorgaben oder „Kollateral“-Phänomenen über die Rechtslage nachzudenken. Siehe zum Beispiel im Wikipedia-Artikel hier.

Ich empfehle mir selbst (und anderen), auch den Bubner-Aufsatz mit der (vorgefassten) Bereitschaft zur Kritik zu lesen. Es ist mir klar, dass es Menschen gibt, die seinen Gedankengang dem „konservativen Lager“ zurechnen. Obwohl ich felsenfest (?) davon überzeugt bin, dass Gedanken (wie Gedankengänge) frei sein sollten. Den Gesetzen der Logik folgend…

Was ich mir bezüglich der Einschätzung von Fremdheit vorgemerkt hatte (Sicht des Ethnologen 1986):

 

Und wie Rüdiger Bubner in seinem Toleranz-Vortrag (1997) das Thema angeht:

(Fortsetzung folgt)

Mehrklänge hören, viel mehr Klänge!

Doch vorweg: Was sagt denn Wikipedia?

Siehe hier.

Ich sehe diesen Wiki-Artikel als eine Übung, um zu erkunden, was man überhaupt über „Akkorde“ weiß. Das weiter unten folgende (heftförmige) Büchlein stellt im Vorwort klar, dass nur die „Kenntnisse traditioneller europäischer Musik und aus ihr abgeleiteter Begriffe und Verfahrensweisen“ vorausgesetzt sind. Es wendet sich aber durchaus (oder gerade) an Studierende, die sich mit moderner Komposition beschäftigen, die „Neue Musik“ komponieren (oder auch nicht). Der Autor wagt es, Hindemiths „Unterweisung im Tonsatz“ ebenso zu berücksichtigen wie Messiaens Lehrbuch „Technik meiner musikalischen Sprache“. Er sagt Im Vorübergehen Erhellendes zum Konzeptualismus und zum Punktualismus, ohne zu fürchten, dass seine eigene Arbeit, die sich damit nicht weiter abgibt,  dadurch entwertet wird. Auch der Einwand, dass jedes zeitgenössische Werk einer eigenen Ästhetik, einem eigenen Gesetz folgt, gilt für ihn und seine Analyse nicht. Er behandelt keine Akkordverbindungen, keine Grammatik, sondern die einzelnen Gebilde. Nebenbei erfährt man, dass jenes Stück von Messiaen, das gewissermaßen den ganzen Boom des Serialismus auslöste („Mode de valeurs et d’intensités“), bei ihm selbst ohne entsprechende kompositorische Konsequenzen blieb. Der Komponist selbst meinte, man habe dieser „ganz kleine[n] Arbeit“  viel zu viel Bedeutung beigemessen… Das zu wissen hätte mir Anfang der 60er Jahre einige elementare Gewissensbisse erspart. Ich war ein Verfechter der Neuen Musik, sagen wir: bis Anton Webern. Aber es waren genau diese punktualistischen „Zufalls“-Ergebnisse, durch die ich meine Musikalität in Frage gestellt sah. Zweifellos war sie ja auch mit diesen Mitteln tatsächlich nicht weiter entwickelbar. Ich war – ohne es zu ahnen – anfällig für das Prestige anderer Musikkulturen. Im Tonsatzunterricht gab es heftige Diskussionen mit Traditionalisten wie Max Baumann und Ernst Pepping, die aus meiner Sicht (insgeheim) von Adornos „Kritik des Musikanten“ mitbetroffen waren.

Man lese, was ich damals im Konzertprogramm (mehr über das Boulez-Werk) unterstrichen und mit Ausrufezeichen versehen habe…

Berlin, Januar 1961

Hören? HIER

Solingen, August 2022

Nun also ein neues Werk zum Thema und zu vielen Themen: Claus Kühnl (eigene Website hier) Möglicherweise lege ich mir über kurz oder lang auch noch das von ihm empfohlene Harmonik-Buch von Nordhausen/ Gardonyi zu, und wenn jemanden das bloße Inhaltsverzeichnis schreckt – es gibt darin ja über 400 Notenbeispiele: wenn man nur etwas Klavier spielt, ist das eine unvergleichliche tönende Musikgeschichte: hier.

Doch zur Sache:

s.a. hier, erst kürzlich – dank NMZ bzw. Moritz Eggert – entdeckt …

Zusätzliche Musikbeispiele

Seite 6 – Schönberg Serenade op.24 hier Einzelsätze anklickbar Nr.4 „O könnt‘ ich je der Rach‘ an ihr genesen“

2 Sätze mit Partitur hier

alle Sätze: Mitropoulos-Aufnahme (1949) hier I. 0:00 II. 4:40 III. 11:37 IV. 15:37 V. 18:37 VI. 25:25 VII. 27:23

Seite 8 – Haydn (Nonenakkord) Klaviersonate (1771) XVI:20 Takt 25-26

Seite 9 „…ein früher spektakulärer Fall…“

Recordare:

Seite 10 Beethoven op. 22 (gemeint ist Takt 32 f)

Mir wird klar, dass ich diese „Disharmonien“ früher genossen, aber anders gedeutet habe, nämlich nicht als Klänge für sich, sondern immer als „Zufallsprodukte“, die aus Durchgangsnoten erklärbar, also gewissermaßen aus melodischen Gründen  exculpiert sind. Obwohl als „Reibungen“ eben: genossen. Dass der Orgelpunkt G nach Takt 30 einfach stehenbleibt, bedeutete, dass ich den Akkord der rechten Hand in Takt 32 einfach als Griff eis/gis/h/cis (Dominantseptakkord in Richtung fis-moll/ h-moll) auffassen darf, eine Zwischenstörung, die mit dem Wechsel von cis nach d einen Verminderten einführt, der sich in jede möglich Richtung auflösen kann. Und es wirkt plausibel, dass auf der 1 des nächsten Taktes der gleiche Akkord, – um einen Halbton höher gerückt -, als „gis/h/d/e“ erscheint, der sich nicht nur nach oben schein-auflöst (zum f), sondern auch unten (zum g) und sich damit überraschend zum Orgelpunkt-G bekennt: im nächsten Takt wird die Wendung plakativ im Dominantseptakkord der „vollgriffigen“ linken Hand.

Das heißt: ich habe immer syntaktisch gedeutet, nicht punktuell, den jeweiligen Akkord als Eigenheit, Eigenklang, Eigenwert betrachtend, obwohl ich dies insgeheim – wie gesagt – sehr wohl goustiert habe.

Natürlich könnte man sagen: nun bist du doch reingefallen auf das Punktuelle. Das lasse ich nicht gelten, – soll ich es ablehnen, nur weil ich einmal im Leben nicht damit klargekommen bin? Zu den größten Hör-Erlebnissen in meinem Leben gehört dafür ein Konzert in Darmstadt mit Ligetis „Atmosphère“, da fand ich Punktualität und linienhafte Dauer beispielhaft realisiert. Übrigens gefällt mir Kühnls Behandlung dieses Komponisten, der wegen seiner späteren Entwicklung oft geschmäht wurde (Horntrio), ebenso wie die des Geräuschpolyphonikers Lachenmann, den ich vergeblich „nachzuempfinden“ suchte, – um so einen Ausdruck der veralteten Ästhetik des ältesten Bach-Sohnes zu gebrauchen.

Die Begehrlichkeit wächst (Ausblick)

soeben eingetroffen…

Und was sehe ich dort, Johann Sebastian Bach betreffend??? Kontrapunkt… Choralsatz… und darüberhinaus Melodielehre

Cranach in Wien (1502)

Kleine Recherchen

aufgrund des heute – dank der SZ – betrachteten Doppelportraits (als Gastleser):

ich glaube, es waren die Augen, die mich fesselten, und wie sie im Artikel gedeutet wurden. Dann im Detail die Tiere und ihre Symbolik. Die Vögel (am Himmel, hier nicht mitgescannt). Auch der eigene Blick – unmittelbar – in eine ferne Zeit.

https://www.sueddeutsche.de/kultur/kunst-lucas-cranach-khm-wien-ausstellung-1.5627310 HIER

Kunsthistorisches Museum Wien (Flurplan u Bilder) HIER

(!!!) https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/ausstellung-cranach-der-wilde-die-anfaenge-in-wien-im-khm-18120935.html HIER Stefan Trinks hier und hier

Wikipedia-Artikel HIER

Zur Tier-Symbolik: hier (was mich an diesem Link stört: man findet nichts über seine Urheberschaft, also: eine gewisse Skepsis ist angebracht, in diesem Sinn weiter hier)

Weshalb mich Cranach schon lange interessiert? Weil ein alter Bildband im Regal meines Übe-Zimmers auf Augenhöhe steht: sein späteres Wirken als Propaganda-Maler des Protestantismus! Erhöhte Aufmerksamkeit heute – parallel zur „Bußfahrt“ des Papstes in Kanada betr. die geraubten und ermordeten Kinder in den Internaten indigener Christen.

Mindestens ebenso interessant ist ein anderer Artikel der heutigen Süddeutschen, der allerdings nichts mit dem hier im Blog angeschlagenen Thema zu tun, dafür mit vielen anderen:

hier, und noch mehr dazu hier

(nicht vergessen, folgendes zu rekapitulieren:)

  Suhrkamp 2011 Susan Buck-Morss

Apropos Zeitunglesen: mein Wort der Woche steht am Ende des Leitartikels „Morde mit Botschaft“ von David Pfeifer:

Die westliche Wertegemeinschaft kann schon jetzt beginnen, sich zu schämen.

Zweite Natur = Kultur?

Der philosophierende Mensch in seiner Umwelt

Als die Welt immer fragwürdiger zu werden begann, wurde mir immerhin klar, dass es mir nicht gelingen würde, so einfach in der Natur zu leben, wie es mein kindlicher Plan gewesen war. Ganz allein wie sollte das gehen? Trotzdem behielten solche Lebensentwürfe ihre Anziehungskraft. Ich wollte die Wälder Schwedens kennenlernen, wahrscheinlich wegen Nils Holgerssohn (also dank der poetischen Imagination der Schriftstellerin Selma Lagerlöf), dann kam Hamsun („Pan“ , „Segen der Erde“ ), der Komponist Sibelius. Diese Ära endete mit dem Buch „Kunst, Kitsch und Konvention“ von Karlheinz Deschner. Auch Hesse war damit erledigt („Klingsors letzter Sommer“ – auf Langeoog). Eine Art Rausch tatsächlich, jetzt dank Fernsehgedenkfilm leicht revidierbar, – und unerträglich für immer. Damals auch mit der Lektüre von Adolf Portmann verbunden, die ich auf mich persönlich beziehe, eine biologisch anteilnehmende Perspektive: „Nesthocker und Nestflüchter“, wahrscheinlich wollte ich zuerst fliehen und dann hocken. Die Frage (nach dem Krieg, Jahre auf der Lohe): Was ist Natur, was ist meine wahre Heimat, was kann ich definitiv darüber wissen?

Wikipedia HIER  Man beachte, was hier von Aristoteles gesagt wird, der den Begriff der „zweiten Natur“ erfunden hat; ich zitiere es aus der Nikomachischen Ethik, die ich seit 1966 besaß, ohne ihre Bedeutung zu verstehen:

Natürlich würde ich dies nicht als Hauptentwicklungslinie für mich seit Mitte der 50er Jahre gelten lassen; ich habe damals auch ganz andere Sachen gelesen, und „in echt“, würde ich sagen, wenn ich jetzt renommieren wollte. Platon zum Beispiel, Leonardo, sogar Kant hatte ich in Dünndruckausgabe mit auf Langeoog, – nur leider nicht verstanden. Aber an die oben genannte Lektüre denke ich am ehesten, wenn ich mich für die Anthropologie von Daniel Martin Feige motivieren will: da gibt es etwas Verwandtes, das mich nicht erlahmen lässt. Und vor allem: ich sehe die damalige Zeit mit einer gewissen Sympathie, nicht mit Herablassung, als hätte ich es inzwischen so herrlich weit gebracht. Die Evolution (Darwin nach Julian Huxley) spielte eine wesentliche Rolle, und im Zielgebiet winkt – nach wie vor – ein neuer Blick auf die Musik.

Ich überspringe den 1. Teil, den „biologischen“, der mich mit Verwunderung erfüllt, aber nie ganz ratlos gelassen hat. Dass ich dabeibleiben würde, wusste ich erst im zweiten Teil, nach der Überschrift „Zweitnatürlicher Naturalismus“ (siehe Portmann-Erinnerung und Wikipedia-Artikel). Nun geht es zu Kant und Aristoteles, auch da gibt es Vorerfahrungen, auch dank Blumenberg. Und man ist gewappnet, die große Parabel von den Wölfen zu ertragen, ohne zu lachen. Man macht sich kundig betreffend MacDowell (Wikipedia hier), und liest gründlich, was er uns über den „imaginierten rationalen Wolf“ mitteilen will, auch wenn es noch im Dunkeln bleibt, was mit den Wikipediasätzen gemeint sein soll: dass nämlich …

bereits die Wahrnehmung selbst begrifflich strukturiert sei, bzw. mit ihr schon begriffliche Fähigkeiten in Anspruch genommen werden müssten. Das sich hieraus ergebende Problem, dass Tieren und Säuglingen dann offenbar Wahrnehmung abgesprochen werden müsse, versucht McDowell im Anschluss an Überlegungen von Aristoteles und jüngere Denker außerhalb der analytischen Tradition, wie Karl Marx und Hans-Georg Gadamer, zu lösen. Tiere nähmen keine „Welt“, sondern nur eine „Umwelt“ wahr, in der sie lebten und, ohne Abwägung von Gründen, auf sich unmittelbar stellende biologische Probleme reagierten.

Wiki Wölfe

Daniel Martin Feige spricht über Positionen,

die unsere Form des Lebendigseins mit starken inhaltlichen Bestimmungen eines »Guten« des menschlichen Lebens verbinden [….] ohne unser Lebendigsein und unsere Vernünftigkeit angemessen zusammen zu bekommen,

was ich hier etwas gewagt verkürze. Daher das folgende (garantiert ungekürzte) Zitat zu einem vieldiskutierten Gedankenexperiment von John McDowell:

Tugenden als Ausdruck unserer praktischen Vernunft können nicht derart als Aspekt unserer Lebensform verstanden werden, wie das Jagen im Rudel zur Lebensform des Wolfes gehört. Sein Gedankenexperiment besagt, dass wir uns einige Wölfe als rationale Wölfe vorstellen und dann fragen sollen, welche Autorität Lebensformtatsachen im bislang diskutierten Sinn dann noch haben. Ein vernünftiger Wolf, so seine Antwort, handelt nicht länger der Lebensform des Wolfes gemäß, sondern ist Träger einer anderen Lebensform, in der aus Gründen als Gründen gehandelt wird. Der vernünftige Wolf wäre insofern nicht allein ein Denkender, als er Ereignisse und Zustände als Ereignisse und Zustände der Welt erfassen könnte, sondern er wäre auch ein Handelnder, insofern er Ereignisse und Zustände in der Welt aufgrund der Einsicht in das, was zu tun ist, hervorbringt. McDowell weist zu Recht darauf hin, dass wir einem solchen Wesen Freiheit zuschreiben sollten. Und sein Argument lautet: Die Lebensformtatsache, dass Wölfe im Rudel jagen, hat für den vernünftigen Wolf nun keine unumstrittene Autorität mehr, da sie unabhängig davon, dass Wölfe als Wölfe sich so verhalten, für das Handeln des vernünftigen Wolfes normative Kraft für sein Handeln entwickeln müsste. Das aber ist nicht ausgemacht. Nicht allein könnte er ein lasterhafter Wolf werden, der nicht länger jagt und dennoch die Beute, die die anderen Wölfe herbeigeschafft haben, frisst. Dabei ist auch McDowell der Meinung, dass mit einem solchen Wolf etwas nicht stimmen würde. Aber der entscheidende Punkt ist: Dieser Wolf könnte nun Überlegungen anstellen, ob die Gründe für die gemeinsame Jagd tatsächlich gute Gründe sind. Der Unterschied zwischen einem Wolf und dem imaginierten rationalen Wolf besteht diesbezüglich im Folgenden: »Die Form, in der das, was Wölfe benötigen, auf sewin Verhalten einwirkt, beinhaltet keinen Schluss auf das, was er benötigt. Aber sobald wir uns einen vernunftbegabten Wolf vorstellen, der sich fragt, was er tun soll, macht dieser Gedanke tatsächlich einen Unterschied.«

McDowells Überlegung legt nahe, dass wir Vernunft nicht einfach als natürliche Ausstattung des Menschen verstehen können, da sie seine natürlichen Anlagen derart, wie Tiere sie haben, nicht einfach bestehen lässt. Er schlägt dabei anders als die bislang diskutierten Ansätze vor, die Vernunft des Menschen nicht als dessen erste Natur zu begreifen, sondern vielmehr als seine zweite Natur. Das tut er deshalb, weil sein Gesprächspartner nicht allein Aristoteles ist, sondern auch Kant; er entwickelt das Erbe von Aristoteles nicht zuletzt durch das Prisma der kantischen Philosophie fort.

Quelle Daniel Martin Feige: Die Natur des Menschen / Eine dialektische Anthropologie / Suhrkamp Berlin 2022 / Zitat Seite 117 ff

Ich erinnere mich immer wieder an Kant-Begegnungen, z.B. hier oder hier oder hier. Wandere über die Wikipedia-Brücke hierher und finde dort auch dieses handliche Schema der Erkenntnis:

Weit gefehlt, wenn ich nun glaube, bei Feige auf eine besonders fassliche Darstellung zu stoßen. Er sagt es mit seinen Worten, und die klingen nun mal anders:

(Fortsetzung folgt)

Freiheit, die ich meine(n möchte)

Der schönste politische Begriff

… von dem ich heute als erstes gelesen habe, als ich die neue CD eines fabelhaften iranischen Musikers gehört habe? Er hatte als Motto seines Booklets ein Wort von Beethoven gewählt:

Allein Freiheit, Weitergehen, ist in der Kunstwelt wie in der ganzen großen Schöpfung Zweck.

Und ich erinnerte mich, wie ich am 6.12.1992 – als Schmetterlingsfreund – an die ganze große Schöpfung erinnert wurde, und zwar durch das Geburtstagsgeschenk des Bienenfreundes (und Mitarbeiters) Werner Fuhr:

„… kreativ und verantwortungsbewußt, das freie Spiel der Natur zu unserem eigenen machen können.“ Hubert Reeves: hier

Jetzt aber wurde ich wieder an jenen Begriff gemahnt, den ich gut zu kennen glaubte, als ich auf Anraten des Freundes (und Sohnes) JMR in der ZEIT nachlas – die ich auf Texel nicht lesen konnte, weil sie zuhaus im Solinger Briefkasten lag -, dass es der schönste sei, den die Menschheit je erfunden habe: eben – die Freiheit? Und dazu eben diesen großen Artikel, dessen Ende hier zitiert sei:

Für viele, für die allermeisten Freiheiten, die wir genießen, hat der ökologische Fallout unseres Tuns keine unmittelbare Wirkung: Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Gewerbefreiheit, Meinungsfreiheit, Wahlfreiheit, Tariffreiheit, Freiheit der Berufswahl und der Wissenschaft – all diese Freiheiten bleiben weitgehend unberührt. Abders sieht es mit jenen Freiheiten aus, die durch ihre spezifische, im fossilen Zeitalter eingeübte Ausübung zur ökologischen Zerstörung beitragen: Autofahren, Fleischessen, Vielfliegen, Überkonsum von Kleidung und so weiter. Mithin aller Freiheitsgebrauch, der über den Umweg seiner »Nebenwirkungen« zu einer Massierung von Zwängen führt.

Bislang gelang es der Gesellschaft, dem Staat, der Wirtschaft und der Werbung ganz gut, den Menschen die Kollateralschäden ihres eigenen Tuns vom Leib zu halten und den Freiheitskonsum als einen reinen, unschuldigen Akt erscheinen zu lassen. Der Mensch, der den Zündschlüssel drückt, sollte und wollte möglichst nicht wissen, was geschehen sein musste, bevor er dies tun konnte, und was passieren würde, sobald er es getan hatte. Die Sicherung der Ölversorgung durch das Militär, gegebenenfalls durch Kriege; die Subventionierung von Petro-Autokraten, die dann im zweiten Schritt mit unserem Geld unsere freiheitlichen Gesellschaften bedrohen; die Zerstörung von Landschaften zur Beschaffung der Rohstoffe, die für den Bau eines Autos benötigt werden; die Wohnraumknappheit in den Städten nicht zuletzt wegen der Bedürfnisse des Autoverkehrs; die Verkehtstoten; die Zerstörung von Wäldern und Auen für die Autobahnen; die Zersiedelung der Landschaften; die CO2 – und Stickoxid-Emissionen; der Feinstaub vom Reifenabrieb – um nur mal einen kleinen Ausschnitt der Kollateral-Voraussetzungen und der Kolllateralschäden des motorisierten Individualverkehrs zu zeigen. Von alldem wurde der Mensch bei der Ausübung seiner automobilen Freiheit lange verschont.

Nun lässt sich argumentieren, dass wir überhaupt nichts mehr tun könnten, wenn wir stets und immer alle möglichen Nebenfolgen unseres Handelns berücksichtigen müssten. Das stimmt, der Schmetterling würde es nicht mehr wagen, mit dem Flügel zu schlagen, wenn er wüsste, dass er damit womöglich einen Orkan auslöst. Allerdings sind die Proportionen beispielsweise beim Auto genau umgekehrt: Es müssen ständig Orkane ausgelöst werden, damit am Ende ein Flügel geschlagen werden kann. Die Nebenwirkungen unseres Tuns sind in Wahrheit die Hauptwirkungen. Und das Nichtwissen um diese Wirkungen ist nicht der Schleier, den die Freiheit eben auch braucht, vielmehr ist es hochgradig neurotisierend; zwanghaft muss das Offensichtliche verdrängt werden. So verwahlost dieser Freiheitsbegriff zum Anspruch, konsumieren zu dürfen, ohne von den Folgen zu wissen und dafür einstehen zu müssen. Es ist essenziell antiaufklärerisch.

So offensichtlich das alles sein mag, so sehr kann die Desillusionierung gleichwohl schmerzen. Weil es eine ganze Weile sehr schön war, den Zündschlüssel zu drehen, den Fahrtwind zu genießen und nichts weiter. Nur dass es sich eben im Nachhinein gesehen weniger um eine Freiheit handelte als um ein vergängliches Privileg.  Das nun eben vergangen ist.

Schade eigentlich.

Quelle DIE ZEIT 15. Juni 2022 Dossier Seite 15-17 Bernd Ulrich und Fritz Engel: Der verletzte Mensch Wie kann es sein, dass wir alles über die Klimakrise wissen und trotzdem so wenig dagegen unternehmen? Fritz Engel und Bernd Ulrich haben eine Erklärung. Sie hat mit Stolz, Ehre und der Idylle der Normalität zu tun.

Übrigens wäre ich sehr vorsichtig, den Beethoven-Satz über die „Freyheit“ auszudeuten, wenn ich das Umfeld betrachte: siehe hier , 29. Juli 1819 an Erzherzog Rudolph.

Qanat dagegen bezieht sich im Iran eindeutig auf alte Strukturen, durch die frisches Wasser aus unterirdischen Quellen hervortritt. In der Wüste wurde an solchen Stellen gegraben, bis man die Dörfer mit diesem Wasser versorgen konnte.

die neue CD. Doch darüber demnächst mehr…

„… kreativ und verantwortungsbewußt, das freie Spiel der Natur zu unserem eigenen machen können.“

*    *    *

Heute noch lesen:

Jürgen Habermas über Adorno und (nach Sloterdijk) über die  „Querdenker“ im Philosophie-Magazin Hier (gefunden dank eines Hinweises bei Daniel M. Feige).

ZITAT

Peter Sloterdijk bemerkt jüngst im Hinblick auf die „Querdenker“, es handele sich um „Figuren wie aus dem Spätmittelalter, die den Weg in die Moderne und damit zu naturwissenschaftlicher Evidenz und zum Staatsbürgertum innerlich nicht mitgegangen sind. Das hat im Verwechseln der eigenen Wünsche mit der Welt etwas Kleinkindliches.“ Würden Sie in diesem Fall mit Sloterdijk übereinstimmen?

Der Beschreibung stimme ich zu. Ich würde sie durch einen auffälligen Zug ergänzen. An der Bewusstseinslage dieser Leute fällt nämlich ein merkwürdiger Kontrast auf: Einerseits projizieren sie ihre verdrängten Ängste verschwörungstheoretisch auf dunkle Mächte, die sich der Autorität der bestehenden Institutionen bedienen. Das Autoritäre dieser geschlossenen, meistens antisemitisch besetzten Weltbilder verrät die rechtsradikalen Wurzeln dieses Potenzials, das von der AfD sofort erkannt worden ist. Andererseits erlaubt die Denunziation der bestehenden Ordnung den Coronaleugnern ein antiautoritäres Auftreten: Ihre Demonstrationszüge bieten das libertäre Erscheinungsbild linker Jugendproteste. Die Demonstranten können sich auf diese Weise zu den „wahren“ demokratischen Verteidigern einer durch die angeblich autoritäre Regierung verletzten Verfassung aufspielen. Tatsächlich spiegelt sich in diesem libertären Habitus nur jene nackte Verfolgung eigener Interessen, die man sonst eher bei Vertretern eines radikalisierten Wirtschaftsliberalismus vermutet. Aber hier ist es der Egozentrismus der Schwachen und Marginalisierten, nicht der Robusten. Nach meinem Eindruck wird uns dieses Protestpotenzial ganz unabhängig vom Auslöser der Pandemie noch lange beschäftigen. Ich vermute, dass sich darin jene Art der systemisch erzeugten sozialen Desintegration äußert, deren Ursachen Präsident Biden nach dem Sturm aufs Kapitol wohl richtig diagnostiziert hat und die er nun mit dem Versuch einer Rückkehr zu rooseveltschen Programmen beseitigen will.

Soweit Jürgen Habermas. Weiteres direkt im oben gegebenen Link zum Philosophie-Magazin.

Ich muss noch einmal zurückkehren zu dem obigen Zeit-Artikel. Was ich davon wiedergegeben (und ehrlich abgeschrieben) habe, spiegelt nicht vollständig das, was er mir inhaltlich bedeutet. Zumindest 1 Beispiel muss ich noch nachliefern.

(folgt:)

Es geht im Wesentlichen auch darum, unsere Ausweichargumente hier oben „im globalen Norden“ zu entlarven:

ZITAT

Denn mit ihrem Ausweich-Argument hüllen sich die reichen Länder gewissermaßen in die weitaus existentielleren Nöte von Kongolesen und Philippinern, von den Bewohnerinnen Madagaskars oder Indonesiens. Deren Naturzerstörung kann schließlich durch das eigene Überlebenwollen legitimiert werden, jedenfalls besser als im globalen Norden.

Warum aber wird für uns im Norden die Atmosphäre erhitzt, der Regenwald abgeholzt, das Meer leergefischt, wozu werden die Flächen versiegelt und die »Nutz«tiere gequält? Für eine in der Geschichte der Menschheit beispiellose Bequemlichkeit, für ebenso andauerndes wie achtloses Fleichessen, für mehr Kleider, als man tragen kann, für mehr Konsumgüter im Haus, als man zählen kann, für die Beschleunigung von null auf hundert in fünf Sekunden. Und so weiter. Wir sind nicht rücksichtslos, um Epochales zu leisten, sondern rücksichtslos, um Dinge zu tun, die wir eigentlich gar nicht gut finden. Darin liegt eine gewaltige Selbstkränkung des (reichen) Menschen.

(Hervorhebung vom Zitator)

Formen des Lebens

Ein Gang durch die Botanik

Japanischer Blumenhartriegel

Geschlitztblättrige Rotbuche (hinter dem Zaun: der Gesang des Zaunkönigs)

Drüben, der weiße Strauch, dort hatte unser Weg begonnen. Pflanzenformen. Und insgesamt nur 2 Menschen, 2 Tiere und 1 Taubenhaus? Siehe auch hier. Auch hier. Des weiteren?

Der Zaunkönig hier klang anders als zuhaus.

Es war der 6. Juni 2022, 2. Pfingsttag. Danach zum Griechen „Villa Zefyros“ …

Ich denke das, was Bruno Latour so eindringlich dargelegt hat: wir sind nicht in diesem wunderbaren Planeten, wir leben nur auf einer ganz dünnen Schicht an der Oberfläche.“

Botanik, Lebewesen, Gaia… Was heute Abend noch dazukam:

Aus dem Naturkunderegal im Übezimmer (ein Buch aus dem Jahr 2007)

Bernhard Edmaier: Die Muster der Erde / Mit Anmerkungen von Angelika Jung-Hüttl / Phaidon Verlag Berlin 2007

Zitat aus der Einleitung:

Die Muster der Erde besitzen eine kaum zu beschreibende, geheimnisvolle Ästhetik. Der Grund dafür könnte es sein, dass diese Strukturen ganz nach den Naturgesetzen entstehen. Flüsse zum Beispiel oder auch fließendes Gletschereis suchen – immer der Schwerkraft folgend – den direktesten Weg bergab. Stoßen sie dabei auf Hindernisse, nagen sie solange daran, bis sie sie überwunden oder beseitigt haben. Fels verwittert am schnellsten dort, wo er gebrochen ist oder aufgrund seiner mineralischen Zusammensetzung am leichtesten durch Wasser aufzulösen ist. Der berühmte Fotograf Andreas Feininger schrieb dazu in seinem Buch Die Sprache der Natur (1966): „Ihre Formen sind … funktional gestaltet. Und eben weil sie im besten Sinne des Wortes funktional sind, empfinden wir sie als schön.“

  Von hoch oben

Aus dem Briefkasten (frische Post aus Mühlehorn/Schweiz)

Fernsicht

Krieg und Frieden

Wann ist denn Pfingsten?

(unmöglich zu akzeptieren)

Manchmal scheinen die Lösungen greifbar nahe, ja, der Heilige Geist liegt auf der Hand. Während man keinem Artikel Glauben schenkt, der darüber in den Zeitungen steht (wenn überhaupt). Mir ging es so, als ich heute aufwachte: ich habe im Laufe der Jahre 1000 Blogbeiträge nebeneinandergestellt und oft auch aufeinander bezogen, um womöglich eines Tages ein Netz von Beziehungen zu überschauen, während ich gleichzeitig befürchtete, das Wichtigste darüber dann doch noch zu vergessen. Wollte ich in Wirklichkeit vielleicht die Komplexität der Welt für mich (sträflich) vereinfachen? Möglichst in einer Nussschale. Eine sogenannte Welt-Anschauung? Und die Musik, die es so schlagend fertigbringt, könnte sich mit der Philosophie verbinden, verbünden – es wäre zu schön um wahr zu sein. Ich will es mal formelhaft zusammenfassen, nur als Beispiel:

Kant 1795 / Thukydides 400 v.Chr.

das Buch (1869), der Film (1956), Hondrich

Darin müsste alles enthalten sein. Es genügt nicht, über den Angriffskrieg zu lamentieren und die pazifistische Utopie dagegenzusetzen. Die missglückte Lanz-Sendung kürzlich hat es peinlich vor Augen geführt.

Hier

Hondrich prägte sich mir ein, weil er (als einziger) den Krieg – paradoxerweise – als notwendige Geißel beschrieb (er schärfte den Widerspruch).

Zu Tolstoi: Es ist mir rätselhaft, dass ich dieses Buch Mitte der 50er Jahre gelesen haben soll, diese winzige, unattraktive Schrift, Seite für Seite, insgesamt 500, und es enthält doch von Anfang bis Ende Bleistift-Unterstreichungen, deren Sinn mir heute dunkel erscheint. Sie könnten Auskunft geben über meinen damaligen Seelenzustand, der mich vielleicht interessieren sollte. Vielleicht hat mich erst der Film so begeistert, genauer: die Gestalt der Natascha? Ich vermute aber, dass ich den Roman als Aufklärung über das Leben gelesen habe, außerhalb des eigenen engen häuslichen Kreises, da draußen in der wirklich großen, weiten Welt. Mit der gleichen Intensität habe ich (ab April 56) Rudolf Goldschmit-Jentner „Begegnung mit dem Genius“, und (ab Sept.58) weiter mit „Fischer Bücherei“ –  Thomas Mann „Leiden und Größe der Meister“ – aufgesogen, über Wagner natürlich, aber als erstes darin „Goethe und Tolstoi“. Mehrere Bände Dostojewski folgten. Und vor allem Hamsun.

Übersetzung von L.Albert Hauff 1893

Heute kehrt eine Ahnung zurück…

In der Unter- oder Oberprima lasen wir Thukydides im Original, aber das war eine rein sprachliche Übung; als Historiker blieb er für uns eine beliebige Erscheinung, ein „alter Grieche“ eben. Für die 400-Jahrfeier des Gymnasiums standen wir im Rezitations-Chor bei der Einstudierung der „Antigone“ auf der Bühne. Das wurde oft geprobt und mehrfach aufgeführt, das Stück begann merkwürdigerweise zu leben.

Aus dem Nachwort zu Thukydides von Hellmut Flashar (2005):

Aus Kants Anhang „Zum Ewigen Frieden“ (1795)

Das Wort „ewig“ könnte man durchaus ironisch auffassen, zumal sich Kant gleich zu Anfang seiner Schrift auf das Reklameschild eines holländischen Gastwirts bezieht, das einen Kirchhof abbildet und darüber den Namen des Hauses nennt: „ZUM EWIGEN FRIEDEN“.

Falsch ist auf jeden Fall die westliche Nada-Brahma-Theorie, die mit  Obertönen und einer Sphären-Harmonik daherkommt. Und dieses harmonistische Gefasel als universales Prinzip zu verkaufen sucht.

Ich will aber nicht ausschließen, dass es für mich eine Rolle spielt, wenn sich die Musikästhetik als anschlussfähig erweist im täglichen Leben und in der Physik; dass ihr Geist nicht frei im Raume schwebt, und dass die Volksmusik, die (Gebrauchs-)Musik der Völker und jedweden Alltags nicht ausgeschlossen ist. Wenn ich also lese:

…um Missverständnisse auszuschließen, auf der nächsten Seite die folgende Bemerkung:

Simone Mahrenholz (Quelle s.u.)

Im Einklang mit der Realität ziehe ich beim Geigeüben das alte Intonationsbuch (1997) zu Rate, höre die entsprechende CD als Offenbarung, während ich den Farbunterschied mit Fassung ertrage.

Doris Geller 1997

Inzwischen bin ich aber auch mit dem neuen (alten) Buch, der Dissertation von Simone Mahrenholz weitergekommen, und es sind unerwartete Komplikationen aufgetaucht, die mich zwangsläufig Zeit kosten:  ab Seite 245 spielt die Theorie von der bikameralen Psyche eine Rolle, die mich Mitte der 90er Jahre auch sehr beschäftigt hat. Ich hatte das Buch „Der Ursprung des Bewußtseins“ von Julian Jaynes gelesen, war begeistert von der Idee, wie auch die Musik darin in neuem Licht erschien, die „Ilias“, die Propheten des Alten Testaments, die Evolution, – kurz – alles erschien mir revolutionär. Und dann kamen die großen Zweifel an der Wissenschaftlichkeit dieses Unternehmens, vielleicht weil ich wenig später das Riesenwerk entdeckte, das Thomas Metzinger  herausgegeben hat: „Bewußtsein / Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie“ (Schöning 1995). Ich erinnere nicht mehr, welche Argumente mich vom Kurs abbrachten. Vielleicht setzte ich inzwischen ganz auf Susanne K. Langer und auf Ernst Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“. Es war eigentlich wieder wie heute, – als müsste ich alles neu und viel gründlicher durchdenken, – andererseits hat ich ja einen Beruf und eine musikalische Profession. Und nebenbei: in der Arbeit von Simone Mahrenholz geht es an dieser Stelle nicht um ein zentrales Kapitel, sondern um einen „Exkurs“ zu hirnphysiologischen Befunden, ungeachtet späterer, möglicher Korrekturen. Die Deutungen von J.Jaynes bleiben für mich schon aufgrund der von ihm zusammengetragenen Literatur-Beispiele faszinierend. Vielleicht nun auch mehr über Nelson Goodman?

Mahrenholz

Julian Jaynes

Quellen

Julian Jaynes: Der Ursprung des Bewußtseins / Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1993

Simone Mahrenholz: Musik und Erkenntnis / eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie / Stuttgart; Weimar: Metzler 1998

Simone Mahrenholz: Musik und Begriff How to do things with music / in: Gibt es Musik? Beiträge von Daniel Martin Feige, Christian Grüny, Tobias Janz und Simone Mahrenholz / Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Heft 66/2/2021 / Verlag Felix Meiner Hamburg

Zurück zum Thema Krieg und Frieden:

Ein Kapitel des Ethnologen Christoph Antweiler in dem Buch „Heimat Mensch“ ist so überschrieben und endet mit Sätzen, die bei Kant stehen könnten:

Frieden ist nicht der Naturzustand glücklicher Gesellschaften. Er fällt nicht vom Himmel. Auch in nichtindustriellen Gesellschaften muss er aktiv hergestellt werden. Dauerhaften Frieden gilt (recte: gibt!) es nur dann, wenn es ausdrücklich friedensstiftende Mechanismen gibt. Die heutigen Länder, in denen es wenig Gewalt gibt, wie etwa Norwegen, haben das nur durch einen ganzen Kranz von Maßnahmen geschafft, der von Gesetzen auf Landesebene bis zum alltäglichen Umgang im Kíndergarten reicht. Die Semai, die Fipa und andere friedliche Gesellschaften geben uns keine Patentrezepte, aber sie können uns motivieren und inspirieren. Sie machen Hoffnung, dass Frieden im wahrsten Sinn des Wortes machbar ist.

Quelle: Christoph Antweiler: HEIMAT MENSCH Was uns ALLE verbindet  / Murmann Verlag Hamburg 2009

NB Die Anschläge des rechtsextremistischen Massenmörders Breivik fanden am 22. Juli 2011 statt.

Merksatz zum Thema MACHT (LANZ-Sendung ZDF 29.06.22 hier ab 59:30 Liana Fix)

(Um es erst einmal akademisch zu sagen) Macht an sich hat ja nichts Positives oder Negatives per se, Macht ist einfach da, Macht ist zwischen uns da, Macht ist in meiner Partei da, die Frage ist: wofür setzt man Macht ein, und mit welchen Werten, und mit welchen Werten verbindet man diese Macht. Und gerade in (aufgrund) der deutschen Vergangenheit wird Macht verwechselt mit Gewalt , das ist der Unterschied, und deswegen hat Macht eine so negative Konnotation dazu. Wenn man das begreift, dass Macht nicht gleich Gewalt ist, sondern Macht eben ein Instrument ist, um gewisse Werte zu erreichen,  und dazu gehört eben auch militärische Macht – dann kann man damit auch umgehen, in der Politik, und zu dem Zitat von Ralf Stegner [Ukraine]: es ist tatsächlich für die deutsche Gesellschaft schwierig zu akzeptieren, dass dort deutsche Waffen in einem Krieg mit Russland stehen (…).