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Ave Maria „auf dem Hügel“

Die frühen Schlager und ich (Stoffsammlung)

Mein Bruder, – Vater, Mutter, Großeltern, Tante

Tante Ruth (*1913) um 1990 (hatte wie mein Vater Klassik-Klavier studiert, spielte noch mit 92).

Sie sang mir heimlich das Lied „Großmütterchen“, schwer erkennbar aber doch so oft vor, dass ich es auf der Geige zum 80. Geburtstag der Oma (17.8.1951) in Misburg präsentieren konnte (diese summte es leider schon vorher im Garten mit). Auch eine kleine Eigenkomposition von mir war angekündigt, eine anderhalbzeilige Melodie, eine „unvollendete“, die ich beim Vorspiel irgendwie weiterphantasierte und durch Wiederholung aufpeppte, –  Onkel Hans ließ sich zu einem Lob hinreißen, das von meiner Mutter begierig aufgesogen wurde: „Das steckt eben so drin!“ Ach, mein damals nicht abbrechen wollendes Opus sucht mich bisweilen heute noch heim. Ein Lieblingswerk meiner Oma dagegen war und blieb damals „Die diebische Elster“ bzw. deren Ouvertüre, die mein Vater am Klavier vortrug. Keine ernste Musik! Mit diesem Titel! Wir grinsten, wenn es hieß, durch die Belgarder Oma sei die Musikalität in die Reichow-Familie gekommen. Mit der „diebischen Elster“!?

Musikalisches Erbe?

Die Idole meines (tonangebenden) Bruders im Verlauf der Bielefelder 50er Jahre:

Michael Jary René Carol Peter Alexander Wolfgang Sauer Gershwin, Puccini, Schumann, Wagner, Rachmaninow. Die Schlager lehnte ich ab, ohne direkt zu opponieren, die Begeisterung für die Romantik steckte mich an und ergänzte meine Klassik, die von Bach ausging.

Die folgende Schallplatte war eine der wenigen, die bei den Oeynhausener Großeltern um 1950 abgespielt werden konnten (auf einem aufziehbaren Plattenspieler, den unsere Mutter einst bei einem Preisausschreiben gewonnen hatte): wir kannten das Lied auswendig, und ich habe es oft und gern Mitschülern vorgesungen, die tatsächlich gebannt zuhörten: „der Wilddieb, er gibt keine Antwort, er kennt ja die sichere Hand, ein Schuss und gleich drauf ein Aufschrei, und der Förster lag sterbend im Sand.“

Eine spannende Geschichte im leiernden Tonfall – das schien uns attraktiv. Es gab solche Schlager, „Pferdehalfter an der Wand“ u.ä., man fand sie eher etwas lässig (das Western-Wort statt des heutigen „cool“). Später, mit schon wachsender Klassikerfahrung, schätzten wir bestimmte harmonische Höhepunkte. Ab wann wurde unser Hit unter Brüdern – das Lohengrin-Vorspiel? Und wann kam der folgende Schlager, der eigentlich nur mir gehörte, so dachte ich, mit der Klimax einer starken, ehrlichen phrygischen Kadenz, B-dur, A-dur, nebeneinandersetzt, schamlose Quintparallelen. Auch eine Combo in der Givtbude auf Langeoog spielte ihn jeden Abend zum Abschluss (um 23 Uhr). Wir warteten sehnsüchtig auf den Refrain, die Musiker reagierten leicht genervt. War es 1958? Ich wanderte zu einem Café am Langeooger Dorfrand, wo es einen „Plattenautomaten“ gab, und ließ das Lied alle Viertelstunde ablaufen, während ich Dostojewski „Der Idiot“ las. Einsamkeiserfahrung.

Ich hatte keine Ahnung, wo das Lied herkam, ob spanischen oder portugiesischen Ursprungs. Aus dem Süden jedenfalls, der Zauber des Mittelmeers war greifbar.

Givtbude „no morro“ auf der Düne, Langeoog, 200 m vom Landschulheim Gymnasium Bielefeld (1958?) JR Fensterplatz

Und wo kam das Lied wirklich her?

60er Jahre. Die japanische Freundin verriet mir, leicht widerwillig, was sie vom Text verstand: der Sänger schaue in den Himmel, damit man seine Tränen nicht über die Wangen laufen sehe. Das fand ich anrührend oder sogar für uns passend. Ich kannte das Lied nur aus dem Radio und hatte keine Ahnung, wie seltsam geziert sich der Interpret gebärdete. Natürlich studierten wir beide damals sehr „ernsthaft“ Geige. Sarasate stand schon an der Grenze… Marschner, dessen Schönberg-Platte mir imponierte, weckte (neckte) mich mit der „Havanaise“. Es gibt also eine spezifische Unterhaltungsqualität? Unnachahmbar einfach?

Wikipedia „Sukiyaki“ 1961 bzw.1963 hier / Ist dies ein Zugang zu den verkannten Alten Zeiten?

Was also ist überhaupt Unterhaltungsmusik? ZITAT:

Bei der Unterhaltungsmusik, deren Schwerpunkt (…) in der Beziehung zwischen Musik und Rezipient liegt, ist die Frage der Art der Rezeption von entscheidender Bedeutung. Durch die Art der Rezeption kann Kunstmusik zur Unterhaltungsmusik umfunktioniert werden. Diese Tatsache weist bereits auf die andersartige Voraussetzung hin, unter der Unterhaltungsmusik betrachtet werden muß. Unterhaltungsmusik ist im weitesten Sinn keine absolut zu umreißende Musikgattung, da sie durch ihre Abhängigkeit von der Rezeption die Grenzen einer bestimmten Gattung weit überschreitet.

Der Komponist, der … (siehe wie folgt)

[Anm. JR: in dem Buch u.a. „Großmütterchen“]

Quelle Irmgard Keldany-Mohr: „Unterhaltungsmusik“ als soziokulturelles Phänomen des 19. Jahrhundert / Untersuchung über den Einfluß der musikalischen Öffentlichkeit auf die Herausbildung eines neuen Musiktyps / Gustav Bosse Verlag Regensburg 1977

Eine anders differenzierte Stufe der Betrachtung findet man bei Simone Mahrenholz: Ihre

These lautet, dass ein gemeinsamer Nenner für alle eingesetzten bzw.
existierenden Musikformen in der Funktion einer (anvisierten) Transformation der
Wahrnehmung liegt. Diese impliziert eine Bewusstseinsveränderung. Alle im Text
bisher angesprochenen Musikformen haben diesen Effekt (oder dieses Ziel) – mit
unterschiedlicher Intensität und Stoßrichtung. Wie ist Wahrnehmungsveränderung
durch Musik konkret möglich? Worin ist sie situiert?
Als Material zu einer Antwort zwei Beispiele. Erster Fall: Jeder kennt Momente,
in denen man den Blick auf vorbeiziehende Landschaften, beim Autofahren (oder
Bahnfahren) absolut nicht ohne begleitendes Hören von Musik zu erleben bereit
ist. Es ist so, als ob die Realität vor dem Auto- oder Bahnfenster erst perzeptiv und
emotiv aufgeschlossen wird, erst ihre Stellung im Ganzen erhält durch die Kom-
bination mit Musik. (Einen ähnlichen Effekt macht sich Filmmusik zunutze.) Eine
plötzliche Abwesenheit der Musik demgegenüber (etwa die Aufforderung, das Au-
toradio abzustellen oder ein Stromausfall im Smartphone) kommt nahe heran an
Entzug, Krise, Schwund von Sinn und Verlust von Welt überhaupt. Was geschieht
hier? Welche zusätzliche Information zum Gesehenen liefert Musik?
Zweiter Fall: Wir alle kennen ebenfalls den (seltenen) Effekt einer Ekstase, ei-
nes extremen Glücksgefühls, oft eines Transzendierens von Raum und Zeit sowie
der Unterscheidung von Welt- und Selbst, ausgelöst durch eine ›passende‹ Musik
im ›richtigen‹ Kontext. Beide genannten Phänomene gehen oft einher mit dem
Gefühl, einer tieferen, ›realeren‹ Realität teilhaftig zu werden – ohne selbstver-
ständlich Gründe dafür angeben zu können. Es ist eine Art Anschauung, Intuition, Evidenz. Die naheliegende Frage lautet: Woher kommt dieser Eindruck des [Rezipienten,] in Begleitung von Musik anders und anderes wahrzunehmen: mehr an Realität als
sonst, eine Art Tiefendimension und Einbindung in eine Gesamtheit, verbunden
mit einer Erkenntnis, die sich verbal nicht mitteilen lässt? (Wohlgemerkt, dies ist
nicht Musik-Mystizismus, sondern die Beschreibung einer letztlich verbreiteten,
wenngleich individuell herausgehobenen Weise des Musikerfahrens.) Obwohl die
meisten Musikerfahrungen in ihrer Intensität viel weniger ausgeprägt sind und oft
ganz anders ausfallen, stellt sich die Frage: Woher rührt es? Wie ist das Beschrie-
bene möglich?
Eine Antwort hierauf liegt in der musikalischen Materialität.

Quelle Simone Mahrenholz: Musik und Begriff How to do things with music / in: Gibt es Musik? Herausgegeben von Daniel Martin Feige und Christian Grüny /Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Heft 66/2 2021 / Felix Meiner Verlag, Hamburg 2022

In meinem Zusammenhang soll der Hinweis auf die „Materialität“  und die „Wahrnehmungsveränderung“ eine erhellende Rolle spielen.

Im Gegensatz dazu ist für die „Kunstmusik“ festzuhalten, was Daniel Martin Feige mit Blick auf Adorno formuliert, und ich zitiere in aller Vorsicht: man kann daraus keine argumentative Waffe schmieden. Man muss doch den ganzen Essay lesen und vielleicht aufs neue oder immer wieder auch – den Musikphilosophen Theodor W. Adorno:

Inhalt in einem herkömmlichen Sinne haben Kunstwerke schlichtweg nicht. Das heißt nun keineswegs, dass im Fall von Romanen etwa egal wäre, was sie erzählen und im Fall von darstellenden Gemälden das, was sie zeigen. Aber es reicht für Adorno nicht zu sagen, dass repräsentationale Kunstwerke sich nicht in dem erschöpfen, was sie darstellen. Wer verstanden hat, was ein Gemälde darstellt, hat es als Gemälde noch nicht erschöpfend verstanden. Denn für Adorno ist der eigentliche Inhalt eines Kunstwerks die Spannung, die zwischen einer Form und der gesellschaftlichen Realität besteht. Just deshalb gerät das Kraftfeld des Werks durch gesellschaftliche Umbrüche in Bewegung; es kann sogar verblassen, sodass das Werk zu einem bloß noch historischen Gegenstand herabzusinken droht. Mit anderen Worten: Trotz seiner autonomen Konstitution dreht sich das Werk nicht um sich selbt; Adorno denkt Heteronomie und Autonomie des Werks zusammen. Der heteronome Zug, der nicht zuletzt darin besteht, dass ein Werk überhaupt nur ein Werk sein kann im Kontext einer gesellschaftlichen Praxis, die es ein Werk sein lässt, zeigt an, dass das Werk nicht außerhalb der Gesellschaft steht.

Und jetzt habe ich den Satz noch nicht zitiert, der ein vorschnelles, selbstzufriedenes  Kopfnicken verhindert, – da steht über das Werk und die Gesellschaft noch der Satz:

Es ist von ihrer Falschheit affiziert.

Quelle Daniel Martin Feige: Kunstmusik als Modell dialektischen Denkens / Anmerkungen zu einem Satz von Adorno / In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie / herausgegeben von Andreas Hetzel, Eva Schürmann und Harald Schwaetzer / Essay herausgegeben von Michael Hampe / Verlag frommann-holzboog AZP 47.2 (2002) [Zitat Seite 252]

Ich gebe mich damit einstweilen zufrieden und hüte mich, davon extensiv Gebrauch zu machen, ehe ich es nicht besser verstanden habe als heute. Anlässlich der Erwähnung „repräsentationale(r) Kunstwerke“ bin ich kurz zu Danto ausgewichen und fand die hier verlinkte optische Darstellung seiner Ästhetik sehr unterhaltsam. Und mit diesem Wort kehre ich später wohlgelaunt zurück zu den frühen Erlebnissen mit Schlagern oder Liedern, die der Unterhaltungsmusik zuzurechen sind. Wie gern würde ich die Liste fortführen, bis auch Namen wie Mercedes Sosa und Fernando Farinha darin Platz finden dürften…

Krieg und Frieden

Wann ist denn Pfingsten?

(unmöglich zu akzeptieren)

Manchmal scheinen die Lösungen greifbar nahe, ja, der Heilige Geist liegt auf der Hand. Während man keinem Artikel Glauben schenkt, der darüber in den Zeitungen steht (wenn überhaupt). Mir ging es so, als ich heute aufwachte: ich habe im Laufe der Jahre 1000 Blogbeiträge nebeneinandergestellt und oft auch aufeinander bezogen, um womöglich eines Tages ein Netz von Beziehungen zu überschauen, während ich gleichzeitig befürchtete, das Wichtigste darüber dann doch noch zu vergessen. Wollte ich in Wirklichkeit vielleicht die Komplexität der Welt für mich (sträflich) vereinfachen? Möglichst in einer Nussschale. Eine sogenannte Welt-Anschauung? Und die Musik, die es so schlagend fertigbringt, könnte sich mit der Philosophie verbinden, verbünden – es wäre zu schön um wahr zu sein. Ich will es mal formelhaft zusammenfassen, nur als Beispiel:

Kant 1795 / Thukydides 400 v.Chr.

das Buch (1869), der Film (1956), Hondrich

Darin müsste alles enthalten sein. Es genügt nicht, über den Angriffskrieg zu lamentieren und die pazifistische Utopie dagegenzusetzen. Die missglückte Lanz-Sendung kürzlich hat es peinlich vor Augen geführt.

Hier

Hondrich prägte sich mir ein, weil er (als einziger) den Krieg – paradoxerweise – als notwendige Geißel beschrieb (er schärfte den Widerspruch).

Zu Tolstoi: Es ist mir rätselhaft, dass ich dieses Buch Mitte der 50er Jahre gelesen haben soll, diese winzige, unattraktive Schrift, Seite für Seite, insgesamt 500, und es enthält doch von Anfang bis Ende Bleistift-Unterstreichungen, deren Sinn mir heute dunkel erscheint. Sie könnten Auskunft geben über meinen damaligen Seelenzustand, der mich vielleicht interessieren sollte. Vielleicht hat mich erst der Film so begeistert, genauer: die Gestalt der Natascha? Ich vermute aber, dass ich den Roman als Aufklärung über das Leben gelesen habe, außerhalb des eigenen engen häuslichen Kreises, da draußen in der wirklich großen, weiten Welt. Mit der gleichen Intensität habe ich (ab April 56) Rudolf Goldschmit-Jentner „Begegnung mit dem Genius“, und (ab Sept.58) weiter mit „Fischer Bücherei“ –  Thomas Mann „Leiden und Größe der Meister“ – aufgesogen, über Wagner natürlich, aber als erstes darin „Goethe und Tolstoi“. Mehrere Bände Dostojewski folgten. Und vor allem Hamsun.

Übersetzung von L.Albert Hauff 1893

Heute kehrt eine Ahnung zurück…

In der Unter- oder Oberprima lasen wir Thukydides im Original, aber das war eine rein sprachliche Übung; als Historiker blieb er für uns eine beliebige Erscheinung, ein „alter Grieche“ eben. Für die 400-Jahrfeier des Gymnasiums standen wir im Rezitations-Chor bei der Einstudierung der „Antigone“ auf der Bühne. Das wurde oft geprobt und mehrfach aufgeführt, das Stück begann merkwürdigerweise zu leben.

Aus dem Nachwort zu Thukydides von Hellmut Flashar (2005):

Aus Kants Anhang „Zum Ewigen Frieden“ (1795)

Das Wort „ewig“ könnte man durchaus ironisch auffassen, zumal sich Kant gleich zu Anfang seiner Schrift auf das Reklameschild eines holländischen Gastwirts bezieht, das einen Kirchhof abbildet und darüber den Namen des Hauses nennt: „ZUM EWIGEN FRIEDEN“.

Falsch ist auf jeden Fall die westliche Nada-Brahma-Theorie, die mit  Obertönen und einer Sphären-Harmonik daherkommt. Und dieses harmonistische Gefasel als universales Prinzip zu verkaufen sucht.

Ich will aber nicht ausschließen, dass es für mich eine Rolle spielt, wenn sich die Musikästhetik als anschlussfähig erweist im täglichen Leben und in der Physik; dass ihr Geist nicht frei im Raume schwebt, und dass die Volksmusik, die (Gebrauchs-)Musik der Völker und jedweden Alltags nicht ausgeschlossen ist. Wenn ich also lese:

…um Missverständnisse auszuschließen, auf der nächsten Seite die folgende Bemerkung:

Simone Mahrenholz (Quelle s.u.)

Im Einklang mit der Realität ziehe ich beim Geigeüben das alte Intonationsbuch (1997) zu Rate, höre die entsprechende CD als Offenbarung, während ich den Farbunterschied mit Fassung ertrage.

Doris Geller 1997

Inzwischen bin ich aber auch mit dem neuen (alten) Buch, der Dissertation von Simone Mahrenholz weitergekommen, und es sind unerwartete Komplikationen aufgetaucht, die mich zwangsläufig Zeit kosten:  ab Seite 245 spielt die Theorie von der bikameralen Psyche eine Rolle, die mich Mitte der 90er Jahre auch sehr beschäftigt hat. Ich hatte das Buch „Der Ursprung des Bewußtseins“ von Julian Jaynes gelesen, war begeistert von der Idee, wie auch die Musik darin in neuem Licht erschien, die „Ilias“, die Propheten des Alten Testaments, die Evolution, – kurz – alles erschien mir revolutionär. Und dann kamen die großen Zweifel an der Wissenschaftlichkeit dieses Unternehmens, vielleicht weil ich wenig später das Riesenwerk entdeckte, das Thomas Metzinger  herausgegeben hat: „Bewußtsein / Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie“ (Schöning 1995). Ich erinnere nicht mehr, welche Argumente mich vom Kurs abbrachten. Vielleicht setzte ich inzwischen ganz auf Susanne K. Langer und auf Ernst Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“. Es war eigentlich wieder wie heute, – als müsste ich alles neu und viel gründlicher durchdenken, – andererseits hat ich ja einen Beruf und eine musikalische Profession. Und nebenbei: in der Arbeit von Simone Mahrenholz geht es an dieser Stelle nicht um ein zentrales Kapitel, sondern um einen „Exkurs“ zu hirnphysiologischen Befunden, ungeachtet späterer, möglicher Korrekturen. Die Deutungen von J.Jaynes bleiben für mich schon aufgrund der von ihm zusammengetragenen Literatur-Beispiele faszinierend. Vielleicht nun auch mehr über Nelson Goodman?

Mahrenholz

Julian Jaynes

Quellen

Julian Jaynes: Der Ursprung des Bewußtseins / Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1993

Simone Mahrenholz: Musik und Erkenntnis / eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie / Stuttgart; Weimar: Metzler 1998

Simone Mahrenholz: Musik und Begriff How to do things with music / in: Gibt es Musik? Beiträge von Daniel Martin Feige, Christian Grüny, Tobias Janz und Simone Mahrenholz / Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Heft 66/2/2021 / Verlag Felix Meiner Hamburg

Zurück zum Thema Krieg und Frieden:

Ein Kapitel des Ethnologen Christoph Antweiler in dem Buch „Heimat Mensch“ ist so überschrieben und endet mit Sätzen, die bei Kant stehen könnten:

Frieden ist nicht der Naturzustand glücklicher Gesellschaften. Er fällt nicht vom Himmel. Auch in nichtindustriellen Gesellschaften muss er aktiv hergestellt werden. Dauerhaften Frieden gilt (recte: gibt!) es nur dann, wenn es ausdrücklich friedensstiftende Mechanismen gibt. Die heutigen Länder, in denen es wenig Gewalt gibt, wie etwa Norwegen, haben das nur durch einen ganzen Kranz von Maßnahmen geschafft, der von Gesetzen auf Landesebene bis zum alltäglichen Umgang im Kíndergarten reicht. Die Semai, die Fipa und andere friedliche Gesellschaften geben uns keine Patentrezepte, aber sie können uns motivieren und inspirieren. Sie machen Hoffnung, dass Frieden im wahrsten Sinn des Wortes machbar ist.

Quelle: Christoph Antweiler: HEIMAT MENSCH Was uns ALLE verbindet  / Murmann Verlag Hamburg 2009

NB Die Anschläge des rechtsextremistischen Massenmörders Breivik fanden am 22. Juli 2011 statt.

Merksatz zum Thema MACHT (LANZ-Sendung ZDF 29.06.22 hier ab 59:30 Liana Fix)

(Um es erst einmal akademisch zu sagen) Macht an sich hat ja nichts Positives oder Negatives per se, Macht ist einfach da, Macht ist zwischen uns da, Macht ist in meiner Partei da, die Frage ist: wofür setzt man Macht ein, und mit welchen Werten, und mit welchen Werten verbindet man diese Macht. Und gerade in (aufgrund) der deutschen Vergangenheit wird Macht verwechselt mit Gewalt , das ist der Unterschied, und deswegen hat Macht eine so negative Konnotation dazu. Wenn man das begreift, dass Macht nicht gleich Gewalt ist, sondern Macht eben ein Instrument ist, um gewisse Werte zu erreichen,  und dazu gehört eben auch militärische Macht – dann kann man damit auch umgehen, in der Politik, und zu dem Zitat von Ralf Stegner [Ukraine]: es ist tatsächlich für die deutsche Gesellschaft schwierig zu akzeptieren, dass dort deutsche Waffen in einem Krieg mit Russland stehen (…).

Ein neues Buch!

Am Anfang war das Tier (erzählt mit den mir damals eigenen Worten) :

Text:JR1949 Foto:JR2021

Mit 12 Jahren etwa versuchte ich, mir aus ungeeigneten Büchern eine eigene Form von Musikgeschichte zusammenzustellen, musikalische Wissensgebiete, die womöglich auf mich warteten. Römische, griechische, indische, chinesische Informationen. Ob ich diese mit irgendwelchen klanglichen Vorstellungen verband, – keine Ahnung. Schallplatten dazu gab es natürlich noch nicht. Ob es meine eigenen Worte waren? Ich habe Zweifel.

1953Am Ende eines kleinen Tagebuches ließ ich Platz für politische Ereignisse und für eigene musikalische Einfälle, die zu bedeutenden Kompositionen anwachsen sollten.

„Mit eigenen Worten“ …

… oder mit den mimetisch nachempfundenen Anderer, mit einem Bild oder dem Verlauf einer intensiv erfahrenen Musik, welcher auch immer. Wenn ich nur einen Begriff davon habe. Oder zu bekommen begehre. Wie kam ich heute darauf?

Diese letzten Worte haben mich Überwindung gekostet. Jedes Wort. Insbesondere das letzte, bei dem ich an Hegel und den Bedeutungsumfang seines Begriffs der Begierde gedacht habe.

Bei den „eigenen Worten“ stand mir ein wohlmeinender Lehrer vor Augen, vielleicht auch schon „Fräulein Brenner“ von der Bielefelder Melanchthon-Volksschule, 4. Klasse, ja, die ganze Schulzeit, als ich es allerdings immer schwerer fand, eigene Worte in die Welt zu setzen, statt solche von Nietzsche – oder später: Adorno – nachzubeten. Immer standen Bücher im Vordergrund, die ich natürlich nicht selbst geschrieben hatte. Mein Medium, dachte ich, ist das Radio, das gesprochene Wort, umgeben von der ganzen Vielfalt der Musik. Wobei mir in den letzten Jahren auch der naiv emphatische Hinweis auf die „Vielfalt“ suspekt wurde. Je mehr man sich in einzelne Werke oder tönende Aufführungen versenkt, um so umfassender erscheint jede(s) einzelne, um so schwerer auch das Weitergehen zum nächsten, ganz anderen.

Auch diesmal ist es ein Buch, das mir mal wieder unumgänglich erschien, zumal es gegen Ende genau das in Worte fasst, was ich gern mal mit eigenen Worten gesagt hätte:

Das Medium der Philosophie ist der Begriff, und einen philosophischen Gedanken zu verstehen, heißt, ihn in eigenen Worten wiedergeben zu können, was zugleich bedeutet, ihn in seinen Konsequenzen, weitergehenden Interferenzen und so fort durchdenken zu können. (Seite 289)

Ein Kunstwerk zu verstehen, heißt nicht, es zu übersetzen und zu paraphrasieren, sondern seinen Konturen interpretativ nachzufahren; Adorno hat hierfür den Begriff des mimetischen Verstehens geprägt. Wer Kunst erfährt, ist ganz bei sich und doch bei etwas anderem als sich, indem er oder sie die Konstitutionen des hier geformten Materials und der hier materialisierten Form nach- und mitvollzieht. (Seite 290)

Quelle:

  Daniel Martin Feige Werke / ? Weiterlesen?

Inhalte Ausblicke

Ich lese nachts um drei und lese morgens ab acht, und um zehn Uhr müht sich der Briefträger, die gewichtige Post in den schmalen Schlitz des Briefkastens zu entlassen, – da ist das neue Buch, auf das ich wartete. 360 Seiten. Nicht schwer. Und ab sofort muss alles andere warten.

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Es handelt sich um die Dissertation der Autorin, gedruckt 1997. Verlag J.B.Metzler. Einziger (verkaufsbehindernder) Nachteil: der Untertitel, – der Name Nelson Goodman wirkt (auf mich) heute nur einschränkend, es sollte einfach heißen: eine Studie zur Symboltheorie. Mein erster (und sich beim Lesen verstärkender ) Eindruck: dieses Buch, wie zuvor der rezente Aufsatz (siehe hier), betrifft ja mich persönlich! So scheint es beim ersten Aufschlagen und zwar bei dem einzigen großen Notenbeispiel, zwei in der Mitte des Buches ausgebreitete Seiten, ein Ausschnitt aus Schuberts Klaviersonate c-moll, D 958, Takt 117 bis 159, und es geht dort um Zeitlichkeitsstrukturen. In Wahrheit betrifft das Buch natürlich nicht nur mich persönlich in aller Zufälligkeit, ebensowenig wie die Musik und die Erkenntnis, um die sich alles dreht.

Ich darf übertreiben, weil ich begeistert bin… Und für Leute, denen der Lese-Zugang fehlt, verlinke ich an dieser Stelle die Klaviersonate von Schubert. Um dergleichen Symbolsprache also geht es, eben nur mit philosophischen Worten, mit einer großangelegten Studie zur Symboltheorie.

Ab (Anfang natürlich!) 1:09 bis 4:12 / Mahrenholz Seite 142-143

Wie schade, dass ich so spät auf dieses Buch komme und z.B. nicht schon viel eher den Bezug auf ein Buch reflektiert hätte, das ich seit 1991 nicht mehr vergaß, aber wegen leichten Verdachts auf Mystizismus nicht immer wieder beherzigte: George Steiner „Von realer Gegenwart“.  Wie gern wäre ich Simone Mahrenholz gefolgt, die 1997 gerade im Zusammenhang mit Schubert bei Steiner anknüpft.

Mahrenholz‘ Verweis auf Steiner

gerade dort mein neues Déjà-vu-Erlebnis

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Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, betone ich meist in der Frühzeit, wie sich das Hauptinteresse von der Biologie zur Musik, von den Tieren zu den Komponisten verlagerte, leicht ablesbar an den kindlichen Geschichten, in denen gar keine Menschen vorkommen, nur Käfer, Grille, Regenwurm, Reh, Hirsch, Wildschwein („Eber oder Bache“) usw. Im Grund lief aber dieser ganze Themenkreis auf andern Ebenen lebenslang parallel: Am Ende standen dann die Bücher z.B. von Richard Dawkins, aber nicht „das egoistische Gen“, sondern die unglaubliche Auffächerung der Arten in den „Geschichten vom Ursprung des Lebens„. Die Komponisten dagegen liefen noch eine Weile parallel mit Weltreisenden wie Marco Polo, James Cook, Alexander Humboldt, – und Albert Schweitzer und Nietzsche. Bis in die Gegenwart zu Harald Lesch oder Dirk Steffen. Daher berührt mich der erste Teil des Buches von Daniel Martin Feige, als werde dort versehentlich – auch im Widerspruch – „meine Sache“ betrieben (die Relativierung der neodarwinistischen Weltbilder, bzw. der Soziobiologie u.ä.) im Namen der Philosophie und einer neuen Anthropologie. Daher die exemplarische Herausstellung der folgenden beiden Zitate aus dem Buch über „Die Natur des Menschen“:

Mit naturwissenschaftlichen Mitteln lässt sich nicht alles in der Welt in den Griff bekommen, weil die menschliche Welt wesentlich eine Welt des Sinns ist: eine Welt, in der sich Menschen etwas als etwas zeigt und in der sie im Lichte ihrer Orientierungen darum streiten können, was sie sind und was es heißt, die Welt angemessen zu sehen. Menschen sind Lebewesen, die der Welt gegenüber in anderer Weise geöffnet sind als Tiere, die sich nicht in einer Welt, sondern einer Umwelt bewegen. Heißt, sich in einer Umwelt zu bewegen, differentiell und zuverlässig auf Aspekte derselben zu reagieren, so bedeutet, sich in einer Welt zu bewegen, sich selbstbewusst auf deren Aspekte im Denken und Handeln zu beziehen. Diese Reflexivität als konstitutiver Aspekt des Denkens und Handelns geht den Tieren ab. Ein selbstbewusstes Verhältnis zur Welt ist dahingehend ein rationales Weltverhältnis, dass es potentiell kritisierbar ist und auf die Frage nach dem »Warum« einer Überzeugung oder Handlung mit Begründungen antworten kann. (Seite 43f)

Die Kunst ist deshalb relevant für die Grundfrage der Anthropologie, weil in ihr meines Erachtens besonders und in besonderer Weise deutlich wird, was wir sind: In ihr scheint eine andere Natur unserer Selbst derart auf, dass in ihr ein Anderes gegenüber einer herkömmlich verstandenen Natur des Menschen aufscheint. (Seite 14)

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Noch ein privates Relikt aus der Zeit des Übergangs zwischen zwei Kindheitsphasen: da musste doch noch etwas sein außerhalb der Welt der Schülerkonzerte für Violine von Seitz und Rieding…

(folgt)

*    *    *

Nur noch etwas zum Vormerken: MICHEL LEIRIS: Phantom Afrika / Rezension F.A.Z lesen ! HIER

Medien Misstrauen Durchblick

„Was sehe ich?“ oder „Was höre ich?“

„Wokeness“

Ich habe dieses Wort gegoogelt, um Weiteres über den Bedeutungsumfang zu erfahren, und war im Nu bei „Cancel Culture“ und einer Web-Seite, deren Impressum ich untersuchte, nachdem ich mit dem lehrreichen Inhalt fast fertig war. Pragmaticus-Verlag usw., Liechtenstein. Bedeutet das: Unabhängigkeit?

Doch zurück zu besagtem Web-Artikel: HIER. „Das Ende der Vernunft“ von Konrad Paul Liessmann. Im Vorübergehen habe ich gelesen: Österreichs Vorzeigephilosoph… das schürt Misstrauen. Zwei Klicks weiter bin ich bei den Salzburger Nachrichten-Zeilen: Red-Bull-Boss Dietrich Mateschitz hat gemeinsam mit Prinz Michael von und zu Liechtenstein ein neues Medienprojekt aus der Taufe gehoben: „Der Pragmaticus“ startet ab sofort als Onlineplattform.

Noch ein Klick weiter: hier (Wikipedia): Laut Bloombergs Billionaires Index  belegte er im Februar 2022 und einem geschätzten Vermögen von 15,4 Milliarden US-Dollar den 132. Platz auf der Rangliste der reichsten Menschen der Welt.

Bin ich kuriert? Oder ganz ins Reich der Vorurteile abgedriftet? Wo steht nun Konrad Paul Liessmann? Aber warum habe ich mich nicht von vornherein an Wikipedia gehalten? Der Artikel „WOKE“ klärt weitgehend auf. Sogar speziel über den Gebrauch des Wortes in Deutschland und Österreich.

Ich werde zurückkehren zum ersten Medium meines Vertrauens (das selbst die Gründe des möglichen Misstrauens reflektiert). DIE ZEIT 19.05.2022 N° 21 .

1 Das Ende der Globalisierung / Die Überlegenheit des westlichen Lebensstils hat sich als Illusion erwiesen. Wie konnten wir nur daran glauben? Von Jens Jessen

Was man politisch missbilligte, nahm man zugleich als Konsument in Kauf.

2 Verteidiger des Anstößigen / Der österreichische Philosoph Robert Pfaller kämpfte schon gegen Wokeness, als es den Begriff noch gar nicht gab. Mit seinem neuen Buch über die Scham bringt er die intellektuellen Verhältnisse erneut zum Tanzen. Ein Besuch in Wien. / Von Ijoma Mangold

Scham ist zu einem allgegenwärtigen Affekt geworden. Man schämt sich für sein eigenes Verhalten (Flugscham), aber noch häufiger findet man, andere müssten sich schämen für ihr Verhalten, oder man schämt sich gar in der Form der Fremdscham anstelle der anderen.

3 Die große Seelenschau / Die Deutschen erkunden ihr Inneres wie nie zuvor. Das ist gut für den Einzelnen. Doch hilft es auch der Gesellschaft in schwierigen Zeiten? / Von Stefanie Kara und Rudi Novotny

Wo kommt das alles her? Macht es die Gesellschaft als Ganzes besser? Und ist es überhaupt noch angemessen in einer Zeit, in der plötzlich Härte so wichtig zu sein scheint: gegenüber Putin, gegenüber den Zumutungen des Krieges und seiner wirtschaftlichen Folgen? Sollte eine Gesellschaft, die sich wehren muss gegen einen Aggressor, sich lieber nicht so sehr mit sich selbst beschäftigen – oder gebraucht gerade sie die psychische Stärkung, um alles durchzustehen?

3 Der gute Ton in schlechten Zeiten Muss man russische Musik derzeit boykottieren, um ukrainische zu würdigen? Über die Politisierung der Künste in Zeiten des Krieges / Von Florian Eichel

das zweite und problematischere Argument gegen russische Musik: Man hadert mit der symbolpolitischen Wirkung, die es entfaltet, der russischen Kultur eine Plattform zu geben, wenn gerade die ukrainische schutz- und aufführungsbedürftig ist. Doch rücken solche Überlegungen in den Vordergrund, die man eigentlich überwunden zu haben hoffte.

(…) Wie viel politischen Ballast hält antipropagandistische Kunst aus, bevor sie unter einem solchen Gewicht selbst zu bloßer Propaganda wird? Jenseits der Hochkultur stellte sich diese Frage beim jüngst ausgetragenen Eurovision Song Contest.

4 Warum so wütend, Herr Snyder? Der Historiker und Ost-Europa-Experte Timothy Snyder wirft den Deutschen vor, ständig »Nie wieder Faschismus« zu sagen – aber ihn nicht zu bekämpfen, wenn er sich zeigt. Ein Gespräch über Kolonialismus, unterlassene Hilfe in der Ukraine und den Rohstoff Schuld

*    *    *

Als Voraussetzung oder wesentliche Ergänzung zu 1 gilt aus meiner (stark persönlich bedingten) Sicht:  Zur Dialektik der postkolonialen Kritik von Daniel Martin Feige, der auf der vierten Seite die Kaluli erwähnt. Immerhin. Und die Musikästhetik von Christian Grüny und vor allem eine analytische Arbeit von Simone Mahrenholz. Ein Neuanfang. (Publikationen dieser Autorin hier.)

Aber die eigene Suche danach erspare vorläufig niemandem. Meine Bezugsthematik findet sich in einem Buch, das mich vor 10 Jahren beeindruckt hat:

Inhaltliches bei socialnet hier

Was ich so hervorragend finde an der „Musikbeschreibung“ von Simone Mahrenholz, lässt sich schwer „in eigene Worte“ fassen, vor allem, wenn es solche sein sollen, die jemand anderen nicht veranlassen, sofort zu sagen: das kenne ich schon, das ist doch nicht neu! Das findet man doch ebenso deutlich bei Victor Zuckerkandl oder bei Adorno, nur anders formuliert. Und wenn man triumphierend auf Susanne K. Langer weist, hätte man sogar völlig recht, ja, – aber mit größtem Unbehagen würde ich mich daran erinnern lassen, dass ich vor vielen Jahren einen Disput mit Joachim E. Berendt hatte: Er schien mir auf eine absurd unwissenschaftliche Weise ein neues Zeitalter des Hörens ausrufen zu wollen, das sich im Einklang mit einer mystisch verstandenen Physik wähnte, kombiniert mit einem starken Schuss indisch-exotischer Philosophie, kondensiert in der Formel „Nada Brahma“. Lauter Worte, die sich einer heiligen Naivität verdankten, Worte, die auch heute wieder auftauchen könnten und immer irgendwie wahr sind: z.B. „Wendezeit“ (Frithjof Capra). Wahrscheinlich hat es angefangen mit Jean Gebser, Anfang der 60er Jahre, und seiner Vision einer großen Abendländischen Wandlung. Ich will das alles gar nicht beschwören, diese Themen waren ja innerhalb weniger Jahre kontaminiert. Schwärmertum, mehr oder weniger  dilettantische Weltentwürfe. Immer das große Ganze. Nicht umsonst begegnet man bei Simone Mahrenholz des öfteren der Warnung vor Mystizismus. Auch modisch-elegante Philosophen wie Peter Sloterdijk haben sich  ein Weile von der Nada-Brahma-Welt des „Jazz-Papstes“ aus Baden-Baden becircen lassen und wortreich wieder hinausmanövriert. Unter dem Deckmantel des universalen Klangs ließ sich alles verkaufen. Die Doppelgestalt des Tones – wie schön das klingt, wie zauberisch -, und Berendt selbst hat sich erst vollständig lächerlich gemacht, als er die großen klassischen Werke in seinen Aktionismus einbezog, möglichst letzte, allerletzte Werke, mit direktem Draht zum Jenseits: „Hinübergehen“ hieß sein letztes Buch.

Ich erwähne dies nur, um ganz deutlich zu machen: diese Zeiten sind vorbei und werden nicht wiederkommen. Und wenn nicht längst deutlich wäre, dass die Esoterik der Rudolf-Steiner-Welt nach wie vor mit Wissenschaft nichts zu tun hat, – das ist halt „Geheimwissenschaft“, die durchaus absolut „geheim“ bleiben darf -, so wäre jede neue Musikphilosophie, die nur entfernt danach klingt, auch nur leeres Gerede. Nonsens.

Die von Simone Mahrenholz aufgestellte These lautet, „dass ein gemeinsamer Nenner für alle existierenden Musikformen in der Funktion einer (anvisierten) Transformation der Wahrnehmung liegt. Diese impliziert Bewusstseinsveränderung. Alle im Text angesprochenen Musikformen haben diesen Effekt (oder dieses Ziel) – mit unterschiedlicher Intensität und Stoßrichtung.“ Und sie fragt dann: „Wie ist Wahrnehmungsveränderung durch Musik konkret möglich? Worin ist sie situiert?“

Es ist die Wortwahl oder die Blickrichtung, die ein Phänomen plötzlich in ein neues Licht setzen und die Augen weit öffnet: das große Staunen ist da, welches nach Plato der Anfang jeder Philosophie ist. Hör ich das Licht? (Tristan). Was sieht man? (Ich verkürze:) Ein Mehr an Realität. Bei Mahrenholz folgen dann die Sätze, die das Interesse und die Phantasie befeuern:

Eine Antwort hierauf liegt in der musikalischen Materialität. Wie entstehen Töne, sound, noise, Klang. (Anmerkung !) Bekanntlich durch in Bewegung [(in)] versetzte Materie, vor allem Musikinstrumente und dadurch ausgelöste Luftschwingungen, die sich über das Resonanz-Prinzip im Raum fortbewegen. Nach welchen Gesetzen produzieren diese ausgelösten Oszillationen Töne? Hier liegt der Schlüssel für das Weitere. Musikinstrumente und bewegte Körper produzieren streng genommen keine Töne. Sie produzieren Schwingungen, Schwingungsfrequezen. Da deren Geschwindigkeit gewöhnlich viel zu hoch ist für direkte Wahrnehmung, wandelt die menschliche Hörphysiologie sie in Tonhöhen um. 440 Schwingungen pro Sekunde ergeben den Kammerton a. Das heißt, Musikinstrumente und Hörphysiologie zusammen produzieren Töne. Verschiedene Tonhöhen und verscieden schnelle Oszillationen.

Das ist so bekannt, dass manch eine(r) mit Hochmut reagieren mag. Gerade auch, wenn als nächstes das Phänomen der Obertöne erläutert wird; man denkt an den Obertongesang, der uns in den 80iger Jahren vielleicht in eine Sackgasse befördert hat. Was mich heute fasziniert, ist die völlig andere Stoßrichtung der verwendeten Begriffe.

Simone Mahrenholz verbalisiert vorsorglich auch die Hemmung, „das ideologisch aufgeladene Wort ›Obertöne‹ in den Mund zu nehmen“, bevor sie formuliert, dass „das Wahrnehmen von Musik als eines sinnhaften Gebildes (…) dem hörenden Individuum zugleich etwas über die physiologischen Gesetze des Seins mitteilt.“ Dazu gehört Mut, und man sollte solche Sätze nicht aus dem Kontext isolieren, mit Pathos aufladen und weitergeben.

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„Wunderbarer als die Erscheinung des Regenbogens“ – Werbetext für eine WDR-Veranstaltung am 22.07.1982 mit dem Harmonic Choir unter David Hykes :