Coccia lesen

Auf die Gefahr hin, echte Philosophen zu langweilen

Immer wieder bemerke ich, dass die Grundlagen fehlen, und trotzdem mache ich weiter, als könne einem das nichts anhaben. Ich habe schon mal gedacht, dass es sich bei anderen auch so verhält, z.B. in der Neuen Musik. Man kann, wenn man diesen Zirkeln angehört, über alles mitreden, ohne etwa zu wissen, ob „Fuge“ eine Form oder eine Technik ist. – Doch Zweifel beiseite: ich bemerke, bei Emanuele Coccia einfach weitergelesen zu haben, obwohl ich früh an einem Punkt angelangt war, wo ich hätte insistieren müssen. Ich habe es sogar rot unterstrichen. Nebenbei habe ich mich noch lustig gemacht über mich selbst, weil ich immer wieder die Überschrift prüfte: „Internationale Spezies“, – steht das wirklich da? – um mich sogleich nachsichtig zu korrigieren. Es war wie bei dem Griechisch-Professor, der immer  „Agamemmnon“ las, wenn da stand: „Angenommen“, nicht wahr? Oder bei mir und bei Ihnen, wenn wir einen Moment lang verunsichert sind, mit wieviel M der Name nun wirklich geschrieben wird.

Dies ist doch nur ein erster Schritt, lies weiter!

Mich beeindruckte zwar die Metapher von „jenen kleinen, durch die Luft flatternden Bildern“, die wohl von René Descartes stammt, deshalb wusste ich aber noch lange nicht, was ich unter diesen species intentionales (espèces intentionnalles) verstehen sollte und fragte auch nicht groß, weil schon die Worte vom  „scheinbar unbedeutenden Gestus“ im Raum standen. Was für ein Denkfehler!

Heute endlich kam ich auf die Idee, mich mit Descartes‘ ironischer Bemerkung nicht abzufinden. Worauf bezog sich das denn? Etwa genau auf jenen Fehler, den ich täglich begehe und gerade schon wieder?

Oder war es mir schon längst aufgegangen? Und wieder entfallen? Wie das tägliche Leben so spielt. Ich werde jetzt alle selbstverantworteten Coccia-Artikel auflisten und nachlesen. Und nacherzählen können wollen, wenn ich aufgefordert werde: „Sagen Sie’s mit noch eigeneren Worten.“ „Gestehen Sie die immer mehr zutage tretenden Schwächen.“

[ 3. Februar 2021 Das Bild der Welt ] nein, früher!

21. Mai 2020 Rückbesinnung

7.Juni 2020 Sinnenleben oder: die Entdeckung des Spiegels

1. Juli 2020 Mond und Spiegel

8. Juli 2020 Weiteres vom Ich im Spiegel

Es ist noch nicht alles, aber es reicht erstmal, wenn ich nur anknüpfen will.

Also: als Ergänzung  jetzt dies hier, – HIER  -, ja, es ist unvermeidlich und gedanklich befreiend, mehr als jedes Gebet um fremde Hilfe, Hilfe von oben, vom Internet! Zweifellos eine fremde Hilfe, dieses Ding namens Zeno. Ich zitiere den Anfang, der vielleicht zur weiteren Lektüre lockt:

Species intentionales (sensibiles und intelligibiles) sind besonders nach scholastischer Lehre Formen, Bilder, die von den Gegenständen sich ablösen, die Luft passieren (»per aërem volitant«) in das »sensorium commune« (s. d.) des Wahrnehmenden dringen (»species impressae«) und die Seele zur Production der Wahrnehmung (als »species expressae«) veranlassen, so daß die Seele die Dinge nicht unmittelbar, sondern durch Vermittlung ihrer »species« (die nicht selbst Erkenntnisobject sind, den Objecten aber qualitativ gleichen) erkennt, wahrnimmt. Es werden »species sensibiles« (WahrnehmungsSpecies) und »species intelligibiles« (Denk-Species) angenommen. Diese Lehre ist ein Product der (nicht recht verstandenen) Aristotelischen mit der Demokritischen Wahrnehmungstheorie (s. d.).

Hinter der fremden Hilfe namens Zeno verbirgt sich nichts anderes als das „Wörterbuch der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler (Berlin 1999, neu bearbeitet 1904). Er ist der Vater des Komponisten Hanns Eisler. Näheres über ihn, den Vater, bei Wikipedia (hier).

Aber leicht ist das nun auch wieder nicht. Maja Beckers hat es in ZEIT online schön verkürzt:

Wiederbeleben will Coccia das Sinnliche mit einer originellen These. Es habe eine eigene Existenz, die weder in den wahrgenommenen Dingen noch in dem wahrnehmenden Subjekt liegt, sondern dazwischen, in einem eigenen Raum. So wie das Spiegelbild dort existiert, wo weder das sich spiegelnde Objekt noch der Betrachter sich befinden.

Die Idee, dass das Sinnliche in Zwischenräumen existiert, den espèces intentionelles, war im Mittelalter populär – bis René Descartes sie abschaffte und damit den Geist von „jenen kleinen, durch die Luft flatternden Bildern“ erlöste, wie er meinte. Jetzt gab es nur noch Subjekt und Objekt und dazwischen nichts, und diese Trennung machte den Weg frei für die Idee eines von seiner Umwelt unabhängigen Individuums, ein Gründungsmythos der Moderne. Deshalb ist es ziemlich gewagt, wenn Coccia diese alte Idee wieder hervorholt.

Wohin führt uns alldies bei Emanuele Coccia? Ich memoriere schon auf der übernächsten Seite folgendes (das Wort von dem cartesianischen Trilemma* hinnehmend) :

Ich glaube, wir betreten damit „Das Reich des Sinnlichen“ (Kapitel IV) s.u.

*Zum Trilemma: ich fand den Münchhausen-Artikel vorläufig hilfreich. Aber zur Einführung in die Problematik habe ich mir jetzt eine tüchtige Arbeit vorgemerkt, die ich bis auf weiteres hier verlinke. (Stichwort s.o. „Grundlagen“ / in diesem Fall bei Scotus).

ISBN 978-3-446-26572-1

Ich muss noch etwas zitieren, wieder Coccia a.a.O., wo er Descartes zitiert:

Die Existenz des Menschen an sich reicht aus, um die Existenz und Funktionsweise der Empfindung zu erklären – »nämlich genau so wenig wie irgendetwas aus den Körpern, die ein Blinder empfindet, austritt und seinen Stock entlang auf seine Hand übergeht, und daß der Widerstand  oder die Bewegung dieser Körper, die die einzige Ursache der Empfindungen ist, die er von ihnen hat, irgendwie den Ideen ähnlich ist, durch die er sie auffaßt.«

Muss es heißen: „… reicht nicht aus, um…“? Verstehe ich das vielleicht besser, wenn ich auch den Satz davor durchdacht habe?

*Denken und Verstandesleben, Empfinden und Sinnenleben lassen sich, mit Descartes gesprochen, nur ausgehend vom Subjekt erklären: »Demzufolge besteht für Sie weder Anlaß, es als nötig zu beurteilen, daß irgendetwas Materielles von den Objekten bis zu unseren Augen übergeht, um uns Farben und Licht sehen zu lassen, noch, daß es in diesen Objekten irgendetwas gibt, das unseren Ideen oder Empfindungen von ihnen ähnlich sei.«

Und zurück zum Satz vorher:

Das ist noch nicht das Ende, – aber ich muss noch etwas früher beginnen: Coccia geht davon aus, dass

alle anerkannten Denker unter dem Banner der Moderne in den Kreuzzug gegen eine Meinung verwickelt [wurden], die Thomas Hobbes als »schlimmer als irgendein Paradoxon, da sie eine einfache Unmöglichkeit ist«, beschrieb. Es komme nicht von ungefähr, dass die Philosophie der Moderne alle ihre je eigene Theorie der Wahrheit mit der Bekräftigung einleiten mussten: »Meiner Meinung nach ist es gar nicht wahrscheinlich, daß die Körper Bilder oder ihnen ähnliche Arten [species] aus sich hervorgehen lassen sollten«, wie Malebranche in seiner Recherche de la vérité (dt.: Von der Wahrheit…).

Die Gründe für diese Einmütigkeit sind nicht schwer zu verstehen. Dadurch, dass man eine vermeintliche erkenntnis-theoretische Einzelheit genauer bestimmt, wird es möglich, ein autonomes Subjekt zu denken, das von der Welt und den Dingen, die es umgeben, wirklich getrennt ist. Sind die intentionalen Spezies einmal wirklich verworfen, fällt das Subjekt mit dem Denken ( und dem Gedachten) in all seinen Ausformungen in eins.

Jetzt käme der Satz bzw. Absatz, der mit dem Stern beginnt*, und dann können Sie noch einmal den kleinen roten Pfeilen folgen. (Es geht bei mir wie eine musikalische Übung!)

Und dann können Sie zurück zum Anfang dies Blogbeitrags gehen und die erste kopierte Seite (mit der Überschrift „Intentionale Spezies“ lesen. Und schon haben Sie fast das ganze Kapitel VII durchbuchstabiert. Sie sind näher am Original als ich in frühen Jahren: als ich im Stillen immer mit der Liebe begann, aus der ich mir die schmerzliche Empfindung der Subjekt-Objekt-Spaltung ableitete. Und wenn ich über die Sehnsucht nach einem einzelnen Menschen hinausgehen wollte, zu den Dingen, zur Kunst, zur Musik, so fesselte schnell eine Art Pantheismus mein Denkvermögen und umnebelte jede klare Gedankenarbeit. Ich glaube so war’s. Jetzt frage ich mich, wie sich Coccias Entwurf zu Kants großer Theorie (Kritik) verhält: zu dem, was Jaspers als „Gewühl“ bezeichnet (siehe hier im Blog). Und zu den „Kategorien“, die im Subjekt (?) alle Sinneseindrücke „automatisch“ vorsortieren.

Vertragen Sie ein etwas sonderbares Video zur Einordnung? Man vergisst es nicht, samt portugiesischem Akzent und der Bereitschaft, das Wort „Bllind“ als Blind hinzunehmen und das Wort „Empirismus“ selbst zu artikulieren. (Die abgebildeten Herrschaften kennen Sie vielleicht: René Descartes und John Locke.)

Ich hatte ZEIT online zitiert, ohne den Artikel zu verlinken. Das sei HIER nachgeholt.