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Die Linien sehen

Einige Notizen zu Dürer und Wölfflin

Antwerpen

Was Wikipedia vermittelt:

Eine Zeichnung ist ein (Ab-)Bild, das ein Motiv (Sujet) in vereinfachender Weise mit Linien und Strichen darstellt. Dies unterscheidet Zeichnungen von der Malerei, welche ein Motiv durch den flächenhaften Einsatz von Farben und Tonwerten darstellt.

Linie

Grundtechnik der Zeichnung ist das Zeichnen einer Linie. Die Konturlinie oder Umrisslinie markiert die Grenzen, den Umriss, eines Gegenstandes und charakteristische Kontraste, wie sie sich zum Schatten ergeben. Ohne jede Schattierung lassen sich so die Grundzüge eines Gegenstandes festhalten, beispielsweise die Umrisse einer Frucht, die sich von ihrem Hintergrund abgrenzt, und Falten, die ja nichts weiter sind als kontraststarke Schatten. Die Binnenlinie zeigt die Struktur eines Gegenstandes innerhalb seiner Kontur. Auch bei nicht-gegenständlicher Darstellung ist die Linie das hervorstechende Merkmal, auch wenn in der modernen Zeichnung die Grenzen nicht immer eindeutig zu ziehen sind.

Die Linie als das spezifische Charakteristikum der Zeichnung hat historische Entwicklungen durchlebt: Obgleich die Linie als individuelles Markenzeichen jedes Zeichners anzusehen ist, gab es in der Renaissance einen allgemein anerkannte Linientyp, die „schöne“ Linie, die rund, schwingend oder kurvig war. Darüber hinaus existierten gerade und starre Linientypen im Bereich des architektonischen Zeichnens. Der volle Linienreichtum entstand mit dem Impressionismus, weil sich die Beziehung zum beschreibenden Gegenstand lockerte. Eine „Befreiung der Linie“ hin zur gegenstandslosen Zeichnung erfolgte erst im 19. Jahrhundert, etwa im Werk von Honoré Daumier. Die bis dahin dominante schön-kurvige Linie wurde nun um bisher als nicht bildwürdig erachtete eckige, sperrige und ruinöse Linientypen ergänzt. Neue Ausdrucksmöglichkeiten der Linie fanden sich überdies im Werk von Paul Klee und der expressiven Zeichnung Pablo Picassos.

Schraffur

Die Schraffur setzt den zeichnerischen Gedanken der Linie in der Fläche fort. Sie wird eingesetzt, um in der Zeichnung räumliche Effekte (Plastizität) und unterschiedliche Tonwerte darzustellen. Dazu werden in gleichmäßigen Abständen dünne Linien in einem Winkel schräg zur Hauptlinie gezogen. In der reinen Zeichnung ist es verpönt, dabei die Linien so eng zu ziehen, dass sie verschmieren – zum Beispiel durch einen schräg gehaltenen Bleistift – weil damit die Grenze zu Malerei als einem flächigen Arbeiten überschritten wird. Man nennt das „schummern“. Mittlerweile ist aber auch dieses flächige Arbeiten mit Graphit und Kohlestiften weit verbreitet.

Weitere Abstufungen in den Tonwerten lassen sich durch eine zweite Schraffur erzeugen, die leicht versetzt über die erste Schraffur gesetzt wird und deren Linien kreuzt. Man spricht deshalb auch von Kreuzschraffur. Mit dem Mittel der Kreuzschraffur lassen sich bei gleichbleibender Linienstärke viele verschiedenen Schattierungen und Tonwerte erzeugen. Besondere Bedeutung hat die Kreuzschraffur beim farbigen Arbeiten, weil durch verschiedenfarbige Schraffuren neue Farben erzeugt werden können.

Quelle Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Zeichnung_(Kunst) hier

Entdeckung im Bücherschrank:

 

Kloster Säben Geschichte Nemesis „Das große Glück“ (diese Landschaft?)

Zunächst wollte ich nur Näheres über die Linie wissen, nachdem ich die interessanten Ausführungen von Heinrich Wölfflin gelesen hatte, dann über Dürer, der mich immer angezogen, aber auch abgestoßen hat. Was ganz sicher an der Fremdartigkeit seiner Lebenswelt lag (ohne dass ich dieses psychologische Thema vertiefen wollte). Nun halte ich es  in Bewegung:

wbg – was ist inzwischen aus der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft geworden? Siehe hier.

Dissonanzen

Der im vorigen Beitrag so leichthin erwähnte Zusammenhang (Pergolesis? Bachs? Corellis?) mit Palestrina, dessen Wirkungszeit ja noch ganz dem 16. Jahrhundert angehörte, sollte plausibler gemacht werden. Es geht um die frühe Behandlung der Vorhalte (die Dissonanz wird vorgehalten, bevor die erwartete konsonante Auflösung erfolgt; im Notenbild die 7, der Septimzusammenklang, eintretend als übergehaltener Ton):

Vorhalt Dissonanz

Knud Jeppesen schreibt dazu in seinem Standardwerk zum Kontrapunkt (s.u. Quelle), wenn es um die 4. Art des zweistimmigen Satzes geht:

Sie benutzt die Dissonanz um ihrer selbst willen! Man verlang hier ausdrücklich Dissonanz und eben Dissonanz zu hören – wohl, um sich über die ästhetisch wertvolle Kontrastwirkung zwischen Konsonanz und Dissonanz freuen zu können -, in der 2. und 3. Art wurden Dissonanzen nur eben toleriert. In der 4. Art wünscht man zwar die Dissonanz so placiert, daß sie deutlich hervortritt, doch hütet man sich hier wie überall vor brutalen oder zudringlichen Wirkungen. Man verlangt infolgedessen eine „Vorbereitung“ der Dissonanz, die darin besteht, daß der dissonante Ton von dem vorhergehenden unbetonten Taktteil, wo er als Konsonanz auftrat, herübergebunden ist. Dadurch, daß man den dissonierenden Ton unmittelbar vor dem Einsetzen der harten Wirkung in konsonantem Verhältnis zum Cantus firmus antrifft, wird der Dissonanz gleichsam der Stachel weggenommen; auch die stufenweise Auflösung nach unten – wohl eine der besänftigendsten musikalischen Wirkungen – trägt das ihre zum Dämpfen und Schlichten bei.

Ein schönes Beispiel folgt wenig später und erinnert bereits an den „Pergolesi-Duktus“ (zu den alten Schlüsseln: der C.f. beginnt mit dem Ton d‘, der Kontrapunkt der Oberstimme mit a‘) :

Vorhalt Dissonanzen

Quelle Knud Jeppesen: KONTRAPUNKT Lehrbuch der klassischen Vokalpolyphonie VEB Breitkopf & Härtel Leipzig 1956 (Seite 105 und 107)

A.a.O. Seite 152 Übungsbeispiel dreistimmig

Vorhalt Diss 3stimmg orig

Dasselbe Beispiel in Violinschlüssel übertragen:

Vorhalt Diss 3stimmg viol

Bach und Palestrina als Antipoden des Kontrapunktes

ZITAT (Jeppesen):

Bach und Palestrinas Ausgangspunkte sind Antipoden. Palestrina geht von den Linien aus und gelangt auf diesem Wege zu den Akkorden, während Bachs Musik aus einem ideellen harmonischen Hintergrund hervorwächst und auf diesem die Stimmen in oft atemberaubend dreister Selbständigkeit entwickelt. Zwar sollte man sich wohl vor Parallelismen zwischen der Musik und anderen Kunstarten hüten, da sie in Wesen und Material zumeist so verschieden sind, daß ein jeder Vergleich von vornherein zwecklos scheinen müßte; aber ich finde doch eine Parallele zwischen der Bach- und Palestrina-Polyphonie in ihren gegenseitigen Beziehungen und (auf kunsthistorischem Gebiet) dem Verhältnis zwischen den sichtbaren Ausdrucksformen der Renaissance und des Barocks so auffällig, daß sie mir erwähnenswert scheint: Wie man es nämlich im 16. Jahrhundert mit einer Mehrstimmigkeit zu tun hat, die von den einzelnen Linien ausgehend, kraft deren künstlerisch beherrschtem Verhältnis zueinander, zur Einheit wird, so kann man auf dem Gebiet der bildenden Künste ein ähnliches Verhältnis beobachten, über das Heinrich Wölfflin in seinem Werk „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“ im Hinblick auf die Renaissancekunst schreibt:

„In dem System einer klassischen Fügung behaupten die einzelnen Teile, so fest sie dem Ganzen eingebunden sind, doch immer noch ein Selbständiges. Es ist nicht die herrenlose Selbständigkeit der primitiven Kunst: das Einzelne ist bedingt vom Ganzen, und doch hat es nicht aufgehört, ein Eigenes zu sein“. [Wölfflin 4. Aufl., S. 16 (1920)]

In der Bildkunst des Barocks, z.B. Rembrandt und Rubens ist die Einheit nicht mehr Ergebnis; man geht von Einheit aus und gelangt zur Vielheit. Der Komposition der Malereien liegen gewisse breite Prinzipien des Aufbaus, z.B. der Fall des Lichtes und dergleichen, zugrunde; aus diesem Ganzen wachsen dann die spannunggebenden Einzelheiten hervor. Auch nicht einen Augenblick weiß man sich bedroht, das Gefühl von Einheit durch allzu viele, einander fremd und kalt gegenüberstehende Einzelheiten zu verlieren, wie man es z.B. in der Malkunst des frühen Mittelalters und in der Motettenkunst der „Ars antiqua“ befürchten konnte. Die Einheit hat hier Präexistenz, sie bildet Ausgangspunkt und Grundlage des Ganzen. Nochmals möchte ich Wölfflin anführen:

„Was der Barock als Neues bringt, ist nicht das Einheitliche überhaupt, sondern jener Grundbegriff von absoluter Einheit, wo der Teil als selbständiger Wert mehr oder weniger untergegangen ist im Ganzen. Es fügen sich nicht mehr schöne Einzelteile zu einer Harmonie zusammen, in der sie selbständig weiteratmen, sondern die Teile haben sich einem herrschenden Gesamtmotiv unterworfen, und nur das Zusammenwirken mit dem Ganzen gibt ihnen Sinn und Schönheit“. [Wölfflin 4. Aufl., S. 198 (1920)]

Aufs musikalische Gebiet übertragen, ließe sich dieses Zitat auf Bachs Kunst anwenden. Wie z.B. das Licht in Rembrandts „Nachtwache“, so durchzieht bei Bach ein breiter konstitutiver Streifen akkordmäßig modulatorischer Bewegungsimpulse das Musikbild, ein Lichtstreif, der zwar unter dem polyphonen Gesichtspunkt wie durch Prismen zu einem flimmernden, funkelnden Spiel zerstiebt, dessen Mannigfaltigkeit schließlich aber doch bis zu einem gewissen Grad auf Illusion beruht. Hiermit sei natürlich nichts über die polyphonen Werte Bachs gesagt, ebensowenig wie über Palestrinas; sie sind in beiden Fällen unermeßlich. Vom pädagogischen Standpunkt aus betrachtet muß aber zweifellos die Kunst, die die wenigsten Rücksichten auf Akkorde nimmt, den besten Ausgangspunkt bilden, wo es sich um Aneignung der Technik bestimmter Stimmführung handelt.

Quelle Knud Jeppesen (s.o.) Vorwort Seite IX f.