Op.57 Zweiter Satz. Zum Rückerinnern hier hören (Achtung, am Anfang Werbung weg!). – Natürlich gehören zahlreiche Werke Beethovens, wenn nicht alle, zum Kanon der klassischen Musiktradition des Abendlandes, gerade weil sie in einer ungeahnten Weise revolutionär mit dem „Erbe“ umgingen. Liegt in diesem Satz ein innerer Widerspruch? Ich halte mich einstweilen an George Steiner:
Das Kanonische gilt als Ergebnis eines dynamischen, allmählich zur Kongruenz führenden Prozesses erlebter Wahrheit. Menschen mit normalen (normativen) Fähigkeiten zu Rezeption und Reaktion legen über die Zeiten hinweg Zeugnis ab von einem gemeinsamen Gefühl für überragende Qualität. Jede Generation ist aufs neue dazu aufgerufen. Langsam, aber letztlich doch sicher bildet sich ein Gewirk gemeinsamer Werte und geistiger Bedürfnisse heraus. Es verbleiben Nischen von Dissens, Reste von Zweifeln. Doch die allgemeine Achse ist deutlich.
Entspricht dieses liberale, evolutionäre Modell der Wirklichkeit?
Die Anzahl der Menschen, denen zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer bestimmten Gesellschaft Literatur, Kunst und Musik ein tiefes Anliegen ist, für die ein solches Anliegen eine wahre persönliche Investition und eine Erweiterung des Daseins bedeutet, ist klein. Oder um es genauer auszudrücken, wo Genauigkeit essentiell ist: der gewöhnliche Museumsbesucher, der gelegentliche Leser von Dichtung, von anspruchsvoller Prosa, das Publikum klassischer und moderner Musik, ob sie nun aufgeführt, gesendet oder mitgeschnitten wird, hat an einem Ritual von Begegnung und Reaktion teil, das nach der Phase der Ausbildung an höherer Schule und vielleicht auch an der Universität, in der solche Begegnung in ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Funktion geprägt worden sein mag, weniger zur Sphäre echten Engagements gehört als zur Etikette. Bei freier Wahl wird der Großteil der Menschheit dem Fußball, der Fernsehserie, dem Bingospiel den Vorzug geben vor Aischylos. Etwas anderes vorzuspiegeln, also etwa Programme für eine humanistisch hochstehende Zivilisation zu entwickeln, die aus Verbesserungen der Erziehung der Massen hervorgehen könnte – derartige didaktische Projektionen sind im Liberalismus à la Jefferson oder Arnold nicht weniger im Schwange als im Marxismus-Leninismus – ist scheinheiliges Gerede. Diejenigen, die konkret und tatsächlich den Syllabus entwickeln, die das ererbte Bildungsgut an literarischem, künstlerischem und musikalischem Schaffen erkennen, erhellen und vermitteln, sind wenige, sind immer nur wenige gewesen.
So ist schon die Annahme selbst, es gebe eine heranreifende Mehrheit, eine breit fundierte Universalität der Wahrnehmung und der Wahl, auf die sich das liberale, auf Konsens abhebende Modell für die Festlegung und Einstufung von Werten gründet, weitgehend trügerisch. Die Statistiken über die Verbreitung von Kulturprodukten verschleiern den stark beschränkten Status der wenigen, die tatsächlich die vorherrschenden Strömungen und Kriterien initiieren und formulieren. Alle Wertung, alle „Kanonisierung“ (man beachte die durchgehenden theologischen Analoga) ist Produkt einer Geschmackspolitik. Und diese Politik ist ihrem Wesen nach oligarchisch.
Quelle George Steiner: Von realer Gegenwart / Hat unser Sprechen Inhalt? / Edition Akzente Hanser / Carl Hanser Verlag München Wien 1990 / Seite 94 f
Warum ich dies zitiere? Weil ich plötzlich befürchtete, dass die Sympathie für neue, inhaltlich gemischte, grenzüberschreitende Konzertprogramme mich vergessen lassen könnte, dass Kultur uns fordert. Auch überfordert. Daran ändert die Einfügung leichter Stücke in den Ablauf überhaupt nichts; im Gegenteil, man könnte sich aufgerufen fühlen, den Focus auf sie genau so intensiv zu richten, wie auf die schwierigen. Entsprechend kann ich die Schaufenster draußen unter dem Motto anschauen: „dem kreativen Auge wird alles Kunst“, – oder auch: „jedes Mittel, das die Aufmerksamkeit bindet, ist dem Konsum willkommen“.
Ein Konzert ohne Zeigefinger UNERHÖRT Neue Kirche Wuppertal 21.02.2020
Jan Kopp war also in der Reihe der anwesenden Komponisten der erste, der auch selbst etwas zu seinem Stück sagen konnte (sollte); ich freute mich, zumal ich mich mit dem Werk schon vor Monaten mal intensiver beschäftigt habe, als ich noch plante zur Uraufführung nach Bonn zu fahren; siehe hier. Die Fahrt fiel wegen Unwetters aus. Aber das Werk mit dem Titel „Ahnen“ ließ mich nicht los. Es gab da ein Geheimnis, das mir verschlossen blieb, obwohl die Tonrepetitionen mich immerhin auf die „Appassionata“ lenkten. Und jetzt – erhielt ich einen schweren Dämpfer, weil ich in einem wesentlichen Punkt versagt hatte: mir war der Akkord entgangen, der mit einer entscheidenden, geradezu programmatischen Bedeutung aufgeladen war. Jan Kopp erzählte von Kirschtorte und gedecktem Apfelkuchen, klar, er führte uns offenbar listig in die Irre, um dann plötzlich die sorgfältig ausgewählte Spezerei von zwei Takten Beethoven vorzuweisen: sie waren es, die ihn vor Jahren als Ohrwurm verfolgten und die er nun gebannt habe. So ähnlich muss er es gemeint haben, und ließ die Pianistin vorführen, was daran besonders sei. Er habe zunächst einmal die Takte umgeschrieben, so, wie sie von einem mittelmäßigen Komponisten hätten stammen können:
Und nun sollte das kommen, was Beethoven stattdessen geschrieben hat, – es sind im wesentlichen zwei expressive Akkorde und der „nachklappernde“ Bass (Vorzeichen bitte wie im Beispiel vorher dazudenken):
„Sie sehen,“ sagte Kopp, „da sind ein paar Kleinigkeiten verändert, aber genau diese Kleinigkeiten, sind es, die Beethoven ausmachen, die für ihn absolut charakteristisch sind. Das hat mich verfolgt, das ist für mich zu einem Ohrwurm geworden. Ich habe das auskomponiert, nichts weiter getan, als dass ich nun über 49 Takte immer wieder diese Kadenz umkreiste, ohne dass es praktisch gelingt, zum letzten Akkord zu kommen … nur ganz am Ende … ganz kurz … und dann ist das Stück auch schon vorbei.“ Leises Gelächter im Publikum.
Und jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen, vielmehr: endlich öffneten sich auch die Ohren, sobald das reale, neue Stück begann, mit den ersten Tönen und den Disharmonien, Farben, Wirbeln, Flageoletklängen, bis hin zum finalen Verschwinden. Diese Beethovensche Akkordfolge hatte den Komponisten die ganze Zeit im Verborgenen bewegt, der vierte Akkord des oben im Druck wiedergegebenen Notenbeispiels: der den fünften heraufbeschwört, der wiederum zwingend in den Dominantseptakkord führt, der nun endlich die zögerliche Auflösung in den Grundakkord zur Folge hat. „Zögerlich“ sage ich, weil sich der Bass erst nachträglich in Richtung Grundton bewegt, das tiefe DES im letzten Takt. Und genau dieser Ton ist es, den Jan Kopp dann letztlich nur noch imaginieren lässt: wir AHNEN ihn in Takt 49 auf der letzten Pause mit Fermate. („Der Rest ist Schweigen“…)
Handschrift Jan Kopp
* * *
ZITAT George Steiner
Wie eine elementare Einsicht besagt, wissen wir weder etwas über unser Kommen in diese Welt noch etwas über unseren Abtritt. Wir sind Insassen unseres Lebens, nicht seine Erzeuger oder Meister. Dennoch pocht die undeutliche Ahnung einer verlorenen Freiheit oder einer wiederzugewinnenden Freiheit – Arkadien hinter, Utopia vor uns – an die ferne Schwelle der menschlichen Seele. Dieser unbestimmte Pulsschlag regt das Herz unserer Mythologien und unserer Politik. Wir sind Geschöpfe, die zugleich gequält und getröstet werden von den Rufen einer Freiheit, die gerade außerhalb der Reichweite liegt. Doch in einem Bereich kann sich die Erfahrung der Freiheit entfalten. In einer Sphäre der menschlichen Verhältnisse heißt zu sein, frei zu sein. Es ist die unserer Begegnung mit Musik, Kunst und Literatur.
Das ist auf der negativsten Ebene der Fall. Wir haben die äußerste Freiheit, authentische ästhetische Erscheinungsformen gar nicht aufzunehmen, ihnen überhaupt nicht zu begegnen. So wie die überwältigende Mehrheit der Menschen die prägenden Triebkräfte der Kindheit vergisst oder verdrängt, erlebt sie auch die Erfahrung der Verlockung durch Literatur und Kunst nur sehr selten. Oder sie reagiert auf solche Verlockungen nur in ihrer ephemersten, narkotischen Gestalt (narkotisch in genau dem Sinne, in welchem Schund eben selbst kalkuliert, profitorientiert, interessengeleitet und damit unfrei ist). Nichts ist im Alltäglichen näherliegend als am Gedicht, am Gemälde vorüberzugehen, es überhaupt nicht wahrzunehmen. Jedweden Geschmack zu haben oder ebenso sich den Geschmack betäuben zu lassen und die von der Qualität gestellten Anforderungen gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, ist ein universelles menschliches Recht – wobei „Recht“ hier die essentielle Antithese zu „Freiheit“ darstellt. Bei freier Abstimmung, das heißt, wenn man die Wahl hat, mit seiner Freizeit und seinen wirtschaftlichen Ressourcen so zu verfahren, wie man will, wird die überwältigende Mehrheit der Menschen wie schon gesagt Bingo oder einer Plaudershow im Fernsehen gegenüber Aischylos oder Giorgione den Vorzug geben. Es ist das das absolute Recht der Unfreien. Und es ist eine der lähmendsten Notwendigkeiten liberaler und demokratischer Theorien, da sie nun einmal an die Freiheit des Marktes gebunden sind, daß sie dieses Recht schützen und institutionalisieren müssen.
Die Crux liegt auf einer anderen Ebene. Wo in den ontologischen und ethischen Räumen des Interesselosen Ernst auf Ernst trifft, Anspruch auf Anspruch, wo Kunst auf das Dichterische, deren eigener Eintritt ins Dasein und in eine dem Verstehen zugängliche Form unabdingbar kontingent ist, dem rezeptiven Potential eines freien Geistes begegnen, da findet eine existenzielle Verwirklichung von Freiheit statt, soweit wir diese überhaupt kennenlernen können.
Quelle George Steiner: Von realer Gegenwart / Hat unser Sprechen Inhalt? / Edition Akzente Hanser / Carl Hanser Verlag München Wien 1990 / Seite 203 f
Große Worte zweifellos. Ein Buch, das wie aus allen Zeiten gefallen scheint. George Steiner ist am 3. Februar dieses Jahres 91jährig in Cambridge gestorben.
In diesem Sinne sei es erlaubt – ihm und Beethovens Geburtstag angemessen – etwas pathetisch zu werden. Ich bin voller Bewunderung für dieses einzelne Klavierwerk mit dem Titel „Ahnen“, für die Leistung der Bonner Pianistin, für das riesige Projekt , und würde nicht überrascht sein, wenn eines Tages eine umfangreiche Dissertation über diese ungewöhnliche Beethoven-Ehrung geschrieben würde.
Wie wäre es, wenn Sie als geduldige Leser dieses Blogs Beethovens Appassionata hören würden? Sie beginnen damit, den Ton abzuschalten, die Werbung am Anfang zu überspringen – im Namen des Geistes und der Freiheit – und erleben dann Mauricio Pollini bei der Arbeit, 24 Minuten lang, in der Hoffnung, dass der Markt nicht ein weiteres Mal mit Werbung zuschlägt. ODER: ohne Bild, aber im Klang etwas befriedigender HIER.
Die Überraschung war, wie unterhaltend der Ablauf des „Klavierkonzertes“ sich gestaltete, manches grenzte zweifellos an „Unterhaltungsmusik“, obwohl dieses Wort innerhalb der „Neuen Musik“ schon vor Jahrzehnten obsolet war (um es mit einer Lieblingsvokabel der Adornoadepten von einst zu belegen). Schon der Weg zur Kirche und aufwärts in deren Konzertetage ist ein Erlebnis, für das Luisenviertel in Wuppertal sollte man sich Zeit nehmen, selbst wenn man mit den karnevalsbedingten Polizeikontrollen im Umfeld nichts zu tun hat.
Der WDR spiegelt sich:
Alle Fotos: JR / Letztes Bild: Susanne Kessel in der Reihe der Komponisten, davor, ganz unten links: der Kopf des Veranstalters Martin Stürtzer, in der Mitte unterm Kreuz Jan Kopp, neben ihm Martin Wistinghausen. Ganz links Dietmar Bonnen, dann Eberhard Kranemann; ganz rechts Heinz-Dieter Wilke.
Das Projekt ist also weitergelaufen, über die Grenzen Bonns und Beethovens hinaus; ich hatte damals die Dimensionen nicht geahnt: nicht 250 Stücke sind es geworden, sondern 261, aber nun sollte auch Schluss sein, sehr respektabel. Und live für mich eine nachträgliche Bestätigung: die Komposition von Jan Kopp (siehe im Blog hier) hat auch nach drei Jahren ihre Faszination behalten, ja sie ist gewachsen. Leider ist das Stück auf der ersten CD des Klavierprojektes noch nicht enthalten:
Aber was auch immer man hört, gerade in der Zusammenstellung des Wuppertaler Konzerts: es ist – wie gesagt – ein ungemein kurzweiliges Programm, ohne stilistische Grenzen, zwischen wilden Ausbrüchen, Rätselcharakter, Pop, Ironie und Schmalz. Am Ende natürlich „Für Elise“. Sehr angenehm: die unprätentiöse Art der Darbietung durch Susanne Kessel, gleichwohl höchst virtuos, eine uneitle Künstlerin, deren Empathie für jedes einzelne Werk unverkennbar ist, auch wenn es aus dem (fälschlich) vermuteten Rahmen fällt, – gute Idee, auch schon mal drei Stücke aneinanderzufügen, die Einführungen der anwesenden Komponisten signalisierten Respekt vor dem Hörvermögen Nichteingeweihter, – so dürften Konzerte sein, durchaus heiter, was dem klassischen Ritual nicht schaden kann. Einerseits mit eingebauten Überraschungen, etwa als amüsante Performance, so zum Beispiel nach der Pause, – per Zufallsfund oder per Stichwahl: hinein in einen Band Beethoven-Sonaten, die Seite herausgerissen – zum Glück keine Urtext-Ausgabe -, auf den Kopf gestellt und vom Blatt gespielt – das war „Beethovenamstück“ von Harald Muenz, ganz zuletzt als Zugabe noch einmal: ein anderes Blatt, ein anderes Stück.
Andererseits ist alles, was man gehört hat, zuhaus am Computer perfekt nachvollziehbar. Nehmen wir das erste Stück des Konzertes nach dem einleitenden ersten Satz der Mondschein-Sonate: „A little moonlight music“ von Kai Schumacher. Im Programm steht dahinter „Vol.3“, d.h. Sie gehen Sie auf die Website www.250-piano-pieces-for-beethoven.com , vielleicht klappt’s auch schon hier, Sie sehen dort das folgende Bild und klicken oben links auf „audio/video“ (dort „Vol.3“) oder auf „Komponisten“.
In jedem Fall stoßen Sie auf Informationen und eine Möglichkeit, das Stück ihrer Wahl im Vimeo zu hören, ohne es gleich downloaden zu müssen oder eine CD zu kaufen. Ein wunderbares Angebot. Einzigartig (glaube ich) auch in der Webtechnik als Einführung in die Vielseitigkeit der Neuen Musik – mithilfe eines einzigen Instrumentes, des Wunderkastens Klavier.
Im Fall Peter Michael Hamel (in der Ansage ließ mich der Name Tyagaraja aufhorchen) hätte unter „Vol. 9“ zum Beispiel folgendes erfahren:
Peter Michael Hamel über sein piano piece „Freude für Beethoven“:
„Umrahmung mittels des klassischen indischen Tala RUPAK 7/8.
Zitat aus der karnatischen Musik des Beethoven Zeitgenossen Tyagaraja aus Madras am Anfang und am Ende.
Zwischendrin: Beethoven Allusionen Anklänge an die seit der Kindheit erinnerten Melodien.“ „Ich liebe dich so wie du mich am Abend und am Morgen Noch ist kein Tag wo du und ich nicht teilten unsere Sorgen“
Und dann – mehr über Hamel als über Beethoven:
Über Ludwig van Beethoven:
„In Kindheitstagen die Gesangsstimmen der Eltern noch vereint: „Ich liebe dich, so wie du mich, am Abend und am Morgen…“ Die knackende LP: der 10-Jährige hört bei der Oma die Siebte unter Furtwängler. Unvergesslich. op.10 Nr 1 cmoll, wenigstens den ersten Satz erlernt, fast alle Klaviervariationen auf das c-moll Thema. Und dann die letzten Streichquartette als Lebensessenz …“
(Peter Michael Hamel, 20.10.2019)
* * *
Es hat mich gefreut zu sehen, dass der WDR die ganze Sache unterstützt, lauter Leute, die ich aus meinem früheren Leben kenne und schätze:
Nachwort 24.02.2020
Ich habe keine Kritik geschrieben, sondern subjektive Gedanken zu einem Konzert wiedergegeben, – leicht zu erkennen, was hätten sonst Fotos aus dem Wuppertaler Luisenviertel damit zu tun: für mich gehörten sie dazu. Ebenso die nicht erwähnte, kurze Begegnung mit dem Kollegen Michael Rüsenberg, der sich wunderte, dass ich nicht gehbehindert bin. Wie kam er darauf? Vielleicht weil ich seit dem Besuch seiner Veranstaltung am 4. Mai 2017 in Bonn bei ihm nicht mehr aufgetaucht bin? (Siehe hier). Vielleicht nur weil ich fürchtete, dass ich es dort wieder so interessant finden würde, dass ich mich zu ganz viel Nacharbeit bemüßigt fühle? Dabei muss man nämlich lange am Schreibtisch sitzen, während ich in Wirklichkeit sehr gerne laufe, vor allem am Strand einer Nordseeinsel oder bei Domburg. Es gibt im täglichen Leben viele kleine Missverständnisse, die der Rede nicht wert sind. Zum Beispiel in der Zeit, als ich noch für den WDR Festivals auf der Kölner Domplatte oder auf dem Marktplatz in Bonn betreute. Weltmusik, wertvolle (welthaltige) Musik verschiedenster Regionen oder Kulturen. Und immer wieder geschah es, dass Ensembles oder Solisten – bevorzugt aus dem Ostblock – nachfragten, wann denn Preisverleihung sei. Leichte Enttäuschung, wenn sie erfuhren, dass es hier um Nebeneinanderstellung des ideell Gleichwertigen gehe, verbunden mit bewussten Kontrasten, auch im Niveau oder in der Komplexität.
So kommt es, dass ich lieber auf (subjektive) Vertiefung des Verständnisses ziele, und Kritik mit Vorliebe an Kritiken übe, ohne damit eine Art Gutmenschentum hervorkehren zu wollen. Deshalb würde ich auch gern über die Wuppertaler Besprechung meckern, die ich aber nur teilweise mit Hilfe eines Screenshots mehrere Momente lang vor der niedergehenden Leseschranke retten konnte.
Zitat WZ 22. Februar 2020
Da werden die spektakulären Dinge herausgegriffen, die auch von musikfremden Besuchern auf der nächsten Party erzählt werden könnten. Wenn das Ereignis ausschließlich in den Tönen stattfindet, ergibt das halt ein blasseres Narrativ als wenn der Pianist unter dem Flügel liegt. Das bekannteste Klavierstück von Cage (oder überhaupt, wenn man von „Für Elise“ absieht) ist dasjenige, in dem kein einziger Klavierton erklingt, sondern Stille. Warum auch nicht?
Was mich besonders positiv beeindruckt hat, ist übrigens die Art und Weise, wie Susanne Kessel mit dem Stück eines philippinischen Komponisten umgegangen ist.
Natürlich hören Sie nicht ganz voraussetzungslos, wenn Sie dieses Video anklicken, selbst wenn Sie sofort auf die Vollbildeinstellung gehen: Sie bekommen blitzartig eine Vorstellung vom Gesamtprojekt, – dass es mit Beethoven zu tun hat, mit einem Jubiläum, er ist 1770 geboren, 250 – vielleicht auf 2020 bezogen, 250 Jahre, vielleicht 250 Stücke. „International Composition Project“! Sie können es mit Hilfe des nächsten Links (s.u.) genauer erforschen, aber bitte schieben Sie die Sache auf: tun Sie gar nichts außer Hören (und Sehen, sofern es Ihnen hilft). Ein Komponistenname (Jan Kopp), ein Musiktitel „Ahnen“ (ein Ahnen? die Ahnen? ist es die Vorahnung, sind es die Vorfahren?) Eine Pianistin am Flügel, ein schemenhaftes Publikum, eine Konzertsituation…
Bitte hören Sie! Hier können Sie das Video auch in einem separaten Fenster öffnen: Bleiben Sie dort, lesen Sie erst später weiter. Schauen Sie, und hören Sie! Lassen Sie sich für diese wenigen Minuten „fremdbestimmen“. Wenn der Film vorüber ist, wiederholen Sie ihn, sie werden vieles (das meiste) wiedererkennen, verbalisieren Sie, wenn Sie wollen, lassen Sie nichts unbemerkt, – wie ein lauschendes Tier im Dickicht.
Noch einmal zum Film zurück (Versuch einer Beschreibung, zum Memorieren:
0:12 Man hört Einzeltöne verschiedener Stärke und so etwas wie Tontrauben, blitzschnelle Tonfolgen, die auf einen Ton zielen, der unbeweglich stehen bleibt. Tatsächlich ist es die Energie des Anschlags (die rechte Hand schnellt in die Höhe), zugleich die Kürze dieses Tones (die Hand sinkt nieder zur Taste), die augenblicklich eine Erwartung weckt, die sich in einem zarten Nachhall desselben Tones materialisiert. Dann noch einmal dieser Ton, wieder etwas bedeutender, mit einer angehängten Tontraube, die in bogenförmigem Schwung auf einen höheren Ton zielt, im Abstand einer kleinen Sexte zum Ausgangston. Es folgen zwei Akkordtupfer, hoch und tief vereint, der obere Ton allein nachhallend, noch zwei Akkordanschläge, gefolgt von einem dritten, der, akzentuiert, wie eine Auflösung der vorhergehenden Klänge erscheint: davon angestoßen eine Reihe von Einzeltönen, die in die Tiefe staksen und wieder aufwärts; erst accelerierend und bald wieder zögernd, münden sie in eine neue Tontraube, die mit Elan den vertrauten höheren Ton erreicht, der jedoch wieder durch Zartheit überrascht. Wieder die zwei Akkordtupfer in der Tiefe, ein dritter, minimal aufgeladen (es wird offenbar: wir haben es mit einer Wiederholung zu tun!), der nachhallende hohe Ton usw. die Tontraube usw. bekannte Gesichter und Lautstärkegrade – bis die dreimal hintereinander schnell aufsteigende Tontraube eine Zäsur anzukündigen scheint (1:13), starker Akzent eines höhenbetonten Akkordes. Als Antwort eine Kurz-Cantilene abwärts bis 1:21. Wiederkehr der Akkordtupfer in der Tiefe, Unruhe, drei Girlanden aufwärts, neues, erregendes Moment: Repetitionstöne im Diskant, ab 1:28. Sie werden von leinen Tontrauben umschwirrt. Dunkle Akkorde im Tiefenbereich, wie schon bekannt. Neue Anläufe aufwärts, Landung auf Repetitionsebene, der schon bekannte Ton, in emsiger Bearbeitung, Zweifel an der Gleichmäßigkeit = Absicht! : rein perkussive Anschläge sind untergemischt (tonlos) 2:00. Die tiefen Akkorde kehren unterdessen wieder: interessanter Wirbel in der Höhe, die perkussiven Töne, die fast pianistisch misslungen wirkten, sind als intendiert zu erkennen, das geschwinde Klopfen nimmt überhand. Relikte auch des tiefen Tönens bleiben präsent, narrative Wirkung. Das insistierende Hämmern bricht unversehens ab. Das wiederholte Tönen bleibt, dann eine Wendung zur identifizierbaren Harmonie 2:48 und (ganz kurz) ein Dominantseptakkord. Auflösung Tonika, Absturz der linken Hand 2:53.
Haben wir das geahnt? Ein Fetzen aus der Zeit der Ahnen? Ein verfremdeter Hauch Beethovens.
Das Stück heißt „Ahnen“.
Meine Beschreibung ist keineswegs vom Komponisten autorisiert und führt vielleicht vom Wege ab. Aber das folgende Zitat geht wirklich auf ihn persönlich zurück:
Es gibt im Diskant drei Tasten, die durch Gummikeile in den Saiten abgedämpft sind. Den Effekt können Sie schon vor den Repetitionen hören. In den schnellen Tonfolgen taucht immer wieder einen Klopfen auf, das zu etwas seltsamen Rhythmen führt. Das ist das Ergebnis, wenn stumme und normale Töne in einer schnellen Bewegung kombiniert werden. (…) Pianistisch ist gerade diese Stelle allerdings etwas unbequem, weil beide Hände sich ständig überlagern. Ich wollte das nicht über Gebühr beanspruchen.
Die Schlusswendung ist eigentlich die einzige Stelle im Stück, an der tatsächlich zitiert wird. Da schaut Beethoven kurz um die Ecke und ist gleich wieder verschwunden. Interessanter scheint mir aber der harmonische Aspekt, denn ich habe ja eine kurze Kadenz von Beethoven über mein gesamtes Klavierstück gestreckt – wahrscheinlich so sehr, dass man als Hörer zunächst gar nicht merkt, dass es überhaupt eine tonale Spannung gibt. Die Wendung am Schluss macht diese quasi rückwirkend erkennbar. Ich vermute aber, dass man für solche Dinge das Stück mehrmals hören muss.
(Jan Kopp 14.10.2017)
Hier folgt ein handgeschriebener Teil der Komposition (im Video ab 1:44). Die abgedämpften Töne, von denen eben die Rede war, erkennen Sie im Notentext, wenn Sie die 32stel-Ketten unter den Bindebögen betrachten: im ersten System (23) landet der dritte Bogen auf dem letzten 32stel, einem hohen c“‘, das mit einem Kreuzchen auf dem Notenhals gekennzeichnet ist; das bedeutet, dass anstelle dieses Tones ein Klopfgeräusch zu hören ist, der bloße „Anschlag“. Genauso im nächsten System (25), unter dem dritten Bindebogen finden Sie 6 Töne, deren Hälse mit solchen Kreuzchen versehen sind. Das unregelmäßige Auftauchen dieser „leeren“ Klopftöne innerhalb der regelmäßig wirkenden Kette – wenn man es nicht ahnt, könnte man glauben, das Klavier sei defekt, in Wahrheit ist es genau so „präpariert“ – ergibt einen rhythmischen Effet, der von latent erregender Wirkung ist, die dann auch in den triolischen Tonrepetitionen nach außen tritt… zuletzt als reines Pochen …
… triolische Tonrepetitionen? War da nicht was? eine berühmte Dreitongruppe?
Ich danke den Beteiligten für die Wiedergabeerlaubnis! Mehr zur (geplanten) Notenedition HIER.